Schenke mir dein Herz
Und ich schenke dir einen Stern
Das Auge des Mondes ist blind
Sein Lächeln voller Hohn
Er sieht nicht, was wir tun
Und wer wir sind
Lass uns mit ihm lachen und lieben!
Schenke mir dein Herz
Und ich schenke dir einen Stern
Möge er dir ein Licht sein in der Nacht
So
Zerbrich ihn nicht
Der Himmel über Nachtmond schweigt, die Sterne sind verhüllt und weben ein samtenes Tuch, mit dem sie die Dunkelheit umarmen. Schwarze Türme und Gebäude, sonst hellerleuchtet in Mondvaters Glanz, scheinen nun matt, müde und melancholisch.
Ich gehe in der Menge unter. Ungeachtet der Abwesenheit von Vater Monds Blick strömen die Menschen auf die Straßen, euphorisch und gut gelaunt. Sie treffen emsige Vorbereitungen für die morgige Weihe, backen süße Brote, schmücken ihre Häuser mit Laternen, stellen Tische und Bänke im Freien auf, um, wenn es soweit ist, beisammen zu sein.
Es ist eine Zeit, die ansteckend ist in ihrem Fleiß, ihrer Lust, ihrer Vorfreude. Doch anstatt der freudigen Erregung, die ich sonst immer am Vorabend einer Weihe empfinde, spüre ich nur nagende Angst und schwitzende Nervosität.
Ich dränge mich an den Menschen vorbei, die viel zu beschäftigt sind, um mich zu beachten. Gut für sie und für mich.
Je weiter ich mich von dem Ägidenpalast und dem Sternenglanzviertel entferne, desto lichter wird die Menschenmenge, aber nicht weniger geschäftig. Vorsichtshalber drehe ich nochmal eine Runde durch das Viertel, weil ich zwei Mondläufer gesehen habe, die mir auf direktem Weg entgegengekommen sind, bevor ich mich endlich traue, das Haus aufzusuchen. Es ist unscheinbar, hebt sich in keiner Weise von seinen Nachbarn ab und fügt sich in das Bild einer normalen mittelständischen Familie ein.
Die Tür wird bereits geöffnet, ich muss nicht einmal die Hand heben, um zu klopfen. Es ist Livion, der zwei Jahre älter ist als ich, und nicht nur deswegen auf mich herabsieht. Natürlich ist er größer als ich, aber den abschätzigen Blick bekomme ich häufig aus diesen dunklen Augen zu spüren. Er hat eine drahtige, athletische Figur und hellbraune Haare, die ihm in die Stirn fallen und ihm etwas Verwegenes verleihen. Kein Wunder also, dass die Mädchen alle hinter ihm her sind.
„Da bist du ja endlich“, sagt er und rümpft die Nase, „komm rein!“
Ich senke den Blick und betrete mit eingezogenem Kopf das Haus. Hinter mir schließt Livion drei Mal ab und sperrt zusätzlich noch mit einem Riegel zu, um sicher zu gehen, dass wir nicht gestört werden.
„Was stehst du denn da noch? Du kennst den Weg, bist ja nicht zum ersten Mal hier.“ Ich hasse diesen Ton in seiner Stimme, der mich ein dummes kleines Mädchen schalt. Ich will den Mund aufmachen und etwas sagen, bin aber noch immer zu eingeschüchtert, um mehr als nötig mit ihm zu reden. So lange kennen wir uns noch nicht.
Er geht mir voraus in ein geräumiges Zimmer am Ende des Flures, aus dem mir bereits die Stimmen der Anwesenden entgegen schallen.
Anscheinend bin ich die Letzte, die gefehlt hat.
Adrick hat sich in die von ihm bevorzugte Ecke zurückgezogen, er sitzt zusammengesunken auf den Boden und hat den Kopf auf die Brust gelegt, sodass es so aussieht, als würde er schlafen oder dösen. Doch weiß ich, dass er aufmerksam zuhört.
Neben ihm hat sich Narim an die Wand gelehnt und die Arme verschränkt. Er strahlt eine natürliche Gelassenheit aus, während seine eisblauen Augen durch den Raum wandern. Für Mitte Fünfzig hat er sich gut gehalten, und ich bin mir sicher, dass er, neben Vhare, der gefährlichste hier im Raum ist.
Der Rudelführer selbst sitzt am einzigen Tisch und starrt auf das Feuer einer Kerze, die er angezündet hat. Sofort fühle ich mich in seiner Gegenwart noch kleiner und unwichtiger, als ich sowieso schon bin. Das hat keineswegs mit seiner Größe zu tun, denn sein Sohn Livion überragt ihn bereits um einen halben Fuß. Es ist vielmehr die Autorität, die jeder hier spüren kann und die ihn wie eine Wolke unsichtbar umgibt.
Es dauert einen Moment, ehe er aufblickt, und obwohl er mich nicht feindselig oder bösartig mustert, ziehe ich unwillkürlich den Kopf ein.
„Warum hat das so lange gedauert?“, fragt er leise.
Ich schlucke. „Auf dem Weg hierher bin ich zwei Mondläufern begegnet, und ich wollte kein Risiko eingehen.“
Hinter mir lacht Livion beinahe verächtlich auf. „In der Nacht vor der Weihe strömen sie in Scharen auf die Straße, warum sollten sie sich um ein einzelnes Mädchen kümmern?“
„Lass sie“, meint Vhare und Livion verstummt, „Vorsicht ist besser als Nachsicht, und es ist ja nicht so, als würden wir unter Zeitdruck stehen.“
Livon schnaubt, als wäre er anderer Meinung, hält aber den Mund.
„Karena, komm her.“ Vhare deutet auf den Stuhl neben sich.
Widerwillig gehorche ich, mir bleibt keine andere Wahl, und setze mich unbehaglich.
„Wie fühlst du dich?“, fragt Vhare und schaut mich dabei fest an. Ich wage nicht, seinem Blick auszuweichen.
„Ich habe Angst“, gebe ich zu.
Narim nickt, als wüsste er, wovon ich rede. „Es ist dein erster Vollmond, Kleines. Das heißt Blutrausch, Euphorie und kompletter Bewusstseinsverlust.“ Er lacht rau.
„Weißt du, was passieren wird?“, fragt Vhare weiter, als hätte Narim nichts gesagt.
„Ich werde mich verwandeln“, erwidere ich, „also, vollständig. Dann werde ich mich auf jedes lebende Wesen stürzen, das es wagt, in meine Nähe zu kommen und…“ Erschrocken über die Bitterkeit, mit der ich es laut ausspreche, bleiben die nächsten Worte in meinem Hals stecken und ich senke gequält den Blick.
„… nach Blut lechzen, ja.“ Vhare lehnt sich zurück, sodass die Lehne knarzt. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass du jemanden verletzt. Wir sind bei dir und passen auf.“
Und wer passt auf euch auf?, frage ich mich, halte aber den Mund, weil ich weiß, dass meine Stimme zittern wird.
„Wir gehen vor die Stadt.“ Jetzt ergreift Adrick das Wort, hebt fast ruckartig den Kopf und sieht mich an wie einen netten Onkel. Ich fühle mich unwohl, denn sein Lächeln erinnert mehr an ein Zähnefletschen. „Es gibt einen kleinen Hain, in dem wir ungestört sind. Da gehen wir an Vollmond immer hin. Es ist schön da.“
Ich höre seine Worte kaum sondern nur den dröhnenden Herzschlag in meinen Ohren.
„Wir bleiben in deiner Nähe“, fährt Vhare fort, „sorgen dafür, dass nichts passiert. Das erste Mal ist schlimm, das gebe ich zu, aber mit der Zeit wirst du lernen, damit umzugehen. Es zu kontrollieren. Andere kommen nur selten am Hain vorbei, sodass wir weitesgehend ungestört sind.“
„Andere?“, frage ich alarmiert und versteife mich.
Livion lacht höhnisch. „Es ist Vollmond, Schätzchen! Da kann es nun einmal vorkommen, dass ein paar Wolfsblüter durch die Gegend streunen.“
Während Vhare seinen Sohn wieder zur Mäßigung ermahnt, schärfer dieses Mal, verschwimmt mein Blickfeld plötzlich und ich beiße mir auf die Lippe, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Zeige niemals Schwäche!, hat mein Vater mir immer eingeschärft, und obwohl ich mich sonst immer bemühe, ihm zu gehorchen, kann ich es doch nicht verhindern, dass mir ein kleiner Schluchzer entrinnt. Schlagartig wird es still im Raum.
„Oh bitte!“, kann ich Livion trotzdem leise stöhnen hören, und das macht es nicht gerade besser.
„Ich mache Tee!“, verkündet dann Adrick schlagartig und steht mit unmenschlicher Schnelligkeit auf. „Will noch jemand Tee? Narim?“
„Nein, danke“, erwidert dieser frostig.
Ich versuche, mich im Zaum zu halten und nicht vollkommen unkontrolliert zu schluchzen und in Tränen auszubrechen, stattdessen rinnen sie mir still die Wangen hinunter. Vhare hebt die Hand, zögert aber, mich zu berühren, unwissend und ein bisschen verunsichert. Ich bin erleichtert, dass er mich letztendlich in Ruhe lässt.
„Hier.“ Adrick stellt die Tasse so heftig auf den Tisch, dass die heiße Flüssigkeit darin überschwappt. Der Tee ist stark und heiß und köstlich. Mir geht es gleich besser.
„Wir treffen uns morgen eine Stunde vor Sonnenuntergang am Südtor.“ Anscheinend ist Vhare der Meinung, dass für heute Nacht genug Worte gewechselt wurden. In mir keimt fast so etwas wie Dankbarkeit auf. „Ist das in Ordnung für dich?“
Ich nicke zaghaft. „Ja.“
„Soll Livion dich nach Hause bringen?“, fragt er weiter und ignoriert den erschrockenen Blick seines Sohnes, der hinter seinem Rücken stumm den Kopf schüttelt. Aber auch ohne dieses Zeichen steht meine Entscheidung fest.
„Nicht nötig. Ich schaffe es auch allein.“
Vhares Blick ist zweifelnd, aber schließlich nickt er. „Gut, wie du willst.“
Meiner Familie habe ich gesagt, dass ich mich an nichts erinnere. Und der Mondvater möge mir vergeben, dass ich die Unwahrheit gesagt habe.
Nun sitze ich hier, am Fenster in Maidwacht, unserem Familiensitz, und frage mich, wie es nur soweit kommen konnte. Die Vorhänge habe ich zurückgezogen, sodass das Licht von Mutter Sonne ungehindert ins Zimmer fließen kann. Es ist bereits später Nachmittag und ihr Licht brennt nicht mehr so sehr auf meiner marmorweißen Haut. Dennoch spüre ich, wie sie sich bereits rötet und anfängt zu jucken. Es ist mir gleichgültig.
Ich hatte nicht einschlafen können, zu nah war mir das Zukünftige gewesen… und das Vergangene.
Drei Wochen ist es nun her, jener verhängnisvolle Abend, der mein ganzes Leben veränderte. An die Luft kann ich mich noch gut erinnern: warm und weich war sie gewesen, angenehm hatte das silberne Licht von Vater Mond meine Haut gestreichelt. Ich hatte beschlossen, auf die Kutsche zu verzichten, die mich von Herrin Mostaches Schule für feine Mädchen und Damen nach Hause bringen sollte. Mein Leibwächter Granat begleitete mich.
Mir schießen die Tränen in die Augen, als ich daran denke, wie galant er meinen Arm genommen, wie er leise gelacht hatte, als wir durch die Straßen schlenderten. Und an seinen Schrei, als er den Schatten als erster bemerkte. Ich spürte etwas Stechendes am Bein, knapp oberhalb des Knies, und hatte mehr vor Überraschung geschrien als vor Schmerz. Als ich fiel, stand Granat sofort über mir und schwang sein Schwert nach dem Mann (war es wirklich ein Mann gewesen? Daran konnte ich mich tatsächlich nicht erinnern). Sie kämpften, und ich sah, wie Granat getroffen wurde, mit Blut und Wut im Gesicht nach hinten taumelte, aber auch der Angreifer wich zurück, als er die Klinge kostete. Er lief davon, als andere Passanten und die Stadtwache heraneilten, um uns zu helfen. Hatte ich um Hilfe geschrien? Ich wusste es nicht.
Die Wunde an meinem Bein war nicht schlimm gewesen, und mitnichten war ich ein weinerliches, kleines Adelsmädchen, das wegen so etwas Banalem jammerte und weinte, nur Granats schockierter Gesichtsausdruck und die Empörung meines Vaters hielten mich davon ab, die Sache klein zu reden. Sie ließen mich nicht aus dem Anwesen, ja, nicht einmal aus meinem Zimmer, und unruhig humpelte ich zwei Tage darin auf und ab, ohne dass sich jemand erbarmte, mich aufzuklären. Die kalte Furcht wuchs in mir, dass alles viel schlimmer war, als ich es zunächst geahnt hatte.
Schließlich war es meine Mutter gewesen, die mit kalkweißem Gesicht und vom Weinen gerötete Augen in mein Zimmer kam und zitternd meine Hände umfasst hatte, als würde sie nie wieder Gelegenheit dazu haben. „Karena“, hatte sie gesagt, „Karena, du musst jetzt stark sein.“ Und dann erklärte sie mit gefasster Stimme, dass es ein Wolfsblut gewesen war, das mich gebissen hatte. Dass ich infiziert war. Verflucht. Für immer.
Man hatte mich gelehrt, meine Gefühle niemals offen zu zeigen, und schon gar nicht in unkontrollierbare Anfälle zu verfallen. Das schickte sich für eine Dame von Stand einfach nicht. Dennoch hatte ich nicht verhindern können, dass mir die Tränen ungehindert über die Wangen liefen und ich schluchzend in die Arme meiner Mutter fiel. Die Frau, die mich sonst immer als erste tadelte, wenn ich einen Fehler machte, und auch in jedweder anderen Hinsicht ein Vorbild gewesen war, streichelte mir den Rücken und hielt mich fest.
Mein Vater hatte Granat sofort entlassen und aus dem Haus gejagt, aber nicht ohne ihn zuvor eine Verschwiegenheitserklärung unterschreiben zu lassen, die mit weitreichenden Konsequenzen drohte, sollte Granat eidbrüchig werden. Kein Wort von dem Vorfall sollte an die Öffentlichkeit fallen, auch den Arzt, der mich behandelt hatte, wurde von meinem Vater zum Schweigen aufgefordert. Ich hatte mich gefragt, warum Vater den Mann so hart bestrafte, der mein Leben gerettet hatte, doch in seinen Augen hatte Granat in jeder Hinsicht versagt: er hatte zugelassen, dass ich verletzt wurde; war nicht in der Lage gewesen, den Angreifer zu stellen oder zu töten und letzten Endes hatte er es auch noch gewagt, zurück nach Maidwacht zu kommen und um Vergebung zu bitten. Es hätte nicht viel gefehlt, und mein Vater hätte ihn hinrichten lassen, denn es war Granats Schuld, dass ich nun eine Schande für meine Familie war. Laut meines Vaters wäre es besser gewesen, das Wolfsblut hätte mich getötet, und Granat gleich mit.
Wie betäubt verbrachte ich die nächsten Tage, in denen mir zwar erlaubt wurde, das Zimmer zu verlassen, Maidwacht aber mitnichten. Zu groß war die Gefahr, dass jemand Fragen stellte. Madame Mostache wusste zwar, dass ich überfallen worden war, aber auch hier hielt sich mein Vater mit den Hintergründen zurück. Er trat meine Verletzung breit, sodass ich durchaus für mehrere Wochen der Schule und dem Unterricht fernbleiben konnte, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.
Auch der Kontakt mit den Wachen und der Dienerschaft beschränkte sich auf das Nötigste. Vorbei waren die Zeiten, in denen ich mich in die Küche geschlichen und unter den Augen der Köchin süße Küchlein stibitzt hatte oder auf dem Flur mit zwei geschwätzigen Mägden gekichert hatte. Auch meine Familie ging mir aus dem Weg, wobei meine Mutter und mein Bruder sich den Befehlen meines Vaters widersetzen: sie manchmal, er beinahe jeden Tag.
Niver kam oft frühmorgens in mein Zimmer und kuschelte sich zusammen mit mir unter die Bettdecke, so wie früher, wenn er einen Albtraum gehabt hatte oder einsam gewesen war. Jetzt war es nur verständlich, dass er es wieder tat, weil ich nun diejenige von uns war, die einsam war. Mit seinen pummeligen Händen tastete er dann nach der Bisswunde, die bereits nach einer Woche einer wulstigen Narbe gewichen war. Trotz seiner jungen zehn Jahre wusste mein Bruder, was in dem Haus und mit mir vor sich ging, und er erkannte meinen Kummer, der von genau dieser Wunde herrührte. „Ich mag dich trotzdem“, sagte er dann immer, und für keine anderen Worte auf dieser Welt hatte ich ihn mehr geliebt.
Nur Tage später kam mein Vater zu mir, das erste Mal, seit ich gebissen worden war. Er hielt Abstand zu mir, was ich eigentlich gewöhnt war, nur benahm er sich jetzt so, als wäre ich ansteckend. Die Abschätzigkeit, mit der er mit mir sprach, war jedoch die gleiche wie immer. Er sagte, er habe ein Rudel für mich gefunden, das klein und verschwiegen genug war, meine Identität und meine Lage nicht weiter zu hinterfragen. Ich hatte nicht nachgefragt, wie viel Geld er ihnen für ihr Schweigen zahlte, aber ein kleiner, winziger Teil von mir war erleichtert. Als einzelnes und dazu noch junges Wolfsblut war es schwierig, die aufkommenden Kräfte zu kontrollieren, und mit einem Rudel und einem Alpha-Wolf hatte ich zumindest die Möglichkeit, mich in eine vorgegebene Richtung zu entwickeln. Und außerdem war es einfacher, wenn jemand im Notfall die Kräfte regulieren und unterdrücken konnte, sollte es tatsächlich zu einem Zwischenfall kommen.
Ich war erleichtert, aber glücklich war ich nicht. Ich bezweifelte sogar, dass ich je wieder glücklich sein würde.
So hatte ich Vhare und die anderen gefunden, die mich zwar freundlich behandelten, aber nicht wussten, wie sie mit mir umgehen sollten. Ich wusste es, ehrlich gesagt, auch nicht.
Und heute Nacht war es nun soweit: Vollmond. Meine erste, richtige Verwandlung. Das Auflodern jener Kräfte, die seit dem Biss in meinem Blut geschlummert hatten und sich danach nie wieder beruhigen würden.
Es sind die letzten Stunden meines normalen Lebens als Mensch, und ich will sie genießen, bevor ich endgültig ein Wolfsblut werden würde. Die Zeit rinnt mir wie Wasser durch die Finger, und mit furchtvollen Augen beobachtete ich den Lauf von Mutter Sonne und das Brennen ihres goldenen Lichts.
Die Nachtländer sind die Nachfahren des legendären Silbernen Volkes, jenen sagenumwobenen Menschen, die unsere Städte erbaut und als erste vom Mondlicht getrunken hatten. Doch ihre zarte Haut war so empfindlich gewesen, dass nur ein einzelner Sonnenstrahl schwere Verbrennungen hervorgerufen konnte. So lebten sie nur bei Nacht, unter dem wachenden Auge von Vater Mond.
Das Blut der Silbernen war über die Jahrhunderte immer dünner geworden, in denen sie die Handelsgrenzen geöffnet und sich mit Bewohnern aus anderen Ländern Rhinshasas vermischt hatten, aber dennoch begegneten Nachtländern dem Sonnenlicht noch immer mit Vorsicht. All ihr Leben, der Handel und die Gesellschaft waren auf die Nacht ausgerichtet.
Kein Wunder also, dass die Straßen von Nachtmond wie ausgestorben wirkten, während ich meinen Blick aus dem Fenster richte. Nur einige wenige Mutige laufen verhüllt durch die Gassen. Wie seltsam die Stadt bei Tageslicht aussieht, denke ich und seufze. Es ist schwierig, meine Gedanken abzulenken, und es gelingt mir nur unzureichend.
Nachtmonds Gebäude sind aus einem speziellen Stein gebaut, das Mond- und Sternenlicht reflektierte und auch dann sachte schimmert, wenn es bewölkt ist. So hatte man selbst ohne Lichteinfall keine Probleme, durch die Stadt zu wandeln. Nur einige Häuser in den Vorstädten und in den Neubauten der Oberstadt sind aus gewöhnlichem Material erbaut und stechen aus der Menge heraus wie ein Vogel ohne Federn. Tagsüber sind die Gebäude matt und farblos, nichts lässt auf den Glanz und die Schönheit schließen, die sie annehmen, sobald Mutter Sonne den Horizont küsst.
Was bald soweit ist, und mit wackligen Beinen erhebe ich mich. Heute trage ich ein schlichtes Kleid, so wie stets, wenn ich das Haus verlasse, um mein Rudel zu treffen, denn ich (oder vielmehr mein Vater) will nicht, dass man mich als ein Mitglied des Adels erkennt. Ein letztes Mal sehe ich mich noch in meinem Zimmer um und weiß, dass meine zukünftigen Augen den Raum, in dem ich sowohl Geborgenheit als auch Traurigkeit erfuhr, nie wieder so sehen werden wie jetzt. Mein Herz wird schwer.
Leise raschelt mein Kleid, während ich die Tür schließe und durch die Gänge husche, bemüht, nicht mehr Geräusche als nötig zu verursachen, um die Schlafenden nicht zu wecken. Insgeheim bin ich froh, niemandem zu begegnen, denn ich weiß nicht, ob ich es ertrage, jetzt jemandem ins Gesicht zu blicken.
Diese kurze Freude verflüchtigt sich wie Nebel im Sommer, als ich die Eingangshalle erreiche. Eigentlich hätte ich es wissen müssen, und ich schalte mich eine Närrin. Denn unten im Saal steht Kashim.
Mein Biss kommt Vater ziemlich teuer zu stehen: nicht nur besticht er einen Großteil der Wachen und der Dienerschaft und jene, die beinahe täglich mit mir zu tun haben, dann kauft er auch noch mein Rudel und schließlich heuert er zwei Mondläufer an, um seine Familie vor weiteren gefährlichen und möglicherweise skandalösen Vorfällen zu beschützen.
Einer von ihnen ist immer im Haus, um auf meine Mutter und meinen Bruder aufzupassen, der erst in zwei Jahren auf eine Privatschule geschickt und deswegen noch Zuhause unterrichtet wird. Der andere begleitet meinen Vater, wenn er ins Kontor geht oder anderweitig mit seiner Korrespondenz beschäftig ist und das Haus verlässt.
Ich hatte die Mondläufer bisher nur von weitem gesehen und erst recht noch kein Wort mit ihnen gesprochen. Wozu auch? Mich muss man nun nicht mehr beschützen, mir ist bereits das denkbar Schlimmste widerfahren. Aber von Niver, der diese beiden Elitekrieger unheimlich faszinierend findet, weiß ich zumindest ihre Namen.
Sura, eine zierliche, fast schon hübsche Frau, hat es wohl faustdick hinter den Ohren, denn offenbar flucht sie ziemlich viel und mein Bruder lernt von ihr Wörter und Ausdrücke, die kein Zehnjähriger je in den Mund nehmen sollte. Kashim ist wohl einmal während eines Einsatzes verletzt worden – angeblich hatte man versucht, ihm die Kehle durchzuschneiden –, weswegen er nicht mehr so gut sprechen kann. Wenn er es dennoch tut, soll seine Stimme nur ein Raunen, höchstens ein Flüstern sein.
Ich bleibe unwillkürlich stehen, als ich ihn sehe, und Kashim wendet mir seinen Blick zu. Mir bricht der Schweiß aus.
Die Eingangshalle ist hell erleuchtet von der untergehenden Sonne, aber Kashim ist heller. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat er letzte Nacht vom Mondlicht getrunken, denn noch immer leuchten seine Haut und seine Haare strahlend weiß. Seine schlichte, pragmatische Uniform sieht im Gegensatz dazu fast schmutzig aus, obwohl auch sie weiß ist, ganz nach der Ordnung der Mondläufer. Nur seine dunkelblauen Augen scheinen ein Leuchten abzugeben, das nicht von Vater Mond geschenkt ist. Intensiv mustert er mich. Nicht feindselig oder beschämt, wie es manche Diener hier im Haus oder mein Vater tun, sondern eher gleichgültig. Als ginge es ihn nichts an. Oder er ist professionell genug, um sich seine eigene Meinung über mich und die ganze Angelegenheit nicht anmerken zu lassen.
Eigentlich wollte ich durch die Eingangshalle und das Haupttor gehen, aber dann müsste ich an dem Mondläufer vorbei. Ich bin nicht so dumm anzunehmen, dass Kashim nicht weiß, warum ich so früh durch das Haus laufe, und obwohl ich nicht glaube, dass er mich aufhält, wenn ich das Anwesen verlassen will, gefällt es mir nicht, seinen Blick im Rücken zu haben. Mondläufer sind die Hüter des Gesetzes, eine Eliteeinheit, und daher verstand es sich von selbst, dass sie sich mit Wolfsblütern nicht sonderlich gut verstehen. Kashim muss für mich nur Ablehnung und Ekel übrig haben.
Mit flachem Atem gehe ich die Treppe hinunter, und der Mondläufer beobachtet jeden meiner Schritte aufmerksam. Anstatt geradeaus auf das Portal zuzugehen, wende ich mich nach links und biege hastig in einen Korridor ein, der zu den Dienstbotenquatieren und zur Küche führt. Ich atme erst aus, als ich seinen brennenden Blick nicht mehr zwischen den Schulterblättern spüre. Zitternd wische ich mir den Schweiß von der Stirn, mir ist plötzlich viel zu warm.
Ich höre Geräusche und leises Murmeln aus der Küche, und meine Schritte verlangsamen sich wie von selbst. War denn das Personal immer so früh wach? Ich schlucke und beiße die Zähne zusammen, bevor ich die schmale Treppe hinunter gehe, die in die Küche führt.
Das Gemurmel und die Bewegungen erstarren, als ich im Aufgang erscheine. Ich erschrecke, denn beinahe das ganze Küchenpersonal und auch einige Mägde und Kammerzofen drücken sich zwischen den Tischen und Herdplatten herum. Sie alle halten mit der Arbeit inne und starren mich an. Wie entblößt komme ich mir vor und spüre, wie ich rot werde. Mein Mund wird trocken.
„Mein Kind.“ Jemand, der am großen Tisch gesessen hatte, steht nun auf und kommt auf mich zu.
„Mutter?“, frage ich verwundert. Sie habe ich hier als allerletztes erwartet.
Sie nimmt mein Gesicht in die Hände, trotz der Schweißtropfen, die mir über die Schläfe laufen. „Hab keine Angst, Karena“, sagt sie und lächelt, „Alles wird gut.“
Mir steigen die Tränen in die Augen, vor Rührung und auch vor Wut und Zweifel. Nichts ist gut, doch ich wage angesichts der Hoffnung, die in ihrer Stimme singt, kein Wort zu sagen. Ich will den Augenblick nicht zerstören, auch wenn er für sie kostbarer ist als für mich.
Schnell wische ich mir über das Gesicht und wende mich an die Dienerschaft, die stumm hinter ihr steht. „Was macht ihr alle hier?“, frage ich.
„Wir haben auf Euch gewartet“, sagt Mabelle, die Köchin, „Wir wollten Euch Glück wünschen, junge Herrin.“ Um sie herum nicken die Bediensteten, manche zaghaft, andere heftig, aber nicht einer von ihnen hat kein aufmunterndes Lächeln für mich übrig. Es verschlägt mir die Sprache.
„Karena, Liebes.“ Ich wende mich wieder meiner Mutter zu. „Du darfst nie vergessen“, sagt sie, „dass du einen Platz im Leben hast, an den zu zurückkehren kannst. Egal, wer du bist oder was du getan hast. Ich bin für dich da.“
„Ich auch“, sagt Mabelle.
„Und ich“, fügt meine Kammerzofe, Wira, hinzu.
„Wir alle.“
Ich kann nichts sagen, zu groß ist das Geschenk, das sie mir gemacht haben. Wo mir mein Vater und die Gesellschaft mit Ablehnung und Verachtung begegnen, bringen sie mir Respekt und Ehre entgegen. Ich bin ihnen so dankbar, und ein Teil der Last, die mir in den letzten Tagen die Luft abgeschnürt hatte, wurde von mir genommen.
Ein Mann aus unserer familieneigenen Wache tritt vor, und mir fällt auf, dass er der einzige von ihnen ist, der sich hier eingefunden hatte. „Das hier ist von Granat“, sagte er und hält einen Briefumschlag hoch, „Er bedauert alles, was passiert ist und bittet Euch inständig um Verzeihung. Auch er wünscht Euch heute alles Gute und hofft, dass Eure Gram nicht allzu schwer wiegt.“
Ich nehme den Brief entgegen und betrachte ihn still. „Sagt ihm“, ich sehe auf und dem Wachsoldaten ins Gesicht, „dass ich ihm für das, was vorgefallen ist, nicht die Schuld gebe. Es gibt nichts zu verzeihen.“ Ich lächle, und der Soldat nickt erleichtert.
Wira nimmt mir den Umschlag aus der Hand. „Ich lege ihn in Euer Zimmer, junge Herrin.“
„Du musst jetzt gehen, mein Kind“, sagt meine Mutter und drückt meinen Arm. Plötzlich hatte auch sie Tränen in den Augen.
Das Gewicht, welches mir noch Sekunden zuvor leicht wie eine Feder vorgekommen ist, drückt mich wieder nieder und für einen Moment habe ich das Gefühl, die Wände würden auf mich zukommen und der Mondvater mich in seiner Wut anschreien. Ich atme aus und mit der Luft entweicht mir auch die Anspannung. Zumindest ein kleiner, unbedeutender Teil.
Ich gehe durch die Küche zur Hintertür und nehme den Mantel vom Haken, den ich sonst immer benutze, um mich unbemerkt aus dem Haus zu stehlen, wenn mir der Unterricht, die Lektionen und die Pflichten zu viel werden. Schweigend hilft meine Mutter mir und drückt mir einen Schal in die Hand, mit dem ich mein Gesicht verschleiern und gegen die Sonne schützen kann. Ich schlinge ihn mir lose um den Hals.
Sie gibt mir einen Kuss. „Sei stark, Karena“, sagt sie, „Und möge der Himmel dir gnädig sein.“
„Ich wandle sicher in Mondvaters Glanz“, vollende ich den Segen und nicke ihr und der Dienerschaft nochmals dankbar zu. Dann gehe ich durch die Tür und über den Kiesweg davon. Ich drehe mich nicht um, aber ich höre dennoch, wie meine Mutter in Tränen ausbricht. Es zerreißt mir das Herz.
Je weiter ich mich vom Stadtzentrum entferne, desto mehr Menschen tummeln sich auf den Straßen. Zuerst waren es nur ein paar gewesen, manche von ihnen, so wie ich, verschleiert, aber ihre Zahl wächst mit sinkender Entfernung zu den Stadttoren. Es verwundert mich, dass der Großteil von ihnen barhäuptig durch die Sonne läuft, und es scheint sie auch nicht im Mindesten zu kümmern. Die Nachtländer, die im Schutz der Dunkelheit und in Vater Monds Glanz erhaben wirken und beinahe leuchten, wirken bei Tag blass und kränklich. Mutter Sonnes goldenes Licht macht sich nicht gut auf silberblasser Haut.
Die Menge wächst an, als das Südtor in Sicht kommt, das sperrangelweit offen steht. Kurz bevor die beengenden Häuser in entlassende Freiheit übergehen, ist das Gedränge am Größten und an ein Durchkommen kaum noch mehr zu denken. So viele Wolfsblüter, denke ich schockiert und drücke mir den Schal noch enger an mein schweißüberströmtes Gesicht, während ich dicht an dicht mit ihnen stehe und nur langsam vorwärts komme. Ich weiß zwar, dass die Gemeinschaft der Wolfsblüter in Nachtmond eine der größten in den Nachtlanden ist, aber diese schiere Anzahl habe ich nicht erwartet. Sieht es an den anderen Stadttoren auch so aus? Die Stimmung ist gelöst und keineswegs angespannt, obwohl man sich nur in kleinen Schritten vorwärts bewegt. Einige unterhalten sich laut und gut gelaunt miteinander, lachen sogar.
Da wird mir plötzlich schlecht vor Ekel, und die Abscheu, die ich früher vor ihnen empfunden hatte und selbst in den letzten Wochen nicht ganz ablegen konnte, kommt zum Vorschein. Gut, dass ich mein Gesicht verhüllt habe, denn sonst hätte man sicherlich den Hass bemerkt, mit den ich meine Umgebung mustere.
Wie können sie nur? Sie lachen und spaßen miteinander, während sie sich auf den Weg machen, ihre Menschlichkeit aufzugeben. Sie sind nichts weiter als Tiere, die es verdienen, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Die Soldaten, Mondläufer und Schattenkinder machen zurecht Jagd auf sie. Wie können sie es wagen so zu tun, als wären sie normal, als wären sie Menschen? Denn das sind sie nicht, diese räudigen Hunde, diese Bestien, diese Mörder! Sie sind nicht meinesgleichen…
Doch, sind sie.
Der brennende Hass kühlt genauso schnell ab, wie er gekommen ist, und ich schnappe erschrocken nach Luft. Was ist los mit mir? Diese Wechselhaftigkeit liegt mir doch sonst nicht, schließlich war ich von klein auf dazu erzogen worden, mich zu beherrschen und zu fassen. Und diese Intensität…!
„Karena?“
Jemand legt mir schwer eine Hand auf die Schulter und ich zucke zusammen. Wäre die Menge nicht so dicht gewesen, wäre ich wohl zurück gewichen.
Neben mir steht Adrick und lächelt mich breit und gespenstisch an. Auch er ist unverhüllt und das schwindende Tageslicht lässt seine Züge ausgemergelt und fahl erscheinen. Nie ist er mir unheimlicher gewesen.
„Du bist früh dran“, sagt er und tut so, als bemerke er mein schockiertes Gesicht nicht, „Die anderen sind noch nicht da. Komm, wir gehen etwas zur Seite, da ist es ruhiger.“ Zögernd folge ich ihm, während er sich durch die Leute drückt und abseits in einer Nebengasse verschwindet. Dort steht auch Narim, der mit verschränkten Armen an eine Hauswand lehnt. Zur Begrüßung nickt er mir leicht zu.
Dankbar für die kurze Stille vor dem Sturm schlage ich meine Kapuze zurück und streife den Schal ab. Wortlos reicht Nasim mir ein Taschentuch, mit dem ich mir den Schweiß vom Gesicht wischen kann.
„Heiß heute“, murmele ich, um meine Schwäche zu kaschieren. Hier so verschwitzt und erschöpf zu stehen geziemt sich für eine junge Dame nicht. Absichtlich denke ich nicht daran, wie ich aussehen muss, und bin froh, dass kein Spiegel in der Nähe ist.
Adrick und Narim werfen sich einen Blick zu, den ich nicht so recht deuten kann. „Was denn?“, frage ich verwirrt.
„Es ist ziemlich kühl heute“, meint Narim, „Vielleicht friert es sogar.“
„Du hast Fieber“, sagt Adrick.
„Unsinn“, winke ich ab, „ich hab doch kein Fieber.“ Das wüsste ich doch.
Ungefragt legt mir Adrick die Hand auf die schweißnasse Stirn. Bevor ich mich darüber empören kann, geht er auch schon wieder einen Schritt zurück. „Neununddreißig fünf, würde ich sagen.“ Er kratzt sich am Kinn. „Wobei ich mich selten auf Nachkommastellen festlege. Das mache ich nur in Notfällen.“
„Was?“, frage ich verdattert.
„Ich bin Arzt, Kind.“ Er sagt es so selbstverständlich, dass ich ihn für einen Moment nur sprachlos anstarre. Den rastlosen, unangenehmen und Angst einflößenden Hünen hätte ich nie im Leben für einen Mediziner gehalten.
„Das… wusste ich nicht“, stammele ich dann.
„Du hast nie gefragt.“
„Es wird auch noch schlimmer werden“, sagt Narim, der sich, anders als Adrick, der unangenehmen Situation durchaus bewusst ist und sie so kurz wie möglich halten will, „Sobald der Mond aufgeht, wird das Fieber steigen und das Zittern setzt ein. Deswegen treffen wir uns auch so früh.“
Ich schlucke und will ihm das Taschentuch zurückgeben, doch er schüttelt nur den Kopf. „Behalte es. Deswegen habe ich es mitgebracht.“
„Wenn du also umkippst“, wirft Adrick wieder ein und es ist so, als hätte es diese kurze Unterbrechung nie gegeben, „brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich kann warme Umschläge machen und dich im schlimmsten Fall wiederbeleben.“
„Du bist wirklich zu gütig“, merkt Narim an.
„Danke!“, sagt Adrick, der den beißenden Sarkasmus in der Stimme seines Gefährten nicht bemerkt hat, ehrlich erfreut. „Endlich lobst du mich mal, wo du mich doch sonst immer herunter machst. Du liebst mich eben doch, habe ich Recht?“
Narim verdreht nur die Augen und spart sich die Antwort.
Vhare und sein Sohn kommen kurz darauf. Livion würdigt mich keines Blickes, aber der Alpha legt mir zuversichtlich eine Hand auf die Schulter, bevor wir losgehen. Zwar bin ich nervös und vollkommen verängstigt, doch durch diese simple Geste fühle ich mich ein wenig besser.
Wir reihen uns in die Menge vor dem Tor ein, die sich, entgegen aller Erwartungen, geduldig und diszipliniert benimmt. Niemand drängelt, keiner schreit oder beschwert sich, als wüssten alle, dass es schneller geht, wenn sie still alles erdulden.
Als wir endlich draußen sind, kann ich freier atmen. Die Wolfsblüter zerstreuen sich, einige wenden sich zu den Hügeln im Nordosten, doch der Großteil geht in die südlichen Wälder. Der Himmel leuchtet orange und pastellfarben, als Mutter Sonne sich zum Horizont herabsenkt und schon fast dahinter verschwunden ist. Die Wolken sind nur eine zarte Andeutung von rosa Fäden. Ich habe die Landschaft vor der Stadt schon oft gesehen, selbstverständlich nur bei Nacht, aber jetzt sind Gras, Wald und Himmel in ein so sanftes Licht getaucht, dass mir ein kleiner Seufzer entweicht. Meine Schritte werden langsamer und ich stolpere kurz. Vhare, der neben mir geht, nimmt meinen Arm, bevor ich hinfalle. „Danke“, murmle ich, aber Vhare hält mich weiterhin fest.
„Das wird nicht das einzige Mal bleiben“, meint er auf meinen verwirrten Blick hin und deutet mir, mich bei ihm unterzuhaken. Und tatsächlich, nur wenige Schritte später verliere ich schon wieder mein Gleichgewicht. Was ist denn los? Ich benehme mich wie der letzte Bauerntrampel. Adrick tritt an meine Seite und greift, wie zuvor auch schon ungefragt, meinen noch freien Arm. Keinen Augenblick zu früh, denn plötzlich werden meine Glieder schwer wie Eisen, und hätten mich die beiden nicht gehalten, wäre ich auf dem Weg zusammengeknickt wie ein Grashalm im Sturm. Leichte Panik steigt in mir auf.
„Wir sind gleich da“, sagt Vhare beruhigend und schleppt mich weiter, als wöge ich nicht mehr als ein Kleinkind. Ich schlucke, denn auch meine Stimme ist zu schwer, als dass ich sie erheben könnte.
Wir erreichen die ersten Ausläufer der Wälder, und ich schaffe es kaum noch, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vhare und Adrick tragen mich mehr, als dass sie mir beim Gehen helfen. Für das gedämpfte Grün des Blätterdaches, das ich vorhin noch bewundert hatte, habe ich nun kein Auge mehr.
Wir halten auf einen kleinen, kreisförmigen Hain zu, der mit Ginster und Farn überwuchert ist. Zwischen den Bäumen ist es angenehm ruhig, und durch das dichte Buschwerk und die Anordnung der Stämme sind wir geschützt vor neugierigen Blicken. Was nicht nötig ist, denn wir sind allein. All die Wolfsblüter, die vorhin noch durch die Tore geströmt sind, haben sich wohl in Luft aufgelöst.
Dankbar lasse ich mich ins weiche Moos sinken und Vhare lehnt mich an einen Baum, als wäre ich eine Puppe, die gleich umfällt. Meine Hände fangen an zu zittern, und jetzt wird mir wirklich heiß. Meine Haut glüht förmlich, und ich habe das unbestimmte Bedürfnis, sie mir herunter zu reißen. Adrick wirft mir nur einen prüfenden Blick zu und brummt zufrieden, als würde alles nach Plan laufen. Dann zieht er sein Wams aus.
Ich starre ihn mit großen Augen an und ermahne mich dann streng, mich von seiner nackten Brust abzuwenden. Er nestelt schon an seinem Gürtel herum.
„Was … was tust du da?“, lalle ich mit schwerer Zunge. Mein Gesicht wird knallrot, und das nicht vom Fieber.
„Ich ziehe mich aus“, sagt er, als wäre es nicht offensichtlich gewesen.
Natürlich weiß ich, wie Männer ohne Kleidung aussehen, schließlich hatten mich meine Mutter und auch meine Lehrerinnen hinreichend auf den Tag vorbereitet, an dem ich heiraten würde. Aber ich habe immer gedacht, ich würde einen nackten Mann nur im Schlafzimmer gegenüberstehen und auch nur dann, wenn der schützende und legitime Mantel der Ehe über mir liegt. Das wäre hinnehmbar und akzeptabel, aber das hier ist … schamlos, skandalös und völlig unangebracht.
„Als Wölfe sind wir größer und kräftiger“, springt Narim in die Bresche, dessen Hemd auch bereits aufgeknöpft ist, „Wenn wir unsere Kleidung nicht ablegen, zerreißt sie bei der Verwandlung. Deswegen ziehen wir sie vorher aus, damit wir am Morgen nicht in Fetzen oder nackt in die Stadt zurückgehen müssen.“
Das klingt logisch. Aber Mondvater, ich bin noch nicht bereit dafür! All das ist zu viel für mich, und ich wäre wohl in Tränen ausgebrochen, wenn mein Körper nicht so verrückt gespielt hätte. Auch Livion hat bereits sein Wams ausgezogen und faltet es gerade ordentlich zusammen. Er dreht mir den Rücken zu, denn ich bin seiner Aufmerksamkeit nach wie vor nicht wert, und mir fällt auf, wie schmal und fest er ist, die Haut hell und weich.
Ich stoppe mich. Nein, das darf nicht sein. Das muss aufhören!
„Soll ich dir helfen?“, fragt Adrick, mittlerweile nur noch in Unterhosen.
Ich sehe ihn sprachlos an.
„Dich auszuziehen“, erklärt er, als hätte ich es auch nicht so verstanden. Er streckt die Hände nach mir aus, und ich zucke vor ihm zurück und schüttele heftig den Kopf. Nach Hilfe suchend schaue ich Vhare an.
„Zumindest das Oberkleid solltest du ausziehen“, meint er entschuldigend, als er sieht, wie sehr ich mich sträube, „damit du später nicht nackt zurückgehen musst.“
Es ist, als hätte er mich der Verdammnis anheim gegeben. Ich schäme mich unendlich, als sich Adrick daran macht, die Verschnürung meines Kleides zu lösen, denn mittlerweile zittere ich so stark, dass ich meine Arme kaum heben kann. Sie macht ihm einige Schwierigkeiten, und es dauert länger, als ich es ertragen kann.
„Geh weg, du Trampel“, sagt Narim und stößt Adrick zur Seite. „Lass mich das machen.“
„Ich bin kein Trampel!“, protestiert Adrick.
Innerhalb weniger Sekunden hat Narim mein Kleid geöffnet und hilft mir, sanfter als Adrick, den schweren Stoff über den Kopf zu ziehen. Nun sitze ich nur noch in meinem weißen, dünnen Unterkleid da, das mir nur bis zur Mitte meiner Oberschenkel reicht. Schamvoll versuche ich, mich zu bedecken, aber meine Glieder gehorchen mir nicht mehr.
Mein Atem geht schwer und ich stöhne, denn die Hitze wird unerträglich. Sie wütet unter meiner Haut und verzehrt mich. Schmerzerfüllt wimmere ich.
„Ruhig atmen“, höre ich Vhares Stimme von irgendwoher. Der hat gut reden! Nicht er ist es, der hier sitzt und leidet. Ich will ihm sagen, dass er sich zum Teufel scheren soll, doch Etwas zerreißt in mir, und ich öffne den Mund, um zu schreien. Nur ist es kein Schrei, der meiner Kehle entweicht, sondern ein tiefes Brüllen wie von einem verwundetem Tier.
Tief in mir, geboren aus den Schmerzen meines Körpers, steigt es auf und will die Kontrolle übernehmen. Ich spüre es, dieses Unheil, die Wildheit und Blutgier, und bäume mich dagegen auf, auch wenn ich vor Schmerz beinahe den Verstand verliere.
„Nicht wehren!“, ruft jemand panisch, „Es passiert sowieso!“
Ich bin taub, alles ist unwichtig geworden. Der Wolf kommt, er ist in meinem Blut, und er will rausgelassen werden. Mit aller Macht kämpfe ich gegen ihn, doch er ringt mich nieder und ich spüre, wie meine Muskeln reißen. Er zerfetzt mich! Der Wolf tötet mich, denn ich bin ihm im Weg, den er gehen muss, um frei zu sein.
Ein tiefes Knurren ist alles, was ich vernehme. Nicht das Brechen meiner Knochen, das Reißen meiner Haut, die Spannung meiner Muskeln. Es tut so schrecklich weh, und ich spüre, wie mein Schädel platzt. Es soll aufhören, aufhören … Bitte …
Der Schmerz vergeht und ich schlage die Augen auf. Ich liege auf dem Rücken und zwei besorgte Gesichter sehen auf mich herunter: Narim und Livion. Beide sind verschwitzt und wirken erschöpft. Livion atmet sogar schwer und hat ein paar Spritzer einer dunklen Flüssigkeit an der Wange… Oh Mondvater, ist das etwa Blut?! Jetzt erst bemerke ich den metallischen Geschmack im Mund, und ich keuche auf, so intensiv ist er. Habe ich mir etwa auf die Zunge gebissen? Oder, noch schlimmer, … ?
Wüsste ich es nicht besser, hätte ich einen erleichterten Ausdruck in Livions Gesicht erkennen können, bevor er sich von mir abwendet. Zum Glück weiß ich es besser. Er ruft über die Schulter: „Sie ist wach!“
Ich blinzele irritiert. Wieso wach? Habe ich denn nicht noch eben an dem Baum gelehnt und vor Qual geschrien? Ich versuche, mich aufzurichten und fühle mich… erstaunlich gut. Als Narim mir die Hand reichen will, lehne ich ab. Und bemerke erst dann, dass ich keinen Fetzen Kleidung am Leib trage. Hoch kreische ich auf und versuche sofort panisch, mit meinen plötzlich viel zu kleinen Händen meine Scham zu bedecken.
„Stell dich nicht so an“, meint Livion ärgerlich.
„Guckt gefälligst woanders hin!“, fahre ich auf und versuche, mich von den beiden Männern abzuwenden, auch wenn es schon längst zu spät ist. Denn auch sie sind nackt, scheinen aber, im Gegensatz zu mir, kein Problem damit zu haben. Ich werde so rot, wie es Mutter Sonne an ihren heißesten Tagen sein muss.
Narim kommt meiner zweifelhaft vorgetragenen Bitte nach und wendet züchtig den Blick ab, aber Livion verdreht nur die Augen und stapft, leise vor sich hin murmelnd, davon. „Prüde Aristokratengöre.“
„Ich bin nicht prüde!“, rufe ich ihm hinterher, „Ihr seid einfach nur unverschämt!“
Livion stolpert kurz, als hätte ich ihn mit dieser Bemerkung tatsächlich kurz aus dem Gleichgewicht gebracht, geht dann aber umso schneller weiter. Ich wundere mich erst darüber, und meiner Verwunderung weicht atemlose Verwirrung, als mir auffällt, dass er nur geflüstert hat. Warum habe ich ihn dann trotzdem so deutlich gehört, als hätte er mir ins Ohr geatmet?
Vhare und Adrick kommen auf mich zu und letzterer ist, den Sternen sei Dank, fast vollständig angezogen. Vhare, in Unterwäsche, drückt seinem Sohn ein Bündel Kleider an die Brust, bevor er sich mir widmet.
„Hier“, sagt er und reicht mir mein Kleid. Hastig streife ich es mir über und es ist mir egal, ob es richtig sitzt, Hauptsache, es bedeckt mich. Der Stoff, den ich heute Abend noch als angenehm empfunden habe, kratzt nun empfindlich über meine Haut. Ich habe das Gefühl, einen Kartoffelsack zu tragen, und hätte es mir am liebsten gleich wieder vom Leib gerissen. Das kommt eben davon, wenn man kein Unterkleid trägt.
Ich stehe auf und grabe meine Zehen in die feuchte Erde. Wir sind nicht mehr im Hain, sondern in einem dichten Wald, in dem Tannen und Laubbäume dicht an dicht stehen. Ich schaue mich um und eins fügt sich dem anderen.
„Ich kann mich an nichts erinnern“, sage ich und sehe Vhare an. Es ist die einzig logische Erklärung: ich muss mich verwandelt und irgendwie das Bewusstsein verloren haben. Nichts hat der Wolf mir gelassen, nur kurze, angespannte Dunkelheit, die sich in meinem Kopf wie Watte anfühlt und in die ich auch gar nicht weiter vordringen will. Ich bin erleichtert und, zu meiner eigenen Verwunderung, auch ein wenig enttäuscht. Ich habe mich das erste Mal vollständig verwandelt und nichts davon mitbekommen.
„Nein“, antwortet Adrick an Vhares statt, „Wir dafür umso mehr.“
Ich zucke zusammen und mir fällt das Blut in Livions Gesicht wieder ein. „Habe ich euch verletzt?“, frage ich, „Ist jemand wegen mir…?“
„Alles in Ordnung“, sagt Vhare.
„Wirklich?“ Mein Blick schweift zu Livion, der sich schweigend anzieht. „Aber …“
„Alles in Ordnung“, wiederholt der Alpha und legt mir eine Hand auf den Arm, „Wirklich.“
Ich atme erleichtert auf. Meine schlimmsten Befürchtungen für diese Nacht haben sich nicht bewahrheitet. Es läuft besser, als ich es zu hoffen gewagt hatte.
„Das war lustig“, sagt Adrick strahlend, „Ich hatte schon lange nicht mehr so viel Spaß!“
„Du hast uns ganz schön auf Trab gehalten, junge Dame“, meint nun auch Narim und wischt sich, jetzt, wo er sich beruhigt hat, den Schweiß aus dem Gesicht. Ich traue mich nicht zu fragen, tue es aber dennoch. Eine Silbersicht stellt sich ihrer Angst und läuft nicht davon, höre ich die Stimme meines Vaters. „Was ist passiert?“
„Du bist davon gelaufen“, sagt Vhare, „und das nicht gerade langsam. Vermutlich hast du andere Lebewesen gewittert und wolltest sie jagen und erlegen. Purer Instinkt“, sagt er schnell, als er meinen schockierten Gesichtsausdruck sieht.
„Dein Wolf war stark“, sagt Aldrick, „und schnell. Nur Livion konnte folgen.“
„Wir haben versucht“, fährt Narim fort, „dich einzuholen, haben uns dann aber auf eine andere Strategie verlegt. Anstatt dich zu verfolgen, haben wir dich eingekreist und dich in einen Teil des Waldes getrieben, in dem sich nicht so viele Wolfsblüter aufhalten. Wir wollten nichts überstürzen, obwohl andere Rudel wahrscheinlich Verständnis gezeigt hätten. Als du gemerkt hast, dass du nichts Großes wirst reißen können, hast du ein paar Tiere getötet. Ein Wildschwein und drei Füchse.“
Daher also der Blutgeschmack in meinem Mund, denke ich und mir wird etwas schlecht bei dem Gedanken, einem armen Fuchs die Kehle durchgebissen zu haben.
„Kommt daher das Blut auf deinem Gesicht?“, richte ich das Wort nun direkt an Livion.
„Nein“, meint er etwas ärgerlich, „Du hast mich angegriffen.“
Ich werde blass. „Was?“
„Ich habe versucht, dich zurück zum Rudel zu treiben, aber das wolltest du offenbar nicht. Du hast mich in die Schulter gebissen und mir das Gesicht zerkratzt. Zum Glück hast du gewittert, dass ich zu deinem Rudel gehöre, sonst wärst du noch weiter gegangen.“
Entgeistert sehe ich ihn an. Seine Haut ist makellos, das habe ich gesehen, bevor er sein Hemd angezogen hat, und auch die Blutspritzer in seinem Gesicht hat er sich weggewischt. „Aber…“
„Es gehört zu den Veränderungen“, sagt Vhare und tritt vor. „Jetzt, wo der Wolf in dir ausgebrochen ist, nimmt er entschieden Einfluss auf dein Leben. Wir nennen es die Wandlung der Sinne. Ein Aspekt ist die Heilung: deine körperliche Regeneration ist um ein Vielfaches höher. Wunden heilen innerhalb von Minuten.“
Es ist irgendwie beängstigend, das zu hören, aber auch erleichternd. Es spielt die Verletzungen, die ich Livion zugefügt habe, gekonnt herunter. Dennoch fühle ich mich deswegen schuldig.
„Es tut mir trotzdem leid, dass ich dich angefallen habe“, sage ich zu Livion und beuge mein Haupt zur Entschuldigung. „Ich bitte dich um Verzeihung.“
Kurz scheint er etwas irritiert, weil ich mich so förmlich verhalte, aber er zuckt nur mit einer Schulter. „Schon gut. Ist ja nichts passiert.“
„Stelle dich darauf ein“, sagt nun wieder Vhare, „dass du dich in den Wochen vor und nach Vollmond lebendiger fühlen wirst als üblich, wohingegen du bei Neumond ungewöhnlich schwach sein wirst. Das ist der reguläre Zyklus eines Wolfsblutes.“
Er kommt zu mir und deutet auf einen Baum. „Hörst du das?“
Ich blicke in die von ihm gezeigte Richtung. Die Eiche, die etwas weiter entfernt steht, hat eine Baumhöhle, aus der ein Rascheln und ein schneller, aber regelmäßiger Atem kommt. Und… beim Mondvater, was ist dieses dumpfe Pochen?
„Das ist ein Eichhörnchen“, sagt Vhare, als ich es ihm verwirrt erkläre. „Du hörst seinen Herzschlag. Riech mal in die Luft.“
Tatsächlich kann ich einen leicht erdigen, aber scharfen Geruch wahrnehmen, als ich vorsichtig schnuppere. Ich bin über alle Maßen verwirrt und schaue mich um. Plötzlich kommt alles auf einmal: der Geruch des Waldes, das Rauschen des Blätterdaches, das Pfeifen des Windes. Aber das schlimmste ist mein Rudel: Vhare, der neben mir steht, scheint einen Sturm in der Lunge zu haben, so laut atmet er. Der Herzschlag von Narim und Adrick, die hinter mir stehen, dröhnt mir wie Paukenschläge durch den Kopf. Und als Livion sein Gewicht verlagert und mit seinen Schuhen auf die Erde stampft, spüre ich die Erschütterungen wie Wellen in meinem Blut. Ich schlage die Hände auf die Ohren und habe das dringende Bedürfnis, davon zu laufen, all diesen Endrücken zu entkommen, in die Stille.
Vhare fasst mich am Arm. „Blende es aus!“, befiehlt er mir, „Beruhige dich und unterdrücke den Wolf.“
Erst jetzt bemerke ich, wie mein Körper kribbelt und meine Hände leicht zittern. Der Wolf ist wieder da und versucht, meine Unachtsamkeit auszunutzen und wieder an die Oberfläche zu kommen. Ich kann ihn spüren, seine Präsenz in meinem Blut.
Ich schlucke und konzentriere mich. Es ist wie ein Ringkampf – so stelle ich es mir zumindest vor – und der Wolf ist noch von seinem Ausbruch heute Nacht erschöpft, weswegen es mir relativ leicht gelingt, ihn niederzuringen. Noch gut kann ich mich an seine unbändige Kraft erinnern, seine Wildheit und seinen Blutdurst, daher ist mein Sieg nur ein kleiner. Hätte der Wolf Ernst gemacht, würde ich jetzt wieder durch die Wälder laufen und Füchse jagen.
Ich beruhige mich und bemerke erst dann, wie gebannt mein Rudel mich anstarrt. „Habe ich etwas falsch gemacht?“, frage ich verunsichert.
„Im Gegenteil“, sagt Narim. „Du hast alles richtig gemacht.“
Erst danach machen wir uns auf den Rückweg. Hinter mir unterhalten sich Narim und Livion leise miteinander, doch ich höre kaum zu. Ich kann nicht glauben, dass diese Nacht so unbehelligt für mich ausgegangen ist. Niemand war zu Schaden gekommen, und entgegen meiner Befürchtungen geht es mir blendend. Ich habe erwartet, nach meinem ersten Ausbruch zitternd und zu Tode erschöpft nach Maidwacht zurückzukehren. Stattdessen schreite ich großzügig aus, und ich habe nicht minder Lust, in das Lied miteinzufallen, das Adrick vor sich hin pfeift. Ich fühle mich wie nach einer langen Krankheit: noch etwas schwächelnd, doch neue Kraft durch meine Adern pulsierend.
Die Morgendämmerung ist frisch und klar, und jetzt wurde mir bewusst, warum Adrick und Narim mich heute Abend so komisch angesehen haben, als ich die Sprache auf das Wetter brachte. Kleine Frostblumen kleben zwischen den Grashalmen, und unsere Schritte knirschen leise, als wir den Raureif unter unseren Füßen zerbrechen. Ich verschränke die Arme vor der Brust, weil mir kalt ist.
Die Farben des Waldes wirken satter, und ein schwerer Duft nach Erde und Laub hängt in der feuchtkalten Luft. Ich schnuppere angeregt und verzückt. Den salzigen, fast schon profanen Geruch meines Rudels klammere ich bewusst aus. Vhares Geruch ist am stärksten, fast schon metallisch. Das ist mir vorher noch nie aufgefallen. Ist das die Wandlung, von der er gesprochen hatte? Die Steigerung meiner Sinne? Es kommt mir gar nicht vor wie ein Fluch.
Wir verlassen den Wald und die Bäume werden lichter. Schon von weitem kann ich sie hören: andere Wolfsblüter, die sich ebenfalls wieder auf den Weg zurück in die Stadt machen. Vhare hat auch hier Recht behalten. Obwohl sie noch weit weg sind, kann ich fast jedes Wort ihrer Unterhaltungen verstehen, wenn ich mich konzentriere. Probeweise rieche ich auch in ihre Richtung. Ihr Geruch ist ähnlich wie der meines Rudels. Ich kann riechen, dass sie meinesgleichen sind. Doch je mehr es werden, desto lauter und undurchdringlicher wird das Stimmengewirr, der zuvor noch angenehme Geruch verwandelt sich in Gestank. Ich beginne, wieder unruhig zu werden. Auf einmal fühle ich mich überfordert.
Die anderen scheinen kein Problem mit der anwachsenden Menge zu haben. Es sind zwar nicht so viele Wolfsblüter wie noch am Abend, dennoch muss man seine Schritte verlangsamen. Adrick summt ungehindert weiter vor sich hin, und Narim blickt gelangweilt über die Köpfe der Anwesenden hinweg. Wie können sie nur so ruhig bleiben? Ich beiße die Zähne zusammen und versuche, mich zu beruhigen. Ich komme mir vor wie ein Tier im Käfig. Mir wird schon wieder heiß.
„Es hilft“, raunt mir Vhare dann plötzlich ins Ohr, „wenn du ruhiger atmest. Ich erkläre es dir.“ Die Technik, die er mir erläutert, hört sich im ersten Moment kompliziert und lang an. Es ist schwierig, mein wie wild schlagendes Herz zu beruhigen, aber seine leise Stimme hilft mir, meine Mitte wiederzufinden. Ich atme tief, und mit der Zeit werde ich tatsächlich ruhiger. Die Hitze zieht sich zurück.
„Gut gemacht“, flüstert er und ich fühle mich ein bisschen stolz.
„Vhare!“, ruft da plötzlich jemand. Am anderen Ende der Straße, im Schatten eines großen Hauses, steht eine Gruppe Wolfsblüter. Der Mann, der gerufen hatte, trägt ebenfalls eine metallische Note in seinem Geruch, weshalb ich stark annehme, dass er der Alpha ist.
„Kommt ihr mit?“, fragt er und ich kann ihn mühelos über die Entfernung verstehen, „Wir wollen noch was Trinken gehen.“
„Heute nicht, Qin“, meint Vhare und schiebt mich weiter.
Der Blick des Alphas fällt auf mich und ich hätte mir wohl auch ein Schild mit der Aufschrift „Frischling“ um den Hals hängen können, so offensichtlich ist der Grund, weswegen mein Rudel heute keine Zeit für Saufgelage hatte. Livion straft mich mit einem besonders boshaften Blick, als hätte ich es mit Absicht gemacht.
Jetzt, in der Morgendämmerung, sind die Straßen von Nachtmond beinahe genauso leer wie kurz vor Sonnenuntergang, nur wenige Mutige streunen noch herum, immer fest verschleiert. Von meinem eigenen Tuch, mit dem ich mich verhüllt hatte, sind als Andenken an diese Nacht nur noch Fetzen übrig geblieben. Aber auch so spüre ich die schwachen Strahlen Mutter Sonnes kaum, obwohl mir früher davon immer die Haut gebrannt hatte.
Am Rande des Sternenglanzviertels wird mein Rudel langsamer. Die Zeit, sich zu trennen, nähert sich.
„Von hier aus schaffe ich es alleine“, komme ich Vhares Frage zuvor und falte die Hände. Wenn ich schon aussehe wie eine Wilde mit ungekämmten Haaren und dreckiger, unordentlicher Kleidung, so will ich doch wenigstens die Haltung einer Edeldame behalten. „Danke, dass ihr mich bis hierher begleitet habt.“
Vhare sieht mich dennoch stirnrunzelnd an. „Ich sähe es trotzdem lieber, wenn zumindest Livion dich noch ein Stück begleitet.“
Sein Sohn verzieht widerstrebend das Gesicht. „Aber sie hat doch gesagt, sie kommt alleine…“
„Das war keine Bitte“, fällt Vhare seine Entscheidung und wird streng, „Begleite sie nach Hause. Bei den Sternen, du bist mit ihr zusammen in einem Rudel, also benimm dich langsam mal auch so.“ Also bin ich nicht die einzige, der Livions Abneigung aufgefallen ist. „Wir treffen uns morgen wieder“, wendet sich der Alpha wieder an mich, „Selbe Zeit, selber Treffpunkt.“
Ich nicke, und das Rudel zerstreut sich. Mit den Händen in den Taschen stapft Livion vor mir durch die Straßen, will es wahrscheinlich schnellstmöglich hinter sich bringen. „Warte“, rufe ich, „Du weißt doch gar nicht, wo ich wohne.“
Aufgebracht dreht er sich zu mir um, und ich fasse mich schon für eine bissige Bemerkung, die er ausspucken will. Stattdessen nimmt sein Mund einen höhnischen Zug an und er verbeugt sich kriecherisch. „Dann nach Ihnen, Euer Hochwohlgeboren.“
Ich spare mir den Atem für eine Erwiderung und gehe ihm, mit durchgestrecktem Rücken und erhobenen Hauptes voraus. Soll er nur wissen, dass ich hier die Adlige bin und er der Pöbel. Seine immer schlechte Laune geht mir mittlerweile auf die Nerven.
Die Häuser der Hohen und Reichen Nachtmonds sind protzig und ausschweifend, ganz anders als in den niederen Vierteln der Stadt, wo Wohlstand zwar willkommen, aber selten ist. Livion sieht sich um, während wir über Prachtstraßen gehen und Villen passieren.
„Bist du das erste Mal hier?“, frage ich, um ein Gespräch zu beginnen.
„Hm“, macht er meine Bemühung mit einem Laut zunichte und zuckt nur müde mit den Schultern. Ich seufze resigniert.
Hier gibt es einige private Wachdienste, die verhüllt auf den Straßen patrouillieren und einige sehr reiche Familienhäuser bewachen. Sie werfen uns feindselige Blicke zu, als wir mit bloßer Haut an ihnen vorüber gehen. Hoffentlich halten sie uns nicht an, und hoffentlich erkennt mich keiner von ihnen. Ich darf gar nicht daran denken, was mein Vater… Ich schaudere und lasse die Schultern hängen. Das und meine nachlässige Erscheinung sind mein einziger Schutz vor der Enthüllung. Nicht gerade viel.
Maidwacht kommt in Sicht und Livion stößt zum ersten Mal einen Laut der Verblüffung aus. „Da wohnst du?“, fragt er ungläubig.
Ich werde tatsächlich ein bisschen rot. „Das ist Maidwacht. Es wurde noch im Zeitalter der Silbernen erbaut und ist seitdem im Besitz meiner Familie. Es ist eines der ältesten Gebäude der Stadt.“
„Bestimmt ganz schön teuer im Unterhalt“, sagt Livion und ich weiß nicht, ob der Spott aus seiner Stimme spricht.
„Ganz im Gegenteil“, erwidere ich, „Der Glanzstein an der Fassade dämmt sehr gut und…“ Ich stocke mitten im Satz und bleibe schlagartig stehen. Livon geht noch ein paar Schritte weiter, bis er merkt, dass ich nicht nachkomme. „Was ist?“, fragt er verwirrt.
Ich starre auf den Vorplatz von Maidwacht, wo eine große Kutsche mit schwarzen Pferden vorgefahren ist. Sura ist leicht an ihrem weißen Äußeren zu erkennen, und in dem Moment, in dem die Seitentür der Kutsche sich öffnet, weiß ich, was passieren wird.
„In Deckung!“ Ich packe den protestierenden Livion am Arm und ziehe ihn hinter eine Hauswand, mein Herz schlägt plötzlich rasend.
„Was soll das?“, empört er sich und befreit sich aus meinem Griff. „Scht!“, zische ich ihn an und luge vorsichtig um die Ecke.
Mein Vater steigt gerade aus der Kutsche. Er trägt einen großen Hut mit Krempe und dazu noch einen teuren Schal, der die untere Hälfte seines Gesichts bedeckt. Zusätzlich eilt noch ein Diener heran und spannt einen Schirm auf, um ihn vor der noch geringen Sonneneinstrahlung zu schützen. Mit schnellen Schritten, sodass der Diener kaum folgen kann, geht er die Einfahrt hinauf zum Hauptportal.
„Bei den Sternen!“, raunt Livion neben mir, der ebenfalls um die Mauer lugt, „Ist das eine Mondläuferin?!“
Ich weiß erst gar nicht, was er meint, zu sehr haftet mein Blick an Erion Silbersicht, für den gerade die Tore geöffnet werden. Der Gedanke, ihm jetzt gegenüber stehen zu müssen, wo ich gerade meine erste Verwandlung hinter mir habe, ist mir unerträglich.
„Ja, das ist Sura“, sage ich abwesend, „Mein Vater bezahlt sie.“
„Dein Vater bezahlt ziemlich viel“, meint er abschätzig und spielt ohne Zweifel darauf an, dass er eigentlich nur bei mir ist, weil auch er von meinem Vater Geld bekommt. Und zwar nicht zu wenig.
„Er… sorgt sich eben…“ …um uns, will ich sagen, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Sorgt er sich um meine Mutter und Niver? Ohne Zweifel. Sorg er sich um mich? Fragwürdig. Schon bevor ich ein Wolfsblut wurde, konnte ich diese Frage nicht eindeutig beantworten, denn ich wusste, dass mein Vater sich stets einen Sohn als Erbfolger gewünscht hatte. Stattdessen hat er mich, und seine nicht allzu hohe Meinung von mir ließ er mich Zeit meines Lebens spüren. Jetzt, wo ich eine Schande für meine Familie bin, könnte ich nicht tiefer in seinem Ansehen sinken. Würde mir etwas passieren, würde er keinen Finger für mich rühren. Es sind bittere Gedanken, das weiß ich, aber ich kann sie nicht verhindern.
Livion, dem der Ton in meiner Stimme aufgefallen ist, dreht sich um und mustert mich. „Sorge?“, fragt er skeptisch, „Um dich oder seinen Ruf?“
Ich schlucke, denn damit hat er mein Dilemma ziemlich genau getroffen. „Um uns alle“, antworte ich ausweichend und selbst für mich hört es sich nicht sonderlich überzeugend an.
„Vielleicht solltet ihr euch mal Gedanken über eine Familientherapie machen.“ Livion schnaubt.
„Vielleicht“, raunt da eine jenseitige, krächzende Stimme hinter uns, „solltest du dich aber auch um deine eigenen Angelegenheiten kümmern.“
Ich zucke heftig zusammen und weiche erschrocken mit Livion, der plötzlich gespannt ist wie eine Bogensehne, mehrere Schritte zurück. Hinter uns steht Kashim und lächelt schmallippig über unsere Reaktion. Ich schaudere, denn ich habe ihn nicht kommen hören. Wie kann sich jemand nur so leise bewegen? Wie ein Geist ist er hinter uns aufgetaucht. Ein Geist aus Licht, denn Haut und Haar von ihm leuchten, als hätte er gerade flüssigen Schimmer getrunken. Wahrscheinlich ist er auf den Strahlen des Mondes hinter uns geglitten. Noch nie war der Begriff Mondläufer so passend.
Livion gibt ein gereiztes, erschrockenes Knurren von sich, das sich fast so anhört wie ein Zischen, das ich sonst nur von Hunden kenne, die, obwohl sie wissen, dass sie im Nachteil sind, den Gegner auf Abstand halten wollen. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Wolfsblüter einen solchen Laut von sich geben können. Kashim sieht ihn an und verengt die Augen. An seinem Gürtel hängen, offen für jeden erkennbar, mehrere Dolche und ein langes Messer, und der Glanz, den er abgibt, fühlt sich kalt und berechnend an. Ohne zu überlegen trete ich einen Schritt vor, sodass ich zwischen ihm und Livion stehe.
„Ich grüße dich, Mondläufer“, sage ich zitternd, denn der Schreck sitzt mir noch in den Knochen, „und danke dir, dass du mich auf meine Pflichten hinweist. Du hast Recht, wir sollten hier nicht so offen stehen und palavern. Ich gehe jetzt wohl besser hinein.“
Kashims Blick senkt sich auf mich, und das einzige Anzeichen dafür, dass er mich durchschaut hat, ist eine leicht hochgezogene Augenbraue. Er sagt nichts mehr, offenbar ist sein Vorrat an Worten für heute Nacht aufgebraucht. Die Narbe an seiner Kehle hebt sich brutal von seiner sonst makellosen Haut ab.
Halb drehe ich mich zu Livion um. „Danke, dass du mich bis hierher begleitet hast. Du kannst jetzt gehen, wir sehen uns morgen.“
Ohne ein Wort des Abschieds fährt Livion herum und verschwindet schnellen Schrittes aus meinem Blickfeld, als hätte er nur auf meine Erlaubnis gewartet. Ich schaue ihm nicht nach, weil ich seine Flucht vor mir und dem Mondläufer nicht sehen will. Für heute Nacht habe ich genug Schmerz ertragen, trotzdem spüre ich einen leichten Stich in der Magengegend, als er mich einfach so mit Kashim stehen lässt.
Der Mondläufer wartet, bis Livion außer Sicht ist, dann geht er zur Seite und deutet mit einer galanten Geste und einer leichten Verbeugung zum Haus. Kein spöttisches Lächeln ist auf seinem Gesicht, kein Hohn in seiner Haltung, deshalb kommt es mir weniger wie eine Einladung und mehr wie eine Drohung vor. Ich schlucke und raffe mein Kleid. Die einzige Hoffnung, die ich habe, ist die, dass mein Vater bereits in seinem Arbeitszimmer verschwunden oder schon zu Bett gegangen ist, damit ich ihm nicht begegnen muss.
Diese Hoffnung ist vergebens, wie ich alsbald feststellen muss. Kashim hält mir die Tür auf und schlüpft hinter mir in die Eingangshalle. Ich will die Treppe hoch gehen und mich in meinem Zimmer einschließen, um endlich meine Ruhe zu haben, doch er fasst mich am Arm. Selbst durch den Stoff meines Kleides spüre ich, wie kalt seine Hand ist. Er deutet auf das Empfangszimmer, vor dem Sura bereits Posten bezogen hat.
Ich will am liebsten in Tränen ausbrechen, aber ich füge mich, wenn auch mit der letzten Kraft, die die turbulente Nacht noch nicht aufgezehrt hat. Mit schleppenden Schritten und hängendem Kopf, als würde ich zu meiner eigenen Hinrichtung schreiten, bewege ich mich auf die schwere Eichenholztür zu. Sura wirft mir einen Blick aus ihren dunklen Augen zu, als wäre sie ehrlich überrascht, dass mir kein Fell aus den Poren sprießt, und schließt mit leiser Endgültigkeit die Tür hinter mir.
Mein Vater war noch nie sparsam im Umgang mit Geld gewesen, und dass, obwohl das Klischee eines im Kontor arbeitenden Mannes eigentlich anders aussieht. Die Möbel im Empfangszimmer sind aus Seide und Mahagoni, an den Wänden hängen teure Stillleben in gedeckten Farben und die gemusterten Vorhänge sind dicht und schwer. Kein Licht, sei es nun von Mutter Sonne oder Vater Mond, fällt hindurch.
Mein Vater selbst steht noch im teuren Anzug der Nacht im Raum, ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in der Hand. Nur den Mantel und den Hut hat er abgelegt. Er richtet kein Wort der Begrüßung an mich, als ich eintrete, vielmehr verdüstert sich sein ohnehin schon finster dreinblickendes Gesicht noch mehr, als sein Blick auf mich fällt. Für ihn müssen mein schlecht sitzendes Kleid, der schlammverkustete Saum und das Laub in meinem Haar eine Beleidigung sein, die er persönlich nimmt. Ich schäme mich schon, und dabei habe ich noch nicht einmal etwas gesagt.
Erion Silbersicht ist mit jedem Zoll ein Fürst. Den teuersten Stoff eines Anzugs trägt er, als wäre er seiner nicht würdig, und selbst auf Standesangehörige sieht er herab wie auf niederste Arbeiter. Zu Recht, finden einige (mich inbegriffen), denn das Ego meines Vaters ist fast genauso groß wie sein Name. Sein Haar ist schwarz, genauso wie der sauber getrimmte Bart, der die untere Hälfte seines harten Gesichts bedeckt. Dem Blick seiner Augen können nur wenige Menschen standhalten. Ich nenne es den Jägerblick, denn nur ein Raubtier, das seine Beute sicher wähnt und kurz vorm Zuschlagen ist, sieht so aus.
Jetzt bin ich die Beute, und ergeben schlage ich die Augen nieder. „Ich grüße dich, ehrenwerter Vater, und…“
„Es ist eine Schande, wie du aussiehst, Karena“, sagt er scharf und mustert mich angewidert, „Wo ist dein Mantel? Hat dich jemand gesehen?“
„Ich habe ihn verloren“, gebe ich etwas kleinlaut zu, „und nein, ich glaube nicht, dass mich jemand gesehen hat.“
„Du glaubst?“
Ich schlucke. „Ich bin mir sicher. Niemand hat mich erkannt.“
Mein Vater schnaubt. „Wenigstens eines spricht für den Dreck in deinem Gesicht: die Leute, die dir begegnet sind, werden wohl kaum einen weiteren Gedanken an dich verschwenden, geschweige denn dich für eine Dame von Stand halten.“
Ich ertrage die Demütigung stumm, denn darin habe ich Übung. Außerdem bin ich viel zu müde, um mich darüber zu ärgern.
„Was machen die Köter?“, fragt mein Vater, „Verlief alles angemessen und korrekt?“
Vater weigert sich, mein Rudel als Personen mit Gefühlen anzusehen, obwohl er es selbst für mich ausgesucht hat. Wenn er von ihnen redet, dann nur unpersönlich, als würde er ein Geschäft tätigen. ‚Köter‘ ist die einzige Sache, die offenbart, was er wirklich von ihnen hält, denn das ist eine gängige Beleidung für Wolfsblüter sowohl auf der Straße als auch in der hohen Gesellschaft.
„Es geht ihnen gut“, antworte ich routiniert und ohne mir meine Gefühle anmerken zu lassen. „Sie haben mir bei der Verwandlung geholfen und mich auch wieder nach Hause gebracht.“
Mein Vater öffnet empört den Mund, und schnell sage ich: „Niemand hat uns Beachtung geschenkt. Kashim hat mich empfangen.“ Wohl eher in Gewahrsam genommen, denke ich, spreche es aber nicht aus.
„Hör zu, Karena. Ich will nicht, dass diese Köter in deiner Gegenwart durch das Sternenglanzviertel spazieren, geschweige denn, sich Maidwacht nähern! Hast du das verstanden?“ Mein Vater ist kein Mann, der laut wird, wenn er verärgert oder wütend ist, was ihn nur umso unberechenbarer macht.
„Ja, Vater. Aber das Viertel ist doch öffentliches Gelände und jeder Bürger kann…“
„Das interessiert mich nicht! Ich habe gutes Geld bezahlt, damit sie dich unter Kontrolle halten und nicht jedem dahergelaufenen Trottel präsentieren. Es ist schon schlimm genug, dass sie mit dir umher streifen, aber zusammen mit ihnen gesehen zu werden? Vor den Augen der Hohen in Nachtmond? Kind, das ist lächerlich und unverantwortlich! Ich will, dass das nie wieder vorkommt! Von jetzt an verlässt du Maidwacht allein und ohne Begleitung, wenn du zu deinem Rudel aufbrichst, und du kommst auch allein wieder zurück. Schließlich hat dich diese Angelegenheit deinen Status und dein hohes Leben gekostet, da kannst du auch mit den Konsequenzen leben.“
Es ist nicht das erste Mal, dass er auf den Vorfall anspielt, der mich zum Wolfsblut machte, und bestimmt auch nicht das letzte Mal. Aber immer stellt er es so hin, als wäre es meine eigene Schuld. Als hätte ich mich mit Eifer mitten ins Gefecht gestürzt, nur um ihn und meiner Familie irgendwie zu schaden.
„Ja, Vater.“ Bestimmt wird er, sobald ich den Raum verlassen habe, Sura und Kashim entsprechende Anweisungen geben und sämtliche Wolfsblüter von Maidwacht fernhalten lassen. Alle außer mir.
„Gab es irgendwelche Vorfälle?“, fragt er weiter, „Hast du jemanden angefallen und verletzt?“
Plötzlich weiß ich, warum ich von ihm ins Kreuzverhört genommen werde. Es geht ihm nicht um mich, sondern um seinen Ruf! Er will von mir erfahren, ob ich jemanden verletzt habe, um denjenigen, sollte er mich erkannt haben, mit Geld zum Schweigen zu bringen. Erion Silbersicht prüft gerade nur, ob er weitere Ausgaben tätigen muss.
Zwar bin ich von ihm keine Herzlichkeiten gewohnt, eher im Gegenteil, meist nur Tadel und Erniedrigung – und im besten Fall Nichtachtung –, aber diese Erkenntnis schmerzt. Und zwar mehr, als ich zu ahnen wagte.
„Nein, Vater“, sage ich und versuche, die Tränen zurückzuhalten, „Sie haben gut auf mich aufgepasst. Niemand wurde verletzt.“
Mein Vater sieht mich skeptisch an. „Sag die Wahrheit, Karena.“
Sein Misstrauen vergrößert den Schmerz. Offenbar traut er mir alles zu. „Ich habe offenbar ein paar Tiere gerissen und das Rudel angefallen. Aber sie haben sich schnell erholt und es ist nichts Besonderes…“
Mein Vater wird hellhörig. „Offenbar?“
„Ich erinnere mich an nichts, was heute Nacht passiert ist.“
„Na, großartig.“ Er trinkt sein Glas in einem Zug leer. „Also ist die einzige Garantie das Wort dieser räudigen Hunde.“
„Ich vertraue ihnen“, sage ich und bin im selben Moment überrascht. Ich habe es ernst gemeint, sehr sogar.
„Ich aber nicht.“ Er sieht mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel an, als wäre ich eine Schwachsinnige in der Anstalt. „Sie sind Wolfsblüter. Welches Gewicht kann ihr Wort schon haben?“
Ich beiße die Zähne zusammen, erkenne aber die scharfe Wahrheit in seinen Worten. Obwohl Wolfsblüter mittlerweile in der Gesellschaft anerkannt sind, müssen sie dennoch Einschränkungen und Diskriminierungen im öffentlichen Leben erdulden. Die Angst und das Misstrauen, die die Menschen vor ihnen hegen, sitzen tief. Das Leben eines Wolfsblüters ist, genau wie das eines Schattenkindes, nicht viel wert.
„Das einzige“, erwidere ich in einem Anflug mutigen oder gar törichten Trotzes, „denn ein anderes Wort hast du nicht. Wir waren allein in dem Wald. Anderen Wolfsblütern sind wir nicht begegnet.“
Es schmeckt meinem Vater nicht, diese Tatsache hinzunehmen, das sehe ich ihm an. Er straft mich mit einem bohrenden Blick, weil ich ihm Widerworte gegeben habe, und sofort schaue ich wieder zu Boden.
„Nun gut“, seufzt er dann und stellt sein Glas ab, „Das wäre alles. Du darfst gehen.“
Es fehlt nicht viel, und ich hätte erleichtert aufgeatmet, aber ich beherrsche mich und mache einen zittrigen, aber ordentlichen Knicks. Er würdigt mich keines Blickes mehr, und auch ich verspüre nicht länger das Bedürfnis, in seiner Gegenwart auszuharren. Ich rausche aus dem Raum, ignoriere die beiden Mondläufer, die davor Stellung bezogen haben, als wären sie im Krieg, und haste die Treppe hinauf. Als ich in meinem Zimmer bin, lehne ich mich gegen die Tür und schließe zweimal ab. Erst dann erlaube ich es mir, die angestaute Luft und all die Gefühle herauszulassen. Es ist nicht nur die niedere Meinung, die mein Vater von mir hat und derer er sich auch nicht schämt, sie mir zu zeigen, sondern auch die ganzen verwirrenden Eindrücke seit meiner Verwandlung und die Gefühle – diese ganzen, intensiven Gefühle! –, die plötzlich über meinen Kopf zusammenschlagen. Ich sinke auf die Knie und breche völlig aufgelöst in Tränen aus.
Eine halbe Stunde später, die Sonne ist längst aufgegangen und scheint durch die Fenster, schaffe ich es endlich, mich etwas zu beruhigen. Zitternd stehe ich auf und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Plötzlich ist mir das unangenehme Kratzen, das mein Kleid auf meiner Haut verursacht, unerträglich und mit hastigen Bewegungen ziehe ich es aus und werfe es angewidert auf den Teppich. An manchen Stellen ist meine Haut gerötet und hat kleine Pusteln bekommen, was ich mir nicht erklären kann. Noch nie habe ich Kleidung getragen, die gescheuert hat, schon allein, weil meine Familie reich und angesehen genug ist, um sich die teuersten und bequemsten Stoffe zu leisten. Dass es auch Kleidung gibt, die nicht perfekt sitzt und kratzt, ist mir bis heute niemals in den Sinn gekommen.
Nackt, wie Vater Mond mich schuf, ziehe ich die Vorhänge zu und will mich in meine Bettdecke kuscheln, denn ich bin todmüde, da sehe ich Granats Brief. Wira hat ihn auf meinen Schreibtisch gelegt, wo er zwischen den akkurat geordneten Schulordnern und meinen Zeichenunterlagen auffällt. Ich überlege kurz, ob ich das, was darin steht, heute noch verkraften kann, dann zucke ich die Schultern und entscheide, dass es auch keinen Unterschied mehr macht.
Ich nehme den verschlossenen Umschlag mit ins Bett und sinke in die Kissen. Zwar kommt mir der Stoff auch hier härter und rauer vor, aber nicht so störend wie beim Kleid. Vorsichtig breche ich das Siegel und mein Herz macht einen Sprung, als ich Granats Handschrift erkenne. Dicht hat er die Papierbögen beschrieben und ich ziehe seinen Geruch mit dem Duft von Tinte in die Nase. Erst jetzt brennt die Sehnsucht in mir, gepaart mit Schuldgefühlen. Granat war mir ein guter Freund gewesen, mit dem ich gern zusammen gewesen bin, doch ich hatte in den letzten Wochen kaum einen Gedanken an ihn verschwendet, zu sehr hatten mich die Geschehnisse um mein eigenes Schicksal eingenommen. Wie es ihm wohl geht? Ich fange an zu lesen.
Liebe Karena,
ich muss dir zunächst zwei Dinge gestehen. Das erste ist meine Liebe zu dir.
Ich muss direkt aufhören und lasse den Brief auf die Decke fallen, als hätte ich mich an ihm verbrannt. Granat liebt mich? Mein Herz schlägt heftig, und ich muss an die vielen Stunden denken, die wir gemeinsam verbracht hatten. Plötzlich bekommen seine zärtlichen Gesten, sein Entgegenkommen und das Lächeln, das er mir immer zuwarf, wenn er glaubte, ich würde es nicht bemerken, eine ganz neue Bedeutung. Ich werde rot vor Verlegenheit und Rührung.
Oh Granat! Wie schwer es dir gefallen sein muss, Maidwacht verlassen zu müssen. Ich drücke den Brief an meine Brust, bevor ich mich dazu überwinden kann, weiterzulesen.
Dann: Ich bin ein Schattensohn.
Wieder muss ich innehalten, aber nicht vor Rührung, sondern vor Schock. Ein Schattensohn! Ein Bluttrinker und Kind der dunklen, verderbten Magie! Wie kann das nur möglich sein? Diese Enthüllung bricht mir fast mein gerade erwärmtes Herz.
Schattenkinder sind in der Gesellschaft von Nachtmond sogar noch weniger angesehen als Wolfsblüter. Wenn mein Vater das gewusst hätte … Seine Drohung, Granat hinrichten zu lassen, sollte er sein Schweigen brechen, kommt mir auf einmal nicht mehr so unrealistisch vor. Wusste er davon? Bestimmt nicht, sonst hätte er Granat niemals in die Nähe seiner Familie gelassen.
Aber vor allen Dingen: zwischen Wolfsblütern und Schattenkindern herrscht eine Feindschaft, die nicht zum ersten Mal blutig und auf der Straße ausgetragen wird. Woran das liegt, weiß niemand, aber die immer wieder aufflammenden Konflikte sind ein Grund, wenn nicht gar der größte, warum beide Gruppen in der Zivilbevölkerung unbeliebt sind und diskriminiert werden. Sie unterstehen der Beobachtung der Behörden und Mondläufer, und diese greifen auch erbarmungslos zu, sollte sich ein Schattenkind oder Wolfsblut ungebührlich verhalten. Feinde gibt es für sie überall, Freunde nur wenige.
Bin ich Granats Freundin? Ich bin mir plötzlich nicht mehr so sicher. Ich seufze und fahre fort.
Ich kann mir vorstellen, dass die letzten Wochen für dich nicht einfach gewesen sind, vor allen Dingen, weil dein Vater dich ohnehin nicht sonderlich schätzt. Zwar habe ich meine Ausbildung unter der Aufsicht von Haus Silbersicht abgeschlossen und bin für vieles dankbar, was deine Familie mir hat zugutekommen lassen und was ihr mich gelehrt habt, aber nun, da ich nicht mehr für euch arbeite, kann ich es aussprechen: Dein Vater ist ein arroganter, selbstgerechter Narr. Ich musste mich oft beherrschen, ihm nicht meine Meinung zu sagen, wenn er dich mal wieder schlecht behandelte. Du bist seine Erbin, nicht Niver, und egal, wie sehr er sich auch wünscht, es wäre anders, nichts kann daran etwas ändern. Und du bist seine Erbin, Karena: du bist schlau und gewitzt, dein geschäftlicher Sinn steht seinem in nichts nach, und du besitzt außerdem etwas, was dir, im Gegensatz zu ihm, den Weg zu den Herzen der Menschen öffnet: Freundlichkeit.
Bei mir hat es jedenfalls funktioniert.
Ich hatte stets gewusst, dass meine einzige Zukunft an deiner Seite als Leibwächter sein würde und nicht als Geliebter. Schon allein, weil du der hohen Gesellschaft angehörst und ich nur der Sohn eines Kaufmannes bin. Nein, wir wären zusammen niemals glücklich gewesen. Das war auch der Grund, warum ich dir nie etwas gesagt habe und stets zufrieden damit war, in deiner Gegenwart zu sein und deine Freundschaft zu genießen.
Und dann ist da noch die Tatsache, dass ich ein Schattensohn bin. Wie du vielleicht weißt, ist diese Art von Magie (oder Krankheit, wie es manche sagen mögen) vererbbar. Bei mir war es meine Mutter, die eine Schattentochter war. Sie starb, als ich drei war: sie wurde an Vollmond überfallen, am Tiefpunkt ihrer Kräfte, und erlag ihren Verletzungen. Vater ist sich sicher, dass die Wolfsblüter dahinter stecken, aber das glaube ich nicht. Wolfsblüter haben an Vollmond anderes zu tun, als über wehrlose Schattenkinder herzufallen. Nein, es waren nicht die Wölfe, die meine Mutter getötet hatten, es war die Gesellschaft.
Wir leben in einer Welt, die uns zwar duldet, aber nicht akzeptiert. Immer wieder werden wir angefeindet, Schattenkinder insbesondere, da sie Menschenblut trinken. Mehr braucht es nicht, um in den Augen der Leute als Monster zu gelten. Dass ich durchaus normale Nahrung zu mir nehmen kann und durch meinen Konsum von Blut noch nie ein Mensch zu Schaden gekommen ist, gar getötet wurde, ist offenbar irrelevant.
Nur ein einziges Mal habe ich getötet, in vollem Bewusstsein und mit Hass im Herzen, und zwar den Mörder meiner Mutter.
Ich habe gelernt, den Menschen zu misstrauen und, gemäß meiner Natur, im Schatten zu leben. Kaum jemand in meinem Umfeld weiß von meiner wahren Identität, sonst hätte ich es wohl kaum geschafft, in die Wache eines hohen Hauses aufgenommen zu werden.
Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte es verhindern müssen! Es war meine Schuld, dass das Wolfsblut dich verletzen und infizieren konnte, schließlich verfüge ich über die Sinne und Fähigkeiten, einen solchen Angriff vorauszusehen und abzuwehren. Und dann war ich noch nicht einmal in der Lage, den Täter zu fassen. Du hast jedes Recht der Welt, mir für dein Schicksal die Schuld zu geben. Aber egal, wie sehr du mich jetzt hassen magst, niemand kann mich so sehr hassen, wie ich es selbst tue.
Nun ist mein Leben auch dein Leben: das ständige Misstrauen, die Vorsicht, die Angst. Immer über die Schulter blicken. Die Menschen nicht so nah an dich heran lassen, damit der Schmerz nicht so groß ist, wenn sie erfahren, wer du wirklich bist und dich verstoßen. Die Heimlichtuerei. Und die Müdigkeit.
Ich bin müde, Karena. Müde, mich zu verstecken. Müde, alle, die mir wichtig sind, auf Abstand zu halten. Müde, ich selbst zu sein.
Es tut mir leid. Es tut mir tausendmal leid. Niemals habe ich mein Leben für dich gewollt, und wenigstens eine Sache macht dein Vater richtig: er hilft dir, dich zu verstecken. Ich hatte keine Hilfe, und sieh, was es aus mir gemacht hat: ein Monster. Nichts wiegt meinen Fehler wieder auf.
Nur eines.
Das Wolfsblut, das dich angegriffen und dein Leben ruiniert hat, ist noch immer auf freiem Fuß. Hiermit schwöre ich dir, dass ich es finden werde. Ich werde es finden und töten, so wie ich es einst mit dem Mörder meiner Mutter getan habe.
Ich schäme mich nicht, diese Worte zu schreiben, zu groß ist die Wut in mir und das Verlangen, für das, was passiert ist, Buße zu tun. Aber ich bin nicht der einzige, der büßen muss, und dieser eine Gedanke ist es, der mich noch aufrecht stehen lässt. Verurteile mich nicht dafür, dass ich, auch an deiner statt, Rache nehmen will, und lasse mir den Frieden, den diese Tat mir bringen wird.
Ich wünschte, alles wäre anders gekommen, aber das ist es nicht. Unnütz scheint die Vergangenheit, da wir nicht ändern können, was geschehen ist. Wir können nur daraus lernen. Ich hoffe, dass du dein Schicksal ein leichteres sein wird als meines. Trage es mit der Erhabenheit, mit der du stets durch das Leben gegangen bist. Vielleicht wirst du dann eines Tages auch wieder lächeln können. Nichts würde mich mehr erfreuen.
Ich will nur, dass du glücklich bist. Das wollte ich immer.
In Liebe,
Granat
Ich schließe die Augen, als ich am Ende angekommen bin, und spüre, wie die Schwermut in mir aufsteigt. Erfolgreich unterdrücke ich das Gefühl und auch die Tränen, und falte den Brief ordentlich zusammen. Ich weiß, ich sollte ihn vernichten, zu groß ist die Gefahr, dass jemand anderes diese privaten Worte liest. Vor allen Dingen, weil sie so brisante Informationen enthalten, die Granat in ernsthafte Schwierigkeiten bringen können. Doch irgendwie weiß ich, dass ich es nicht über mich bringen kann, die Worte dem Feuer zu übergeben, zu sehr haben sie mich berührt und erschüttert. Meine Gedanken schweifen in die Ferne, zu meinem Freund, der jetzt, hoffentlich, in Sicherheit ist.
Bitte, Granat, denke ich verzweifelt und besorgt, Pass auf dich auf!
Texte: Hanna Kuhlmann
Tag der Veröffentlichung: 04.04.2018
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