Nathalie C. Kutscher
Oklahoma Hearts
Next Generation
Über dieses Buch:
Jenny Porter hat sich auf der Bird Creek Ranch ein neues Leben aufgebaut. Endlich hat sie mit ihrer kriminellen Vergangenheit abgeschlossen, ein Studium absolviert und verfolgt den Traum, auf Bird Creek eine eigene Pferdezucht zu starten. Unterstützung bekommt sie dabei von ihren Chefinnen Eve und Bobby, die sich auch weiterhin um Jugendliche aus schlechten Verhältnissen kümmern. Doch eines Tages verschwindet eines der betreuten Mädchen spurlos.
FBI-Agentin Grace Lewis ermittelt undercover und zieht als neue Lehrerin auf Bird Creek ein. Welten prallen aufeinander. Die taffe Agentin muss lernen, dass im Leben nicht alles nach Regeln läuft und Jenny erkennt, dass es weitaus mehr als ihre Arbeit gibt. Hat ihre Liebe eine Chance?
Copyright © 2021 Nathalie C. Kutscher– publiziert von telegonos-publishing
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Cover: Kutscherdesign
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ISBN der Druckversion 978-3754312346
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Was bisher geschah
Bobby und Eve saßen mit einer fröhlich quakenden Amy im Auto vor dem Gefängnis und warteten auf Jenny, die aus der Haft entlassen wurde. Die Adoption war mittlerweile rechtskräftig und Amy entwickelte sich zu einem normalen Baby, ohne irgendwelche Einschränkungen, auch wenn sie weiterhin sehr klein für ihr Alter war.
Eve war im vierten Monat schwanger und erst am Tag zuvor hatten sie erfahren, dass es wieder ein Mädchen werden würde. Auf einen Namen hatten sie sich ganz schnell geeinigt: Edwina, Eddy zu Ehren. Ohne ihn würden sie heute nicht hier sitzen. Letztendlich hatte sich Bobby durchgesetzt und das Schlafzimmer zu einem Kinderzimmer umbauen lassen, in dem beide Kinder Platz hatten. Wenn sie größer wurden, sollten die beiden Zimmer im Untergeschoss zu den Kinderzimmern werden. Bisher gestaltete sich das Leben als Mütter als ungewohnt, aber sie beide genossen jede Minute davon. Bobby war ganz vernarrt in Amy und entpuppte sich als Übermutter. Für Eve stand fest, dass sie es auch mit einer ganzen Armee von Kindern aufnehmen konnten - wenn sie das denn wollten.
Matt und Kerry waren inzwischen glückliche Eltern eines gesunden Jungen namens Sam geworden und auch sie dachten bereits über weitere Kinder nach.
Jenny trat durch das Gefängnistor und hob die Hand zum Gruß. Sie hatte in den vergangenen Monaten damit begonnen, ihren Schulabschluss nachzuholen und mit Eve und Bobby vereinbart, wenn sie den Abschluss in der Tasche hatte, einige Fächer auf dem College zu belegen. Sie würde auf der Ranch hart anpacken und alles lernen, was Bobby und die Arbeiter ihr beibringen konnten. Sie wollte sich ändern und blickte zuversichtlich in die Zukunft.
»Bereit für ein neues Leben?«, fragte Bobby, als Jenny in den Wagen einstieg.
»Bereit!«, antwortete Jenny. »Lasst uns eine Farm führen.«
Kapitel 1
Die untergehende Sonne am Horizont verwandelte die Weiden in ein brennendes Inferno. Surreal wirkten davor die Umrisse der grasenden Rinder, die langsam von der aufziehenden Dunkelheit verschluckt wurden. Es war Zeit, sich auf den Heimweg zu machen, der lange Arbeitstag saß Jenny in den Knochen. Mit der Zunge schnalzend wendete sie ihre Stute und ritt, den roten Feuerball im Rücken, in Richtung der Wohngebäude, die abseits der Weiden standen.
Auf dem Hof vor dem Hauptgebäude der Bird Creek Ranch traf sie auf einige der Arbeiter, die ihre Pferde und Quads ablieferten und auch möglichst in den Feierabend wollten. Vor zwei Jahren war Jenny zur Vorarbeiterin befördert worden, direkt nach ihrem Abschluss, den sie am Gemeindecollege absolviert hatte. Mittlerweile war sie vierundzwanzig Jahre alt und ein fester Bestandteil von Bird Creek.
»Hey, Dix«, rief sie einem hageren Kerl zu, der mit einem Schlauch die Räder seines Quads abspritzte. »Denkst du morgen an die Wasserpumpen? Ich glaube, auf der hinteren Weide ist der Druck nicht hoch genug.«
»Wird erledigt, Boss. Gute Nacht.« Er tippte sich leicht gegen die Schirmmütze auf seinem Kopf und widmete sich wieder seiner Arbeit.
Jenny glitt vom Pferd, streckte ihren schmerzenden Rücken durch und ging in den Stall, um die Stute zu säubern und zu füttern. Als sie all ihre Arbeiten erledigt hatte, lief sie zum Haupthaus, in dem ihre beiden Chefinnen Bobby und Eve mit ihren Kindern lebten. Schon von Weitem hörte sie das glockenhelle Lachen der fünfjährigen Amy, was ihr ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Sie liebte das Kind, denn Amy war ihre leibliche Tochter.
Als Jenny vor fast sechs Jahren hier auftauchte, war sie ein völlig anderer Mensch gewesen. Sie hatte Drogen-und Alkoholprobleme, log und hinterging Menschen, die ihr eigentlich helfen wollten und beinahe hätte sie dafür gesorgt, dass Eve und Bobby sich trennten. Doch obwohl sie sich mehr als schäbig verhalten hatte, war Eve für sie da gewesen, als sie ihr beichtete, schwanger zu sein. Tag und Nacht saß Eve im Krankenhaus und kümmerte sich um die viel zu frühgeborene Amy, und auch Bobby wich - als sie erst einmal eingesehen hatte, dass auch sie einiges ändern musste - nicht mehr von der Seite des Frühchens.
Die beste und einzig richtige Entscheidung, die Jenny je getroffen hatte, war die, ihre Tochter zur Adoption freizugeben. Und Eve und Bobby waren diejenigen, die Amy adoptierten, obwohl sie damals nicht wussten, ob das Kind durch den Drogenkonsum der Mutter, bleibende Schäden davontrug. Zum Glück war dem nicht so. Auch wenn Amy einen denkbar schlechten Start ins Leben hatte, war sie mittlerweile bei bester Gesundheit. Nach all dem entschloss sich Jenny, ein neues Leben zu beginnen. Sie saß eine Haftstrafe wegen Diebstahls ab und wieder waren es Eve und Bobby, die für sie da waren und sie auch nachträglich unterstützten. Noch immer schämte sich Jenny für das, was sie damals getan hatte und war, trotz ihres jungen Alters, viel zu streng mit sich selbst. Seit sie auf Bird Creek lebte, war sie weder ausgegangen, trank nur noch selten Alkohol, hatte das Rauchen aufgegeben und keine Beziehung geführt. Sie bestrafte sich für das, was sie damals angerichtet hatte.
»Jenny!« Amy rannte auf ihre leibliche Mutter zu, als diese das Haus betrat und klammerte sich an deren Beinen fest.
»Guten Abend, du kleine Kröte.« Jenny hob das Mädchen lachend hoch und wirbelte sie herum.
Edwina, Eves und Bobbys andere Tochter, folgte ihrer Schwester.
»Ich will auch fliegen, Jenny«, jauchzte sie und streckte ihre Arme in die Luft.
»Hey, ihr beiden. Jenny hat den ganzen Tag geschuftet, also gönnt ihr eine Pause.« Eve trat lächelnd in den Korridor.
»Aber Mom«, quengelte Eddy. »Wenn Amy fliegen darf, will ich auch.«
»Wollen schon mal ganz und gar nicht«, sagte Jenny, hob die Vierjährige aber im selben Moment hoch und drehte sich mit ihr im Kreis.
»Und gleich muss sie kotzen.« Amy kicherte. »`Tschuldigung«, fügte sie hinzu, als sie Eves strafenden Blick sah.
»So, ihr beiden Krabben, ich muss dringend etwas essen, sonst breche ich gleich zusammen.«
Die beiden Mädchen fassten nach Jennys Händen und zogen sie in die Küche.
»Grandma Beth hat Pizza gemacht und Eddy und ich haben sie belegt.« Stolz öffnete Amy den Kühlschrank und deutete auf einen Teller, der abgedeckt im Inneren stand.
»Mit extra Zwiebeln hoffe ich.«
»Ja, aber die sind nur für dich. Ich muss davon immer weinen.« Amy zog die Nase kraus. »Mom, dürfen wir noch ein bisschen Fernsehen, bevor wir ins Bett müssen?«
»Ja, aber nur den Kindersender«, antwortete Eve, doch die beiden Mädchen waren schon grölend und lachend aus der Küche gerannt.
Kopfschüttelnd stellte Jenny den Teller in die Mikrowelle.
»Wenn ich das den ganzen Tag um die Ohren hätte, würde ich wahrscheinlich durchdrehen«, meinte sie amüsiert. »Dann schon lieber eine Herde Rinder.«
»Wenn Bobby nicht da ist, kann das schon manchmal an den Nerven zerren.« Eve ließ sich auf einen Stuhl nieder und lächelte müde. »Aber ich liebe die beiden, auch wenn sie mit viel zu viel Temperament gesegnet sind.«
»Schuldig.« Jenny grinste. Amy glich ihr sehr, sowohl vom Aussehen, als auch vom Wesen. Sie hatte ebenso leicht gewelltes, brünettes Haar, strahlend blaue Augen und ihre Energie schien grenzenlos zu sein. Die Kleine wusste nicht, dass eigentlich Jenny ihre leibliche Mutter war, aber irgendwann wollten die drei Frauen es ihr gemeinsam sagen. »Wann kommt Bobby denn zurück?«
Die Mikrowelle piepte. Jenny nahm den Teller heraus und stellte ihn auf den Tisch.
»Morgen. Ist auf den Weiden alles in Ordnung?«
Eve erhob sich und schenkte ihnen beiden Kaffee ein.
»Ja, alles bestens. Dix kümmert sich morgen um die Pumpe. Die Rinder für die Auktion habe ich bereits alle markiert und bringe sie morgen in den Stall«, antwortete Jenny, ehe sie von ihrer Pizza abbiss.
»Sehr gut. Danke dir.«
»Hat sich eigentlich schon jemand auf dein Stelleninserat gemeldet?«
»Keine einzige Person bisher.« Eve seufzte. »Es gibt wohl nicht so viele ambitionierte Lehrer, die auf einer Ranch leben und verhaltensauffällige Jugendliche unterrichten wollen. Wenn gar nichts hilft, werde ich die Praxis schließen müssen, um mehr Zeit für die Kids zu haben.«
»Hm, das wäre dann aber auch wieder für Matt ziemlich blöd«, nuschelte Jenny, die einen Bissen Pizza mit Kaffee hinunterspülte.
»Ach Matt ...« Eve winkte lachend ab. »Ist doch seine eigene Schuld, dass er völlig überarbeitet ist. Warum setzt er auch so viele Kinder in die Welt?«
Die beiden Frauen lachten, bis Amy den Kopf zur Türe hineinsteckte.
»Was gibt es hier zu lachen, Weibsvolk?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und zog ein grimmiges Gesicht.
»Woher hast du denn so was?« Eve war schockiert, während Jenny versuchte, ernst zu bleiben.
»Das haben die gerade im Fernsehen gesagt«, antwortete Amy. »Da läuft was mit Piraten.«
»Ihr solltet doch den Kindersender einschalten!«, sagte Eve streng.
»Hatten wir doch, aber Eddy wollte dann was anderes gucken.«
»Entschuldigst du mich kurz.« Eve erhob sich und scheuchte Amy aus der Küche. »Los, ihr beiden, ab nach oben. Zähneputzen, Pyjama an und dann ab ins Bett«, hörte Jenny aus der Entfernung und holte sich schmunzelnd einen Nachschlag.
Als sie endlich in ihrem Bett lag, war es fast Mitternacht. Von draußen hörte sie gedämpfte Stimmen und wusste, dass Eve ihren nächtlichen Kontrollrundgang bei den Jugendlichen machte, die in den anderen Hütten wohnten. Manchmal, so wie in diesem Moment, wünschte sich Jenny, auch jemanden zu haben, den sie liebte. Auch wenn sie Teil dieser großen, wunderbaren Familie war, hatte sie das Gefühl, etwas fehle ihr. Es war ewig her, seit sie Sex gehabt hatte, aber es war nicht nur das. Sie hatte ihr Herz für Romantik verschlossen und das spürte sie gerade wieder sehr deutlich. Eve und Bobby waren ein Traumpaar, auch wenn sie sich hin und wieder fetzten wie die Kesselflicker, doch man konnte die tiefe Liebe zwischen den beiden spüren. Ebenso wie bei Matt und Kerry, die mittlerweile vierfache Eltern waren. Jeder hatte sein Gegenstück gefunden, selbst Beth und Archie genossen ihr spätes Glück. Aber wo sollte sie jemanden kennenlernen, wenn sie nie ausging? Bobby hatte ihr schon des Öfteren deswegen in Ohren gelegen und ihr erklärt, dass ein derartiges Verhalten für eine junge Frau gänzlich ungesund sei und sie das Leben einer Nonne führte. Jenny wusste, dass ein Fünckchen Wahrheit in diesen Worten steckte, dennoch ... sie war sich ja nicht mal sicher, welches Geschlecht sie bevorzugte. In ihrer Jugend hatte sie viel herumprobiert und hätte damals alles dafür gegeben, Bobby ins Bett zu bekommen, trotzdem hielten sich ihre Erfahrungen mit Frauen eher in Grenzen. Eigentlich war es auch egal, es war der Mensch, in den man sich verliebte, da sollte das Geschlecht keine Rolle spielen.
Seufzend drehte sie sich auf die Seite und schloss die Augen. Erst als sie hörte, wie Eve sich von den Hütten entfernte, dämmerte sie langsam ein.
Der Hof wurde von einer riesigen Staubwolke eingenebelt, als ein schwarzer Dodge auf das Haus zufuhr.
»Diese Frau ist einfach unmöglich. Sie weiß schon, dass sie zwei Kinder hat, die sich hin und wieder im Freien aufhalten, oder?« Matt Conner, der Tierarzt, verpasste aufgebracht dem Bullen vor sich eine Spritze.
»Hey, lass deinen Frust nicht an den Tieren aus«, schimpfte Jenny. »Du weißt doch, wie Bobby ist.«
»Klar, weiß ich das. Sie eine verantwortungslose Person.«
»Aber im Grunde deines Herzens liebst du sie, gib es zu.« Jenny grinste den Tierarzt an, der ein mürrisches Gesicht zog. »Hey, Bobby«, rief sie über den Hof, bekam aber nur ein halbherziges Winken als Antwort.
»Wie viele noch?«, fragte Matt.
»Drei.« Jenny gab dem Bullen einen Klaps aufs Hinterteil und holte den nächsten.
»Wie gehts Kerry und den Kindern?«
»Gut, soweit. Na ja, so, wie man sich eben mit vier Kindern fühlt. Die Zwillinge schlafen nur bedingt durch, also eigentlich ... fühlen wir uns dauerhaft müde und ausgelaugt.«
»Verstehe.« Jenny lachte erheitert. Ihr war nicht entgangen, dass Matt mittlerweile einen Vollbart trug, weil ihm scheinbar die Lust und Zeit fehlte, sich täglich zu rasieren. »Kommt doch mal wieder mit den Kindern vorbei. Wir könnten ein Barbecue machen«, schlug sie vor.
»Ein Treffen mit Erwachsenen?« Matt wirkte euphorisch. »Du meinst, mit richtigen Gesprächen, Bier und all das, ohne vollgesabbert zu werden?«
»Ja, das schwebt mir vor«, gab Jenny grinsend zurück. »Beth wird sich liebend gerne um das Zwergenkommando kümmern, du weißt doch, wie sie ist.«
»Ich werde das nachher mit Kerry besprechen, sie wird sicherlich ebenso begeistert sein.«
»Na, ihr beiden.« Bobby hatte sich dazu gesellt und grinste breit. »Matt, was ist da in deinem Gesicht los? Ziehst du in Erwägung, in die kanadischen Wälder zu ziehen und Holzfäller zu werden?«
Jenny gluckste.
»Halt bloß die Klappe, Hale«, brummte er.
»Hey, es kann doch niemand was dafür, dass Kerry so fruchtbar ist.« Sie zwinkerte Jenny amüsiert zu.
»Ich habe Matt und Kerry zu einem Barbecue eingeladen. Was hältst du davon?«, fragte Jenny.
»Das halte ich für die beste Idee überhaupt.« Bobby schlug Matt auf den Rücken. »Ich vermisse wirklich die Saufgelage mit meinem besten Freund.«
»Saufgelage«, murmelte Matt. »Du erinnerst dich? Nach unserem letzten Saufgelage sind die Zwillinge entstanden.«
Um Jennys Zurückhaltung war es geschehen. Sie krümmte sich geradezu vor Lachen und auch Bobbys Mundwinkel zuckten verdächtig.
»Wisst ihr was? Früher kam ich wirklich gerne zu euch, aber aus euch ist ein Haufen bösartiger Hexen geworden.« Matt packte seinen Kram zusammen und stapfte zu seinem Wagen.
»Also dann am Wochenende Barbecue?«, rief Bobby ihm nach.
»Ja, ja. Wir werden da sein!«
Nachdem er vom Hof gefahren war, luden Jenny und Bobby die ausgewählten Bullen in einen Transporter. So hatten sie schon früher zusammengearbeitet. Hand in Hand, jede wusste, was sie tun hatte. Bobby hatte ihr verziehen, aber was noch wichtiger war, auch Eve hatte ihr nichts von dem, was sie damals getan hatte, nachgetragen.
Kapitel 2
Gemächlich schlenderte Jenny durch die Anlage, in der die Viehauktionen stattfanden. Sie liebte dieses Spektakel. Durch die Lautsprecher scholl die Stimme des Auktionators, seine Worte wurden einem wie Gewehrschüsse um die Ohren gepeitscht.
Hier und da sah sie bekannte Gesichter, hielt kurz für einen Small Talk an und schlenderte dann weiter. Sie aß bereits ihren dritten Hot-Dog und freute sich, für zwei Tage ihren üblichen Tätigkeiten auf der Ranch entgehen zu können.
»Na, was macht die Konkurrenz?« Bobby gesellte sich zu ihr, die Hände lässig in den Gesäßtaschen ihrer Jeans vergraben.
»Viele gute Bullen.« Jenny wischte sich die Lippen an einer Serviette ab. »Du solltest bei Thomson einen Blick riskieren, er hat einen Prachtkerl im Angebot. Wenn wir den als Zuchtbullen bekommen könnten, würden unsere Ladys vor Wonne auf der Weide tanzen.«
Bobby lachte und schob ihren Hut weiter in den Nacken.
»Wir sind hier, um zu verkaufen, nicht um zu kaufen, du alte Kupplerin.«
»Schon, aber er hat viel Potenzial. Sieh ihn dir an!«, forderte Jenny.
»Okay, gucken kostet nichts.« Bobby gab sich geschlagen und folgte Jenny, die sich einen Weg durch das Gedränge bahnte.
»Thomson.« Die beiden Frauen nickten dem alten Farmer zu, der sich zur Begrüßung an den Hut tippte.
Sobald Bobby den Bullen sah, begannen ihre Augen zu leuchten. Jenny grinste in sich hinein. Sie kannte ihre Chefin gut genug, um zu wissen, dass das Tier bereits so gut wie gekauft war.
»Was sagst du?«
»Hm«, machte Bobby scheinbar gelangweilt. »Nicht schlecht.«
»Nicht schlecht?« Thomson ging dazwischen. »Du findest weit und breit keinen Besseren, Hale. Marmeduke hat schon etliche kräftige und gesunde Nachkommen gezeugt.«
»Mag sein«, erwiderte Bobby. »Aber wir haben selbst gute Bullen.« Sie drehte Thomson den Rücken zu.
Jenny verschränkte die Arme und genoss das Schauspiel. Bobby liebte es, Verhandlungen zu führen und ihrem Gegenüber den besten Preis aus der Tasche zu locken. Etwa zehn Minuten führten Bobby und Thomson einen Schlagabtausch, es fielen ein paar Beleidigungen, an deren Ende ein Handschlag folgte. »Ich mache den Vertrag fertig«, sagte Thomson. »Du weißt, wie man einen alten Mann übers Ohr haut, Hale.«
»Alter Mann«, murmelte Bobby. »Du bist ein Halsabschneider, nicht mehr und nicht weniger. Ich habe dir den Preis nur deshalb bezahlt, weil ich dich gut leiden kann. Sieh zu, dass er zu unserem Transporter gebracht wird.«
Lachend folgte Jenny ihrem Boss in die Auktionshalle, wo gerade die Rinder der Bird Creek Ranch vorgestellt wurden.
»Letzendes haben wir doch einen guten Gewinn gemacht.« Jenny hatte die Beine ausgestreckt, ihre Augen geschlossen und genoss den Fahrtwind, der durch das geöffnete Fenster in den Truck wehte.
»Was wir wem zu verdanken haben?«
»Dir natürlich, Boss. Dir und deinem ausgezeichneten Verhandlungsgeschick.«
Zufrieden mit sich selbst drehte Bobby das Radio lauter. Als sie den Truck auf den heimischen Hof lenkte, erwartete die beiden Frauen ein Empfangskomitee, bestehend aus einigen Arbeitern und Eve.
»Du hast ihnen bereits verraten, dass wir Marmeduke gekauft haben, oder?« Bobby warf Jenny einen Seitenblick zu.
»Natürlich. Matt soll ihn sich ansehen, bevor wir ihn zu den anderen auf die Weide lassen. Du kennst doch die Regeln, du hast sie gemacht.«
Bobbys Blick verfinsterte sich. Als sie dann auch noch Eve sah, die kopfschüttelnd auf den Truck zulief, blieb ihr nur noch, sich eine gute Ausrede einfallen zu lassen.
»Sie hat mich dazu genötigt«, ging sie in die Offensive, als sie die Türe des Trucks geöffnet hatte und zeigte auf Jenny.
»Ach ja? Und du konntest nicht nein sagen, weil ...?« Eve hatte die Hände in die Hüften gestemmt, doch in ihren blauen Augen blitzte es vergnügt.
»Der Bulle ist eine gute Investition und damit basta.« Bobby grinste, nahm Eves Gesicht in ihre Hände und küsste sie. »Komm, ich zeig ihn dir.«
Jenny hatte bereits die Ladefläche geöffnet und die Rampe hinuntergelassen. Marmeduke war friedlich und gutmütig, sodass sie ihn ohne Probleme aus dem Truck führen konnte.
»Wow«, sagte Eve anerkennend. »Wirklich ein Prachtkerl. Das habt ihr gut gemacht.«
Jenny übergab den Bullen einem der Arbeiter und folgte Eve und Bobby ins Haus, wo bereits Beth, die gute Seele der Ranch, mit einem deftigen Mittagessen auf sie wartete.
»Du bist die Beste, Beth.« Jenny drückte die alte Frau an sich. »Ich sterbe vor Hunger.«
»Du hast immer Hunger, Kind. Und trotzdem bist du klapperdürr. Setzt euch.« Beth verfrachtete ihre Mädchen, wie sie die Frauen nannte, an den großen, etwas abgenutzten Holztisch und stellte dampfende Schüsseln in die Mitte. »Los, erzählt. Was gibt es Neues?« Wie jedes Jahr war sie neugierig auf den Klatsch und Tratsch, den die Frauen aus der Stadt mitbrachten. Früher war sie oft selbst mit zu den Auktionen und anderen Veranstaltungen gefahren, doch mittlerweile war sie weit über sechzig und fühlte sich nicht mehr fit genug.
»Miranda und Dave Hamilton sind getrennt«, begann Jenny, während sie sich ihren Teller mit gebratenem Hähnchen vollpackte. Obwohl sie scheinbar unaufhörlich Nahrung in sich schaufelte, war sie gertenschlank und durchtrainiert. »Dave hat sich wohl eine andere gesucht und Miranda einfach rausgeschmissen.«
»Ach, du liebe Zeit.« Beth schüttelte den Kopf. »Und das nach all den Jahren?«
»Tja, Midlife Crisis nennt man das wohl. Sie ist in die Stadt gezogen und jobbt an der Tankstelle. Ach, und Peter Wilson ist tot.«
»Was? Wie das?«
»Herzinfarkt«, schmatzte Jenny.
»Die arme Christel.« Beth wirkte traurig. »Ich werde die Tage bei ihr vorbeifahren und sehen, wie es ihr geht. Hach, dieses verdammte Alter. Heute trifft es Peter Wilson und morgen mich oder Archie.«
»Nun mach aber mal einen Punkt«, fuhr Bobby dazwischen. »Eure Zeit ist noch lange nicht gekommen, hast du mich verstanden? Du wirst hier noch gebraucht.« Beth lächelte müde und tätschelte mit ihrer faltigen Hand Bobbys Wange.
»Ihr haltet mich jung. Ihr drei und die Kinder.«
»Apropos Kinder.« Jenny biss herzhaft von einem Hähnchenschenkel ab. »Matt und Kerry kommen am Wochenende. Wir wollen ein Barbecue machen. Natürlich würden wir uns freuen, wenn du und Archie dabei seid, aber ...«
»Aber eigentlich möchtest du fragen, ob wir uns um die Kinder kümmern, hm?« Beth warf Eve und Bobby einen amüsierten Blick zu.
»Wenn es dir nichts ausmacht ...«
»Ich denke, der Samstag eignet sich ganz hervorragend für einen Zoobesuch, meint ihr nicht?«
»Danke, Beth. Du bist ein Schatz.« Bobby drückte der Älteren einen Kuss auf den Scheitel.
»Wer geht in den Zoo?« Amy kam aufgeregt mit roten Wangen in die Küche gestiefelt.
»Niemand, wenn du dir nicht vorher die Schuhe ausziehst.« Beth drohte mit dem Zeigefinger. »Sonst darfst du gleich den Wischmob schwingen.«
Amy rannte zurück in den Korridor und kam blitzschnell ohne Schuhe zurück.
»Also«, sagte sie atemlos. »Wann gehen wir in den Zoo?«
Die Bird Creek Ranch bestand aus mehreren Gebäuden. Das Herz bildete das u-förmig gebaute, zweigeschossige Haupthaus, welches Eve in den letzten Jahren nach und nach renovieren und modernisieren ließ. In früheren Zeiten, als ihr Onkel Eddy noch lebte, war es ganz auf einen alleinstehenden Mann ausgerichtet, denn auch Bobby hatte nie den Sinn darin gesehen, etwas zu verändern. Doch jetzt lebte hier eine Familie und Eve war ein Schöngeist. Vorbei waren die Zeiten einer schmuddeligen Fassade und ausgetretenen Verandadielen. Das gesamte Gebäude erstrahlte nun in einem freundlichen Vanillegelb, mit weißen Fensterläden, einer überdachten Veranda und im hinteren Teil befand sich ein Wintergarten. Neben dem Haupthaus lag die Garage, über der all die Jahre Beth gewohnt hatte. Doch mit zunehmendem Alter fiel ihr das Treppensteigen schwer, daher war sie zu Archie in dessen Blockhütte gezogen. Auch dort merkte man den Einfluss einer weiblichen Hand, doch der grummelige Archie schien sich damit arrangiert zu haben. In Sichtweite lagen die Ställe der Pferde, daran angrenzend gab es den Hundezwinger, in dem aber mittlerweile kein Hund mehr lebte. Eve hatte darauf bestanden, den Hunden einen würdigen Lebensabend zu bescheren und hatte sie kurzerhand in liebevolle Familien vermittelt. Nur ihre Lieblingshündin Asha hatte sie selbst behalten. Bobby hatte darauf zunächst mit Unverständnis reagiert, denn für sie waren Arbeitshunde keine Kuscheltiere. Doch Eve hatte sich - wie so oft - durchgesetzt.
Der Hof vor dem Haus war recht weitläufig und stand eigentlich permanent voll mit irgendwelchen Fahrzeugen. Überquerte man ihn, kam man zu den Hütten, in dem einige der Arbeiter - Jenny eingeschlossen - und die Jugendlichen lebten, die von Eve betreut wurden. Dieses Projekt war ihr nach wie vor eine Herzensangelegenheit und ihre Erfolge sprachen für sich. Mit vielen der jungen Leute pflegten sie nach wie vor Kontakt, denn wenn sie nicht an diesem Programm teilgenommen hätten, wäre ihr Leben sicherlich ganz anders verlaufen. Eve war wie eine Übermutter für alle. Auch für Jenny. Als sie damals nach Bird Creek gekommen war, war es letztendlich Eve gewesen, die ihr eine zweite Chance gegeben hatte.
Doch mittlerweile kam auch Eve an ihre Grenzen. Die beiden eigenen Kinder, die Jugendlichen, die Tierarztpraxis und die Haushaltsführung - das alles lag auf ihren Schultern und auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, wurde es einfach zu viel. Beth tat immer noch ihr Möglichstes, doch das Alter machte ihr mehr und mehr zu schaffen. Außer Eve gab es noch einen Lehrer, der die Kids unterrichtete, doch auch das war zu wenig. Jenny hätte gerne mehr geholfen, aber sie war mit ihrem Job als Vorarbeiterin ausgelastet, auch wenn sie für ihre Zukunft einen gänzlich anderen Traum verfolgte.
Es war erst fünf Uhr in der Früh, dennoch ging es auf der Ranch schon wie in einem Bienenstock zu. Beim Verlassen ihrer Hütte, flocht Jenny ihre Haare zu einem Zopf. Manchmal war sie über sich selbst erstaunt, wie wenig Aufmerksamkeit sie mittlerweile ihrem Äußeren schenkte. Ein T-Shirt mit irgendeinem Bandaufdruck, eine Jeans und grobe Arbeitsstiefel - ihr Outfit sieben Tage die Woche.
»Guten Morgen, Archie«, rief sie dem Mechaniker zu, der ihr nur einen kurzen Blick zuwarf, sich das abgenutzte Basecap zurechtrückte und vor sich hingrummelte.
Mit langen Schritten stapfte sie zum Haupthaus, hinter dem gerade die Sonne aufging. Sie liebte es, früh aufzustehen, im Gegensatz zu manch anderen hier. Schon von weitem hörte sie eines der Mädchen weinen und wusste, dass es Edwina war. Die Kleine war ein schrecklicher Morgenmuffel und es gab fast jeden Morgen Geschrei und Gezeter, wenn Eve die Kinder weckte. Als sie die Küche betrat, in der sich Bobby, Eve, Beth und die Kinder befanden, schaute Eddy sie mit rotgeweinten Augen und einer beleidigten Schnute an.
»Guten Morgen.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Nathalie C. Kutscher
Cover: kutscher design
Tag der Veröffentlichung: 25.06.2021
ISBN: 978-3-7487-8655-9
Alle Rechte vorbehalten