Cover

Das Buch

 

Ben Kill

SOKO Todessprung

Krimi

 

Coverbild: StockSmartStart/Shutterstock.com

 


Zum Inhalt:

 

Seit geraumer Zeit agiert ein Serienmörder in Waarfurt, und niemand weiß davon.

Doch dann zieht Kommissarin Kris Kalkül in diese Stadt …

 

Ominöses Omen

Kriminalkommissarin Kris Kalkül schüttelte verständnislos den Kopf. Was wollte dieser Schrunz denn noch von ihr? Es war doch längst alles geklärt.

Kris tauchte ihre rechte Hand in die unergründlichen Tiefen ihrer Handtasche und fischte den unglückseligen Brief ans Tageslicht, ihre Linke angelte den Bogen aus dem Kuvert. Mit beiden Händen entfaltete sie ihn. Und zwar zum vierzigsten Mal seit Erhalt. Kris hatte mitgezählt.

Wir erwarten Sie Punkt 13 Uhr im Polizeipräsidium, stand da noch immer.

Kris runzelte die Stirn. Die sieben Sommersprossen unter ihrem Haaransatz verschoben sich und bildeten das Sternbild Großer Bär. Ihr Astronomielehrer hatte ihr das in der elften Klasse staunend gesagt. Sie hatte es sofort im Spiegel überprüft.

Kris starrte auf den Briefbogen.

Zum Polizeipräsidium?, dachte sie zum bestimmt hundertsten Mal. Wieso das denn?

Und auch dieses Mal fand sie keine Antwort.

Kris trug eine weiße, kurzärmlige Bluse, einen hellblauen wadenlangen weiten Rock, mit dem sie große Schritte machen konnte, und rosa Sandalen mit flachen Sohlen. Der Platz ihr gegenüber war unbesetzt. Kris überschlug die Beine und wippte nervös mit dem Fuß.

Noch einmal starrte Kris auf das Papier. Und erst jetzt fiel ihr auf, dass Schrunz nicht unterschrieben hatte. Lediglich ein amtlicher Stempel ganz unten, das war alles.

Sehr-sehr befremdlich, das Ganze, dachte sie.

Nun gut, sie würde sehen. In zwei Stunden war alles überstanden und sie wusste Bescheid.

Wenn es doch erst so weit wäre!

Voller Ungeduld schnellte ihr wippender Fuß nach vorn und prallte vom Polster des gegenüberliegenden Sitzes ab. Fast verlor sie die Sandale dabei.

Kris schreckte auf, zog den Riemen wieder über die Ferse und versteckte beide Beine unter der Sitzbank.

Verstohlen sah sie sich nach den Mitreisenden um, aber niemand beachtete sie.

Obwohl sie sich in Gedanken zur Ruhe zwang, wurde es nicht besser. Kris ertappte sich dabei, wie ihre rechte Hand das Kuvert und die linke das Briefpapier zerknüllte.

Was wollte man nur von ihr? Diese Vorladung ergab keinen Sinn.

Dass sie jetzt ruhig sitzen blieb, konnte niemand von ihr verlangen.

Den zerknitterten Brief ins Kuvert und das Kuvert in die Handtasche gestopft; die Handtasche über die linke Schulter geworfen; mit der linken Hand hinter den Rücken gegriffen und das untere Ende ihres naturblonden Zopfes umfasst und es gegen die Hüfte gepresst, wie sie es bei jeder jähen Bewegung tat – und Kris, ein Telegrafenmast von Frau – schnellte hoch. Zum Glück war das Dach des Waggons nach oben gewölbt und ersparte ihr die Beule.

Kaum stand Kris aufrecht, kam sie erst richtig auf Touren. Sie wetzte den Mittelgang in Richtung Lok entlang; trat nach kaum drei Schritten einem Mädchen auf den Fuß und bemerkte es nicht einmal; spähte auf den Bahndamm hinaus, der ihrem Empfinden nach viel zu langsam vorüberglitt; stolperte über eine abgestellte Reisetasche, deren Inhalt sich auf den Gang ergoss; kehrte um und spähte auf der anderen Seite auf den Bahndamm hinaus, der keinen Deut schneller vorüberglitt; stolperte über den breit verstreuten Inhalt der Reisetasche und prallte gegen eine Gestalt.

Es war der Zugschaffner. »Setzen Sie sich auf Ihren Platz und rühren Sie sich bis zum Aussteigen nicht mehr von der Stelle, sonst leime ich Sie fest«, blaffte er.

Kris starrte ihn verständnislos an.

»Dahinten. Der leere Fensterplatz, wo ich kurz nach der Abfahrt Ihre Fahrkarte kontrollierte.«

Kris gehorchte, setzte sich auf das noch warme Polster, ignorierte die ironischen Blicke mancher Mitreisender und den wütenden Blick des Reisetaschenbesitzers, ließ das Zopfende los, platzierte die Handtasche auf ihrem Schoß und versuchte, sich einzureden, die Ruhe in Person zu sein. Natürlich vergebens. Schon wieder hatte sie die Beine überschlagen und wippte mit dem Fuß. Mit Mühe widerstand sie dem Impuls, erneut in der Handtasche nach dem Brief zu kramen.

Der Zug fuhr langsamer. Hielt. Noch zwei Stationen, dann war sie da. Dauerte die Fahrt denn ewig?

Ein gelb-grünes Flatterkleid stieg zu, steuerte den Platz ihr gegenüber an. Hastig zog Kris die Füße ein, blickte auf und starrte in ein zerschminktes Gesicht. Ein eintätowierter Kobrakopf mit gespreiztem Nackenschild verzierte Hals und Dekolleté der Frau.

Als sich die Frau vorbeugte, sah Kris, dass sich der Schlangenleib in Richtung Nabel fortsetzte. Wo das Schwanzende des Reptils stecken mochte, wagte sie sich gar nicht vorzustellen. Kris verbiss sich mit Mühe einen Kicheranfall und war froh, für eine Weile vom Inhalt des Briefes abgelenkt zu sein.

Endlich nahte das Ziel: Waarfurts Hauptbahnhof. Der Zug rollte aus. Hoch über ihm wölbte sich das transparente, von Taubendreck bedeckte Dach. Und über diesem ein strahlendblauer Hochsommerhimmel vom Feinsten.

Ein Ruck. Der Zug hielt. Kris eilte zur Waggontür, umfasste das Zopfende, sprang auf den Bahnsteig hinaus, ließ es wieder los und sah sich um. Reisende aller Couleur hetzten an ihr vorüber. Es mussten Hunderte in der Halle sein. Und ständig strömten neue herein.

Kris’ Augen wurden groß. So viele Leute hatte sie in ihrem Kaff noch nie auf einmal gesehen.

Für den Moment vergaß sie den dummen Brief. Vorfreude huschte über ihr Gesicht.

Pro Monat, dachte sie, komm ich hier garantiert auf einen Mord. Dann bin ich berühmt, und Mom und Dad sind endlich stolz auf mich!

Erschrockene Ausrufe. Jeder im Umkreis wich hastig vor ihr zurück.

Hoppla! Sie hatte es wohl laut gedacht. Nun ja. Vielleicht hätte sie besser ›Mordfall‹ denken sollen und nicht ›Mord‹.

»Eine Verrückte! Warum sperrt man die nicht weg?« Die Frau zu ihrer Linken schielte nach der Bahnhofspolizei.

Kris sah an der Frau vorbei und spielte die Unschuld pur. Die Masse der Reisenden schloss sich wieder um sie.

Etwas sirrte an ihrem Ohr vorbei. Eine Tigermücke, schwarz-weiß gemustert und gefährlicher Virus-Überträger. Kris erkannte das Biest auf den ersten Blick. Angewidert verzog sie den Mund.

Die Mücke landete auf dem Waggon hinter ihr.

Das war die letzte Fehlentscheidung des Insekts. Kris spähte nach links, spähte nach rechts. Keiner schaute zu ihr hin. Niemand war ihr näher als drei Meter. Sehr gut. Sie hatte freie Bahn. Kris ließ ihren Kopf rotieren wie ein Metal-Fan. Ihr naturblonder Zopf hob ab. Kreisend und pfeifend durchschnitt er die Luft, verwandelte sich in eine flirrende Scheibe. Kris neigte den Kopf ein Stück. Die flirrende, pfeifende Scheibe kippte. Ein kleiner Schritt auf den Waggon zu. Kris’ Blick wurde zum Laserpointer: Zielpunkt das Insekt. Eine letzte winzige Neigung ihres Kopfes im genau richtigen Moment. Etwas krachte. Alles starrte sie an, starrte den Waggon an, starrte ihren schwingenden Zopf an, starrte wieder sie an. Kris starrte unschuldig fragend zurück.

Was weiß denn ich, was hier so gekracht hat?, sagte ihr Blick.

Der Zopf pendelte auf ihrem Rücken aus. Kris fühlte sein schweres Ende auf ihrem Po. Das Ganze hatte keine fünf Sekunden gedauert.

Kris linste zum Waggon. Die Stelle, wo eben noch die Mücke saß, hatte jetzt einen feuchten Fleck und eine gehörige Delle im Blech. Resultat einer im Zopf eingeflochtenen rostfreien Metalllitze mit einer kugelförmigen Verdickung am unteren Ende. Speziell angefertigt nach ihrem Wunsch. Nicht perfekt für den Nahkampf. Aber gut für einen Überraschungsangriff. Gut für die Abwehr.

Kris hatte damals überlegt, wie sie bewaffnet sein konnte, ohne dass man eine Waffe an ihr sah; und das war das Resultat.

Sie hatte dann stundenlang mit lebensgroßen Puppen geübt und wusste, sie konnte jeden Angreifer mit einem Treffer gegen die Schläfe ins Reich der Träume schicken.

Daran, sich nie schnell zu drehen, wenn Unbeteiligte ihr näher als zwei Meter waren, hatte sie sich gewöhnt. An die Last, die ständig an ihrem hüftlangen echten Haar zerrte, ebenfalls.

Dass die Friseurin ihres Vertrauens den Preis für einmal Haare waschen und schneiden um satte vierzig Prozent erhöht hatte, war erst ein Schock, im Grunde genommen aber verständlich.

Vielleicht war das Ganze ja ein Tick. Vielleicht war es eine Absurdität. Auf jeden Fall aber hatte dieser sehr spezielle persönliche Totschläger bereits drei angreifenden Chaoten und zwei Typen, die Kris vergewaltigen wollten, punktgenau das Nasenbein zertrümmert. Sehr hilfreich dabei war gewesen, dass die Opfer aufgrund der flirrenden, pfeifenden Zopf-Scheibe stets völlig perplex dastanden und zu keiner Ausweichbewegung fähig schienen.

Weitere Einsätze dieser unüblichen Waffe waren bei ihrem Beruf gewiss. Etwas Zieltraining wie eben war daher nicht zu verachten.

Ein letztes Mal streifte Kris’ Blick den nassen Fleck. Genugtuung flutete ihren Geist.

Du schadest niemand mehr, dachte sie. Ungeziefer, gleich welcher Art, muss beseitigt werden!

Das Abfahrtssignal ertönte. Ihr Zug fuhr weiter.

Kris schaute ihm eine Weile sinnend nach. Dann raffte sie sich auf. Genug getrödelt. Los jetzt!

Über die Köpfe der anderen hinweg spähte sie nach dem nächsten Seitenausgang und lief los. Manchmal war es ganz hilfreich, eine menschliche Giraffe zu sein.

Früher, vor allem während der Schulzeit, hatte sie stets etwas krumm dagestanden – eingezogener Kopf, Rundrücken und leicht gebeugte Knie –, hatte sich bewusst kleingemacht, um nicht gar zu sehr aufzufallen und Spott und Häme ihrer Mitschüler zu mindern. Denn manche von denen hatten sich wahrhaftig Zeit und Atem genug genommen, um »Eh, da kommt die Stabheuschrecke!« zu rufen und zu johlen.

Jetzt aber – seit einigen Jahren schon – stand sie zu sich und pfiff auf die Meinung anderer. Jetzt zog sie an, was ihr gefiel, und pfiff auf die Mode und abfällige Blicke. Jetzt stand sie zu ihrer Größe, ging aufrecht und selbstbewusst. Vor jeder Tür, jedem Durchgang jedoch verbeugte sie sich artig, senkte den gesamten Oberkörper um ein gutes Stück. Zu viele Beulen auf Stirn und Schläfen hatten sie das gelehrt. Ihre Beine jedoch blieben gestreckt, der Rücken gerade und vor allem der Kopf nicht zwischen den Schultern versteckt. Sie war schließlich keine Schildkröte.

Noch etwas Ellenbogeneinsatz, zu dem sie früher ebenfalls nicht fähig gewesen wäre, und schon stand Kris im Freien.

Eine zornige Sonne gleißte im Zenit. Sie hatte ihren Energieausstoß um gefühlt dreihundert Prozent erhöht, überschwemmte die Stadt mit Schwüle, Hitze und Licht und brachte die Luft über dem Asphalt und Beton zum Flirren. Für den Nachmittag hatten die Meteorologen sogar ein Gewitter mit Ambosswolken und Wolkenbruch bestellt. Brachte dieser Tag denn nichts als Unheil? Erst dieser Brief, und jetzt diese Demse. Wenn doch erst Abend wäre.

Am liebsten wäre Kris in die Kühle der Bahnhofshalle zurückgekehrt. Oder hätte gar nicht erst ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt. Doch ihr geliebter 2011er Asphaltfresser, gebraucht gekauft, war wieder mal kaputt. Das hatte man davon, wenn man wie sie auf ›Oldtimer‹ stand.

Kris fächelte sich Luft zu, die alles tat, nur nicht kühlen, und sehnte sich in ihr klimatisiertes Hotelzimmer zurück.

Hotelzimmer!

Du liebe Güte, nicht einmal eine eigene Wohnung besaß sie mehr. Und das mit bald dreißig! Alles, was sie im Moment besaß, waren Sorgen, eine verpatzte Beziehung und jede Menge Zukunftsträume, die sich möglichst bald erfüllen sollten.

Auto auf Auto schmirgelte den Straßenbelag. Lkws, Kräder, Busse sorgten für Reifenabrieb, Feinstaub und Radau. Dazu all die Trams. Von links nach rechts, von rechts nach links rumpelte, ratterte, brauste und sauste es. Kris kam sich vor wie bei einem Tennisspiel. Fußgänger, wohin man sah. Radfahrer. Eine Armada wartender Taxis machte das Chaos komplett.

Sandalen, Sneaker, Flip Flops, Pantoletten, Slipper allerorts. Normale Halbschuhe schienen ausgestorben zu sein. Ein paar Verrückte joggten sogar. Einer davon trotz Kies und Pflastersteinen barfuß, wie Kris staunend sah. Seine Fußsohlen mussten dick und unempfindlich wie Leder sein. Ein halber Zentimeter Hornhaut auf Ballen und Fersen, schätzte sie. Leute gabs. Sie kicherte. Aber wenigstens trugen alle drei eine Cap gegen Sonnenstich. Ihre Nacken, Gesichter und Arme glänzten vor Schweiß. Es schien unvorstellbar, dass von diesem Himmel je Regen oder Schnee gefallen sein sollte.

Jeder hatte an Stoff gespart. Braune, mitunter auch bleiche Haut, wohin man sah.

Keiner, der den Bahnhof betrat oder aus ihm kam, bummelte. Alle hasteten sie dahin, als hätte ein Tag nur noch fünf Stunden. Selbst die wartenden Taxis wirkten, als stünden sie vor dem Start zu einem Sechstagerennen. Ihre Fahrer wedelten mit den Armen eventuelle Kunden heran.

Kris blickte um sich, widmete sich nun dem unbelebten Teil ihrer Umgebung.

Im Zentrum türmte sich der Stadtmoloch. Im Norden schäumte, wie sie wusste, weit hinter dem Horizont, das Meer. Im Osten wogten auf Wiesen, Feldern und Plantagen Halme, Stängel und Blüten. Im Süden wuchsen und erodierten die Berge. Im Westen moderte und gedieh ohne jeglichen menschlichen Eingriff das Naturwaldreservat ›Totholz‹ in aller Pracht und Artenvielfalt. Und quer durch, von Südost zu Nordwest, an fünf der neun Hügel der Stadt vorbei, floss, ohne jegliche Strudel, Wasserfälle und Wehre, träge und breit die Waar, deren Auwald kürzlich renaturiert worden war. Ihr erstes Ausflugsziel, sobald sie sich hier eingelebt hatte. Das stand schon einmal fest.

Meer, Plantagen, Berge, Naturwald und selbst die Waar. Nichts davon konnte Kris von hier aus sehen. Überall nahmen ihr Hochhäuser und Wolkenkratzer die Sicht. Irgendwo mussten die zehn Millionen Einwohner Waarfurts ja hausen.

Häuser unter sechs Etagen gab es kaum. Die meisten besaßen zwanzig, dreißig, vierzig oder noch mehr. Großstadt halt.

Eine Turmuhr schlug zwölf. Kris kannte den Weg und trat auf den Gehsteig, neben dem ein viel benutzter Radfahrweg herlief, hinter dem sich wiederum das Gleis in die Ferne erstreckte, auf dem ihr Zug entschwunden war. Waarfurt erkunden würde sie später einmal, falls das überhaupt restlos möglich war. Und ja, ein Fahrrad musste sie sich auch noch zulegen. Unbedingt sogar.

Jetzt aber los. Beschwingt lief Kris die Bahnhof-Meile entlang, die sich von Ost nach West ganze 19208 Meter parallel zu den Gleisen hinzog, sah man von den vier Übergängen ab, wo sie die Seiten wechselte. Die Stadtplaner mussten eine seltsame Vorstellung von Entfernungen gehabt haben.

Bei den beiden anderen ›Meilen‹ Waarfurts sah es nicht besser aus. Die Finanz-Meile – Kris nannte sie für sich immer Finanzhai-Meile – kam auf 3934 Meter, und die Schlemmer-Meile, wo außer Cafés, Gaststätten, Bäckereien und Fleischereien auch viele Bars, Bierhäuser, Weinkeller und Nachtklubs zu finden waren, auf glatte 7411 Meter. Alles andere an Straßen hieß Straße, Gasse, Weg oder Allee, wovon es einige Hundert gab, wie ihr das Durchblättern eines Stadtführers gezeigt hatte. Die Autobahn hingegen durchschnitt im Osten die Wiesen, Felder und Plantagen der Landschaft.

Nach kaum sechzig Metern passierte Kris einen Eisstand mit ausgeklappter pastellblauer Korb-Markise. Drei Dutzend Leute, die meisten davon Kinder, schleckten an fast ebenso vielen Sorten Eis. Kris leckte sich über die dezent pfirsichfarben geschminkten Lippen. Ihr Schritt stockte. Im Nu hatte sie sich für drei Kugeln Mokka-Sahne im Becher entschieden.

Schon bog sie zum Eisstand ab, da sah sie in ihrer Vorstellung, wie die Köstlichkeit vor ihrem Mund zerlief und auf ihre frische weiße Bluse tropfte. Entsagungsvoll schüttelte sie den Kopf und ging schnell weiter. Vielleicht später einmal, wenn ihre Kleidung nicht tipptopp sein musste. Was heißt: vielleicht? Mit Sicherheit sogar. Heute noch, sobald die Sache im Präsidium überstanden war. Diese drei Kugeln würde sie sich gönnen, selbst wenn da schon die Blitze zuckten und der Donner grollte, so viel war klar.

Kein Fetzchen Altpapier flatterte durch die Luft. Keine leere Bierflasche holperte über den Asphalt. Kein Hundehaufen wartete auf einen auf Hochglanz polierten Schuh. Straße, Gehsteig und Radfahrweg wirkten wie geleckt. Ganz im Gegenteil zu daheim. Wobei ihr bisheriges Daheim, das 6000-Seelen-Städtchen Stubbenacker, nicht einmal Radfahrwege besaß.

Ja. Hier war sie richtig. Hier würde sie sich wohlfühlen.

Könnte sie sich wohlfühlen, hätte Jan sie nicht eiskalt abserviert.

Tränen der Verzweiflung und Wut schossen Kris in die Augen. Während all der Jahre mit ihm hatte sie keinen anderen Mann angeschaut, obwohl alle Männer pausenlos sie anstarrten und anmachten, und war Jan treu gewesen. Und er ...? Sie hatte ein Mittelmeer an Tränen vergossen. Und noch immer war damit nicht Schluss. Wie hatte sie nur auf so was reinfallen können? Die Fingernägel bohrten sich ihr in die Handballen, wie schon so oft während der letzten Woche. Aber diesen Schmerz fühlte sie nicht.

Kris wischte die Tränen weg. Bloß nicht mehr heulen. Nicht wegen dem! Entschlossen lief sie weiter, schniefte den Rotz hoch.

Niemanden kannte sie hier. Kris kam sich einsam vor. Fremd und ausgestoßen. Ein kalter Klumpen wuchs in ihrem Bauch. Der musste schleunigst weg. Singen half da am besten, das wusste sie genau. Nur ging das hier, mitten im Fußgängerstrom, leider nicht laut. Man hatte Leute schon wegen geringerer ›Vergehen‹ weggesperrt, wie sie nur zu gut wusste.

Kris liebte Schlager, aber nur die ganz-ganz alten. Also stimmte sie innerlich ›Heißer Sand‹ von Mina an und fühlte sich gleich viel besser.

Kris war gerade einmal bei ›... und ein Leben voll Gefahr ...‹, da vibrierte ihr Handy. Dran war Liss, geborene Dänin und Kris’ beste Freundin.

Nun ja. Wer sollte auch sonst anrufen, nachdem Kris ihr Leben so abrupt über den Haufen geworfen hatte? Nicht einmal ihre Eltern redeten noch mit ihr. Wie es schien, hatte sie sich mit allen und jedem überworfen. Dennoch war sie überzeugt, das Richtige zu tun.

Liss kam ihr als Aufmunterung genau richtig. Sie war zwei Köpfe kleiner als Kris, lustig, flapsig, schnatterte stets unbekümmert drauflos, hatte immer gute Laune und eine Stoppelfrisur in Dunkelblond. Ein wahrer Glücksfall. Also nicht die Frisur (die hätte sich Kris niemals schneiden lassen) – Liss’ sonniges Wesen. Sie kannten sich seit einem Urlaub in Südfrankreich vor fünf Jahren und hatten, Liss’ Heirat vor dreieinhalb Jahren und der großen Entfernung zum Trotz, die Verbindung nicht abreißen lassen, viel zu gut verstanden sie sich. Zwei-, dreimal pro Jahr besuchten sie sich gegenseitig, und das würde auch so bleiben. Liss war für Kris wie eine Schwester, die sie leider viel zu spät kennengelernt hatte.

Mit einer gehörigen Portion Neugier hob Kris ab. Liss kam mit Ehemann Janne und zweijährigem Töchterchen Bea frisch aus dem Urlaub in Norwegens Fjorden zurück. Ganze zehn Tage hatte Kris nicht mit Liss telefoniert, um sie nicht bei der verdienten Erholung zu stören. Nur einige E-Mails waren hin und her gegangen. Liss hatte einige Dutzend Urlaubsfotos angehängt, Kris von ihrer bevorstehenden Übersiedlung nach Waarfurt berichtet.

»Wie siehts aus, Kris? Endlich da?«

»So gut wie. Muss nur noch um die nächste Ecke und den Steilen Stieg hoch.«

»Deine Stimme ...«, sagte Liss.

»Was ist mit der?«

»Klingt irgendwie angepisst. Kummer?«

»Das kannst du laut sagen«, schniefte Kris.

»Na, dann sollte Jan dich aber schleunigst in die Arme nehmen und trösten. Wo steckt er überhaupt? Warum meldet er sich nicht zu Wort? Mischt sich doch sonst überall ein, der Spinner.«

»Jan? Welcher Jan denn?«, schnappte Kris. »Nie gehört, den Namen! Wer soll das bitteschön sein?«

»Sag bloß! Und ich dachte, ihr wolltet heiraten.«

»Das dachte ich auch!«

»Ach, du meine Fresse!«, ächzte Liss. »Sieben verlorene Jahre.«

»Acht!« Wütend stampfte Kris mit dem Fuß auf. Das Handy fiel ihr fast zu Boden dabei, so stark war die Erschütterung selbst noch in ihrem Arm. Passanten drehten sich nach ihr um. Es war ihr egal. Manchmal lebte Kris in ihrer eigenen Welt.

»Lass die Straße ganz«, flachste Liss. »Es gibt schon genug Schlaglöcher auch ohne dich.«

»Ph«, machte Kris.

»Da ist aber wer emotional.«

»Wann«, seufzte Kris, »bin ich das denn nicht?«

»Was ist passiert?«, wollte Liss wissen. »Ihr wart doch so glücklich.«

»Er wollte nicht mit herziehn, obwohl’s hier jede Menge Jobs für ihn gäbe. Das ist passiert!«

»Hast du ihm gesagt, dass du karrieremäßig durchstarten und was aus deinem Leben machen willst?«

»Hab ich.«

»Und dass das in Stubbenacker nicht möglich ist? Dass du schon zu viele Jahre vergeudet hast?«

»Hab ich auch.«

»Und?«

»Das war ihm alles egal.«

»Ach nee.«

»Ach doch. Und als ich von zwei Wohnungen redete, fauchte er, Fernbeziehungen funktionierten nicht, entweder ich bliebe bei ihm oder es sei aus zwischen uns.«

»So ein Arschloch. Das ist ja ... Pure Erpressung ist das!«

»Eben. Und damit darf mir niemand kommen. Da sehe ich rot.«

»Also ists aus?«, fragte Liss.

»Auser gehts schon gar nicht mehr. Erwähn diesen Namen bitte nie-nie wieder.«

»Kein Problem, Kris. Der ist auch bei mir unten durch.«

»Bei mir noch viel-viel untener! Ey, keine Woche nach der Trennung hatte er bereits ne Neue. Vielleicht hatte er die sogar schon davor. Würd mich nicht mehr wundern bei dem.«

»Schade, dass du das nicht vorher gewusst hast.«

»Genau. Wenn, dann hätt ich ihm Hörner aufgesetzt, dass er ohne Bücken nicht mehr durchs Brandenburger Tor passt.«

Sie lachten beide gleichzeitig los.

Liss sprach als Erste wieder. »Wer hätte das gedacht! Und den hab ich mal gemocht. Menschenkenntnis, wo bist du hin?«

Kris zuckte die Achseln. »Was solls. Es gibt andre Männer. Einen, der zu mir hält, find ich schon. In drei Jahren oder so. Eher lass ich bestimmt keinen mehr an mich ran. Jetzt steht sowieso erst mal meine Karriere im Vordergrund.«

»Drei Jahre?«, prustete Liss. »Drei Monate vielleicht, wie ich dich kenn. Und deine Karriere machst du nebenbei.«

»Hör zu, Liss: Wenn ich drei Jahre sag, dann mein ich drei Jahre!«

»Ts-ts. Immer schön locker bleiben, ja! Ich hab dir schließlich nichts getan.«

»Ich bin locker!«, schnappte Kris. »Und ich sag dir in aller Lockerheit, wenn ich alle Kurzzeitbeziehungen mitrechne, hatte ich bisher samt Jan sechs Partner –«

»Du wolltest diesen Namen nicht mehr erwähnen! Schon vergessen?«

»– bisher sechs Partner«, fuhr Kris ungerührt fort, als hätte Liss nichts gesagt. »Und mehr Partner, als ich Sommersprossen auf der Stirn hab, kommen mir nicht in die Tüte, das hab ich schon damals als frühreifes Gör gewusst. Und sollt’s auch mit diesem Siebten nicht klappen, bleib ich lieber für alle Zeiten solo.«

»Du spinnst doch!«

»Wenn du meinst«, sagte Kris leichthin, aber ihre Stimme klang seltsam ernst.

»Ach nee, Kris, die Nonne! Ich lach mich krank. Und das bei deiner Lebenslust. Das schaffst du nie.«

»Da ist es«, änderte Kris unvermittelt das Thema, als sie kurz vor dem WWW (Waarfurts Weltbekanntes Warenhaus) die Bahnhof-Meile überquerte und in Richtung Norden auf den Steilen Stieg einbog. »Da oben«, sie zielte mit der Handykamera, »auf einem der neun Hügel Waarfurts, der Sperberkuppe, thront mein künftiges Domizil.«

»Domizil?«, staunte Liss. »Du willst da wohnen? Im Polizeipräsidium? Die haben freie Zimmer? Echt jetzt?«

»Natürlich nicht!«, schnappte Kris. »Eine Dienstwohnung steht mir zu, bis ich eine eigne Wohnung gefunden hab. Aber wie auch immer. Mit Sicherheit werd ich die meiste Zeit des Tages in irgendeinem Büro des Präsidiums verbringen, deshalb red ich von ›meinem Domizil‹. Du weißt ja, wie’s bei uns Kriminologen ist. Stets einsatzbereit. Immer auf Abruf. Selbst der Urlaub ist nicht sicher. Wenns drauf an kommt, rufen sie dich zurück.«

»Eben. Und damit wirds noch schlimmer mit nem neuen Typen für dich. Die meisten wollen doch eh nur ein Hausmütterchen, das immer für sie da ist und nicht mitten in der Nacht wegen einem Einsatz aus dem Bett springt. Ich wünsch dir wirklich viel Glück, Kris. Kannst du echt brauchen jetzt.«

Kris antwortete nicht und richtete das Objektiv erneut auf das Präsidium. Liss hatte anscheinend noch gar nicht richtig hingeschaut.

»Da ist es«, wiederholte Kris.

»Ich kann nichts erkennen«, klagte Liss. »Ist ja viel zu winzig das Ding.«

»Moment. Ich zoom’s ran für dich.«

»Ah, jetzt! Ist das ein Koloss!«

»Du sagst es, Liss. Das Präsidium hat zwar nur vier Stockwerke und ist eins der niedrigsten Gebäude hier. Dafür ist es ein Riesenquader von dreihundert Meter Kantenlänge. Mit einem gewaltigen Innenhof, der als Ausbildungsplatz und Schießstand dient. Tausende Polizisten arbeiten da drin.« Und ab nächsten Montag auch sie! Wie hatte sie sich danach gesehnt. Aber warum sollte sie heute hin? Seltsamer Kauz, dieser Schrunz oder von wem auch immer das Schreiben stammen mochte.

Kris lief los und nahm die fünfzehn Prozent Steigung in Angriff. Schließlich waren es kaum sechshundert Meter. Wozu also ein Taxi rufen. Eine Seilbahn, die hier ihrer Meinung nach wirklich angebracht wäre, gab es ja nicht.

Auf halber Strecke, in Höhe der kreuzenden Kirchgasse, blieb Kris stehen und spähte nach rechts, hin zum Oberen Zentralpark, dessen Linden, Buchen, Buden und Büsche verlockende Schatten warfen.

Einen besseren Namen hätten sich die Stadtoberen wirklich einfallen lassen können, dachte Kris. Flüchtig tauchte in ihrem Hirn die Frage auf, ob es außer dem Oberen Zentralpark und dem mit Sicherheit existierenden Unteren Zentralpark auch noch einen Mittleren Zentralpark gab.

Wie dem auch sei – jedenfalls planschten in ihm Kinder in kühlen Springbrunnen, Erwachsene saßen auf den Rändern und baumelten die Füße ins Wasser. Viele schleckten Eis. Zwei Wohltaten, die Kris sich bei der Hitze gern gönnen würde. Aber es ging ja nicht. Sie war bestellt. Sie musste hin. Kris seufzte resignierend auf.

»Ach nee!«, meldete Liss sich zurück. »Schon außer Puste? Oder tun dir die Knie weh? Ich hätt dir mehr Kondition zugetraut. Deine neuen Kollegen werden begeistert von dir sein. Wahrscheinlich müssen sie dich bei Verfolgungsjagden immer huckepack nehmen.«

»Unfug! Hier herrschen neunundzwanzig Grad im Schatten, das ist alles. Ich hab vor der Abfahrt frisch geduscht und möcht nicht beim Gespräch dasitzen mit einer Bluse, die am Rücken klebt und Schweißflecken unter den Achseln hat. Deshalb das Päuschen. Außerdem ist noch eine halbe Stunde Zeit bis um eins.«

»Nun reg dich mal ab. Ich wollt dich nur ein bisschen necken. Dieser Jan hat dich echt zu einer Furie gemacht. Hoffentlich bleibt das nicht so.«

»Du sollst diesen Namen nicht mehr –«

»– erwähnen. Sorry.«

»Iih!«, entfuhr es Kris. Sie hatte mittlerweile nach links geschaut. Abscheu stand auf ihrem Gesicht. Erneut wandten Passanten ihr die Köpfe zu.

»Was ist los?«, wollte Liss wissen. »Bist du in Hundekacke gelatscht?«

»Unfug! Moment. Ich zeig’s dir.« Kris zoomte ein kuppelförmiges Gebäude heran. Die Kirche, nach der die Gasse benannt worden war, war es nicht. Deren Turm ragte ein gutes Stück weiter hinten auf. Es war auch keine Moschee, obwohl die Form gepasst hätte. Es war ein ... Monstrum. Überraschend viele Autos und Kräder parkten davor. »Siehst du diese rostige Keksdose dahinten?«, fragte Kris.

»Sieht aus wie ein marodes Opernhaus. Wieso? Was ist damit?«

»Es verschandelt die Stadt!«, wetterte Kris. »Warum ist es nicht längst abgerissen, kannst du mir das bitte mal sagen? Himmel, da tun einem ja die Augen weh. Der Entwerfer gehörte eingesperrt.«

»Wenn’s nach dir ginge, wär die halbe Welt hinter Gitter. Vielleicht sogar ich, was?«

»Das ist ein Gedanke«, sagte Kris langsam, als denke sie ernsthaft darüber nach.

»Hö-hö!«, ging Liss auf die Frotzelei ein.

Kris wandte sich angewidert ab. »Auf gehts! Hilft ja alles nichts.«

»Übernimm dich bloß nicht«, spottete Liss.

»Pah! Doch nicht von dem bisschen.«

Mit jedem Höhenmeter wurde es gefühlt noch heißer. Kris atmete auf, als sie oben anlangte, obwohl sie wirklich in Form war und nicht mal schnaufte. Stolz schaute sie den Steilen Stieg hinab, den sie lässig geschafft hatte. Von wegen, außer Puste oder schmerzende Knie! Ihre Haut allerdings fühlte sich klebrig an. Runterkühlen war angesagt. Kris stellte sich in den Schatten des Präsidiums, das vor kaum einem halben Jahrhundert die Stelle der Burgruine der Waarzenen eingenommen hatte, die einst mit harter Hand das Umland regierten.

»Und? Was sagen deine Eltern dazu? Ich meine wegen Jan. Äh, entschuldige. Kommt nicht wieder vor.«

»Die wissen das noch gar nicht«, gestand Kris.

»Immer noch schlechte Luft zwischen euch?«

»Immer mal wieder. Ja, du hast recht. Äußerst schlechte Luft im Moment. Dass ich meine alte Stelle aufgegeben hab und fortzieh, verstehn die überhaupt nicht.«

»Mach dir nichts draus. Das kommt in den besten Familien vor.«

»Andre Eltern sind stolz auf ihre Kinder«, klagte Kris. »Was hab ich denn verbrochen? Sags mir! Immer sind sie gegen mich.«

»Was heißt hier immer? Was war denn noch? Du hast mir nie was davon gesagt. Schöne Freundin! Und ich dachte, wir hätten keine Geheimnisse voreinander.«

»Haben wir auch nicht«, sagte Kris. »Ich erzähl’s dir doch. Als ich sieben war, wollte Mutter, dass ich Balletttänzerin, und Vater, dass ich Pianistin werde. Jahrelang hab ich fleißig getanzt und Klavier geübt. Mich aber dann für keins von beiden entschieden und lieber bei der Polizeischule beworben. Drei Monate lang hatt ich Hausverbot, so enttäuscht waren meine Eltern damals von mir.«

»Ach nee, Kris, die Primaballerina! Ich lach mich krank. Und das bei deiner Länge. Wie viel wars gleich? Zwei Meter vierundsiebzig?«

»Scherzkeks. Eins vierundneunzig sind’s nur.«

»Nur ist gut. Theaterbühnen mit so hohen Decken gibts doch gar nicht, dass du dir den Kopf nicht anstößt bei all den Sprüngen und Hebefiguren. Apropos Springen! Dreispringerin hättest du werden sollen. Dann hättest du längst den Weltrekord.«

»Ha-ha!«, machte Kris.

»Gar nichts ha-ha! Ich mein das ernst.«

»Kommt bloß nicht so rüber. Bei diesem Thema bin ich empfindlich. Sag doch: Warum bewundert man Kommissar Maigret und Sherlock Holmes, die es gar nicht gab, schreibt Briefe an sie, benennt Straßen nach ihnen, mich aber, die ich real bin und wirklich Verbrecher jag und der Menschheit dien, behandelt man wie Abschaum? Kannst du mir das bitte mal erklären! Ich –« Die Stimme versagte ihr. Kris schniefte und hielt mit Mühe die Tränen zurück.

»Äh, nun ... ein Maigret bist du wirklich nicht«, stellte Liss fest. »Eher eine Bohnenstange.«

»Da hast du wahr. Ich wär auch lieber so bullig wie Maigret geworden, als er älter wurde, da haben sie gleich von vornherein Respekt vor einem. Aber die Gene, die Gene. Vater ist halb so groß wie der Mount Everest und Mutter überragt ihn noch um drei Kilometer. Ich weiß gar nicht, ob ich mich trauen soll, irgendwann ein Kind in die Welt zu setzen. Vielleicht hasst es mich für seine Geburt bis zu meinem Tod wegen seiner zwei Meter zehn. Du, hör mal: Ich geh jetzt lieber rein. Die Zeit ist ran. Nur noch zwölf Minuten, bis ich antanzen muss.«

»Ja. Mach ruhig. Ich will nicht schuld dran sein, dass du zu spät kommst.«

»Bleib aber noch am Apparat, ja? Vorerst gehts nur zur Anmeldung.«

Mit diesen Worten stieß sich Kris von der Wand ab. Statt aber das Präsidium zu betreten, umfasste sie das Zopfende, damit es nicht abhob und Schaden anrichtete, hüpfte die Treppe wieder runter, ließ das Zopfende los, sank unten unvermittelt auf die Knie, beugte sich hinab zur untersten, stark verdreckten Stufe.

Und küsste diese mit Inbrunst.

»Igittigitt«, »Pfui!« und »Äh. Na aber!«, schrie es ringsum. Alles starrte sie an, als wäre sie nicht ganz dicht, raunte und tuschelte. Deutete mit den Fingern auf sie. Ein paar Jungs zeigten ihr sogar einen Vogel.

»Kris? Was machst du da?«, rief Liss, die wohl auf ihrem Display nur noch Kris’ Gesicht und ein Stück glänzenden Himmel sah. »Bist du gestürzt? Geh bloß schnell wieder in den Schatten. Mit Sonnenstich ist nicht zu spaßen, du!«

Sonnenstich? Ach was! Kris küsste geheiligten Boden. Dieses Präsidium war ihre persönliche Kathedrale. So war das!

Das Geraune und Getuschel der Umstehenden steigerte sich mehr und mehr. Bevor man sie noch für verrückt hielt und in eine Zwangsjacke steckte, ließ Kris lieber von ihrem Tun ab und erhob sich. Wischte sich den Dreck von den Lippen und stieg die Treppe wieder hoch. Diesmal direkt zum Eingang. Automatisch öffnete sich die Tür vor ihr.

Im nächsten Augenblick schnellte Kris zurück. Vor Schreck vergaß sie, aufzulegen. Einen gellenden Schrei hatte sie wohl auch ausgestoßen, denn wieder starrte ein jeder sie an.

»Was ist passiert?«, schrillte Liss’ Stimme aus dem Handy. »Kris, sag doch was, verdammt! Kris! Bist du okay?«

Nein, das war sie nicht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Knie butterweich. Kaum auf den Beinen halten konnte sie sich. Ihr Puls raste. Sie zitterte. Kalter Schweiß brach ihr aus allen Poren. Fehlte bloß noch, dass ihr die Zähne klapperten.

Kris räusperte sich mühsam.

»Verdammich«, ächzte sie. »So was hab ich ja noch nie erlebt. Dachte, das gibts nur in Büchern.«

»Was gibts nur in Büchern? Was ist los bei dir? Spuck’s aus! Ich mach mir Sorgen um dich, du! So hab ich dich noch nie schreien gehört.«

Kris kratzte sich am Kopf. »Na ja ... Also, da war so ein Gefühl ... eher schon die Gewissheit, dass, wenn ich das Präsidium betrete, was ganz-ganz Schlimmes passiert. Überaus stark war das ... ist das. Es ist jetzt noch da. Ich muss mörderisch dagegen ankämpfen, um nicht Hals über Kopf wegzurennen. Und schwach fühl ich mich, du glaubst es nicht. Als würd ich jeden Moment umkippen.«

»Ach du meine Fresse! Du solltest Reißaus nehmen, und zwar sofort und so weit, wie’s nur geht. So was gibts öfter. Hört man immer wieder von: Leute, denen ganz schlecht wird, wenn sie in ihr Flugzeug steigen wollen, und die deshalb nicht mitfliegen. Und hinterher erfahrn sie, dass das Ding abgestürzt ist und alle Insassen tot sind. Vorauswissen nennt man das. Kommt vom Unterbewusstsein oder vom Über-Ich oder von deinem Schutzengel oder von verstorbenen Verwandten, die ständig um dich rumgeistern und dich warnen wollen. Hau bloß ab von dort, Kris, aber dalli! Im Präsidium ist bestimmt eine Bombe versteckt oder ein verfickter Amokläufer mit einer Machete im Ärmel zugange! Kann gar nicht anders sein. Lauf!«

Kris rührte sich nicht vom Fleck.

»Renn, Mädchen!«, schrie Liss. »Renn!«

Kris schnaubte nur. »Unfug!«, raunzte sie. »Gefahren sind dazu da, dass man sich ihnen stellt. Ich bin noch vor niemand und nichts ausgerissen und fang jetzt bestimmt nicht damit an! Ich hab zwar manchmal Schiss, aber ich scheiß mich nicht ein.«

»Mach jetzt keinen Quatsch. Lauf!«

Kris dachte nicht daran. Den Blick starr auf den Eingang gerichtet, schaltete sie das Handy ab und steckte es in die Handtasche. Tief und ruhig atmete sie durch, bis ihr Puls wenigstens gefühlt unter hundertzwanzig sank. Immer noch verspürte sie den starken Drang, schnellstens zwei Kontinente zwischen sich und diesen Ort zu bringen. Noch immer zitterte sie, fühlte sich wie jeden Moment sterben, hatte aber beschlossen, die körperlichen Missklänge nicht zu beachten.

»Das sind nur Symptome von Panik«, sprach sie sich Mut zu, »von trivialer Angst. Nichts, was wirklich gefährlich wär. Handle, und sie verschwinden von selbst.«

Und Kris handelte. Sie trat auf die Tür zu, bis sich diese wieder automatisch vor ihr öffnete. Kris schnürte es erneut die Kehle ab, als sie an all das dachte, was da drinnen auf sie lauern mochte.

Leise brabbelte sie vor sich hin: »Ich zähl jetzt ganz langsam bis fünf Millionen, und dann spring ich rein. Sollte doch gar nicht so schwer sein das Ganze.«

Sie atmete tief durch und begann zu zählen: »Eine Million ... zwei Millionen ... drei Millionen ...«

Sie wagte sich zwei Schritte näher an den Eingang. Wie gerne hätte sie ihre Dienstpistole dabei, aber die hatte sie beim Abschied aus ihrem alten Revier abgeben müssen und die neue gabs erst nächsten Montag. »Vier Millionen ...«

Kris faltete die Hände wie zum Gebet. »Viertel ... halb ... dreiviertel ... oje-oje-oje, wenn das mal gut geht! ... fünf ... ui-ui-ui, was mach ich hier? ... Mil - li - o - nen!« Und sprang Bomben, Machete, oder was auch immer da drin auf sie warten mochte, todesmutig entgegen ...

Flügellose Flitterwöchner

Am liebsten hätten Lucy und Felix Upper den ganzen Tag im Himmelbett der Hotelsuite verbracht. Dennoch bequemten sie sich kurz vor acht in die Senkrechte.

Vorfreude stand auf Lucys Gesicht. Es war der dritte Tag ihrer Flitterwochen, unvergesslich wie die beiden zuvor. Heiß und innig küsste sie ihren frisch Angetrauten, dem gleich ganz anders zumute wurde.

Felix kam wieder zu Atem. Nach wie vor ungläubig darüber, dass die kurvenreiche Stadtschönheit einst ihn, den Stillen, Schüchternen erwählte und all die Aufreißer, die sich um sie bemühten, abgewiesen hatte, strahlte er sie an. »Ich bin so ein Glückspilz. Fünfzig Milliarden Männer lebten bislang auf der Erde, doch ich bin der glücklichste von allen. Ich hab dich!«

»Du Schmeichler!« Lucy warf ihm eine Kusshand zu, die ihm den Magen flattern ließ.

Felix riss sie in seine Arme. Sie küssten sich noch einmal innig und lange. Sie waren noch genauso verliebt ineinander wie bei ihrem ersten Date vor drei Jahren. Eng umschlungen taumelten sie ins luxuriöse Bad.

Fünfzehn Minuten später waren sie geduscht und angezogen, er im Freizeitanzug, sie im Minikleid. Arm in Arm betraten sie den Flur.

Auf ein zeitraubendes Make-up hatte Lucy verzichtet. Felix’ Meinung nach hatte sie das ohnehin nicht nötig. Außerdem passte sie so besser zu ihm, dem unscheinbaren Allerweltstyp. Es war sein fröhliches Wesen, auf das sie stand, wie sie ihm einst erklärte. Eine Seele hatte die andere gefunden, wie es so schön hieß.

Felix nickte dem Liftboy zu. »Ganz runter, bitte!«

Entschieden schüttelte Lucy den Kopf. »Nein, ganz rauf, bitte. Heute besuchen wir das Dachrestaurant. Die Aussicht von dort oben ist phänomenal. Die musst du dir unbedingt einmal gönnen, Felix. Ich würd am liebsten gar nicht wieder runtergehen, wenn ich oben bin.«

Energisch schüttelte Felix die nackenlangen braunen Locken. »Nee. Das dreißigste Stockwerk ist mir entschieden zu hoch. Ohne mich.«

»Mit dir!«, sagte Lucy. »Du mit deiner Höhenangst. Man muss sich seinen Ängsten stellen, weißt du das nicht?«

Felix verzichtete auf eine Antwort. Schloss theatralisch der Augen. Sah schon jetzt totenbleich aus. »Ich hab ein ungutes Gefühl«, gestand er. »Irgendwas geht bald schief. Gründlich schief. Da oben lauert Gefahr, glaubs mir, Lucy. Ich hab ein Gespür für so was.«

Lucy schnaubte nur verächtlich.

Der Liftboy schmunzelte und drückte auf die oberste Taste.

Felix stand starr, selbst noch, als der Fahrstuhl hielt. Sein Gesicht verlor alle Farbe.

Lucy lachte hell auf. »Nun komm schon. Hab dich nicht so. Das Hotel wird nicht gleich einstürzen, nur weil du mal oben drauf stehst.« Sie schaute sich suchend um. »Da drüben ist ein freier Zweiertisch. Wie für uns gemacht. Komm.«

Wieder schüttelte Felix energisch den Kopf. »Nee, du. Das ist mir viel zu nah am Rand. Sobald ich in die Tiefe guck, dreht sich mir alles im Kopf und es zieht mich nach unten. Ich mach viel mit, aber das kannst du vergessen. Wenn ich mich diesem Tisch nähere, wäre das mein sicherer Tod.«

»Himmel, Felix, nun übertreib mal nicht! Ringsum ist eine anderthalb Meter hohe Brüstung. Du kannst nicht runterstürzen, selbst wenn du stolperst und gegen sie fällst. Deshalb wurde sie ja angebracht. Komm endlich!« Überraschend kräftig zerrte sie an seinem Arm.

Felix stemmte sich mit aller Macht dagegen. »Ich sagte Nein! Guck, dort drüben, so ziemlich in der Mitte, ist auch ein Tisch frei. Komm mit. Nehmen wir den.« Jetzt zog er sie in die genannte Richtung.

»Ja, ein Vierertisch«, schmollte Lucy. »Wer weiß, was für unmögliche Leute sich zu uns setzen. Ich dachte, du wolltest mit mir allein sein?«

»Ja, gewiss. Aber unten im Straßenrestaurant!«

Sie blickten einander bitterböse an und prusteten plötzlich lauthals los. Aber gewonnen hatte trotzdem Felix. Sie nahmen am Vierertisch Platz, weitab vom Rand.

»Da haben wir’s!«, sagte Lucy. »Frau Sölk und Herr Gemahl watscheln direkt auf uns zu. Wenn man schon mal auf dich hört! Jetzt müssen wir uns dieses endlose Gesabber und Gelaber von denen anhören.«

»Was ist der Unterschied zwischen Gesabber und Gelaber?«, fragte Felix interessiert.

»Ach …« Mürrisch winkte Lucy ab. »Still jetzt. Sie sind da.«

Und wie sie da waren! Sie sahen aus wie hundertzwanzig, gebeugt und runzlig, waren noch keine neunzig und nervten gewaltig. Frau Sölk sabberte und laberte auch gleich los, während sich Herr Sölk der Speisekarte widmete.

Der Oberkellner nahte mit blitzendem Tablett. Trotz forschen Schwungs schwappten die beiden Gläser nicht über. »Eine kleine Aufmerksamkeit des Hauses«, gab er kund. »Ich hoffe, Sie genießen Ihre Flitterwochen bei uns wie geplant?«

Voller Vorfreude führte Lucy ihr Cocktailglas zum Mund. »Himmlisch!«, rief sie. »Das frischgebackene Ehepaar dankt dem Hause. Besser als hier könnte es nirgendwo sein. Wir sind sehr zufrieden.«

»Das freut mich.« Mit einer galanten Verbeugung entfernte sich der Mann.

Lucy und Felix Upper widmeten sich der Speisekarte.

Frau Sölk wandte ihnen das zerknautschte Gesicht zu. »Hörte ich richtig: das ›frischgebackene‹ Ehepaar? Seit wann sind Sie doch gleich verheiratet?«

»Heute Nachmittag«, sagte Lucy stolz, »werden’s schon ganze drei Tage. Die Hochzeitsreise ist der Clou. Und he, das Zeug hier schmeckt.« Sie nahm den nächsten großen Schluck und leckte sich über die Lippen. »Könnte mich glatt dran gewöhnen.«

Felix schob ihr sein Glas zu. Er hatte es noch nicht angerührt, stand mehr auf Bier. »Hier. Wenn du willst, kannst du meins noch haben. Dann ists aber genug. Du hast noch nichts im Magen, und wir haben heute noch einiges vor. Von Rausch-Ausschlafen war nicht die Rede.«

Frau Sölk meldete sich erneut zu Wort. »Erst drei Tage? Bei uns werden es nächsten Monat fünfundsechzig Jahre!«

»Wow!«, staunte Lucy. »Fünfundsechzig Jahre! Die schaffen wir doch auch. Was meinst du, Felix?«

Er strahlte sie an. »Na klar schaffen wir das. Siebzig werden’s. Ach was, achtzig!«

»Achtzig? Nun übertreib mal nicht. Dann wärst du hundertsechs.«

»Bestes Mannesalter!« Er zwinkerte ihr zu.

Nach einigen Minuten Getuschel in ihres Gatten Ohr redete Frau Sölk wieder laut. »Puh! Da hinten am Eingang steht so eine Muslima mit Ganzkörperschleier. Ich verstehe nicht, wie sich eine Frau derart unterdrücken lässt und als Schreckgespenst herumläuft.«

Herr Sölk äugte kurz über die Schulter und erblickte eine mittelgroße Gestalt in schwarzer afghanischer Burka mit einem Sichtfenster aus Rosshaar. »Nun ja«, wiegelte er ab. »Vielleicht leidet sie an Akne und ist froh, dass sie ihr Gesicht verbergen kann.«

Empört straffte Frau Sölk den Rücken. »Das glaubst du doch selber nicht, Friedrich!« Sie spähte erneut zum Eingang. »Seltsames Wesen. Traut sich nicht vor und nicht zurück, wartet anscheinend auf ihren Herrn und Gebieter. Kein bisschen Selbstbewusstsein. Wahrscheinlich bis aufs letzte Quäntchen aus ihr rausgeprügelt. Aber was geht es uns an. Sie muss selber wissen, was sie aus ihrem Leben macht.«

»Du sagst es, Berta. Was geht es uns an?« Damit widmete sich Herr Sölk dem Stück Sahnetorte, das er bestellt und soeben serviert bekommen hatte.

Während Frau Sölk weiter sabberte und laberte, bewunderte Lucy die Umgebung. Verträumt glitten ihre Blicke bis zum Horizont, der sich weit entfernt mit dem Himmelsblau vermischte. Eine Bö spielte mit ihrem hüftlangen Haar.

»Sieh nur, Felix!«, rief sie. »Eine herrliche Aussicht ist das von hier oben! Ich hab dir’s doch versprochen. Und du wolltest nicht mit hoch. Da hättest du aber was verpasst!«

Auf einigen Hochhäusern protzten Penthouses mit ihrer Pracht. Auf anderen glitzerten Pools und Tanzplattformen im Sonnenschein. Dachgärten sorgten für Entspannung und saubere Luft. Kletterpflanzen schlängelten sich an Fassaden empor. Balkone ähnelten kleinen Gärten. Unten lockten Parks zum Verweilen. Es war eine lebenswerte Innenstadt. Und für eine Hochzeitsreise ein perfektes Ziel. Sie hätten es nicht besser treffen können. Es musste nicht immer die Südsee sein. Obwohl – dahin wollte sie auch noch eines Tages mit ihrem Felix.

Der jedoch schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Herrliche Aussicht hin, herrliche Aussicht her. Ich jedenfalls kann da nicht hingucken. Eine Sekunde, und mein Kopf spielt Karussell. Außerdem begutachte ich lieber dich.«

Lucy strahlte ihn erneut an. »Na, da fühl ich mich aber geehrt!« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Dieser Glanz dort hinten! Was das wohl sein mag?«

Vielleicht hatte Herr Sölk ja nicht auf das Getuschel seiner Frau geachtet, auf Lucys Worte aber auf jeden Fall. »Eine Plantage von Blautannen ist das«, gab er ungefragt kund, »welche nicht ahnen, dass sie als Weihnachtsbäume gefällt und nach dem Fest in Zoos an Elefanten verfüttert werden. Meine Frau und ich waren gestern dort in der Nähe wandern.« Er stockte. Runzelte nachdenklich die Stirn. Dachte sichtlich angestrengt über den Sinn des eben Gesagten nach. »Äh, also nicht bei den Elefanten im Zoo, sondern bei den Blautannen waren wir gestern wandern.«

Niemand hörte ihm zu. Am allerwenigsten Lucy.

Aufgeregt deutete Felix über Lucys rechte Schulter.

»Guck mal, Schatz, von hier aus hat man Sicht aufs Wolff-Hotel! Ist das ein Kasten. Siehst du oben drauf dieses kuppelförmige Penthouse aus Glas und Stahl? Da wohnt der gute alte Wigand Wolff drin. Den Wolffsbau nennt man es deshalb. Und um die Kuppel herum gibt es Swimmingpool, Minigolfanlage und sogar einen Hubschrauberlandeplatz. Und unten drunter jede Menge Zimmer. Ein Viertel davon mit Meerblick. Jedes bringt hundert Piepen pro Nacht –«

»Zweihundert«, warf Lucy ein. »Hab ich wenigstens gehört.«

»– zweihundert Piepen«, ließ sich Felix nicht beirren. »Und dazu die Luxus-Suiten. Nur ganz Reiche und sehr Prominente kommen da rein. Und der gesamte Bau ist fast immer bis aufs letzte Zimmer belegt. Stunde für Stunde wird der gute alte Wolff reicher und reicher. Ach was, Sekunde für Sekunde. So ein Leben müsste man haben. Alle Boulevard-Zeitschriften schreiben über ihn. Und schreiben tut er jetzt auch noch, irgendwelche komischen Bücher, die kaum jemand liest. Hauptsache, er kann sich ›Schriftsteller‹ nennen. Selbst im Fernsehen war er damit schon.«

Lucy lachte schallend auf. »Nun werd mal nicht neidisch, Felix. Du hast mich. Das ist viel mehr als so ein Hotel. Und ansonsten ist der gute alte Wolff alles andre als alt. Grade mal Anfang vierzig ist der. Keine Ahnung, warum der nicht längst unter der Haube ist. Ist wahrscheinlich viel zu anspruchsvoll der Herr. Unter einer jungen Gräfin, bezaubernd schön und absolut treu, macht er’s anscheinend nicht. Und so eine musst du erst mal finden.«

Sie rieb sich den Bauch. »Genug geschwafelt. Jetzt wird gefrühstückt. Mein Magen knurrt schon, dass es bis Gibraltar zu hören ist. Und das ist zwei Zeitzonen weit weg.«

»Nun übertreib mal nicht«, sagte Felix. »Höchstens bis um die nächste Ecke.«

Er winkte einen Ober heran, und Lucy bestellte dies und bestellte das. Und trank den letzten Schluck ihres zweiten Mischgetränks. Felix kam es vor, als ob sie bereits leicht lallte. Frauen vertrugen eben nichts.

Schwer beladen stürmten gleich drei Ober auf sie zu. Im Nu war der Tisch brechend voll.

Lucy strahlte. »Super Service! ›Hotel Himmelreich‹. Gute Namenswahl. Das trifft’s genau: Himmel, werden die Besitzer reich. Aber merken müssen wir uns den Laden, Felix! Zur Silberhochzeit kommen wir wieder her.«

Entschlossen griff sie zur

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

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Tag der Veröffentlichung: 04.07.2024
ISBN: 978-3-7554-7976-5

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