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1. Kapitel

Nächtliche Spaziergänge sind mir die liebsten, obgleich ich ein alter Mann bin. Im Sommer verlasse ich oft frühmorgens mein Haus und streife den ganzen Tag über auf Feldern und Feldwegen umher, ja ich komme sogar tage- und wochenlang nicht wieder heim; wenn ich aber nicht auf dem Lande bin, gehe ich selten vor dem Eintritt der Dunkelheit aus, obgleich ich, dem Himmel sei Dank, das Licht liebe und mich so gut wie irgendein lebendes Wesen freue, wenn es seine Strahlen lustig über die Erde gießt.

Dies wurde mir, ehe ich mich’s versah, zur Gewohnheit, sowohl weil es meiner Gebrechlichkeit zustatten kommt, als weil es mir besser Gelegenheit gibt, Betrachtungen über die Charaktere und Beschäftigungen der Menschen anzustellen, welche die Straße füllen.

Das grelle Licht und das Getümmel um die Mittagszeit sind für ein so müßiges Treiben wie das meinige nicht geeignet, und ein Blick auf die vorübergehenden Gesichter im Lichte einer Straßenlampe oder eines Ladenfensters dient meinem Zwecke oft weit besser als ihre volle Enthüllung im hellen Scheine des Tages; ja, um die Wahrheit zu gestehen – die Nacht ist in dieser Hinsicht wohlwollender als der Tag, der nur zu oft ohne Rücksichten und Bedenken ein Luftschloss im Augenblicke der Vollendung zerstört.

Dieses beständige Ab- und Zugehen, diese nie rastende Rührigkeit, diese unablässigen Fußtritte, welche das raue Steinpflaster glatt und glänzend machen – ist es nicht ein Wunder, wie die Bewohner enger Straßen es nur mit anhören können? Man denke sich nur einen Kranken zum Beispiel in Sankt Martins Hof, wie er inmitten seiner Schmerzen und seiner Ermattungen auf die Fußtritte horcht und sich, als wäre es eine ihm aufgebürdete Pflicht, abquält, den Tritt des Kindes von dem des Mannes, den Holzschuh des Bettlers von dem Stiefel des Stutzers, das Schlendern des Müßiggängers von dem Auftreten des tätigen Arbeiters, den trägen Fuß eines Ausgestoßenen von dem raschen Schritte des vergnügungssüchtigen Lebemanns zu unterscheiden. Man denke sich das Gesumme und den Lärm, die stets sein Ohr belästigen, und den Strom des Lebens, der sich ohne Unterlass dahinwälzt und weiter, weiter, immer weiter selbst durch seine ruhelosen Träume dringt, als sei er verdammt, tot, aber mit fortdauerndem Bewusstsein auf einem geräuschvollen Kirchhof zu liegen, ohne jede Hoffnung, in den nächsten Jahrhunderten zur Ruhe zu kommen.

Dann das hin und her wogende Gedränge auf den Brücken (wenigstens auf denjenigen, die zollfrei sind), auf denen viele an schönen Abenden haltmachen und gleichgültig auf das Wasser hinuntersehen, mit irgendeinem unbestimmten Gefühl, dass es zwischen grünen Ufern hinfließe, die allmählich weiter und weiter werden, bis es sich endlich mit dem großen, weiten Meere vereinigt – auf denen einige stillstehen, um unter ihrer schweren Last auszuruhen und, indem sie über die Böschung hinuntersehen, sich denken, es müsse ein ungetrübtes Glück sein, in einer trägen Barke auf der heißen, geteerten Leinwand in der Sonne schlafen und sein Leben verrauchen und verbummeln zu dürfen – auf denen einige von einer ganz andern Klasse, mit weit schwereren Lasten als die der vorigen, innehalten und sich erinnern, in früheren Zeiten gehört oder gelesen zu haben, das Ertrinken sei kein harter Tod, jedenfalls die leichteste und beste Art, dem Leben ein Ende zu machen.

Dann der Covent-Garden-Markt um Sonnenaufgang im Frühling oder Sommer, wenn der Duft würziger Blumen die Luft füllt und sogar die ungesunden Dünste der letzten Nachtschwärmerei überwindet und die schwärzliche Drossel, deren Käfig die ganze Nacht vor dem Fenster eines Dachstübchens hing, halb toll vor Freude macht!

Armer Vogel! Das einzige benachbarte Wesen, das einigermaßen verwandt ist den andern kleinen Gefangenen, den Blumen, die zum Teil, welk geworden in den heißen Händen trunkener Käufer, bereits auf den Straßen liegen, während andere, die zu fest zusammengepackt ganz leblos wurden, der Zeit harren, da sie, mit Wasser begossen, wieder neu aufleben können, um einer nüchterneren Gesellschaft Freude zu machen und alte Schreiber, die auf ihrem Weg ins Geschäft vorübergehen, in Verwunderung zu setzen, was wohl ihre Brust mit Visionen von Landleben erfüllt haben möge.

Es ist übrigens vorderhand nicht meine Absicht, mich allzu weit über meine Spaziergänge zu verbreiten. Die Geschichte, die ich erzählen will, ist das Ergebnis eines dieser Streifzüge; und so habe ich mich veranlasst gefühlt, von ihnen als eine Art Einleitung zu sprechen.

Eines Abends ging ich in der City umher und spazierte, wie gewöhnlich, langsam weiter, über viele Dinge nachdenkend, als ich durch eine Frage angehalten wurde, die zwar kaum mein Ohr erreichte, aber doch an mich gerichtet zu sein schien: Der Ton der Stimme war so weich und sanft, dass sie einen gar angenehmen Eindruck auf mich machte.

Ich wandte mich rasch um und bemerkte an meiner Seite ein hübsches kleines Mädchen, das mich bat, ihm den Weg nach einer gewissen Straße anzugeben, die ziemlich weit entfernt von uns lag – ja sogar in einem ganz andern Stadtteile.

»Kind, das ist ein langer Weg von hier«, sagte ich.

»Ich weiß das, Sir«, versetzte sie schüchtern. »Ich fürchte, es ist ein sehr langer Weg, denn ich kam schon heute Abend von dort her.«

»Allein?«, fragte ich etwas überrascht.

»O ja, daran liegt mir nichts; aber jetzt bin ich ein wenig in Angst, denn ich habe die Richtung verloren.«

»Und was veranlasst dich, mich zu fragen? Angenommen, ich gäbe dir eine falsche Weisung?«

»Ich bin überzeugt, dass Sie das nicht tun werden«, erwiderte das kleine Geschöpf. »Sie sind schon ein sehr alter Herr und gehen selbst so langsam.«

Ich kann nicht beschreiben, welchen Eindruck dieser ›Appell‹ und die Energie, mit der er gemacht wurde, auf mich übte; denn eine Träne stand in dem klaren Auge des Kindes, und ihre leichte Gestalt zitterte, als sie mir ins Gesicht sah.

»Komm«, sagte ich, »ich will dich hinführen.«

Sie legte ihre Hand so vertrauensvoll in die meinige, als ob sie mich von der Wiege an gekannt hätte, und so trotteten wir miteinander weiter. Das kleine Wesen richtete seinen Schritt nach dem meinigen und schien eher mich zu leiten und für mich Sorge zu tragen, als unter meinem Schutze zu stehen. Ich bemerkte, dass sie hin und wieder verstohlen einen neugierigen Blick nach meinem Gesichte warf, als suche sie sich zu überzeugen, dass ich sie nicht täusche, und diese Blicke, die noch obendrein sehr scharf und spähend waren, schienen ihre Zuversicht mehr und mehr zu erhöhen.

Was mich anbelangt, so waren meine Neugierde und mein Interesse zum Mindesten ebenso groß wie die des Kindes; denn ein Kind war sie sicherlich, obgleich ich es für wahrscheinlich hielt, dass, so viel ich eben sehen konnte, ihre sehr kleine und zarte Gestalt ihrer Erscheinung eine ganz besondere Jugendlichkeit verlieh. Sie war zwar ziemlich dürftig, aber doch nett und reinlich gekleidet, und keine Spur deutete auf Armut oder Verwahrlosung.

»Wer hat dich denn allein einen so weiten Weg geschickt?«, fragte ich.

»Jemand, der sehr gütig gegen mich ist, Sir.«

»Und was wurde dir für ein Geschäft aufgetragen?«

»Das darf ich nicht sagen«, erwiderte das Kind.

Es lag etwas in der Art dieser Entgegnung, das mich veranlasste, das kleine Wesen mit einem unwillkürlichen Ausdruck der Überraschung anzusehen; denn ich wunderte mich, was für ein Auftrag es wohl sein mochte, der sie auf eine solche Frage vorbereitet hatte. Ihr schneller Blick schien meine Gedanken zu lesen, denn als er dem meinigen begegnete, fügte sie bei, es liege nichts Unrechtes in dem, was sie getan habe, aber es sei ein großes Geheimnis – ein Geheimnis, das sie selbst nicht einmal wisse.

Sie sagte dies ohne den geringsten Anschein von Verschmitztheit oder Arglist, sondern mit einer unverdächtigen Freimütigkeit, die das Gepräge der Wahrheit an der Stirne trug. Sie ging, wie früher, neben mir her und wurde im Verlaufe unseres Spazierganges immer zutraulicher. Wir plauderten heiter unterwegs, aber sie erzählte nichts mehr von ihrem Daheim, außer dass sie bemerkte, wir schlügen einen ihr ganz neuen Weg ein, und sich erkundigte, ob es ein kürzerer wäre.

Während wir so dahinmarschierten, beschäftigte sich mein Geist mit hundert verschiedenen Lösungen dieses Rätsels, die ich jedoch alle wieder verwarf. Übrigens schämte ich mich, aus der Freimütigkeit und dem dankbaren Gefühle des Kindes Vorteil zu ziehen, um meine Neugierde zu befriedigen. Ich liebe solch kleines Volk, und es ist nichts Geringes, wenn sie, die so frisch aus der Hand Gottes kommen, uns lieben. Da ihr Vertrauen mir gleich von Anfang an Freude gemacht hatte, so beschloss ich, es zu verdienen und der Natur Ehre zu machen, welche die Kleine veranlasst hatte, auf mich zu bauen.

Es war indes kein Grund vorhanden, warum ich es vermeiden sollte, die Person zu sehen, die das Mädchen so unüberlegt allein und bei Nacht so weit wegschicken konnte. Und da es nicht unwahrscheinlich war, dass sie mich verabschieden würde, wenn sie in die Nähe ihres Hauses kam, und mich dadurch der Gelegenheit beraubt hätte, so wählte ich, mit Umgehung der besuchtesten Straßen, die verworrensten Gassen. Und so kam es, dass sie nicht wusste, wo sie war, bevor wir ihre Gasse erreicht hatten. Sie schlug freudig ihre Hände zusammen, eilte mir eine Strecke voraus und blieb vor einer Tür stehen, ohne jedoch früher zu klopfen, als bis ich ihr nachgekommen war.

Ein Teil dieser Tür bestand aus Glasscheiben, die durch keinen Holzladen geschützt waren. Ich bemerkte dies anfangs nicht, denn es war innen sehr dunkel und still, und ich sah etwas ängstlich – bei dem Kinde war es der gleiche Fall – einer Antwort auf unser Klopfen entgegen.

Als sie ihr Pochen einige Male wiederholt hatte, vernahm ich ein Geräusch, wie wenn sich jemand innen bewegte, und endlich blinkte ein schwaches Licht durch die Glasscheiben, in dessen Scheine – es kam nämlich sehr langsam näher, da der Träger des Lichtes sich durch viele umherliegende Gegenstände durcharbeiten musste – ich sowohl die Art des Wesens erkennen konnte, das sich näherte, als auch den Raum, durch den es kam.

Es war ein kleiner alter Mann mit langen grauen Haaren, dessen Gesicht und Gestalt ich deutlich unterscheiden konnte, da er das Licht über dem Haupte emporhielt und im Näherkommen geradeaus vor sich hinsah. Obgleich er durch das Alter sehr verändert sein mochte, glaubte ich doch in seinem schmalen und schlanken Äußern etwas von der zarten Form zu bemerken, die mir an dem Kinde aufgefallen war. Die glänzenden blauen Augen waren sicherlich dieselben, aber sein Antlitz zeigte so tiefe Furchen und Spuren von Kummer, dass hier alle Ähnlichkeit aufhörte.

Der Raum, durch den er sich ganz gemächlich seinen Weg bahnte, war einer jener Aufbewahrungsschlupfe alter, merkwürdiger Gegenstände, die sich in die verborgensten Winkel dieser Stadt zu verkriechen und ihre dumpfigen Schätze misstrauisch und eifersüchtig vor dem Auge der Öffentlichkeit zu verstecken scheinen. Reihen von Panzern standen da und dort, wie Gespenster in Waffenrüstungen, fantastisches Schnitzwerk aus Mönchsklöstern, rostige Waffen aller Art, verzerrte Figuren aus Porzellan, Holz, Eisen und Elfenbein, Tapeten und seltsames Möbelwerk, wie man sie nur in Träumen zu sehen vermag.

Das schmächtige Äußere des kleinen Mannes stimmte wunderbar mit dem Orte zusammen; es war, als hätte er unter alten Kirchen, Gräbern und verlassenen Häusern umhergewühlt und alle seine Seltenheiten eigenhändig zusammengelesen. In der ganzen Sammlung war nichts, was nicht zu ihm gepasst hätte, nichts, was älter oder abgenützter aussah als er selbst.

Während er den Schlüssel im Schloss umdrehte, betrachtete er mich mit einigem Erstaunen, das keineswegs gemindert wurde, als er von mir aufmeine kleine Begleitung blickte. Die Tür ging auf; das Kind redete ihn als Großvater an und erzählte ihm die kurze Geschichte unserer Bekanntschaft.

»Ei du mein Gott, Kind«, sagte der alte Mann, indem er den Kopf des Mädchens tätschelte, »wie konntest du nur deinen Weg verfehlen? Denk doch, wenn ich dich verloren hätte, Nell!«

»Ich würde meinen Weg wohl zu Ihnen zurückgefunden haben, Großvater«, versetzte das Kind kühn; »haben Sie meinetwegen keine Sorge!«

Der alte Mann küsste sie, wandte sich dann an mich und bat mich einzutreten, was ich auch tat. Die Tür wurde zugemacht und abgeschlossen. Der Alte ging mit dem Lichte voran und führte mich durch den Raum, den ich bereits von außen gesehen hatte, nach einem kleinen Hinterzimmer, von dem aus eine andere Tür in eine Art Kabinett führte. Dort erblickte ich ein Bettchen, in dem eine Fee hätte schlafen können – so klein sah es aus und so hübsch war es hergerichtet. Das Kind nahm ein Licht, huschte in das kleine Gemach und ließ den alten Mann bei mir allein.

»Sie werden wohl müde sein, Sir«, sagte er, indem er einen Stuhl an das Feuer rückte. »Wie kann ich Ihnen meinen Dank bezeigen?«

»Wenn Sie ein andermal für Ihre Enkelin mehr Sorge tragen, mein guter Freund«, versetzte ich.

»Mehr Sorge tragen?«, entgegnete der alte Mann mit schriller Stimme. »Mehr Sorge tragen für Nelly? Wer hätte wohl je ein Kind mehr geliebt, als ich Nelly liebe?«

Er sprach dies mit so augenfälligem Erstaunen, dass ich in der Verwirrung nicht wusste, was ich ihm antworten sollte, umso mehr, da sich mit der Schwäche und Unstetigkeit in seinem Wesen Spuren tiefer und ängstlicher Gedankenarbeit paarten, welche mir bewiesen, dass er sich nicht, wie ich anfangs überzeugt war, in einem Zustande kindischer Altersschwäche befand.

»Ich glaube nicht, dass Sie die geeignete Rücksicht …«, begann ich.

»Wie, nicht die geeignete Rücksicht?«, unterbrach mich der alte Mann. »Ich sollte nicht die nötige Rücksicht auf sie nehmen? Ach, wie wenig kennen Sie die Wahrheit! Kleine Nelly, kleine Nelly!«

Es wäre niemand möglich, mag er nun die Worte setzen wie er wolle, mehr Innigkeit auszudrücken, als in diesen vier letzten Worten des Raritätenkrämers lag. Ich wartete, bis er fortfahren würde; aber er stützte sein Kinn in die Hand, schüttelte einige Male den Kopf und heftete seine Augen auf das Feuer.

Während wir so schweigend dasaßen, tat sich die Tür des Kabinetts auf, und das Kind kehrte zurück: ihr lichtbraunes Haar hing lose um ihren Nacken, und die Glut ihres Gesichts bewies, wie sehr sie sich beeilt hatte wieder zurückzukommen.

Sie schickte sich nun an ein Nachtessen zu bereiten, und während dies geschah, bemerkte ich, dass der alte Mann die Gelegenheit wahrnahm, mich schärfer, als er es bisher getan hatte, ins Auge zu fassen. Ich war überrascht, als ich sah, dass diese ganze Zeit über alles durch das Kind getan wurde und dass außer uns keine weiteren Personen in dem Hause zu sein schienen.

Sobald sie einen Augenblick das Zimmer verließ, benutzte ich den Anlass, hierüber ein Wort fallenzulassen, worauf der alte Mann erwiderte, es gäbe nur wenige erwachsene Personen, welche so zuverlässig und sorgsam seien wie sie.

»Es tut mir immer weh«, bemerkte ich, etwas gereizt durch seine anscheinende Selbstsucht, »es tut mir immer weh, wenn ich sehe, dass man Kinder, die kaum dem Gängelbande entwachsen sind, mit den Mühen des Lebens bekannt werden lässt. Es beeinträchtigt ihre Zutraulichkeit und Einfalt – zwei der schönsten Eigenschaften, die ihnen der Himmel geschenkt hat – und legt ihnen einen Teil unserer Sorgen auf, ehe sie imstande sind, unsere Freuden mitzufühlen.«

»Es wird keine der ihrigen schmälern«, erwiderte der alte Mann mit einem festen Blick auf mich; »die Quellen sind zu tief. Außerdem, die Kinder der Armen wissen nur wenig vom Vergnügen. Selbst die wohlfeilsten Freuden der Kindheit müssen gekauft und bezahlt werden.«

»Aber – ich bitte um Verzeihung, dass ich so spreche – Sie sind doch gewiss nicht gar so arm?«, sagte ich.

»Sie ist nicht mein Kind, Sir«, versetzte der alte Mann. »Ihre Mutter war arm, und sie ist es gleichfalls. Ich habe nichts übrig – nicht einen Penny –, obgleich ich lebe, wie Sie sehen, aber …«, er legte dabei seine Hand auf meinen Arm und beugte sich flüsternd vorwärts, »sie soll eines Tages reich und eine vornehme Dame werden. Denken Sie nicht schlimm von mir, weil ich mich ihrer Hilfe bediene! Sie sehen, dass sie es gern tut, und es würde ihr das Herz brechen, wenn sie wüsste, dass ich mir durch andere das tun ließe, was ihre kleinen Hände zu leisten vermögen …

Ich keine Rücksicht auf sie nehmen!«, rief er plötzlich in einem klagenden Tone. »Ach, Gott weiß, dass dieses Kind der einzige Gedanke und Zweck meines Lebens ist; und dennoch schickt er mir nie das Glück, das ich brauche – nein, nie!«

Bei dieser Wendung des Gesprächs kam dessen Gegenstand zurück, und der alte Mann winkte mir, näher an den Tisch zu rücken, indem er zugleich abbrach und fortan schwieg.

Wir hatten kaum unser Mahl begonnen, als sich ein Klopfen an derselben Tür, durch die ich hereingekommen war, vernehmen ließ, und Nelly brach in ein herzliches Lachen aus, das ich nicht ungern hörte, denn es war ganz kindlich und voll Heiterkeit; dann sagte sie, es wäre ohne Zweifel der liebe alte Kit, der endlich zurückkäme.

»Närrische Nell«, sagte der alte Mann, indem er mit ihren Haaren spielte. »Sie lacht immer über den armen Kit.«

Das Kind lachte abermals und noch herzlicher als zuvor, und ich konnte mich nicht enthalten, aus reiner Sympathie mitzulächeln. Der kleine alte Mann ergriff ein Licht und entfernte sich, um die Tür zu öffnen. Als er zurückkam, folgte ihm Kit auf der Ferse.

Kit war ein struwwelköpfiger, lätschbeiniger, linkischer Bursche mit einem ungewöhnlich weiten Munde, sehr roten Backen, aufgestülpter Nase und gewiss dem komischsten Gesichtsausdruck, den ich je gesehen hatte. Als er sah, dass ein Fremder zugegen war, machte er an der Tür halt, drehte in der Hand einen ganz runden, alten Hut, ohne die Spur von einer Krempe, ruhte in beständigem Wechsel bald auf dem einen, bald auf dem andern seiner Beine und sah von der Schwelle aus mit dem merkwürdigsten Schielblicke, der mir jemals vorgekommen ist, in die Stube. Von diesem Augenblick an erwachte in meinem Innern ein dankbares Gefühl gegen diesen Jungen, denn es war mir klar, dass er die lustige Komödie in dem Leben des Kindes bildete.

»Ein langer Weg, Kit, nicht wahr?«, sagte der kleine alte Mann.

»Ei freilich, es war eine ziemliche Strecke, Herr«, entgegnete Kit.

»Hast du das Haus leicht aufgefunden?«

»Je nun, nicht allzu leicht, Herr«, versetzte Kit.

»Du wirst natürlich mit einem hungrigen Magen zurückkommen?«

»Ei freilich, es ist mir fast, als ob es so wäre«, lautete die Antwort.

Der Junge hatte eine merkwürdige Art, sich beim Sprechen halb auf die Seite zu wenden und den Kopf über die Achsel vorwärts zu stoßen, als ob er ohne diese begleitende Gestikulation nicht zum Gebrauch seiner Stimme kommen könnte. Ich glaube, er würde überall Heiterkeit hervorgerufen haben, aber die ungemeine Freude des Kindes über diese Wunderlichkeit und der Trost, welcher darin lag, dass es an einem Orte, der so wenig für die Kleine zu passen schien, doch etwas gab, worüber sie lachen konnte, waren ganz unwiderstehlich. Dazu kam noch, dass Kit selbst sich durch die Stimmung, welche er veranlasste, geschmeichelt fühlte: denn nach mehreren fruchtlosen Bemühungen, seinen Ernst zu bewahren, brach er in ein schallendes Gelächter aus, wobei er den Mund von einem Ohr bis zum andern verzog, während seine Augen fast ganz zu verschwinden drohten.

Der alte Mann war wieder in seine frühere Abwesenheit zurückgesunken und achtete auf nichts, was vorging. Ich bemerkte jedoch, dass des Mädchens leuchtende Augen, als ihr Lachen vorüber war, von Tränen verdunkelt wurden, die aus dem übervollen Herzen kamen, mit dem sie den ungeschlachten Liebling nach der kleinen Angst des Abends bewillkommte.

Was Kit selbst anbelangt, dessen Gelächter die ganze Zeit über so war, dass es sich nicht leicht von einem Schreien unterscheiden ließ, so trug er ein großes Stück Brot und Fleisch nebst einem Kruge Bier in einen Winkel und schickte sich an, über sein Mahl mit der Gier eines Wolfes herzufallen.

»Ah«, sagte der alte Mann seufzend, indem er sich gegen mich kehrte, als ob ich ihn eben erst angeredet hätte, »Sie wissen nicht, was Sie sagen, wenn Sie behaupten, dass ich keine Rücksicht auf sie nehme.«

»Sie müssen kein so großes Gewicht auf eine Bemerkung legen, die nur in einer momentanen Ansicht ihren Grund hatte, mein Freund«, entgegnete ich.

»Nein, nein«, versetzte der alte Mann gedankenvoll. »Komm hierher, Nell!«

Das Mädchen verließ eilig ihren Sitz und schlang ihren Arm um seinen Hals.

»Hab ich dich lieb, Nell?«, sprach er. »Sage – hab ich dich lieb, Nell, oder hab ich dich nicht lieb?«

Das Kind antwortete bloß durch Liebkosungen und legte das Köpfchen an seine Brust.

»Warum weinst du?«, sagte der Großvater, indem er sie näher an sich zog und auf mich blickte. »Vielleicht weil du weißt, dass ich dich liebhabe, und weil du es nicht gern hast, dass ich es durch meine Frage zu bezweifeln scheine? Nun, nun – dann lass uns sagen, dass ich dich innig liebhabe.«

»O gewiss, gewiss, das tun Sie«, versetzte das Kind mit großem Eifer; »Kit kann es bezeugen!«

Kit, der, indem er seinem Brot und Fleisch den Garaus machte, bei jedem Mundvoll mit der Kaltblütigkeit eines Degenschluckers zwei Dritteile seines Messers verschlang, hielt bei dieser Berufung in seinen Operationen inne und schrie: »Niemand ist so ein Narr, da nein zu sagen!«, worauf er sich für eine weitere Unterhaltung dadurch unfähig machte, dass er sich mit einer gewaltigen Butterschnitte, die er auf einmal hineinschob, den Mund stopfte.

»Sie ist jetzt arm«, sagte der alte Mann, indem er das Kind auf die Wange klopfte; »aber ich wiederhole es, die Zeit wird kommen, da sie reich sein wird. Es dauert freilich lange, aber sie kann unmöglich ausbleiben. Ist sie ja doch für andere gekommen, die nichts tun als schwelgen und schlemmen. Wann wird sie für mich kommen?«

»Ich bin ganz glücklich so, wie ich bin, Großvater«, sagte das Kind.

»Pst, pst!«, versetzte der alte Mann, »du verstehst das nicht – wie könntest du das verstehen?« Dann murmelte er wieder zwischen den Zähnen: »Die Zeit muss kommen – gewiss, sie kann nicht ausbleiben. Nur umso besser, wenn es später ein trifft.«

Dann seufzte er und fiel in seinen früheren nachdenklichen Zustand zurück, wobei er das Kind noch immer zwischen seinen Knien hielt und für die ganze Umgebung unempfindlich zu sein schien.

Inzwischen war die Zeit vorgerückt, sodass nur noch wenige Minuten auf Mitternacht fehlten. Als ich aufstand, um mich zu entfernen, erwachte er wieder aus seinen Träumen.

»Noch einen Augenblick, Sir«, sagte er. »Was soll das, Kit? Fast Mitternacht, und du noch hier? Geh nach Hause, geh nach Hause und sei morgen zur Zeit da, denn es gibt Arbeit! Gute Nacht! Sag ihm gute Nacht, Nell, und lass ihn gehen!«

»Gute Nacht, Kit«, sagte die Kleine und ihre Augen blitzten vor Freude und Herzlichkeit.

»Gute Nacht, Miss Nell«, erwiderte der Junge.

»Und bedanke dich bei diesem Herrn«, fiel der alte Mann ein; »denn ohne seine Sorgfalt wäre mir heute Nacht mein kleines Mädchen verlorengegangen.«

»Nein, nein, Herr«, versetzte Kit, »was fällt Ihnen ein! Gar keine Spur!«

»Was willst du damit sagen?«, entgegnete der alte Mann.

»Ich würde sie aufgefunden haben, Herr«, antwortete Kit; »ich würde sie aufgefunden haben! Ich wollte wetten, dass ich sie auffände, wenn sie nur irgendwo noch über dem Boden ist; ja, das wollte ich, und so schnell wie irgendeiner, Herr. Ha ha ha!«

Kits Mund öffnete sich aufs Neue, während sich seine Augen versteckten, und wie Stentor lachend zog er sich rücklings nach der Tür zurück, durch die er sich hinausbrüllte.

Sobald der Junge einmal aus dem Zimmer war, zögerte er auch nicht länger, das Haus zu verlassen. Als nach seiner Entfernung das Kind den Tisch abräumte, sagte der alte Mann:

»Ich kann Ihnen freilich nicht genug danken für das, was Sie diesen Abend an mir getan haben; aber mein demütiger Dank kommt aus dem Grunde meines Herzens, und auch bei ihr ist dies der Fall, und der ihrige ist mehr wert als der meinige. Es täte mir leid, wenn Sie mit dem Glauben fortgingen, ich wüsste Ihre Güte nicht zu schätzen oder vernachlässigte das Mädchen – nein, ein solcher Vorwurf kann mich sicher nicht treffen.«

»Nach dem, was ich gesehen«, versetzte ich, »bin ich vollkommen überzeugt davon. Aber«, fügte ich bei, »ich möchte noch etwas fragen.«

»Und das wäre, Sir?«, erwiderte der alte Mann.

»Dieses kleine Geschöpf, mit so viel Schönheit und Verstand begabt«, fuhr ich fort, »hat sie niemand, der für sie Sorge trägt als Sie? Hat sie keinen andern Gefährten oder Berater?«

»Nein«, entgegnete er, mir ängstlich ins Gesicht blickend; »nein, auch bedarf sie keines andern.«

»Aber fürchten Sie nicht«, sagte ich, »dass Sie sich in einer so zarten Aufgabe versehen könnten? Ich bin überzeugt, dass Ihre Absicht gut ist; aber wissen Sie auch ganz gewiss, dass Sie einer derartigen Verpflichtung gewachsen sind? Ich bin ein alter Mann wie Sie und hege die Sorge eines alten Mannes um das, was jung und vielversprechend ist. Glauben Sie nicht, dass das, was ich heute Nacht von Ihnen und diesem kleinen Wesen gesehen habe, mir ein Interesse einflößen muss, das nicht ganz frei von schmerzlichen Empfindungen ist?«

»Sir«, versetzte der alte Mann nach einem Augenblick des Schweigens, »ich habe kein Recht, mich durch Ihre Worte gekränkt zu fühlen. Es ist wahr, dass ich in vielen Beziehungen das Kind bin, während sie die Erwachsene ist. – Sie haben das bereits selbst gesehen. Aber wachend oder schlafend, bei Tag oder Nacht, in gesunden oder kranken Tagen ist sie der einzige Gegenstand meiner Sorge – und wenn Sie wüssten, welcher Sorge, so würden Sie mich sicherlich mit ganz andern Augen betrachten. Ach, es ist ein mühsames Leben für einen alten Mann – ja, ein sehr mühsames Leben; doch es gilt, ein großes Ziel zu erringen, und das ist es, was ich nie aus dem Auge verliere!«

Da ich bemerkte, dass er in einem Zustande großer Aufregung und Ungeduld war, wandte ich mich, in der Absicht, meinen Überrock anzuziehen, den ich am Eingange des Zimmers abgelegt hatte, entschlossen, kein Wort mehr zu verlieren. Ich war jedoch nicht wenig überrascht, als ich das Kind geduldig, mit einem Mantel auf dem Arm und Hut und Stock in den Händen, an der Tür stehen sah.

»Dies gehört nicht mir, meine Liebe«, sagte ich.

»Nein«, versetzte das Kind ruhig, »es gehört dem Großvater.«

»Aber er wird doch nicht heute Nacht noch ausgehen?«

»O ja, das wird er«, sagte das Kind mit einem Lächeln.

»Und was wird aus dir, mein artiges Kind?«

»Aus mir? Ich bleibe natürlich hier. Das ist immer so.«

Ich blickte erstaunt auf den alten Mann; aber der war mit dem Ordnen seines Anzugs beschäftigt oder tat wenigstens dergleichen. Von ihm sah ich wieder auf die leichte, zarte Gestalt des Kindes zurück. Allein! – An diesem düstern Orte die ganze lange, traurige Nacht!

Sie schien mein Erstaunen nicht zu bemerken, sondern half heiter dem alten Manne den Mantel anlegen und nahm, als er fertig war, ein Licht, um uns voranzuleuchten. Als sie bemerkte, dass wir nicht folgten – wie sie erwartet hatte –, sah sie mit einem Lächeln zurück und harrte unser.

Das Gesicht des alten Mannes zeigte deutlich, dass er mein Zögern verstand, aber er deutete mir bloß durch eine Neigung des Kopfes an, dass ich vorangehen möge, und blieb stumm. Ich hatte keine andere Wahl als zu willfahren.

Als wir die Tür erreichten, stellte das Kind den Leuchter nieder, schickte sich an, sich von uns zu verabschieden, und erhob ihr Köpfchen, um mich zu küssen. Dann eilte sie auf den alten Mann zu, der sie umarmte und Gottes Segen auf sie herabwünschte.

»Schlaf wohl, Nell!«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Mögen die Engel an deinem Bette wachen! Vergiss dein Gebet nicht, meine Liebe!«

»Nein, gewiss nicht«, antwortete das Kind herzlich; »ich fühle mich so glücklich nachher.«

»Recht so; ich weiß, dass es so ist und so sein muss«, entgegnete der alte Mann. »Gott segne dich tausendmal. Morgen Früh werde ich zurückkommen.«

»Sie brauchen nicht zweimal zu läuten«, erwiderte das Kind; »die Klingel wird mich wecken, selbst wenn ich mitten im Träumen bin.«

Mit diesen Worten trennten sie sich. Das Kind öffnete die Tür, welche jetzt durch einen Laden geschützt war – ich hatte gehört, wie der Junge ihn, ehe er das Haus verließ, vorgelegt hatte –, und nach einem weiteren Lebewohl, dessen hellen und klaren Ton ich mir seitdem tausendmal zurückgerufen habe, blieb sie in der Tür stehen, bis wir hinausgegangen waren.

Der alte Mann wartete einen Augenblick, während sie von innen leise die Tür verschloss und verriegelte, und sobald dies zu seiner Zufriedenheit geschehen war, ging er langsam weiter. An der Straßenecke machte er halt, betrachtete mich mit einem unruhigen Gesicht und sagte, unsere Wege gingen nach ganz entgegengesetzten Richtungen, weshalb er hier Abschied nehmen müsse.

Ich hatte noch manches auf dem Herzen, aber er eilte mit einer Behändigkeit weiter, die ich von einem Manne seines Alters nicht erwartet hätte. Ich konnte sehen, dass er noch zwei- oder dreimal zurückblickte, als wollte er sich überzeugen, ob ich ihm noch immer nachschaue, vielleicht aber auch, um sich zu vergewissern, dass ich ihm nicht in der Entfernung folge. Die Dunkelheit der Nacht begünstigte sein Verschwinden, und seine Gestalt war mir bald aus den Augen.

Ich blieb an der Stelle stehen, an der er von mir geschieden war – durchaus nicht willens, mich zu entfernen, und doch wusste ich nicht, warum ich hier länger verweilen sollte. Gedankenvoll blickte ich die Straße hinunter, die wir eben verlassen hatten, und nach einer Weile lenkte ich meine Schritte zurück. Ich ging einige Male vor dem Hause auf und ab und horchte an der Tür; alles war dunkel und still wie ein Grab.

Und doch zögerte ich noch immer fortzugehen und konnte mich nicht losreißen, indem ich mir alles mögliche Ungemach vorstellte, das dem Kinde widerfahren könnte. Ich dachte an Feuer, Räuber, sogar an Mord, und es war mir, als müsste etwas Böses folgen, wenn ich dem Hause den Rücken kehrte. Jedes Schließen einer Tür oder eines Fensters brachte mich aufs Neue vor die Behausung des Raritätenkrämers. Ich ging über die Straße und sah an dem Gebäude hinauf, um mich zu überzeugen, dass der Ton nicht von dorther gekommen sei. Nein – da war alles schwarz, kalt und leblos wie zuvor.

Nur wenige Nachtvögel waren noch unterwegs; die Straße war traurig und unheimlich und gehörte so ziemlich mir allein. Ein paar Nachzügler, die aus den Theatern kamen, eilten an mir vorbei, und hin und wieder trat ich etwas beiseite, um irgendeinem lärmenden, nach Hause wankenden Trunkenbold aus dem Wege zu gehen; doch kamen diese Unterbrechungen selten vor und hörten bald ganz und gar auf: Die Glocken schlugen eins. Noch immer ging ich auf und ab, jeden Augenblick im Begriffe, mich zu entfernen; aber stets wurde ich meinem Vorhaben wieder untreu, indem ich mich durch einen neuen Vorwand beschwichtigte.

Je mehr ich über die Worte des alten Mannes, seine Blicke und sein ganzes Benehmen nachdachte, desto weniger konnte ich mir alles, was ich gehört und gesehen hatte, erklären. Eine unheimliche Ahnung beschlich mich, dass seine nächtliche Abwesenheit nichts Gutes bezwecke. Nur die Unschuld des Kindes hatte mich in die Tatsache eingeweiht, und obgleich der alte Mann zugegen war und mein unverhohlenes Erstaunen bemerkte, hatte er doch den Schleier des Geheimnisses über diesen Punkt nicht gelüftet und kein Wort der Erklärung gesprochen.

Diese Betrachtungen riefen mir natürlich sein abgezehrtes Gesicht, sein unstetes Benehmen und seine fortwährend ängstlichen Blicke erst recht lebhaft ins Gedächtnis. Seine Liebe zu dem Kinde konnte sich möglicherweise wohl mit einer Büberei der schlimmsten Art vertragen; selbst diese Liebe barg einen ungemeinen Widerspruch – wie hätte er die Kleine sonst so verlassen können? Ich war einmal in der Stimmung, Schlimmes von ihm zu denken, und so mochte ich auch nicht an die Aufrichtigkeit seiner Liebe glauben. Und doch konnte ich diesem Gedanken nicht Raum geben, wenn ich mich erinnerte, was zwischen uns vorgefallen war, wenn ich mir den innigen Ton zurückrief, mit dem er ihren Namen aussprach.

»Ich bleibe natürlich hier«, hatte das Kind als Antwort auf meine Frage gesagt, »es geschieht immer so!« Was konnte ihn des Nachts aus dem Hause führen, und noch obendrein jede Nacht? Ich rief mir all die wunderlichen Sagen ins Gedächtnis, die ich je von finsteren und geheimen Taten gehört hatte, die in großen Städten begangen und eine lange Reihe von Jahren nicht entdeckt worden waren. So fantastisch auch viele dieser Geschichten waren, so konnte ich doch nicht eine finden, die eine Ähnlichkeit mit diesem vorliegenden Geheimnis gehabt hätte, und das Ganze wurde mir nur umso rätselhafter, je mehr ich mich um eine Erklärung abmühte.

Mit solchen und einer Menge ähnlicher Gedanken beschäftigt, fuhr ich fort, zwei lange Stunden in der Straße auf und ab zu gehen. Endlich begann ein schwerer Regen zu fallen, und von Ermattung überwältigt, obgleich mein Interesse unvermindert blieb, nahm ich die nächste Kutsche, um mich nach Hause bringen zu lassen. Ein lustiges Feuer prasselte auf dem Herde, die Lampe brannte hell, meine Uhr empfing mich mit ihrem alten, traulichen Willkommensgruße; alles war ruhig, warm, behaglich und in einem erfreulichen Gegensätze zu dem unheimlichen Dunkel, das ich eben verlassen hatte.

Ich setzte mich in meinen Lehnsessel, und indem ich es mir in den weichen Polstern behaglich machte, malte ich mir in Gedanken das kleine Mädchen in seinem Bette aus: allein, unbewacht, unbehütet – oder doch nur von den Engeln im Himmel – und doch friedlich schlummernd. Dass ein so junges, ätherisches, so zartes, feenhaftes Geschöpfchen die langen, öden Nächte an einem solch widerlichen Orte zubringen sollte, das wollte mir nicht aus dem Sinn.

Wir lassen uns so leicht von Äußerlichkeiten beeinflussen und sollten eigentlich nur vernünftiger Überlegung Raum geben. Aber Eindrücke verblassen oft, wenn uns nicht solche äußerliche Momente zu Hilfe kommen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich so ganz und gar der Betrachtung dieses Erlebnisses hingegeben hätte, wenn ich nicht diese Unmenge fantastischer Dinge bunt durcheinander gewürfelt in dem Laden des Raritätenhändlers gesehen hätte. Sie drängten sich mir immer wieder auf, wenn ich an das Kind dachte, und, indem sie gleichsam unzertrennlich von ihm waren, führten sie mir die Lage dieses Geschöpfchens in greifbarer Deutlichkeit vor Augen. Ohne meiner Fantasie Zügel anzulegen, sah ich Nells Bild von allem umgeben, was ihrer Natur widersprach und den Wünschen ihres Alters und Geschlechts durchaus fernlag. Wenn mir diese Umgebung gefehlt und ich mir das Kind in einem ganz gewöhnlichen Zimmer hätte vorstellen müssen, in dem nichts Ungewöhnliches oder Unnatürliches gewesen wäre, dann hätte höchstwahrscheinlich ihr merkwürdiges und einsames Leben viel weniger Eindruck auf mich gemacht. So aber schien es mir, als lebte sie in einer Art Allegorie. Und da sie von diesen fantastischen Gestalten umgeben war, hatte sie so viel Anspruch auf mein Interesse, dass, wie ich bereits bemerkte, sie mir trotz aller Bemühung nicht aus dem Sinn kam.

»Das wäre ein merkwürdiges Bild«, sprach ich zu mir selbst nach vielem rastlosen Auf- und Abschreiten, »sie mir in Zukunft vorzustellen, wie sie ihr einsames Leben inmitten von abenteuerlichen, grotesken Gefährten verbringt, als das einzige lautere, frische junge Ding in dem trockenen Kram! Es wäre ganz komisch …«

Ich unterbrach mich hier, denn dieses Bild trug mich mit Windeseile mit sich fort und ich sah vor mir bereits eine Region, die ich nicht gerne betreten wollte. Ich musste mir gestehen, dass dies alles eitle Träumerei sei, beschloss zu Bett zu gehen und alles zu vergessen.

Doch die ganze Nacht über, im Wachen und im Schlafen, kehrten stets dieselben Gedanken wieder, und die gleichen Bilder beschäftigten mein Gehirn: immer standen die alten, finsteren, düsteren Stuben, die Reihe von Harnischen mit ihrem gespenstig-stummen Aussehen, die schielenden Gesichter, die mich aus dem Holze und Steine angrinsten, der Staub, der Moder und der Wurm, der in dem Holze lebt, vor meinen Augen, und allein inmitten all dieses Gerümpels, dieses Verfalles und dieser hässlichen Altertümer das schöne Kind in seinem sanften Schlummer, durch seine lichten und sonnigen Träume lächelnd.

2. Kapitel

Nachdem ich fast eine Woche lang das Gefühl bekämpft hatte, das mich antrieb, den Ort wieder zu besuchen, den ich unter den mitgeteilten Umständen verlassen hatte, gab ich ihm endlich doch nach. Ich beschloss jedoch, diesmal mich im Lichte des Tages zu zeigen, und lenkte daher meine Schritte in den ersten Stunden des Nachmittags in jene Gegend.

Ich ging an dem Hause vorbei und mehrere Male in der Straße auf und ab, mit jenem gewissen Zögern, das ganz natürlich ist bei jemandem, der weiß, dass sein Besuch zum Mindesten unerwartet, wenn nicht sogar höchst unwillkommen ist. Da jedoch die Ladentür geschlossen und es wahrscheinlich war, dass ich von den Leuten drin nicht erkannt würde, wenn ich bloß auf und ab spazierte, überwand ich meine Unschlüssigkeit und befand mich bald im Speicher des Raritätenkrämers.

Der alte Mann stand mit noch einer andern Person im Hintergrunde, und beide schienen in einem lebhaften Wortwechsel begriffen gewesen zu sein, denn ihre zuvor sehr lauten Stimmen schwiegen plötzlich bei meinem Eintritt. Und der alte Mann kam hastig auf mich zu und sagte in zitterndem Tone, es freue ihn sehr, dass ich gekommen sei.

»Sie haben uns in einem kritischen Augenblicke unterbrochen«, fuhr er fort, indem er auf den Mann deutete, der sich in dem Laden befand. »Der Mensch da wird mich in den nächsten Tagen noch umbringen! Er würde es schon längst getan haben, wenn er den Mut dazu gehabt hätte.«

»Pah! Sie würden mir mit einem Eide das Leben nehmen, wenn Sie könnten«, entgegnete der andere mit einem stechenden Zornesblicke auf mich, »das wissen wir alle!«

»Ich glaube fast, dass ich es könnte«, rief der alte Mann, indem er sich kraftlos nach ihm umwandte. »Wenn Eide, Gebete oder Worte mich von dir erlösen könnten, so sollte es gewiss geschehen. Ich wäre deiner ledig, und mir wäre wohl, wenn du tot wärest.«

»Das weiß ich«, versetzte der andere. »Sagte ich es nicht bereits? Aber weder Eide noch Gebete noch Worte werden mich töten; ich bleibe daher am Leben und habe im Sinne, weiterzuleben.«

»Und seine Mutter hat sterben müssen!«, rief der alte Mann, leidenschaftlich die Hände zusammenschlagend und nach oben blickend. »Ist das die Gerechtigkeit des Himmels?«

Der andere stand nachlässig mit dem Fuße auf einem Stuhl und betrachtete den Alten mit einem verächtlichen Hohnlächeln. Er war ein junger Mann von einundzwanzig Jahren oder darüber, wohlgebildet und sogar schön, obgleich der Ausdruck seines Gesichtes nicht im Geringsten ansprach, sondern im Gegenteil durch seine liederliche und unverschämte Miene – Charakterzüge, die sich außerdem in seinem ganzen Benehmen und sogar in seiner Kleidung ausdrückten – abstoßend wirkte.

»Gerechtigkeit oder nicht«, erwiderte der junge Bursche, »ich bin hier und werde hierbleiben, bis es mich gutdünkt zu gehen; es müsste denn sein, dass Sie Leute herbeiriefen, um mich hinauswerfen zu lassen – und das tun Sie nicht, wie ich wohl weiß. Ich sage Ihnen noch einmal, dass ich meine Schwester sehen will.«

»Deine Schwester?«, versetzte der alte Mann bitter.

»Ja, die Verwandtschaft können Sie nicht aus der Welt schaffen«, entgegnete der andere; »denn wenn Sie es könnten, so würden Sie es längst getan haben. Ich will meine Schwester sehen, die Sie hier eingesperrt halten und deren Gemüt Sie mit Ihren schlauen Geheimnissen und Ihrer angeblichen Liebe für sie vergiften, während sie sich auf Ihr Geheiß zu Tode arbeiten muss, damit Sie jede Woche etliche schäbige Schillinge dem Gelde beifügen können, das Sie ohnehin kaum zu zählen imstande sind. Ich bestehe darauf sie zu sehen und werde meinen Willen durchzusetzen wissen.«

»Ein feiner Moralist, der von vergifteten Gemütern spricht! Ein hoher Geist, der über schäbige Schillinge spottet!«, rief der alte Mann, sich von ihm ab- und an mich wendend. »Ein Elender, Sir, der jeden Anspruch verwirkt hat nicht nur an diejenigen, die das Unglück haben, durch die Bande des Bluts mit ihm verbunden zu sein, sondern an die ganze menschliche Gesellschaft, der er nur durch seine Übeltaten bekannt ist.

Noch obendrein ein Lügner«, fügte er mit leiser Stimme hinzu, indem er mir näher rückte, »der recht wohl weiß, wie teuer sie mir ist, und mich sogar in dieser Herzenssache zu verwunden sucht, weil ein Fremder dabei ist.«

»Ich mache mir nichts aus Fremden, Großvater«, sagte der junge Bursche, der die letzten Worte aufgefangen hatte, »weil es auch hoffentlich umgekehrt der Fall ist; denn sie können nichts Besseres tun, als für ihre eigenen Angelegenheiten sorgen und mir die meinigen überlassen. Draußen harrt einer meiner Freunde, und da es den Anschein hat, als ob ich noch einige Zeit warten müsste, so will ich ihn mit Ihrer Erlaubnis hereinrufen.«

Mit diesen Worten trat er in die Tür, sah die Straße hinab und winkte mehrere Male einer uns unsichtbaren Person, die – der ungeduldigen Miene zufolge, mit der die Winke begleitet wurden – einer ziemlichen Überredung zu bedürfen schien, um näher zu kommen. Endlich schlenderte von der andern Seite des Weges herüber – sich den lächerlichen Anschein gebend, als gehe sie nur zufällig vorbei eine Gestalt, die durch ihre schmutzige Eleganz besonders auffiel; unter vielem Stirnrunzeln und Kopfschütteln, wie wenn sie der Einladung nur unwillig folgte, kam sie endlich heran und trat in den Laden.

»So. Dies ist Dick Swiveller«, sagte der junge Bursche, indem er seinen Freund hereinzog. »Setz dich, Swiveller.«

»Ist es aber auch dem alten Manne recht?«, entgegnete Herr Swiveller leise.

»Setz dich!«, wiederholte sein Kamerad.

Herr Swiveller willfahrte und bemerkte, indem er mit einem versöhnenden Lächeln um sich blickte, dass die letzte Woche eine schöne Woche für die Enten gewesen wäre und die gegenwärtige eine schöne für den Staub sei. Ferner berichtete er, dass er, während er an der Straßenecke gewartet, ein Schwein mit einem Strohwische im Maul habe aus einem Tabakladen herauskommen sehen, aus welchem Umstande er prophezeite, dass bald wieder eine schöne Woche für die Enten kommen werde; denn sicherlich sei Regen zu erwarten. Sodann ersah er die Gelegenheit, sich wegen der Nachlässigkeit, die allenfalls in seinem Anzug bemerklich sein dürfte, zu entschuldigen, weil er »die letzte Nacht zu sehr die Sonne in den Augen gehabt habe«, ein Ausdruck, mit dem er seinen Zuhörern auf die zarteste Weise von der Welt andeuten wollte, dass er schwer betrunken gewesen sei.

»Doch«, fuhr Herr Swiveller mit einem Seufzer fort, »was will das heißen, solange das Feuer der Seele seinen Zündstoff von dem Kerzenlichte der Geselligkeit erhält und der Fittich der Freundschaft nie eine Feder verliert! Was will das heißen, solange der Geist sich erweitert unter dem Einflusse des rosigen Weines und der gegenwärtige Augenblick der wenigst glückliche unseres Daseins ist!«

»Du brauchst hier keine Präsidentenrolle zu spielen«, sagte sein Freund halb abgewandt.

»Fritz«, rief Herr Swiveller, mit dem Finger seine Nase berührend, »ein Wort ist für den Weisen zureichend! Wir können ohne Reichtümer gut und glücklich sein, Fritz. Du brauchst keine Silbe mehr zu reden. Ich kenne mein Stichwort – es heißt Schlauheit. Nur noch ein Wort ins Ohr, Fritz: Ist der alte Mann freundlich?«

»Kümmere dich nicht darum!«, versetzte sein Freund.

»Abermals recht, ganz recht«, sagte Herr Swiveller. »Es gilt Vorsicht, und vorsichtig wollen wir auch handeln.«

Mit diesen Worten blinzelte er, als sei er im Besitz irgendeines tiefen Geheimnisses; dann schlug er die Arme übereinander, lehnte sich in den Stuhl zurück und sah mit dem wichtigsten Ernst an die Decke.

Diesem Vorgänge zufolge hätte man nicht ohne Grund mutmaßen können, Herr Swiveller habe sich noch immer nicht ganz von den Wirkungen des von ihm angedeuteten nächtigen Sonnenlichtes erholt; wäre aber auch ein solcher Verdacht nicht durch seine Sprache veranlasst worden, so würden jedenfalls seine in die Höhe stehenden, borstigen Haare, die trüben Augen und das gelbe Gesicht kräftiges Zeugnis gegen ihn abgelegt haben.

Sein Anzug war, wie er selbst angedeutet hatte, nicht in der schönsten Ordnung, sondern sah im Gegenteil ganz so aus, als hätte der Eigentümer mit ihm zu Bett gelegen. Er bestand aus einem braunen Frack mit vielen Messingknöpfen vorn und nur einem einzigen hinten, einem hellfarbigen, gewürfelten Halstuche, einer Plaidweste, schmutzigen weißen Beinkleidern und einem sehr vermürbten Hut, dessen Hinterseite er nach vorn gekehrt hatte, um ein Loch in der Krempe zu verbergen.

Die Brust seines Frackes war außen mit einer Tasche verziert, aus welcher der reinste Zipfel eines sehr großen und arg mitgenommenen Schnupftuchs heraussah; seine schmutzigen Manschetten waren so weit wie möglich hervorgezogen und ruhmredig über die Ärmelaufschläge zurückgeschlagen; er hatte keine Handschuhe und trug ein gelbes spanisches Rohr, dessen Griff eine knöcherne Hand war, die an dem kleinen Finger eine Art Ring trug und eine schwarze Kugel umklammert hielt.

Mit solchen persönlichen Vorzügen ausgestattet, zu denen sich noch ein starker Geruch nach Tabak und ein sehr schmieriges Äußere gesellten, lehnte sich Herr Swiveller, die Augen an die Decke geheftet, in seinen Stuhl zurück, wobei er gelegentlich seine Stimme zu der nötigen Höhe steigerte, weil er die Gesellschaft mit einigen Takten einer ungemein grässlichen Arie erfreuen zu müssen glaubte, dann aber wieder, in der Mitte einer Note abbrechend, in sein früheres Schweigen versank.

Der alte Mann setzte sich in einen Stuhl und sah mit gefalteten Händen bald auf seinen Enkel, bald auf dessen seltsamen Gefährten, als fühlte er sich außerstande und aller Mittel beraubt, sich ihrer zu erwehren, weshalb er sie nach Belieben schalten und walten lassen müsste.

Der junge Mann lehnte in der Nähe seines Freundes an einem Tisch, augenscheinlich gleichgültig gegen alles, was vorgegangen war; und ich – da ich die Schwierigkeit einer Vermittlung fühlte, obgleich mich der alte Mann durch Worte und Blicke dazu aufgefordert hatte – gab mir so gut wie möglich den Anschein, als betrachtete ich die zum Verkauf ausgestellten Waren, ohne mich viel um die Anwesenden zu kümmern.

Das Schweigen war nicht von langer Dauer; denn nachdem uns Herr Swiveller mit unterschiedlichen melodischen Versicherungen, dass sein Herz im Hochland sei und dass er nur seines arabischen Rosses bedürfe, um Taten der Tapferkeit und des treuen Gehorsams zu vollbringen, gnädigst beschenkt hatte, ließ er die Augen von der Decke herabgleiten und geruhte wieder zur schlichten Prosa zurückzukehren.

»Fritz«, sagte Herr Swiveller und hielt wieder inne, als ob ihm der Gedanke eben erst gekommen sei, worauf er in demselben hörbaren Flüstern, dessen er sich vorhin bedient hatte, fortfuhr, »ist der alte Mann freundlich?«

»Was geht es dich an?«, erwiderte sein Freund verdrießlich.

»Nichts; aber ich möchte es doch wissen«, versetzte Dick.

»Es hat natürlich einen großen Wert für dich! Was kümmert’s mich, ob er’s ist oder nicht!«

Durch diese Antwort, wie es schien, ermutigt, auf eine mehr allgemeine Unterhaltung auszugehen, legte es Herr Swiveller darauf an, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln.

Er begann mit der Bemerkung, dass Sodawasser, obgleich es an und für sich etwas Gutes sei, doch sehr kalt im Magen liege, wenn man es nicht mit Ingwer oder durch den Zusatz von Branntwein würze, welch letzteren Artikel namentlich er in allen Fällen vorziehe, wenn dabei nicht der Kostenpunkt in Betracht komme.

Da es niemand wagte, diese Sätze zu bestreiten, fuhr er fort zu bemerken, dass der Geruch des Tabakrauchs am allerlängsten dem menschlichen Haar anhänge und dass die jungen Gentlemen zu Westminster und Eton, wenn sie es versuchten, den Geruch gerauchter Zigarren durch das Vertilgen großer Quantitäten von Äpfeln vor ihren besorgten Angehörigen zu verbergen, gewöhnlich infolge der genannten merkwürdigen Eigenschaft ihrer Köpfe entdeckt würden; er kam sofort zu dem Schlüsse, die Royal Society würde sich in der Tat als eine große Wohltäterin des Menschengeschlechts erweisen, wenn sie diesem Umstande ihre Aufmerksamkeit zuwenden und im Bereich der Wissenschaft die Mittel aufzufinden suchen würde, derartigen unangenehmen Entdeckungen vorzubeugen.

Da diese Ansichten so unumstößlich waren wie die früher ausgesprochenen, so schickte er sich an, uns zu belehren, dass der Jamaika-Rum, obgleich ohne Frage ein sehr geistvolles und wohlschmeckendes Getränk, doch den Nachteil habe, einem den andern Morgen noch auf der Zunge zu liegen; und da auch diesen Punkt niemand zu bestreiten wagte, stieg sein Selbstvertrauen und er wurde mit jedem Augenblicke mitteilsamer und gesprächiger.

»Es ist ein Teufelsding, meine Herren«, sagte Herr Swiveller, »wenn Verwandte durch Streit auseinander kommen. Der Fittich der Freundschaft sollte nie eine Feder verlieren, und der Fittich der Verwandtschaft sollte nie beschnitten werden, sondern immer heiter ausgespannt sein. Warum sollten Großvater und Enkel aufeinander mit gleicher Wut loshacken, wenn doch alles Segen und Eintracht sein könnte? Warum einander nicht die Hände reichen und vergessen?«

»Halt dein Maul!«, sagte sein Freund.

»Mein Herr, ich muss bitten, den Präsidenten nicht zu unterbrechen«, versetzte Herr Swiveller. »Meine Herrn, wie steht nun die Sache bei dem gegenwärtigen Anlasse? Hier ist ein jovialer alter Großvater – ich sage dies mit der größten Achtung – und hier ein wilder junger Enkel. Der joviale alte Großvater sagt zu dem wilden jungen Enkel: ›Ich habe dich genährt und erzogen, Fritz; ich habe dich in die Lage versetzt, dich selbst im Leben fortbringen zu können; du hast ein wenig über den Strang geschlagen, wie es junge Leute oft tun, und dir bleibt keine weitere Aussicht, ja nicht einmal der Schatten einer halben Aussicht.‹

Der wilde Enkel gibt darauf die folgende Antwort: ›Sie sind so reich, wie man nur sein kann; Sie haben meinetwegen keine ungewöhnlichen Kosten gehabt; Sie sparen Haufen Geldes für meine kleine Schwester, die mit Ihnen heimlich und verstohlen, sozusagen schlupfwinkelartig lebt, ohne dass sie irgendeine Freude hat – warum können Sie nicht auch Ihrem erwachsenen Verwandten mit einer Kleinigkeit beispringen?‹

Der joviale alte Großvater erwidert hierauf nicht nur, dass er es ablehnt, mit jener angenehmen Bereitwilligkeit, die bei einem Herrn seines Alters stets so erfreulich und wohltuend ist, zu blechen, sondern meint sogar, der Teufel müsste ihn plagen, wenn er’s täte, teilt Schimpfnamen aus und hält bei jeder Zusammenkunft moralische Vorlesungen.

Die Frage liegt daher auf platter Hand: Ist es nicht jammerschade, dass ein solcher Zustand fortdauern soll, und wäre es nicht viel besser für den alten Herrn, mit einer ansehnlichen Partie Spieße auszurücken, um alles recht und eben zu machen?«

Nach dieser Rede, die mit vielem Gestikulieren und Händefuchteln vorgetragen worden war, steckte Herr Swiveller plötzlich den Knopf seines Spazierstockes in den Mund, als ob er sich selbst hindern wollte, den Effekt seines Vortrags auch nur durch ein einziges weiteres Wort zu schwächen.

»Ach, dass Gott sich erbarmen möge – warum hetzest und verfolgst du mich?«, sagte der alte Mann zu seinem Enkel. »Warum bringst du mir auch noch deine liederliche Kameradschaft hierher? Wie oft muss ich dir noch sagen, dass mein Leben eine Kette von Sorgen und Entbehrungen ist und dass ich arm bin?«

»Wie oft muss ich Ihnen sagen, dass ich das besser weiß?«, erwiderte der andere.

»Du hast deine eigene Bahn gewählt«, sagte der alte Mann. »Folge ihr meinetwegen; aber mich und Nell lass arbeiten und tätig sein!«

»Nell wird bald groß sein«, entgegnete der andere; »und unter Ihren Lehren aufgewachsen, wird sie ihren Bruder vergessen, wenn er sich nicht zuweilen zeigt.«

»Hüte dich«, versetzte der alte Mann mit funkelnden Augen, »dass sie deiner nicht vergisst, wenn du ihr schärfstes Gedächtnis brauchen könntest! Sieh dich vor, dass du nicht eines Tages barfuß durch die Straßen ziehst, wenn sie in ihrer eigenen Equipage einherfährt!«

»Sie meinen, wenn sie Ihr Geld hat?«, erwiderte der andere. »Wie schön doch seine Worte zu dem armen Manne passen!«

»Und doch«, sprach der alte Mann, indem er den Tön seiner Stimme in der Weise eines laut Denkenden dämpfte, »wie arm sind wir doch, und was für ein Leben führen wir! Es gilt einem zarten Kinde, das nie irgendjemand ein Leid tat, und trotzdem will es nicht gehen! Doch nur Geduld, Geduld! Nur nicht die Hoffnung aufgeben!«

Diese Worte wurden zu leise gesprochen, als dass sie die Ohren der jungen Männer hätten erreichen können. Herr Swiveller glaubte augenscheinlich, sie bezögen sich auf einen inneren Kampf – eine Folge des mächtigen Eindrucks seiner Rede, denn er stieß seinen Freund mit dem Spazierstock an und flüsterte ihm zu, er sei überzeugt, »die Riegel gelöst« zu haben, wofür er übrigens auch seinen Anteil an dem Ertrage erwarte.

Als er aber nach einer Weile seinen Irrtum entdeckte, schien er etwas schläfrig und unmutig zu werden, und er hatte bereits zu wiederholten Malen darauf hingedeutet, dass er es für passend hielte, sich zu entfernen, als die Tür aufging und das Kind selbst hereintrat.

3. Kapitel

Dicht hinter dem Kinde erschien ein ältlicher Mann mit merkwürdig harten Zügen, einem abstoßenden Äußern und von so kleiner Gestalt, dass man ihn wohl für einen Zwerg halten konnte, obgleich Kopf und Gesicht selbst für den Körper eines Riesen noch groß genug gewesen wären. Seine schlauen schwarzen Augen rollten verschmitzt umher, Mund und Kinn starrten von den Stoppeln eines rauen, harten und stacheligen Bartes, und seine Gesichtsfarbe konnte man weder rein noch gesund nennen.

Was aber den grotesken Ausdruck seines Gesichts noch erhöhte, war ein unheimliches Lächeln, welches – augenscheinlich das bloße Ergebnis der Gewohnheit – durchaus kein heiteres und behagliches Gefühl verriet und ihm ganz das Aussehen eines keuchenden Hundes gab, indem es die missfarbigen paar Fänger, welche noch in seinem Munde staken, zur Schau stellte.

Sein Anzug bestand aus einem großen Hute mit hohem Kopf, abgetragenen schwarzen Kleidern, einem Paar sehr umfangreicher Schuhe und einem schmutzigen weißen Halstuche, das bereits hinreichend zerknüllt war, um den größten Teil des scharf hervortretenden Adamsapfels sichtbar werden zu lassen.

Die noch vorhandenen Haare waren schwärzlichgrau, kurz abgeschnitten und gegen die Schläfen ins Gesicht gestrichen, während sie gegen die Ohren als zottige Franse überhingen. Seine schmutzigen Hände hatten eine raue, grobe Haut, und die langen, krummen Fingernägel zeigten eine gelbe Farbe.

Ich hatte hinreichend Zeit, alle diese Einzelheiten gewahr zu werden; denn sie waren, selbst für einen flüchtigen Beobachter, augenfällig genug, und es verging eine geraume Weile, ehe das Schweigen von irgendeiner Seite gebrochen wurde.

Die Kleine trat schüchtern auf ihren Bruder zu und legte ihre Hand in die seinige, während der Zwerg – wenn wir ihn so nennen dürfen – mit scharfem Blick alle Anwesenden musterte, und der Raritätenkrämer, der augenscheinlich diesen ungeschlachten Besuch nicht erwartet hatte, verwirrt und verlegen zu sein schien.

»Ah!«, sagte der Zwerg, nachdem er die Augen mit der Hand beschattet und den jungen Mann aufmerksam betrachtet hatte, »das sollte also Ihr Enkel sein, Nachbar?«

»Sagen Sie lieber, er sollte es nicht sein«, versetzte der alte Mann; »aber leider ist er es.«

»Und dieser?«, fuhr der Zwerg fort, indem er auf Dick Swiveller zeigte.

»Ein Freund von ihm und hier ein ebenso willkommener Gast als er selbst«, antwortete der alte Mann.

»Und der?«, fragte der Zwerg weiter, indem er sich umdrehte und auf mich deutete.

»Ein Herr, der so gütig war, Nell nach Hause zu führen, als sie sich letzthin auf dem Rückweg von Ihrem Hause verirrte.«

Der kleine Mann wandte sich nach dem Kinde um, als wolle er mit ihr zanken oder seine Verwunderung über ihre Ungeschicklichkeit ausdrücken; da sie jedoch mit dem jungen Manne sprach, schwieg er und beugte den Kopf vor, um zuzuhören.

»Nun, Nelly«, sagte der junge Mensch laut, »man lehrt dich wohl mich zu hassen, nicht wahr?«

»Nein, nein – pfui, schäme dich! O nein!«, rief das Kind.

»Oder mich zu lieben vielleicht?«, fuhr der Bruder mit einem höhnischen Lachen fort.

»Keines von beiden«, entgegnete sie. »Man spricht nie von dir. Gewiss, es geschieht nie.«

»Darauf wollte ich schwören«, sagte er, indem er einen bitteren Blick auf seinen Großvater fallen ließ. »Ja, darauf wollte ich schwören, Nell. Ich will dir hier aufs Wort glauben.«

»Aber ich habe dich sehr lieb, Fritz«, erwiderte das Kind.

»Kein Zweifel!«

»O gewiss, und ich will es immer tun«, wiederholte das Kind mit großer Bewegung. »Aber ach, wenn du nur aufhören wolltest, ihn zu kränken und ihn unglücklich zu machen, so würde ich dich noch viel mehr liebhaben!«

»Schon gut«, sagte der junge Mann, beugte sich gleichgültig über das Kind nieder und schob es, nachdem er es geküsst hatte, von sich. »So – jetzt kannst du gehen; du hast deine Lektion aufgesagt. Du brauchst nicht zu wimmern. Wenn du weiter nichts weißt, so kommen wir gut genug auseinander.«

Dann schwieg er und folgte ihr mit den Augen, bis sie ihr kleines Zimmer erreicht und die Tür hinter sich abgeschlossen hatte, worauf er sich an den Zwerg wandte und abgebrochen begann:

»Hören Sie, Herr …«

»Meinen Sie mich?«, entgegnete der Zwerg. »Quilp ist mein Name. Sie können ihn leicht behalten, da er nicht lang ist – Daniel Quilp.«

»So hören Sie denn, Herr Quilp«, fuhr der andere fort, »Sie haben einigen Einfluss auf meinen Großvater hier.«

»Einigen«, entgegnete Herr Quilp mit Nachdruck.

»Und wissen wohl ein wenig von seinen Geheimnissen?«

»Ein wenig«, erwiderte Quilp ebenso trocken.

»So mag er durch Sie ein für allemal erfahren, dass ich an diesem Orte, solange Nell hier ist, ein und aus gehen will, so oft es mir beliebt, und dass er zuerst sie entfernen muss, wenn er mich loswerden will. Was habe ich getan, dass man mich zu einem Popanz macht und mich scheut und fürchtet, als ob ich die Pest hätte? Er wird Ihnen sagen, dass mir das Gemüt fehle und dass ich mich um Nell, um ihrer selbst willen, ebenso wenig wie um ihn kümmere. Doch sei es drum. Ich leide nun eben einmal an der Grille, hier kommen und gehen zu können, wie ich will, um sie wenigstens an mein Vorhandensein zu erinnern. Ich will sie sehen, so oft es mir beliebt – darauf habe ich es jetzt abgesehen. Ich kam heute her, um meine Absicht durchzusetzen, und will noch fünfzigmal zu dem gleichen Zwecke und stets; mit demselben Erfolg wiederkommen. Ich sagte, dass ich nicht von der Stelle gehe, ohne mein Vorhaben erreicht zu haben. Das ist jetzt geschehen, und mein Besuch ist zu Ende. Komm, Dick.«

»Halt!«, rief Herr Swiveller, als sich sein Kamerad der Tür zuwandte. »Sir!«

»Gehorsamer Diener, Sir«, versetzte Herr Quilp, an den dieses einsilbige Wort gerichtet war.

»Ehe ich diesen heiteren und festlichen Schauplatz, diese Hallen voll blendenden Lichts mit dem Rücken ansehe, Sir«, sagte Herr Swiveller, »will ich mit Dero gütiger Erlaubnis mir eine kleine Bemerkung gestatten. Ich kam heute in der Meinung hierher, dass der alte Mann freundlich sei.«

»Weiter, Sir«, sprach Daniel Quilp; denn der Redner hatte plötzlich haltgemacht.

»Inspiriert von diesem Gedanken und den dadurch geweckten Gefühlen, Sir, und zugleich als wechselseitiger Freund empfindend, dass Quälen, Hetzen und Renommieren nicht geeignet sind, die Seelen zu erweitern und die gesellige Harmonie der streitenden Parteien zu fordern, nahm ich es auf mich, einen Weg anzudeuten, welcher einzig und allein in dem gegenwärtigen Falle eingeschlagen werden kann. Wollen Sie mir erlauben, Ihnen eine halbe Silbe ins Ohr zu flüstern, Sir?«

Ohne die nachgesuchte Erlaubnis abzuwarten, trat Herr Swiveller auf den Zwerg zu, lehnte sich an seine Schulter, beugte sich zu seinem Ohr herunter und sagte mit einer Stimme, welche allen Anwesenden vollkommen vernehmlich war:

»Das Losungswort für den alten Mann heißt – blechen.«

»Wie?«, fragte Quilp.

»Heißt blechen, Sir, blechen«, wiederholte Herr Swiveller, auf seine Tasche klopfend.

Der Zwerg nickte. Herr Swiveller zog sich zurück und nickte gleichfalls, trat abermals einen Schritt nach der Tür und nickte nochmals und so fort, bis er endlich die Tür erreicht hatte, wo er durch einen kräftigen Hustenstoß die Aufmerksamkeit des Zwerges auf sich zu lenken und eine Gelegenheit zu gewinnen suchte, durch eine stumme Pantomime sein Vertrauen an den Tag zu legen und die unverbrüchlichste Zufriedenheit auszudrücken. Nachdem er dieses ernste Gebärdenspiel, welches zu geeigneter Erläuterung seiner Ideen nötig gewesen, beendigt hatte, folgte er den Fußtapfen seines Freundes und verschwand.

»Hum!«, sagte der Zwerg mit saurer Miene und einem Achselzucken. »Das ist ja eine recht liebe Verwandtschaft. Gott sei Dank! Ich will von keiner etwas wissen.

Und auch Sie hätten’s nicht nötig«, fügte er gegen den alten Mann gewendet hinzu, »wenn Sie nicht so schwach wären wie ein Rohr und fast ebenso unverständig.«

»Und was sollte ich denn eigentlich tun?«, versetzte dieser in einer Art hilfloser Verzweiflung. »Es ist leicht, zu schwatzen und einen zu verhöhnen. Was hätte ich tun sollen?«

»Das Nämliche, das ich in Ihrem Falle getan hätte«, entgegnete der Zwerg.

»Ohne Zweifel ein Gewaltstreich?«

»Erraten!«, erwiderte der kleine Mann, höchlich über dieses Kompliment vergnügt – denn als ein solches betrachtete er es augenfällig –, indem er wie ein Teufel grinste und zugleich seine schmutzigen Hände rieb. »Fragen Sie die Frau Quilp, die hübsche Frau Quilp, die gehorsame, schüchterne, liebevolle Frau Quilp. Doch das erinnert mich … ich habe sie allein zu Hause gelassen, sie wird besorgt sein und keinen Augenblick Ruhe haben, bis ich wieder daheim bin. Ich weiß, es geht ihr immer so, wenn ich meine Wohnung verlasse, obgleich sie es nicht zu gestehen wagt, wenn ich sie nicht selbst dazu veranlasse und sie auffordere, frei heraus zu sprechen, unter Garantie meines Wohlwollens! Ach, die Frau Quilp ist eine gar wohlgezogene Frau!«

Das kleine Ungetüm sah mit seinem monströsen Kopfe auf dem verkrüppelten Rumpfe ganz entsetzlich aus, während es die Ballen seiner Hände langsam aufeinander hin und her drehte – es lag sogar in dieser unbedeutenden Bewegung etwas Fantastisches – und, die buschigen Brauen senkend und das spitzige Kinn in die Luft schiebend, mit einem heimlichen Blick des Entzückens, um den ihn ein Kobold hätte beneiden können, in die Höhe schaute.

»Da«, fuhr er fort, indem er die Hand in seine Brusttasche steckte und, während er sprach, den alten Mann beiseite nahm, »ich habe es aus Furcht vor einem Unfall selbst mitgebracht; denn es ist Gold und dürfte daher für Nells Beutel etwas zu schwer und zu groß sein. Man sollte sie übrigens doch hin und wieder an solche Lasten gewöhnen, Nachbar, denn sie wird schwer daran zu schleppen haben, wenn Sie einmal tot sind.«

»Gebe es Gott – ich hoffe es«, sagte der alte Mann, und ich glaube, er seufzte dabei.

»Hoffe es?«, wiederholte der Zwerg, indem er dicht an das Ohr des Alten trat. »Nachbar, ich wollte, ich wüsste, auf was für gute Hypotheken all diese Vorräte angelegt sind. Aber Sie sind ein verschwiegener Mann und wissen Ihr Geheimnis zu bewahren.«

»Mein Geheimnis?«, rief der andere mit einem hohlen Blicke. »Ja, Sie haben recht – ich – ich – bewahre es sorgfältig – sehr sorgfältig.«

Er sprach nicht weiter, nahm das Geld und entfernte sich mit langsamen, unsicheren Schritten, während er mit der Miene der Ermattung und Trostlosigkeit die Hand auf die Stirn drückte.

Der Zwerg sah ihm mit scharfen Blicken nach, als er in das kleine Hinterstübchen ging und das eben Erhaltene in eine eiserne Schatulle über dem Kamingesims verschloss. Nachdem er nachdenklich eine Weile auf und ab gegangen war, schickte er sich an, fortzugehen, indem er bemerkte, Frau Quilp werde bei seiner Rückkunft gewiss Krämpfe kriegen, wenn er sich nicht sehr beeile.

»Ich will daher«, fügte er bei, »mein Gesicht heimwärts drehen, Nachbar. Einen schönen Gruß an Nelly, und ich hoffe, sie wird ihren Weg nicht wieder verlieren, obgleich ich diesem Umstande eine unerwartete Ehre verdanke.«

Mit diesen Worten verbeugte er sich mit einem Schielblicke gegen mich und ging seines Weges, wobei er mit seinem Falkenauge jeden, auch den unbedeutendsten Gegenstand, den es erreichen konnte, zu erfassen schien.

Ich hatte schon zu wiederholten Malen im Sinne gehabt, mich gleichfalls zu entfernen; aber der alte Mann hatte immer etwas einzuwenden und bat mich, zu bleiben. Da er, als wir allein waren, seine Bitten erneuerte und mit vielen Dankesworten auf den früheren Anlass unseres Zusammentreffens zurückkam, gab ich bereitwillig seinem Zureden nach und nahm Platz, indem ich tat, als interessierten mich einige wunderliche Miniaturbilder und ein paar alte Medaillen, die er mir vorlegte. Es bedurfte keines sonderlichen Drängens, um mich zum Bleiben zu veranlassen; denn wenn meine Neugierde schon bei Gelegenheit meines ersten Besuches erregt worden war, so diente gewiss der zweite nicht dazu, sie zu vermindern.

Nell war wieder ins Zimmer getreten und hatte sich mit einer Handarbeit an der Seite des alten Mannes niedergesetzt. Es war ein Genuss, die frischen Blumen im Gemache und den Lieblingsvogel, dessen kleiner Käfig mit einem Zweig beschattet war, zu sehen und die jugendliche Frische zu atmen, welche das öde, alte Haus zu durchdringen und das Kind zu umschweben schien.

Weniger angenehm, aber doch auch interessant war es, den Blick von der Schönheit und Anmut des Mädchens auf die gebeugte Gestalt, das abgehärmte Gesicht und die müde Erscheinung des alten Mannes zu richten. Was musste aus diesem einsamen kleinen Wesen werden, wenn er schwächer und immer schwächer wurde? Er war zwar nur ein armseliger Beschützer; aber wenn er starb – was würde dann ihr Los sein?

Der alte Mann schien fast auf meine Gedanken zu antworten, als er seine Hand auf die ihrige legte und sprach:

»Ich will den Mut nicht länger sinken lassen, Nell. Es muss dir noch ein schönes Glück vorbehalten sein – ich wünsche es nicht für mich, sondern um deinetwillen. Es muss ja ohnehin so viel Elend auf dein unschuldiges Haupt fallen, dass ich nicht anders glauben kann, als dass das Glück sicherlich noch einmal kommen wird, wenn man es nur versucht.«

Sie sah heiter zu seinem Gesichte auf, ohne eine Antwort zu geben.

»Wenn ich«, fuhr er fort, »wenn ich an die vielen Jahre denke – viel für dein kurzes Leben –, die du allein bei mir zugebracht hast, an dein einförmiges Dasein, ohne Altersgenossen für deine kindlichen Spiele zu kennen; an die Abgeschiedenheit, in der du wurdest, was du bist, und in der du fern von fast jedem Menschen lebtest, einen einzigen alten Mann ausgenommen – ach, dann fürchte ich bisweilen, nicht an dir gehandelt zu haben, wie ich es hätte tun sollen, Nell.«

»Großvater!«, rief das Kind mit ungeheucheltem Erstaunen.

»Nicht absichtlich – nein, nein«, sagte er. »Ich habe immer der Zeit entgegengesehen, die dich in den Stand setzen würde, mit den Frohesten und Schönsten zu verkehren und unter den Besten deinen Platz einzunehmen. Aber ich harre noch immer, Nell – ich harre noch immer. Und wenn ich genötigt wäre, dich zu verlassen wie habe ich dich inzwischen für die Kämpfe der Welt vorbereitet? Der arme Vogel dort wäre ebenso gut imstande, sich in ihr Gewühl zu stürzen und sich ihrer Gnade anheimzugeben … Horch! Ich höre Kit draußen. Geh zu ihm, Nell, geh zu ihm!«

Sie erhob sich und wollte forteilen; dann aber blieb sie stehen, kehrte wieder um und schlang die Arme um den Hals des alten Mannes, worauf sie ihn losließ und abermals wegeilte, diesmal aber schneller, um ihre hervorströmenden Tränen zu verbergen.

»Ein Wort ins Ohr, Sir«, begann der Alte mit einem raschen Flüstern. »Was Sie mir letzthin sagten, hat mich unruhig gemacht, und ich kann bloß zur Entschuldigung vorbringen, dass ich alles in der besten Absicht tat, dass es jetzt zu spät ist, es zu ändern, selbst wenn ich könnte – obgleich dies nicht der Fall ist –, und dass ich doch noch zu triumphieren hoffe. Alles geschieht nur um ihretwillen. Ich selbst habe die Bitterkeit der Armut ertragen und möchte ihr das Leid ersparen, das den Mangel begleitet. Ich möchte sie von dem Elend verschont wissen, das ihrer Mutter, meiner lieben Tochter, ein frühes Grab bereitete. Ich möchte sie zurücklassen – nicht mit Hilfsquellen, die leicht erschöpft und vergeudet sind, sondern mit solchen, die sie für immer gegen die Möglichkeit der Not schützen. Sie verstehen mich, Sir? Sie soll sich nicht mit einer Kleinigkeit begnügen müssen, sondern soll ein Vermögen … Pst! Ich kann weder jetzt noch zu einer andern Zeit mehr sagen und da kommt sie schon wieder.«

Der Eifer, mit dem er mir dies ins Ohr flüsterte, die zitternde Hand, mit der er meinen Arm umfasste, die starren, hervorgequollenen Augen, die er auf mich richtete, die wilde Heftigkeit und Aufgeregtheit seines Benehmens – alles dies erfüllte mich mit Staunen. Was ich gehört und gesehen, zum Teil auch von ihm selbst erfahren hatte, ließ mich vermuten, dass er ein reicher Mann sei. Seinen Charakter konnte ich nur dann verstehen, wenn ich in ihm eines jener elenden Wesen sah, die, nachdem sie den Gelderwerb zu ihrem einzigen Lebenszweck gemacht und es so weit gebracht haben, große Reichtümer aufzuhäufen, beständig von der Furcht vor Verarmung gequält werden und ohne Unterlass von Verlusten und Ruin träumen. Manches von dem, was mir in seinen Worten unverständlich geblieben, ließ sich recht gut mit dieser Annahme vereinigen, und endlich zweifelte ich nicht im Geringsten mehr, dass ich es hier mit einem Unglücklichen dieser Art zu tun hätte.

Diese Ansicht war nicht das Ergebnis einer hastigen Erwägung, zu der ich in der Tat damals keine Gelegenheit hatte, denn das Kind kam jetzt wieder zurück und schickte sich an, Kit Unterricht im Schreiben zu erteilen, was wöchentlich zweimal, und zwar regelmäßig an diesem Abend, zu geschehen schien – gewiss zur großen Freude und Erbauung des Schülers sowohl als der Lehrerin.

Zu berichten, wie lange es dauerte, bis seine Bescheidenheit es ihm erlaubte, in Gegenwart eines unbekannten Herrn im Wohnzimmer Platz zu nehmen – wie er, als er saß, seine Rockärmel zurückschlug, die Ellenbogen spreizte, das Gesicht fast in gleiche Höhe mit dem Schreibebuch brachte und fürchterlich über die Linien wegschielte – wie er vom ersten Augenblicke an, als er die Feder in der Hand hatte, schier in Tintenklecksen sich wälzte und sich bis zu den Haarwurzeln hinauf mit Tinte besudelte – wie er, wenn ihm zufällig ein Buchstabe gelang, diesen gleich wieder mit dem Arme auslöschte, weil er sich für eine andere derartige Malerei vorbereitete – wie bei jedem neuen Fehlzuge das Kind in ein heiteres Lachen ausbrach, das von einem noch lauteren, nicht weniger herzlichen aus dem Munde Kits begleitet wurde –und wie trotzdem weder in ihr der zarte Wunsch, zu lehren, noch in ihm das eifrige Verlangen, zu lernen, erschlaffte – all diese Einzelheiten zu berichten würde ohne Zweifel mehr Raum und Zeit wegnehmen, als sie verdienen. Es wird genügen, wenn ich sage, dass der Unterricht gegeben wurde – dass der Abend verging und die Nacht hereinbrach – dass der alte Mann wieder unruhig und ungeduldig wurde – dass er zu derselben Stunde wie letzthin das Haus verließ – und dass das Kind wieder einmal allein in den düstern Mauern blieb.

Und nun, da ich diese Geschichte persönlich so weit begleitet und die Haupthelden dem Leser vorgestellt habe, werde ich im Interesse der Erzählung für die Zukunft meine Wenigkeit aus dem Spiele lassen, da fortan diejenigen, denen wichtige und bedeutende Rollen übertragen sind, für sich selbst sprechen und handeln sollen.

4. Kapitel

Herr und Frau Quilp wohnten auf dem Tower Hill, und in ihrem Bauer auf dem Tower Hill verblieb Frau Quilp, um die Abwesenheit ihres Herrn zu beklagen, als er sie des Geschäftes wegen, dessen Zeuge der Leser war, verlassen hatte.

Man konnte kaum sagen, welches Gewerbe Herr Quilp eigentlich trieb und welchem Berufe er angehörte, denn sein Treiben war gar zu mannigfach und seine Geschäfte waren zahllos. Er sammelte Zinsen von ganzen Kolonien schmutziger Straßen und Gässchen auf der Wasserseite, schoss den Matrosen und Unteroffizieren der Handelsschiffe Geld vor, beteiligte sich an den Spekulationen verschiedener Steuermänner auf Ostindienfahrern, rauchte seine geschmuggelten Zigarren mit aller Seelenruhe direkt unter den Fenstern des Zollhauses und machte fast jeden Tag Bestellungen auf der Börse mit Leuten in Glanzhüten und runden Wämsern (Gerichtsdiener). Auf der Surrey-Seite des Flusses lag ein kleiner, von Ratten bevölkerter, trauriger Hof, welcher »Quilps-Werft« hieß, auf der ein kleines hölzernes Kontor ganz schief in dem Staube stak, als wäre es aus den Wolken gefallen und in den Boden gepflügt worden; ferner sah man dort etliche Bruchstücke von rostigen Ankern, mehrere große Eisenringe, einige Haufen vermoderten Holzes und zwei oder drei Stöße alten, verbeulten und zerbrochenen Kupferblechs.

Auf der »Quilps-Werft« war Daniel Quilp ein Kaufmann, der mit alten Schiffen handelte; augenscheinlich betrieb er dies Geschäft nur in ganz kleinem Maßstab oder er hackte sie kurz und klein, dass nichts mehr von ihnen zu sehen war. Auch bot der Ort kein besonders belebtes oder geschäftiges Bild; denn das einzige menschliche Wesen daselbst bestand aus einem amphibischen Knaben in einem Leinenanzug, dessen Beschäftigung nur darin bestand, dass er entweder, auf einem Haufen sitzend, Steine in den Schlamm warf, wenn die Flut vorüber war, oder bei hohem Wasserstand mit den Händen in der Tasche umherlungerte und gedankenlos der Bewegung und dem Rauschen des Stromes zusah.

Die Wohnung des Zwerges auf dem Tower Hill umfasste außer den nötigen Gelassen für sich selbst und für Frau Quilp ein kleines Schlafgemach für die Mutter dieser Dame, die bei dem Paare wohnte und mit Daniel in beharrlichem Kriege lebte, obgleich sie sich vor ihrem Schwiegersohne nicht wenig fürchtete.

In der Tat brachte es das hässliche Geschöpf durch das eine oder andere Mittel – gleichviel ob durch seine Hässlichkeit, seine Wildheit oder seine natürliche Schlauheit – so weit, die meisten, mit denen er in tägliche Berührung kam, mit einer nicht geringen Scheu vor seinem Zorne zu erfüllen.

Über niemand hatte er aber eine so vollkommene Macht wie über seine Frau selbst, ein hübsches, kleines, sanftes, blauäugiges Weibchen, das sich infolge einer jener sonderbaren Betörungen, von denen es Beispiele genug gibt, mit dem Zwerge ehelich verbunden hatte und nun mit jedem Tag seines Lebens für seine Torheit schwere Buße übte.

Wir haben bereits gesagt, dass Frau Quilp in ihrem Bauer schmachtete. In diesem Bauer saß sie, aber nicht allein, denn außer der alten Dame, ihrer Mutter, deren bereits Erwähnung geschah, waren auch ein halbes Dutzend Damen aus der Nachbarschaft zugegen, die infolge eines seltsamen Zufalls – und wohl auch infolge einer kleinen Verabredung – gerade zur Teezeit nacheinander ins Haus geschlüpft waren.

Eine günstigere Gelegenheit zur Unterhaltung konnte sich nicht leicht finden, und da das Zimmer ein kühler, schattiger, behaglicher Ort war, mit einigen Blumentöpfen am offenen Fenster, die den Staub ausschlossen und gar lieblich zwischen dem Teetisch drinnen und dem alten Tower draußen standen, so durfte es einen nicht wundernehmen, dass die Damen eine Neigung verspürten, zu bleiben und zu schwatzen, besonders wenn man dabei die bei dieser schönen Gelegenheit gerade vorhandenen Lockmittel, frische Butter, neubackenes Brot, Garnelen und Brunnenkresse, mit in Rechnung zog.

Da nun die Damen unter solchen Umständen beisammen waren, so war es sehr natürlich, dass das Gespräch auf den Hang der Männer kam, das schwächere Geschlecht zu tyrannisieren, woraus für dieses die Verpflichtung erwachse, einer solchen Tyrannei Widerstand zu leisten und seine Rechte und Würde zu behaupten.

Natürlich war das aus vier Gründen: Erstens weil Frau Quilp, die ein junges Weib war und notorisch unter der Herrschaft ihres Mannes stand, zur Rebellion aufgehetzt werden musste; zweitens weil Frau Quilps Mutter wegen ihres zänkischen Charakters und wegen ihres Hanges, dem männlichen Willen Widerstand zu leisten, rühmlichst bekannt war; drittens weil jede von den Nachbarinnen an ihrer Person zeigen wollte, wie sehr sie in dieser Hinsicht über den gewöhnlichen Typus ihres Geschlechtes erhaben sei; und als vierter Grund kam Folgendes hinzu: da die Gesellschaft gewohnt war, immer paarweise einander zu verlästern, und sie nun ihr gewöhnliches Thema entbehrten, sintemalen alle in enger Freundschaft versammelt waren, wussten sie nichts Besseres zu tun, als den gemeinsamen Feind anzugreifen.

Durch solche Rücksichten veranlasst, eröffnete eine wohlbeleibte Dame die Verhandlungen, indem sie mit der Miene großer Besorgtheit und Teilnahme die Frage stellte, wie sich Herr Quilp befände, worauf Herr Quilps Schwiegermutter in einem scharfen Tone erwiderte:

»Oh, er befindet sich wohl genug – er befand sich nie besser –, Unkraut verdirbt nicht.«

Alle Damen seufzten sodann einmütig, schüttelten ernst die Köpfe und sahen auf Frau Quilp wie auf eine Märtyrerin.

»Ach!«, meinte die Sprecherin. »Wenn Sie ihr nur ein bisschen mit Ihrem Rat an die Hand gingen, Frau Jiniwin« – wir hätten bemerken sollen, dass Frau Quilp früher eine Miss Jiniwin war – »niemand weiß besser als Sie, Madame, was wir Frauen uns selbst schuldig sind.«

»Sie haben in der Tat recht, Madame«, versetzte Frau Jiniwin; »als mein armer Mann, ihr lieber Vater, noch am Leben war – wenn der je ein böses Wort gegen mich gewagt hätte, ich hätte ihm …«

Die gute alte Dame beendigte ihren Satz nicht, sondern drehte einer Garnele mit einer Rachsucht den Kopf ab, die pantomimisch darstellen sollte, was sie mit dem unterdrückten Worte meinte.

In diesem Sinne wurde es augenscheinlich von der andern verstanden, die alsbald beifällig erwiderte:

»Sie fühlen ganz so wie ich, Madame, denn ich würde genau das Gleiche tun.«

»Sie haben jedoch keinen Anlass, so zu handeln«, sprach Frau Jiniwin. »Es ist ein Glück für Sie, dass Sie ebenso wenig Grund dazu haben, wie es bei mir der Fall war.«

»Es wird’s auch keine Frau nötig haben, wenn sie nur sich selbst treu bleibt«, entgegnete die wohlbeleibte Dame.

»Hörst du das, Betsy?«, sagte Frau Jiniwin mit warnender Stimme. »Wie oft schon habe ich dir das mit genau denselben Worten gesagt und dir fast kniefällig darüber Vorstellungen gemacht!«

Die arme Frau Quilp, die ganz hilflos von einem bedauernden Gesicht zum andern gesehen hatte, errötete, lächelte und schüttelte zweifelnd den Kopf.

Dies war das Signal zu einem allgemeinen Ausbruch, der mit einem dumpfen Murmeln begann und allmählich in ein wahres Toben überging, indem alle zugleich sprachen und alle ihre Meinung dahin abgaben, sie wäre eine junge Frau, die kein Recht hätte, ihre Ansichten gegen die Erfahrungen derer zu verteidigen, die die Sache weit besser verständen; es sei nicht schön von ihr, dass sie sich nicht von Leuten raten lassen wolle, die nur ihr Bestes beabsichtigten; es sei geradezu undankbar, sich so zu stellen. Wenn sie nicht sich selbst achte, so solle sie doch wenigstens Achtung vor den andern Frauen haben, die alle durch ihre Nachgiebigkeit kompromittiert würden, und wenn sie keine Achtung vor andern Frauen habe, würde bald der Augenblick kommen, da sie von den andern verachtet würde. Und dass ihr dies dann sehr leid tun würde, könnten sie ihr im Voraus sagen.

Nachdem diese Ermahnungen erteilt worden waren, gingen die Damen zu einem noch verwegeneren Sturm als früher auf den gemischten Tee, das neubackene Brot, die frische Butter, die Garnelen und die Brunnenkresse über und erklärten, ihre Betrübnis über die Zukunft der Frau Quilp wäre so groß, dass sie es kaum über sich gewinnen könnten, einen Bissen hinunterzubringen.

»Das lässt sich alles leicht reden«, sagte Frau Quilp sehr einfach; »aber wenn ich morgen stürbe, so könnte Quilp jede heiraten, die er wollte; ja, ich weiß, das könnte er.«

Ein allgemeiner Schrei der Entrüstung folgte dieser Erklärung. »Heiraten, wen er wollte!« Sie möchten sehen, ob er es wagen wollte, eine von ihnen zu heiraten; sie möchten es erleben, dass er den leisesten Annäherungsversuch machte. Eine der Damen – eine Witwe – war fest überzeugt, sie würde ihn erdolchen, wenn er sich etwas derart merken ließe.

»Schon gut«, fuhr Frau Quilp mit einem Kopfnicken fort, »wie ich eben sagte, darüber hat man leicht reden; aber ich wiederhole es, dass ich weiß – dass ich überzeugt bin –, Quilp hat, wenn er will, etwas an sich, dass die schönste Frau hier ihm nicht widerstehen könnte, wenn er ihr seine Liebe erklären wollte, vorausgesetzt, dass ich tot und sie frei wäre. Lassen wir’s gut sein.«

Die Gäste warfen sich bei dieser Bemerkung in die Brust, als wollten sie sagen: ›Ich weiß, du meinst mich. Aber er soll’s nur einmal versuchen, weiter sage ich nichts.› Und doch waren alle aus irgendeinem geheimen Grunde auf die Witwe böse, und jede Dame flüsterte ihrer Nachbarin ins Ohr, es sei augenscheinlich, dass die Witwe sich für die betreffende Person halte und was für ein feiger Hase sie doch sei!

»Meine Mutter weiß«, fügte Frau Quilp bei, »dass ich mit meinen Worten vollkommen recht habe, denn sie hat’s mir oft selbst gesagt, ehe ich ihn heiratete. Ist’s nicht so, Mutter?«

Diese Frage brachte die achtbare Dame in eine ziemlich kitzliche Lage, denn sie hatte allerdings bei der Verehelichung ihrer Tochter eine sehr tätige Rolle gespielt, und außerdem vertrug es sich nicht mit der Ehre der Familie, dem Gedanken Vorschub zu leisten, dass Fräulein Jiniwin einen Mann geheiratet hätte, den sonst niemand nehmen wollte. Andererseits musste eine Übertreibung der gewinnenden Eigenschaften ihres Schwiegersohnes den Grund zur Empörung schwächen, zu deren Unterstützung doch zurzeit alle ihre Kräfte tätig waren. Von diesen sich widersprechenden Rücksichten geleitet, gab Frau Jiniwin Herrn Quilps Liebenswürdigkeit zu, bestritt jedoch sein Recht, zu herrschen, und brachte vermittelst eines zu rechter Zeit angebrachten Kompliments an die wohlbeleibte Dame die Unterhaltung zu dem Punkte zurück, von dem sie ausgegangen war.

»Oh, Frau George hat in der Tat etwas sehr Verständiges und Richtiges gesagt!«, rief die alte Dame. »Wenn die Frauen nur sich selbst getreu sind; aber leider kann man das auf Betsy nicht anwenden – es ist eine Sünde und Schande.«

»Ehe ich mir von einem Mann so befehlen ließe, wie Quilp ihr befiehlt«, sagte Frau George, »ehe ich mich vor ihm so fürchtete, wie sie es tut, würde ich – ja, ich würde mich selbst umbringen und ihm zuerst einen Brief schreiben, um ihm zu sagen, dass er schuld daran sei!«

Diese Bemerkung erhielt allgemeines Lob und lauten Beifall, worauf eine andere Dame – aus den Minories – das Wort ergriff:

»Herr Quilp mag ein sehr netter Mann sein«, sagte diese Dame, »und ich glaube, man darf es umso weniger in Zweifel ziehen, als Frau Quilp und Frau Jiniwin es sagen; denn wer sollte das besser wissen können als sie! Aber doch ist er nicht ganz das, was man einen – schönen Mann nennt, und ebenso wenig kann man ihn absolut einen jungen nennen, was allenfalls, wenn irgendetwas, eine kleine Entschuldigung für ihn sein dürfte, während seine Frau jung, hübsch und – was hier im Grunde doch vorzugsweise in Betracht kommt – eine Frau ist!«

Die letztere Klausel, die mit besonderem Pathos vorgetragen wurde, veranlasste ein allgemeines Gemurmel von Seiten der Zuhörerschaft, wodurch die Dame zu der Bemerkung ermutigt wurde:

»Wenn ein solcher Mann ungezogen und unvernünftig gegen ein solches Weib ist, dann …«

»Wenn er es ist?«, fiel die Mutter ein, indem sie ihre Teetasse niedersetzte und als Vorbereitung zu einer feierlichen Erklärung die Brotkrumen von ihrem Schoße bürstete. »Wenn er es ist? Er ist der größte Tyrann, denn sie darf nicht einmal ihre Seele ihr Eigentum nennen: Er macht sie mit einem Wort, sogar mit einem Winke zittern, er ängstigt sie zu Tode, und sie hat nicht einmal den Mut, ihm ein einziges Wort zurückzugeben, nein, nicht einmal ein einziges Wort!«

Obgleich diese Tatsache allen Teegästen bekannt und in den letzten zwölf Monaten bei jeder Kaffeevisite abgehandelt und erschöpft worden war, so fingen doch unmittelbar nach dieser offiziellen Mitteilung alle auf einmal an zu sprechen und suchten sich an Heftigkeit und Zungengeläufigkeit zu überbieten. Frau George bemerkte, die Leute sprächen davon, die Leute hätten ihr dies schon früher gesagt, Frau Simmons, die hin und wieder ins Haus komme, habe ihr’s schon zwanzigmal gesagt, sie aber habe immer erwidert: »Nein, Henriette Simmons, wenn ich es nicht mit eignen Augen sehe und mit eignen Ohren höre, so werde ich es nie glauben!«

Frau Simmons bekräftigte diese Aussage und führte auch ihrerseits noch überzeugende Beweise an. Die Dame aus den Minories erzählte von einem erfolgreichen Verfahren, das sie gegen ihren eigenen Gatten zur Anwendung gebracht hatte; er habe einen Monat nach der Hochzeit unzweideutige Symptome eines Tigers von sich gegeben, sei aber unter Anwendung dieser Mittel in ein vollkommenes Lamm umgewandelt worden.

Eine andere Dame berichtete von ihrem eigenen persönlichen Kampf und endlichen Triumph; sie hätte es für geraten befunden, ihre Mutter und ihre zwei Tanten herbeizurufen, um sechs Wochen unablässig Tag und Nacht mit ihnen zu weinen.

Eine Dritte, die in der allgemeinen Verwirrung keine andern Zuhörer bekommen konnte, klammerte sich an ein junges, noch unverheiratetes Geschöpf, das zufällig zugegen war, und beschwor sie, wenn ihr der Friede ihrer Seele und ihr Glück lieb seien, diese feierliche Gelegenheit zu benutzen, sich an Frau Quilps Schwäche ein Beispiel zu nehmen und von Stund an alle ihre Gedanken darauf zu richten, den rebellischen Geist der Männer zu zähmen und zu unterjochen.

Der Lärm hatte gerade seinen Höhepunkt erreicht, und die Hälfte der Gesellschaft hatte ihre Stimmen zu einem förmlichen Gekreisch verzerrt, um die Stimmen der andern Hälfte zu ersticken, als man plötzlich bemerkte, wie Frau Jiniwin erblasste und heimlich ihren Zeigefinger warnend hob, um die Anwesenden zum Stillschweigen zu ermahnen. Erst jetzt gewahrte man, dass Daniel Quilp, die Ursache und der Gegenstand dieses ganzen Geschreis, im Zimmer stand, umherschaute und mit tiefer Aufmerksamkeit zuhörte.

»Nur weiter, meine Damen, nur weiter!«, sagte Daniel. »Liebe Frau, sei so gut, bitte die Damen doch, zum Nachtessen zu bleiben und ein paar Austern nebst einem leichten und pikanten Imbiss mit uns zu verzehren.«

»Ich – ich – habe sie nicht zum Tee gebeten, Quilp«, stammelte seine Frau; »es ist ein reiner Zufall.«

»Umso besser, liebe Frau; solche zufällige Gesellschaften sind immer die angenehmsten«, sagte der Zwerg und rieb dabei seine Hände so kräftig, dass es schien, als wolle er aus dem Schmutz, von dem sie überzogen waren, kleine Kugeln für Blasrohre fabrizieren. »Was? Sie werden doch nicht gehen wollen, meine Damen; nein, Sie werden doch nicht schon gehen wollen?«

Seine schönen Feindinnen warfen den Kopf verächtlich zurück, während sie ihre Hüte und Halstücher suchten, und überließen den ganzen Wortkampf Frau Jiniwin, die, in ihrer feindseligen Stellung ertappt, einen schwachen Versuch machte, in der Rolle zu bleiben.

»Und warum sollten sie nicht zum Abendessen bleiben, Quilp, wenn meine Tochter Lust hat, sie einzuladen?«, sagte die alte Dame.

»Sehr richtig«, versetzte Daniel, »warum sollten sie es nicht?«

»Es liegt doch hoffentlich nichts Unrechtes oder Unschickliches in einem Nachtessen?«, sagte Frau Jiniwin.

»Gewiss nicht«, erwiderte der Zwerg. »Warum auch? Auch nichts Ungesundes, wenn nicht etwas Hummersalat oder Seegarnelen dabei sind, die, wie ich hörte, etwas schwer im Magen liegen sollen.«

»Und es wäre Ihnen nicht lieb, wenn Ihre Frau dadurch oder durch sonst etwas zu leiden hätte – nicht wahr?«, sagte Frau Jiniwin.

»Nicht um zwanzig Welten wollt ich das«, versetzte der Zwerg mit einem Grinsen, »ja nicht einmal um zwanzig Schwiegermütter auf einmal – und welch ein Segen würden die nicht sein!«

»Meine Tochter ist jedenfalls Ihre Gattin, Herr Quilp«, sagte die alte Dame mit einem Kichern, das ironisch gemeint war und andeuten sollte, dass es wohl nötig sei, ihn an die Tatsache zu erinnern, »Ihre angetraute Gattin …«

»Daran ist kein Zweifel, das ist sie«, bemerkte der Zwerg.

»Und hat daher hoffentlich ein Recht, zu handeln, wie es ihr beliebt, Quilp«, sagte die alte Dame zitternd – zum Teil vor Zorn, zum Teil aus geheimer Furcht vor ihrem koboldartigen Schwiegersohn.

»Sie hoffen, dass sie es hat?«, entgegnete er. »Wie? Sie wissen also nicht, dass sie es hat? Sie wissen also nicht, dass sie es hat, Frau Jiniwin?«

»Ich weiß, dass sie es haben sollte, Quilp, und es haben würde, wenn sie wie ich dächte.«

»Und warum denkst du nicht wie deine Mutter, meine Liebe?«, sagte der Zwerg, indem er sich an seine Frau wandte. »Warum ahmst du nicht immer deiner Mutter nach, meine Liebe? Sie ist eine Zierde ihres Geschlechts – ich zweifle nicht, dass dein Vater jeden Tag seines Lebens so sprach.«

»Ihr Vater war ein gottgesegneter Mensch, Quilp, und zwanzigtausendmal so viel wert wie gewisse Leute«, versetzte Frau Jiniwin, »ja hundertzwanzigtausendmillionenmal.«

»Ich hätte ihn gern kennen mögen«, bemerkte der Zwerg. »Ohne Zweifel war er zu Lebzeiten ein gesegneter Mensch, aber ich bin überzeugt, dass er es jetzt noch mehr ist. Es war eine glückliche Erlösung. Ich glaube, er hat lange leiden müssen!«

Die alte Dame öffnete den Mund, aber es wollte nichts herauskommen. Quilp fuhr mit dem gleichen boshaften Blicke und der gleichen sarkastischen Höflichkeit fort:

»Sie sehen schlecht aus, Frau Jiniwin; ich weiß, Sie haben sich zu sehr erhitzt, im Sprechen vielleicht, denn das ist Ihre Schwäche. Gehen Sie zu Bett, gehen Sie zu Bett!«

»Ich werde gehen, wenn es mir beliebt, Quilp, und nicht früher.«

»So belieben sie jetzt zu gehen! Belieben Sie jetzt zu gehen!«, sagte der Zwerg.

Die alte Frau warf ihm einen zornigen Blick zu, wich aber vor ihm zurück, bis sie zur Tür gelangte, und ließ sich’s gefallen, dass er die Tür hinter ihr schloss und sie von den Gästen absperrte, die sich indessen die Treppe hinunterdrängten.

Sobald der kleine Mann allein war mit seiner Frau, die zitternd, mit niedergeschlagenen Augen in einer Ecke saß, trat er vor sie hin, schlug die Arme zusammen und sah sie, ohne zu sprechen, eine Weile fest an.

»O du süßes Dingelchen!«, waren die Worte, mit denen er das Schweigen brach, indem er mit den Lippen schmatzte, als ob dies keine bloße Redensfigur sei und sie tatsächlich eine süße Näscherei wäre. »O du teures Liebchen! O du entzückendes Wesen!«

Frau Quilp schluchzte; und da sie den Charakter ihres feinen Herrn wohl kannte, schien sie diese Komplimente genau so zu fürchten, als ob sie die grässlichsten Wutausbrüche gewesen wären.

»Sie ist doch«, sagte der Zwerg mit grauenvollem Grinsen, »ein solches Juwel, ein herrlicher Diamant, eine wahre Perle, ein Rubin, ein wundervolles goldenes Kästchen mit allen möglichen Edelsteinen besetzt! Sie ist ein Schatz! Ich bete sie an!«

Die arme kleine Frau zitterte vom Kopf bis zu den Füßen, und indem sie die Augen mit flehendem Ausdruck hob, seufzte sie noch einmal auf und senkte die Lider gleich wieder.

»Das Beste an ihr«, sagte der Zwerg, indem er näher hüpfte, was infolge seiner krummen Beine, des Spottes und Hohns in seinem Wesen und seines hässlichen Gesichtes unglaublich koboldartig wirkte, »das Beste an ihr ist, dass sie so sanft, so milde ist, dass sie nie einen eigenen Willen und eine liebreizende Mutter hat!«

Indem er diese letzteren Worte mit einer hämischen Bosheit hervorgestoßen hatte, die außer ihm selbst niemand auch nur annähernd erreichen konnte, stützte Herr Quilp seine Hände auf die Knie, spreizte seine Beine, soweit er es imstande war, neigte sich langsam tiefer, immer tiefer, bis er, indem er den Kopf ganz verrenkte, zwischen dem Gesicht seiner Frau und dem Fußboden kauerte.

»Frau Quilp!«

»Ja, Quilp.«

»Bin ich schön zum Anschauen? Wäre ich das schönste Geschöpf der Welt, wenn ich einen Backenbart hätte? Bin ich, was man einen Hahn im Korbe nennt? Bin ich’s, Frau Quilp?«

Frau Quilp antwortete pflichtschuldigst: »Ja, Quilp«, und fasziniert von seinen Augen, schaute sie ihm scheu ins Gesicht, während er ihr eine Unzahl gräulicher Grimassen schnitt, die niemand als er und böse Träume annehmen konnten. Während dieser Beschäftigung, die sehr lange dauerte, beobachtete er ein tiefes Schweigen, ausgenommen wenn er seine Frau durch einen unerwarteten Sprung derartig aus der Fassung brachte, dass sie mit unwillkürlichem Schrei zurückwich. Dann kicherte er.

»Frau Quilp!«, sagte er endlich.

»Ja, Quilp«, entgegnete sie demütig.

Statt den Gedanken, den er im Sinne hatte, zu verfolgen, schlug Quilp seine Arme abermals zusammen und sah sie noch ernster an als zuvor, während sie ihren Blick abwandte und zur Erde senkte.

»Frau Quilp!«

»Ja, Quilp.«

»Wenn du je wieder auf diese Hexen hörst, so werde ich dich beißen.«

Nach dieser lakonischen Drohung, die mit einem Knurren begleitet wurde, das verriet, wie überaus ernst es der kleine Mann meinte, befahl ihr Herr Quilp, den Teetisch zu räumen und den Rum zu bringen. Sobald ihm das geistige Getränk in einer großen Futteralflasche gereicht wurde, die ursprünglich in irgendeinen Schiffsschrank gehört hatte, verlangte er kaltes Wasser und die Zigarrenkiste; und so versorgt, setzte er sich in einen Armstuhl, indem er seinen großen Kopf gegen die hintere Lehne drückte und seine kleinen Beine auf den Tisch pflanzte.

»Nun, Frau Quilp«, sagte er, »ich befinde mich jetzt in einer Rauchlaune und werde wahrscheinlich die ganze Nacht durch dampfen. Du wirst daher gefälligst sitzen bleiben, wo du bist, für den Fall, dass ich etwas von dir brauchen sollte.«

Sein Weib antwortete nur mit dem gewöhnlichen: »Ja, Quilp«, und der kleine Herr der Schöpfung zündete seine erste Zigarre an und mischte sein erstes Glas Grog. Die Sonne ging unter, und die Sterne blinkten am Himmel; der Tower wandelte seine eigentümliche Farbe in ein Grau und dann in ein Schwarz um; das Zimmer wurde vollkommen dunkel, und das Ende der Zigarre leuchtete tief feuerrot; aber noch immer rauchte und trank Herr Quilp in derselben Stellung fort und stierte gleichgültig durch das Fenster, stets das nämliche, hundeartige Grinsen auf seinem Gesicht, das sich nur dann, wenn Frau Quilp eine unfreiwillige Bewegung der Unruhe oder der Ermüdung machte, zu einer entzückten Grimasse verzerrte.

5. Kapitel

Ob Herr Quilp während dieser Zeit einige kurze Schläfchen machte oder ob er die ganze lange Nacht unablässig wachend dasaß, können wir nicht mit Bestimmtheit angeben: Tatsache jedoch ist, dass er seine Zigarre immer brennend erhielt und jede neue an dem Stummel der fast verbrauchten anzündete, ohne sich eines Lichtes zu bedienen. Auch schien ihn das Schlagen der Turmuhren, Stunde um Stunde, durchaus nicht mit irgendeinem Gefühle von Schläfrigkeit oder einem natürlichen Verlangen nach Ruhe zu erfüllen; es schien vielmehr seine Wachsamkeit zu verschärfen, wie sich, sooft die Schläge das Fortschreiten der Nacht verkündigten, aus dem unterdrückten Kichern und einer Bewegung seiner Schultern – es sah aus, als ob jemand herzlich, aber nur heimlich und verstohlen lachte – entnehmen ließ.

Endlich brach der Tag an und traf die arme Frau Quilp, schaudernd in der Kälte des Frühmorgens und erschöpft von Ermüdung und Schlaflosigkeit, geduldig auf ihrem Stuhle, während sie hin und wieder in stummer Frage an das Mitleid und die Gnade ihres Gebieters die Augen aufschlug und den Zwerg gelegentlich durch ein leises Husten erinnerte, dass sie noch immer auf Vergebung harre und dass ihre Buße jetzt gewiss lange genug gedauert habe. Aber ihr Koboldgatte rauchte noch immer seine Zigarre und trank seinen Rum, ohne ihrer zu achten, und erst als die Sonne schon geraume Zeit aufgegangen war und bereits das lärmende Treiben der Stadt auf den Straßen gehört wurde, ließ er sich herab, von ihrer Anwesenheit durch Worte oder Zeichen Notiz zu nehmen. Vielleicht hätte er es auch jetzt noch nicht getan, wenn sich nicht gewisse ungeduldige Schläge an der Tür hätten vernehmen lassen, die zu bekunden schienen, dass sich an der Außenseite derselben ein paar ziemlich harte Knöchel abarbeiteten.

»Ach du mein Himmel«, begann er, indem er mit einem boshaften Grinsen im Zimmer umherblickte, »es ist Tag! Öffne die Tür, meine süße Frau Quilp!«

Das gehorsame Weib schob den Riegel zurück, und ihre Mutter trat ins Zimmer.

Frau Jiniwin stürmte mit großem Ungestüm herein; denn in der Voraussetzung, dass ihr Schwiegersohn noch im Bett wäre, hatte sie die Absicht, ihren Gefühlen in kräftigen Scheltworten über sein Benehmen und seinen Charakter Luft zu machen. Als sie jedoch sah, dass er auf und angekleidet war und dass er allem Anscheine nach das Zimmer seit gestern Abend, da sie ihm weichen musste, nicht verlassen hatte, hielt sie mit einiger Verlegenheit inne.

Nichts entging dem Habichtsauge des hässlichen kleinen Mannes, der vollkommen begriff, was in der Seele der alten Dame vorging, und der in der Fülle seiner Herzensfreude nur noch hässlicher wurde, als er ihr mit triumphierendem Hohnlächeln einen guten Morgen wünschte.

»Ei, Betsy«, sagte die alte Frau, »du bist doch nicht – du willst doch nicht sagen, dass du …«

»Die ganze Nacht aufgeblieben bist?«, ergänzte Quilp diesen Satz. »Ja, das will sie.«

»Die ganze Nacht?«, rief Frau Jiniwin.

»Ja, die ganze Nacht. Ist die gute alte Dame taub?«, entgegnete Quilp halb lächelnd, halb die Stirn runzelnd. »Wer will behaupten, Mann und Weib seien einander eine schlechte Gesellschaft? Ha ha! Wie schnell uns die Zeit entschwand!«

»So ein Untier!«, rief Frau Jiniwin.

»Nun, nun«, versetzte Quilp, der sie natürlich absichtlich missverstand, »Sie müssen sie nicht schelten! Sie wissen ja, dass sie jetzt verheiratet ist; und obgleich die Zeit sie betrog und mich von meinem Bette abhielt, so müssen Sie doch nicht so zärtlich um mich bekümmert sein, um ihr deshalb zu grollen. Nichtsdestoweniger möge Sie der Himmel dafür segnen, liebe alte Dame. Auf Ihre Gesundheit!«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden«, entgegnete die alte Frau, die durch eine gewisse Unruhe in ihren Händen ein heftiges Verlangen verriet, ihre Matronenfaust mit ihrem Schwiegersohn in Berührung zu bringen; »oh, ich bin Ihnen recht sehr verbunden.«

»Dankbare Seele!«, rief der Zwerg. »Frau Quilp!«

»Ja, Quilp«, versetzte die schüchterne Dulderin.

»Hilf deiner Mutter das Frühstück besorgen, Frau Quilp! Ich muss diesen Morgen auf die Werft – je früher, desto besser; also spute dich!«

Frau Jiniwin machte eine schwache, auflehnende Bewegung, indem sie sich auf einen Stuhl in der Nähe der Tür setzte und die Arme übereinanderschlug, als wäre sie fest entschlossen, durchaus keine Hand anzulegen. Aber einige Flüsterworte ihrer Tochter und die freundliche Anfrage ihres Schwiegersohnes, ob sie sich unwohl fühle – mit einer Andeutung, dass in dem nächsten Gemache in genügender Menge kaltes Wasser sei –, ließ plötzlich diese Symptome verschwinden, und sie ging mit verdrossenem Fleiß an die vorgeschriebene Arbeit.

Während sie so beschäftigt waren, verfügte sich Herr Quilp in das anstoßende Zimmer, schlug seinen Rockkragen zurück und schickte sich an, sein Gesicht mit einem feuchten Handtuche von sehr ungesundem Aussehen zu beschmieren, wodurch übrigens seine Hautfarbe nur noch wolkiger wurde. Aber auch während dieser Arbeit verließen ihn seine Vorsicht und sein Spüreifer nicht. Mit einem ebenso scharfen und schlauen Gesicht wie sonst unterbrach er zu wiederholten Malen diesen kurzen Prozess und belauschte ein Gespräch in dem nächsten Zimmer, zu dem vielleicht er selbst das Thema abgeben mochte.

»Ah!«, sagte er nach kurzer, angestrengter Aufmerksamkeit. »Dachte ich mir’s doch gleich, es war nicht die Schuld des Handtuchs über meinen Ohren. Ich bin also ein kleiner, buckliger Schuft und ein Ungeheuer. Bin ich das wirklich, Frau Jiniwin? Schön!«

Das Vergnügen über diese Entdeckung rief wieder das alte, hundeähnliche Grinsen in voller Kraft hervor. Sodann schüttelte er sich ganz hundeartig und begab sich zu den Damen.

Herr Quilp trat jetzt vor einen Spiegel und war eben mit dem Anlegen seines Halstuchs beschäftigt, als Frau Jiniwin, die zufällig hinter ihm stand, dem inneren Drange nicht widerstehen konnte, die Faust gegen ihren tyrannischen Schwiegersohn zu schütteln. Die Bewegung war nur eine augenblickliche; aber als sie diese ausführte und mit einem drohenden Blicke begleitete, begegnete sie in dem Spiegel seinem Auge, das sie gerade bei der Tat ertappte. Derselbe Blick auf den Spiegel vermittelte ihr aber auch den Reflex eines schrecklichen, grotesk verzogenen Gesichts mit herausgestreckter Zunge, und in dem nächsten Augenblicke fragte sie der Zwerg, der sich mit einer vollkommen ruhigen und gefälligen Miene umwandte, im Tone großer Zärtlichkeit:

»Wie ist Ihnen jetzt, mein lieber alter Schatz?«

So unbedeutend und lächerlich auch dieser Vorfall war, so nahm sich Herr Quilp doch dabei wie ein kleiner Teufel aus, und das verschmitzte und durchtriebene Gesicht des Zwerges schüchterte die alte Frau so sehr ein, dass sie kein Wort hervorbringen konnte und sich durchaus nicht sträubte, als er sie mit ausgesuchter Höflichkeit nach dem Frühstückstisch führte.

Hier verminderte er keineswegs den Eindruck, den er eben hervorgebracht hatte, denn er speiste die harten Eier samt der Schale, verzehrte gigantische Seegarnelen mit Kopf und Schwanz, kaute zugleich mit außerordentlicher Gier Tabak und Brunnenkresse, trank kochendheißen Tee ohne zu blinzeln, biss in seine Gabel und in seinen Löffel, dass sie krumm wurden, und verrichtete – mit einem Worte – so viele entsetzliche und ungewöhnliche Heldentaten, dass die beiden Frauen fast ihren Verstand darüber verloren und zu zweifeln begannen, ob er wirklich ein menschliches Wesen sei.

Nachdem Herr Quilp endlich diese und noch viele andere Manöver, die gleichfalls zu seinem System gehörten, absolviert hatte, verließ er die Frauen in einer sehr gehorsamen und demütigen Gemütsstimmung und begab sich an das Themseufer. Dort nahm er ein Boot, um nach der Werft, die seinen Namen führte, zu fahren.

Es war eben Flutzeit, als Daniel Quilp sich in das Fährboot setzte, um nach dem entgegengesetzten Ufer zu gelangen. Eine ganze Flotte von Barken kam lässig herbei, die einen mit der Seite, die andern mit dem Schnabel und wieder andere mit dem Stern voran; sie stießen querköpfig, eigensinnig und hartnäckig gegen die größeren Fahrzeuge an, kamen unter den Bug der Dampfboote, trieben in alle Arten von Winkeln und Ecken, wo sie nichts zu tun hatten, und wurden von allen Seiten wie ebenso viele Walnussschalen zusammengequetscht, während jede mit ihrem Paar langer Ruder in dem Wasser plätscherte und kämpfte, einem ermatteten Fische gleich, der sich nicht aus dem seichten Wasser zu helfen weiß.

In einigen der vor Anker liegenden Schiffe waren alle Hände mit dem Aufrollen der Taue, mit dem Ausbreiten der Segel, um sie zu trocknen, oder mit dem Einnehmen und Ausladen der Kargos beschäftigt; in andern rührte sich gar nichts, einige Matrosenjungen und vielleicht einen bellenden Hund ausgenommen, der auf dem Deck hin- und herlief oder an den Planken hinaufkletterte, um über Bord sehen und desto lauter die Aussicht anbellen zu können.

Durch den Wald von Masten kam langsam ein großes Dampfschiff herunter, peitschte mit seinen schweren Ruderschaufeln in kurzen, ungeduldigen Schlägen das Wasser, als ob es ihm an Raum zum Atmen gebräche, und bewegte seinen gewaltigen Rumpf wie ein Seeungeheuer unter den Elritzen der Themse vorwärts.

Zu beiden Seiten schwammen lange, schwarze Reihen von Kohlenschiffen, und durch diese drängten sich Fahrzeuge mit sonnenglänzenden Segeln, die sich langsam aus dem Hafen herausarbeiteten, während das Knarren an Bord aus hundert Richtungen widerhallte. Das Wasser und alles darauf war in rühriger Bewegung, tanzend, wogend und Blasen aufwerfend, während der alte graue Tower, die Gebäudereihe am Ufer und die dazwischen aufschießenden Kirchtürme kalt heruntersahen und ihre tätige, unruhige Nachbarin zu verachten schienen.

Daniel Quilp, dem ein schöner Morgen höchstens insofern angenehm war, als er ihm die Mühe ersparte, einen Regenschirm bei sich zu führen, ließ sich neben der Werft ans Land setzen und begab sich zu ihr durch eine enge Gasse, die den amphibischen Charakter ihrer Bewohner teilte, indem sie aus einer Zusammensetzung von reichlichem Schmutz und vielem Wasser bestand.

An dem Orte seiner Bestimmung angelangt, war der erste Gegenstand, der ihm ins Auge fiel, ein Paar sehr unvollkommen beschuhte Füße, die mit den Sohlen in der Luft schwebten, Diese merkwürdige Erscheinung hing mit einem Knaben zusammen, der von etwas exzentrischem Geiste war und eine natürliche Vorliebe für Gauklerkunststücke besaß, weshalb er sich jetzt auf den Kopf gestellt hatte, um die Aussicht nach dem Flusse in einer so ungewöhnlichen Position zu genießen. Er wurde jedoch schleunigst durch den Ton von seines Meisters Stimme auf die Beine gebracht, und sobald sein Kopf wieder die gehörige Lage einnahm, »trommelte« Herr Quilp – sozusagen – tüchtig auf ihn los.

»Lasst mich in Ruh, Ihr …«, sagte der Junge, indem er Quilps Hand abwechselnd mit den Ellenbogen parierte. »Wenn Ihr nicht aufhört, sollt Ihr etwas kriegen, was Euch nicht schmeckt! Das sage ich Euch.«

»Du Galgenvogel«, knurrte Quilp; »ich will dich peitschen mit eisernen Ruten, ich will dich zerkratzen mit rostigen Nägeln, ich will dir die Augen ausbohren, wenn du nicht augenblicklich still bist – ja, das will ich.«

Mit diesen Drohungen ballte er abermals die Hand, bekam den Knaben gewandt unter den Ellenbogen zu fassen, packte ihn sodann trotz seiner schlauen Seitenwendungen am Kopf und versetzte ihm drei oder vier kräftige Stöße. Nachdem er auf diese Weise seine Absicht erreicht hatte, ließ er ihn los.

»Kommt mir nur noch einmal so«, sagte der Knabe, indem er den Kopf schüttelte und sich zurückzog, für den schlimmsten Fall aber seine Ellenbogen bereithielt, »dann …«

»Sei ruhig, du Schlingel!«, entgegnete Quilp. »Es geschieht dir nichts mehr, denn du hast gerade so viel, wie ich dir zugedacht habe. Da, nimm den Schlüssel!«

»Warum bindet Ihr nicht mit Leuten von Eurer Größe an?«, sagte der Junge, sehr langsam näher kommend.

»Wo gibt es einen von meiner Größe, du Hund?«, entgegnete Quilp. »Nimm den Schlüssel oder ich schlage dir mit ihm das Gehirn ein!« In der Tat gab er ihm auch während dieser Worte einen kräftigen Schlag mit dem Handgriff. »So, jetzt öffne das Kontor!«

Der Knabe befolgte verdrießlich den Befehl und murmelte anfangs Verwünschungen zwischen den Zähnen, was er jedoch bald unterließ, als er beim Umblicken bemerkte, dass Quilp ihm festen Blickes nachsah.

Wir müssen hier bemerken, dass zwischen diesem Knaben und dem Zwerg eine sonderbare Art von gegenseitiger Zuneigung stattfand; wie sie übrigens entstanden war oder wie sie auf der einen Seite durch Drohungen und Schläge, auf der andern durch Trotz und Widerspruch genährt wurde, gehört nicht zur Sache. Quilp hätte sich gewiss von niemandem als von dem Knaben eine Widerrede gefallen lassen, und ebenso gewiss würde der Knabe von keinem andern als von Quilp so viele Püffe hingenommen haben, da es doch in seiner Macht lag, nach Gutdünken davonzulaufen

»Nun«, sagte Quilp, in das hölzerne Kontorhaus tretend, »gib mir jetzt auf die Werft Acht! Aber wenn du dich wieder auf den Kopf stellst, schlage ich dir einen deiner Füße ab!«

Der Junge gab keine Antwort; aber sobald Quilp die Tür geschlossen hatte, stellte er sich vor der Tür auf den Kopf, spazierte sodann auf den Händen rückwärts in den Hof, ruhte dort wieder auf dem Kopf aus, worauf er sich auf die entgegengesetzte Seite wandte und dort seine Kunstleistungen wiederholte. Das Kontorhaus hatte zwar vier Seiten; aber er vermied absichtlich die eine, an der das Fenster war, denn es dünkte ihn nicht unwahrscheinlich, dass Quilp durch dieses heraussähe. Das war eine sehr kluge Vorsichtsmaßregel, denn der Zwerg, der den Charakter seines jungen Aufsehers kannte, lag in der Tat unfern vom Schiebefenster auf der Lauer, nachdem er sich zuvor mit einer großen Holzlatte bewaffnet hatte, die, da sie sehr rau, gezackt und mit zerbrochenen eisernen Nägeln beschlagen war, leicht eine schlimme Verletzung hätte herbeiführen können.

Das Kontor war eine schmutzige kleine Bude, in welcher sich nichts befand als ein alter, hinfälliger Schreibtisch, zwei Hocker, ein Hutständer, ein alter Kalender, ein Tintenfass ohne Tinte, der Stumpf einer einzigen Feder und eine Achttageuhr, die aber wenigstens seit achtzehn Jahren nicht mehr ging und aus deren Minutenzeiger man einen Zahnstocher gemacht hatte. Daniel Quilp drückte seinen Hut in die Stirn, kletterte auf den flachen Schreibtisch und streckte sich nach seiner ganzen Kürze aus, worauf er sich mit der Behaglichkeit eines alten Praktikers zum Schlafen anschickte und ohne Zweifel sich für die Entbehrung der letzten Nacht durch einen langen und gesunden Schlummer schadlos zu halten gedachte.

Gesund mochte nun dieser wohl gewesen sein, lang war er gewiss nicht; denn der Zwerg hatte kaum eine Viertelstunde ausgeruht, als der Junge die Tür öffnete und den Kopf, der ganz wie ein Bund ungehechelten Werges aussah, hereinstreckte. Quilp hatte nur einen leichten Schlaf und fuhr daher augenblicklich auf.

»Es will jemand zu Euch«, sagte der Knabe.

»Wer?«

»Ich weiß nicht.«

»So frage!«, entgegnete Quilp, indem er die vorerwähnte Latte ergriff und sie mit solcher Gewandtheit nach dem Jungen warf, dass dieser guttat, sich unsichtbar zu machen, ehe sie die Stelle erreichte, an der er gestanden hatte. »Willst du fragen, du Galgenstrick?«

Da es dem Jungen nicht sonderlich darum zu tun war, sich wieder in den Bereich solcher Wurfgeschosse zu wagen, so sandte er klüglicherweise den Anlass der Unterbrechung hinein, der sich jetzt an der Tür zeigte.

»Was, Nelly?«, rief Quilp.

»Ja«, sagte die Kleine und zögerte, ob sie eintreten oder sich zurückziehen sollte; denn der eben erwachte Zwerg war mit seinen verwirrten Haaren, die nach allen Richtungen hinausstanden, und dem gelben Schnupftuch, das er über den Kopf gelegt hatte, wahrhaft fürchterlich anzuschauen. »Nur ich bin’s, Sir.«

»So komm herein!«, versetzte Quilp, ohne den Schreibtisch zu verlassen. »Komm herein! Halt! Sieh einmal in den Hof hinaus und gib Acht, ob dort nicht ein Junge auf dem Kopf steht!«

»Nein, Sir«, entgegnete Nell, »er steht auf seinen Füßen.«

»Hast du auch recht gesehen?«, fragte Quilp. »Schon gut. So komm herein und schließe die Tür! Was bringst du mir für einen Auftrag, Nelly?«

Das Kind überreichte ihm einen Brief, und Herr Quilp, ohne seine Lage weiter zu ändern, als dass er sich etwas mehr auf die Seite drehte und sein Kinn auf die Hand stützte, schickte sich an, den Inhalt durchzulesen.

6. Kapitel

Lautlos und schüchtern stand die kleine Nell beiseite und erhob die Augen zu dem Gesicht des Herrn Quilp, als er den Brief durchlas; ihre Blicke zeigten übrigens deutlich, dass sie eine große Neigung verspürte, über das ungeschickte Äußere und die groteske Haltung des kleinen Mannes zu lachen, obgleich sie ihm nicht traute und sich vor ihm fürchtete. Es ließ sich aber auch an dem Kinde ein schmerzliches Bangen wahrnehmen und das ängstliche Gefühl seiner Macht, von der sie zu erwarten schien, dass sie die Antwort ungünstig oder betrübend gestalten könnte. Natürlich standen diese Gefühle in einem strengen Widerstreit mit dem ursprünglichen Eindruck, den der Gnom auf sie gemacht hatte, und zügelten ihn weit wirksamer, als es ihr wohl aus eigenen Kräften möglich gewesen wäre.

Dass Herr Quilp selbst erstaunt, und zwar ungeheuer erstaunt war über den Inhalt des Briefes, stand deutlich auf seinem Gesicht. Noch ehe er über die ersten zwei oder drei Zeilen weggekommen war, begann er die Augen weit aufzureißen und die Stirn in schreckliche Falten zu legen; die zunächst folgenden paar Linien veranlassten ihn, sich auf eine ungemein hässliche Weise den Kopf zu kratzen, und als er bei dem Schlusse anlangte, bekundete er sein Erstaunen und seinen Unwillen durch ein langes, unheimliches Pfeifen.

Nachdem er das Papier gefaltet und neben sich niedergelegt hatte, nagte er mit ungemeiner Gefräßigkeit an den Nägeln seiner zehn Finger; dann nahm er es hastig wieder auf und las es noch einmal.

Die Wiederholung war allem Anschein nach ebenso unbefriedigend wie die erste Einsichtnahme und versetzte ihn in ein tiefes Nachsinnen, aus dem er nur zu einem neuen Angriff auf seine Nägel und zu einem langen Glotzen auf das Kind erwachte, das mit zur Erde gesenkten Blicken seines Gegenauftrages harrte.

»Holla da!«, rief er endlich mit einer Stimme und so plötzlich, dass das Kind zusammenfuhr, als ob ein Gewehr neben seinem Ohre abgefeuert worden wäre. »Nelly!«

»Ja, Sir.«

»Weißt du, was in diesem Briefe steht, Nell?«

»Nein, Sir!«

»Ist’s auch gewiss, ganz gewiss, ganz sicher, bei deiner Seele?«

»Ganz gewiss, Sir.«

»Kannst du sagen, ich will auf der Stelle sterben, wenn ich es weiß – wie?«, sagte der Zwerg.

»In der Tat, ich weiß es nicht«, versetzte das Kind.

»Gut!«, murmelte Quilp, als er ihren ernsten Blick bemerkte. »Ich glaube dir’s. Hm! Bereits fort? In vierundzwanzig Stunden fort? Was zum Teufel hat er damit angefangen? Dahinter steckt ein Geheimnis!«

Diese Betrachtung veranlasste ein neues Kratzen am Kopf und ein abermaliges Beißen an den Nägeln. Während er so beschäftigt war, milderten sich seine Züge allmählich zu dem, was bei ihm ein heiteres Lächeln war, bei jedem andern aber ein grässliches Schmerzensgrinsen hätte genannt werden können; und als die Kleine wieder aufblickte, bemerkte sie, dass er sie mit außerordentlicher Gunst und mit großem Wohlgefallen betrachtete.

»Du siehst heute recht hübsch aus, Nelly – bezaubernd hübsch. Bist du müde, Nelly?«

»Nein, Sir. Ich möchte nur bald wieder nach Hause, denn er wird in Sorge sein, solange ich fort bin.«

»Es hat keine Eile, kleine Nell, im Geringsten keine Eile«, sagte Quilp. »Wie würde es dir gefallen, wenn du meine Nummer Zwei wärest, Nelly?«

»Wenn ich was wäre, Sir?«

»Meine Nummer Zwei, meine Zweite, meine Frau Quilp«, versetzte der Zwerg.

Das Kind sah ängstlich umher, schien ihn aber nicht zu verstehen, worauf Herr Quilp, als er dies wahrnahm, sich beeilte, seine Meinung deutlicher auszudrücken.

»Ob du nämlich Frau Quilp, die Zweite, sein möchtest, wenn Frau Quilp, die Erste, tot ist, süße Nell?«, sagte Quilp, mit den Augen blinzelnd und das Mädchen mit gekrümmtem Zeigefinger an sich lockend. »Meine Frau, mein kleines, kirschwangiges, rotlippiges Weibchen? Angenommen, dass Frau Quilp noch fünf Jahre lebt, oder nur vier, so wirst du gerade das richtige Alter für mich haben. Ha ha! Sei nur ein gutes Mädchen, Nelly – ein recht gutes Mädchen, und du wirst sehen, ob du es nicht eines Tags so weit bringst, Frau Quilp von Tower Hill zu werden.«

Statt indes durch diese angenehme Aussicht gehoben und angeregt zu werden, bebte Nell im Gegenteil erschrocken vor ihm zurück und fing heftig an zu zittern. Herr Quilp aber – sei es, weil es für ihn ein Hochgenuss war, jemandem Angst einzujagen, oder weil er sich darin gefiel, an den Tod von Frau Quilp, Nummer Eins, und an die Erhebung von Frau Quilp, Nummer Zwei, zu ihrem Titel und ihrer Stellung zu denken, oder weil er beschlossen hatte, aus besonderen Gründen gerade jetzt angenehm und guter Laune zu sein – lachte nur und tat, als ob er ihrer Unruhe gar nicht gewahr würde.

»Du musst mit mir nach Tower Hill gehen und die jetzige Frau Quilp besuchen, und zwar gleich!«, sagte der Zwerg. »Sie hat dich sehr gerne, Nell, obgleich lange nicht so gerne, wie ich dich habe. Du wirst mit mir in meine Wohnung gehen, Nell.«

»Ich muss wirklich wieder nach Hause«, entgegnete das Kind. »Er sagte mir, ich solle sogleich wieder nach Hause kommen, wenn ich die Antwort hätte.«

»Die hast du aber nicht, Nelly«, erwiderte der Zwerg, »und wirst sie nicht haben und kannst sie nicht haben, bis ich zu Hause gewesen bin. Du siehst also, dass du mit mir gehen musst, wenn du deinen Auftrag gehörig ausrichten willst. Gib mir meinen Hut, meine Liebe, und wir können auf der Stelle aufbrechen!«

Nach diesen Worten wälzte sich Herr Quilp allmählich vom Schreibtisch herunter, bis seine kurzen Beine den Boden berührten; dann trat er aus dem Kontor auf die Werft hinaus. Sein erster Blick fiel auf den Jungen, der auf dem Kopfe gestanden hatte, und auf einen andern jungen Herrn, ungefähr von der gleichen Größe, wie sie in inniger Umarmung in dem Schmutze herumkugelten und einander kraftvoll mit Püffen bearbeiteten.

»Es ist Kit!«, rief Nelly, indem sie ihre Hände zusammenschlug. »Der arme Kit, der mich herbegleitete! Ach, ich bitte, Herr Quilp, sie sollen doch aufhören!«

»Ich werde ihnen schon das Handwerk legen!«, rief Quilp, schlüpfte in das kleine Kontor zurück und kam mit einem tüchtigen Knüttel wieder heraus. »Ich werde ihnen beikommen. Nun, meine Jungen, jetzt geht erst der Tanz an. Ich will’s mit euch beiden aufnehmen; ja, mit euch beiden zugleich!«

Mit dieser Herausforderung schwang der Zwerg seinen Knüttel, tanzte um die Kämpfenden herum, trat auf sie, hüpfte in einer Art wahnsinniger Wut über sie weg und schlug ganz verzweifelt bald auf den einen, bald auf den andern los, wobei er immer auf ihre Köpfe zielte und so kräftige Hiebe austeilte, wie sie nur dieser leibhaftige kleine Wilde auszuteilen vermochte.

Da sich die beiden kriegführenden Parteien auf keine so heiße Arbeit gefasst gemacht hatten, so wurde ihr Mut plötzlich abgekühlt, denn sie sprangen auf ihre Beine und riefen um Pardon.

»Ich will euch zu Brei zusammenschlagen, ihr Galgenstricke!«, sagte Quilp, der sich vergeblich bemühte, einem von ihnen nahe zu kommen, um ihm noch einen Abschiedshieb versetzen zu können. »Ich will euch zusammenhauen, bis ihr blaurot seid; ich will eure Gesichter bearbeiten, bis sich kein Profil mehr an euch erkennen lässt – ja, das will ich.«

»Ich sage Euch, lasst Euren Prügel fallen oder es geht Euch übel!«, entgegnete ihm der Äquilibrist, der immer um ihn herumschnüffelte und die Gelegenheit erspähte, über ihn herzufallen. »Den Prügel weg, sage ich!«

»Komm nur ein bisschen näher, und ich will ihn auf deinem Schädel deponieren, du Hund!«, rief Quilp mit funkelnden Augen. »Ein wenig näher – noch näher.«

Der Junge lehnte jedoch diese Einladung ab, bis sein Herr weniger auf der Hut zu sein schien, worauf er heranstürzte, die Waffe erfasste und sie Quilps Händen zu entringen suchte.

Dieser, der die Kraft eines Löwen besaß, konnte den Prügel mit Leichtigkeit so lange festhalten, bis der Junge seine äußerste Kraft daran versuchte; dann aber ließ er ihn plötzlich los, und der Knabe taumelte nun nach rückwärts, sodass er mit Macht auf den Kopf stürzte. Der Erfolg dieses Manövers kitzelte Herrn Quilp über alle Maßen, und er lachte und stampfte auf den Boden, als ob dies ein köstlicher Spaß wäre.

»Schon gut«, sagte der Junge, indem er mit dem Kopfe nickte und ihn zu gleicher Zeit rieb; »gebt Acht, ob ich je wieder mit einem anbinde, wenn er sagt, Ihr wäret ein hässlicherer Zwerg, als man irgendwo für einen Penny zu sehen bekommt!«

»Willst du vielleicht damit sagen, dass ich es nicht bin, du Schlingel?«, versetzte Quilp.

»Nein!«, entgegnete der Knabe.

»Weshalb fängst du dann auf meiner Werft Händel an, du Halunke?«, sagte Quilp.

»Weil er so sagte«, erwiderte der Junge, auf Kit deutend, »nicht weil Ihr’s nicht seid.«

»Warum hat er auch gesagt«, rief Kit, »dass Miss Nelly hässlich ist und dass sie und mein Herr alles tun müssten, was sein Meister haben wolle? Warum hat er das gesagt?«

»Er sagte es, weil er ein Narr ist, und du sagtest so, weil du ein sehr weiser und gescheiter Junge bist – fast zu gescheit, um lange zu leben, wenn du nicht sehr auf dich achtgibst, Kit«, versetzte Quilp mit großer Zutunlichkeit in seiner Miene, aber mit noch mehr stiller Bosheit um Mund und Augen. »Da sind sechs Pence für dich, Kit. Halte es immer mit der Wahrheit! Zu allen Zeiten, Kit, halte es mit der Wahrheit! Schließ das Kontor ab, du Wicht, und bring mir den Schlüssel!«

Der andere Junge, an den dieser Befehl gerichtet war, vollzog den Auftrag und wurde für sein ritterliches Benehmen im Interesse seines Meisters durch einen tüchtigen Nasenstüber mit dem Schlüssel belohnt, der ihm das Wasser in die Augen trieb. Dann stieg Herr Quilp mit dem Kinde und mit Kit in ein Boot, und der Knabe rächte sich dadurch, dass er während der ganzen Zeit der Überfahrt an dem äußersten Rande des Kais auf dem Kopfe tanzte.

Frau Quilp war allein zu Hause und hatte sich, die Rückkehr ihres Gebieters nicht so bald erwartend, eben einem erfrischenden Schlummer hingeben wollen, als der Schall seiner Fußtritte sie wieder aufstörte; sie hatte kaum Zeit, eine Näharbeit zur Hand zu nehmen, als er bereits, von dem Kinde begleitet, ins Zimmer trat, während Kit in der Hausflur warten musste.

»Hier ist Nelly Trent, liebe Frau Quilp«, begann ihr Gatte. »Ein Glas Wein, meine Liebe, und etwas Zwieback, denn sie hat weit gehen müssen. Sie wird dir Gesellschaft leisten, meine Seele, bis ich einen Brief geschrieben habe.«

Frau Quilp sah zitternd zu ihrem Gatten auf, um zu erfahren, was diese ungewöhnliche Höflichkeit zu bedeuten habe, und seinem Wink gehorchend, folgte sie ihm in das nächste Gemach.

»Merke wohl auf, was ich dir sage!«, flüsterte Quilp. »Sieh zu, ob du etwas von ihr über ihren Großvater herausbringen kannst – was sie treiben, wie sie leben oder was er ihr erzählt. Ich habe meine Gründe, es womöglich zu ermitteln. Ihr Weiber sprecht freier untereinander, als ihr es gegen uns tut, und du hast eine so zarte und sanfte Art, durch die sie sich wohl wird gewinnen lassen. Hörst du?«

»Ja, Quilp.«

»So geh! – Nun, was gibt’s noch?«

»Lieber Quilp«, stotterte sein Weib, »ich habe das Kind gern – wenn du es einrichten könntest, ohne dass ich sie betrügen muss …«

Der Zwerg murmelte einen schrecklichen Fluch und blickte umher, als suche er irgendeine Waffe, um seinem ungehorsamen Weibe die verdiente Züchtigung angedeihen zu lassen. Das unterwürfige kleine Wesen bat ihn daher, nicht böse zu sein, und versprach ihm, zu tun, wie er befohlen hatte.

»Hörst du mich?«, flüsterte Quilp, indem er sie in den Arm kniff. »Nage dich wie ein Wurm in ihr Geheimnis; ich weiß, dass du es kannst! Vergiss nicht, dass ich horche! Wenn du ihr nicht genügend tüchtig zusetzt, werde ich mit der Tür knarren, und wehe dir, wenn ich viel knarren muss. Geh!«

Frau Quilp entfernte sich auf seinen Befehl. Ihr liebenswürdiger Gatte, der sich hinter der etwas geöffneten Tür verbarg und sein Ohr an diese legte, begann mit großer Aufmerksamkeit und Schlauheit zu horchen.

Die arme Frau Quilp dagegen überlegte, wie sie anfangen und welche Fragen sie stellen sollte, und erst als die Tür knarrte und sie ermahnte, ohne Weiteres ans Werk zu gehen, ließ sie ihre Stimme vernehmen.

»Du hast dich in der letzten Zeit recht oft bei Herrn Quilp sehen lassen, meine Liebe.«

»Ich habe es auch schon hundertmal dem Großvater gesagt«, versetzte Nell unschuldig.

»Und was sagte er darauf?«

»Er seufzte nur, ließ den Kopf sinken und schien so traurig und betrübt, dass Sie gewiss hätten weinen müssen, wenn Sie es mit angesehen hätten; ja, ganz gewiss, Sie hätten auch weinen müssen – so wie ich. Wie aber diese Tür knarrt!«

»Sie knarrt oft so«, entgegnete Frau Quilp mit einem unruhigen Blicke nach der Tür. »Aber dein Großvater – er war doch sonst nicht so gedrückt?«

»O nein!«, sagte das Kind hastig. »Es war sonst ganz anders. Wir waren früher so glücklich und er so heiter und zufrieden. Sie können sich keinen Begriff machen, welch eine traurige Veränderung seitdem mit uns vorgegangen ist.«

»Es tut mir leid, sehr leid, dich so sprechen zu hören, meine Liebe«, sagte Frau Quilp. Und sie sprach die Wahrheit.

»Ich danke Ihnen«, erwiderte das Kind, indem es ihre Wange küsste; »Sie sind immer so freundlich gegen mich, und ich spreche so gern mit Ihnen. Ich kann mit niemand von ihm sprechen, als mit dem armen Kit. Zwar bin ich immer noch sehr glücklich, und ich sollte vielleicht noch glücklicher sein, als ich es bin; aber Sie können sich nicht denken, wie es mich manchmal schmerzt, ihn so verändert zu sehen.«

»Es wird wieder anders kommen, Nelly«, sagte Frau Quilp. »Er wird wieder werden, wie er früher war.«

»Ach, wenn der liebe Gott das nur wollte!«, erwiderte das Kind und Tränen entströmten seinen Augen. »Aber es ist schon lange her, seit er anfing – ich glaube, die Tür dort bewegte sich!«

»Das tut der Wind«, versetzte Frau Quilp mit tonloser Stimme. »Seit er anfing …«

»So gedankenvoll und niedergeschlagen zu sein und zu vergessen, wie wir sonst die langen Abende zugebracht hatten«, fuhr das Kind fort. »Ich las ihm an dem Kamin vor, und er hörte zu, und wenn ich aufhörte und wir zu sprechen begannen, erzählte er mir von meiner Mutter, dass sie als kleines Kind genau so wie ich aussah und genau wie ich sprach. Dann setzte er mich immer auf seinen Schoß und versuchte mir begreiflich zu machen, dass sie nicht in ihrem Grabe liege, sondern in ein schönes Land, noch weit hinter dem Himmel, geflogen sei, in dem man nimmer stirbt und nimmer alt wird – wir waren damals sehr glücklich!«

»Nelly! Nelly!«, sagte die arme Frau. »Ich kann es nicht mit ansehen, dass ein so junges Geschöpf so betrübt sein soll. Ich bitte dich, weine nicht.«

»Ich weine so selten«, versetzte Nell; »aber ich habe alles allein getragen – und ich bin nicht ganz wohl, glaube ich, denn die Tränen kommen mir in die Augen, ohne dass ich sie aufhalten kann. Ich mache mir nichts daraus, Ihnen meinen Kummer zu erzählen, denn ich weiß, dass Sie nichts davon weitersagen werden.«

Frau Quilp wandte den Kopf ab und gab keine Antwort.

»Dann«, sprach das Kind weiter, »gingen wir auch oft in den Feldern und unter den grünen Bäumen spazieren; wenn wir dann nach Hause kamen, gefiel’s uns nur umso besser, weil wir müde waren, und wir waren ganz glücklich über unser Haus. Es ist zwar dunkel und etwas langweilig; aber wir pflegten zu sagen: ›Was kümmert es uns? Denn wir denken dann nur umso lieber an unsern letzten Spaziergang und sehen mit um so größerer Freude unserm nächsten entgegen.‹ Aber jetzt hat es mit dem Spazierengehen ein Ende, und obgleich es noch das nämliche Haus ist, so ist es doch viel dunkler und düsterer geworden, als es früher war. Ja, ja, es ist so!«

Sie hielt inne; aber obgleich die Tür mehr als einmal knarrte, sagte Frau Quilp kein Wort.

»Sie dürfen aber nicht glauben«, sagte das Kind ernst, »als ob der Großvater weniger freundlich gegen mich wäre als sonst; denn er liebt mich im Gegenteil mit jedem Tage mehr und wird mit jedem Tage gütiger und zärtlicher gegen mich. Sie können sich gar nicht denken, wie gern er mich hat!«

»Ich bin überzeugt, dass er dich zärtlich liebt«, versetzte Frau Quilp.

»O gewiss, gewiss tut er das«, rief Nell, »so zärtlich, als ich ihn liebe! Aber das Ärgste habe ich Ihnen noch nicht erzählt; und das dürfen Sie schon gar niemandem sagen. Er hat keinen Schlaf und keine Ruhe, außer dass er manchmal tagsüber in seinem Lehnstuhl sitzt; denn jede Nacht – und fast die ganze Nacht über – ist er nicht zu Hause.«

»Nelly!«

»Pst!«, sagte das Kind, den Finger auf die Lippen legend und umhersehend. »Wenn er morgens nach Hause kommt, was gewöhnlich kaum vor Tagesanbruch geschieht, so öffne ich ihm die Tür. Heute kam er gar spät – es war schon ganz hell. Ich sah, dass sein Gesicht totenblass, seine Augen blutunterronnen waren und dass seine Beine im Gehen zitterten. Als ich mich wieder zu Bett gelegt hatte, hörte ich ihn stöhnen. Ich stand auf und eilte zu ihm; da hörte ich ihn, ehe er wusste, dass ich in seiner Nähe war, sagen, er könne ein solches Leben nicht länger ertragen, und wenn es nicht um des Kindes willen wäre, so möchte er lieber sterben. Was soll ich tun? Ach, was soll ich tun?«

Die Quellen ihres Herzens waren geöffnet. Die Kleine, überwältigt von der Last ihres Kummers und ihrer Sorgen, ergriffen von der Offenheit, die sie hier zum ersten Mal gezeigt hatte, und im Gefühle, dass ihre kleine Erzählung mit Teilnahme aufgenommen worden war, verbarg ihr Gesicht in den Armen ihrer hilflosen Freundin und brach in einen Strom von Tränen aus.

Ein paar Augenblicke später trat Herr Quilp in das Gemach und war ungemein erstaunt, sie in diesem Zustande zu finden; er erschien ganz natürlich, und seine Verstellung gelang ihm außerordentlich, denn sie war ihm durch lange Übung zur zweiten Natur geworden, und er fühlte sich auf einem solchen Boden ganz heimisch.

»Sie ist müde, wie du siehst, liebe Frau«, sagte der Zwerg, indem er seiner Gattin mit einem grässlichen Schielen zu verstehen gab, dass sie auf seine Weise eingehen solle. »Es ist ein langer Weg von ihrem Hause bis zur Werft; dann wurde sie auch durch ein paar sich balgender Schufte erschreckt, und außerdem fürchtete sie sich auch vor dem Wasser. All dies ist zu viel für sie gewesen. Arme Nell!«

Ohne es zu wollen, schlug er den sichersten Weg ein, den er sich hätte erdenken können, um seinen kleinen Gast zu sich zu bringen, indem er Nelly den Kopf streichelte. Ein solches Verfahren von irgendeiner andern Hand dürfte kaum einen merklichen Erfolg hervorgebracht haben; aber das Kind bebte so rasch vor seiner Berührung zurück und hatte ein so starkes Verlangen, aus seiner Nähe zu kommen, dass sie plötzlich aufstand und erklärte, sie sei bereit, nach Hause zurückzukehren.

»Du würdest aber besser tun, zu bleiben und mit Frau Quilp und mir zu speisen«, sagte der Zwerg.

»Ich bin schon viel zu lange ausgewesen, Sir«, versetzte Nell, die Augen trocknend.

»Gut«, entgegnete Herr Quilp; »wenn du durchaus fort willst, so muss man dir deinen Willen lassen, Nelly. Hier ist die Antwort. Ich sage ihm darin nur, dass ich ihn morgen oder vielleicht übermorgen besuchen werde und dass ich seinen kleinen Auftrag heute nicht besorgen kann. Gehab dich wohl, Nelly! Heda, Bürschchen, gib Acht auf sie – hörst du?«

Kit, der auf den Ruf herbeikam, hielt es nicht der Mühe wert, auf eine so unnötige Einschärfung zu antworten, sondern stierte Quilp mit drohender Gebärde an, als hielte er ihn für die Ursache von Nellys Tränen und fühlte sich mehr als halb geneigt, auf den bloßen Verdacht hin diese Sünde an ihm zu rächen; dann wandte er sich um und folgte seiner jungen Herrin, die sich inzwischen von Frau Quilp verabschiedet und das Zimmer verlassen hatte.

»Sie sind ja fabelhaft bei dem Verhör vorgegangen, nicht wahr, Frau Quilp?«, brach der Zwerg gegen seine Gattin los, sobald sie allein waren.

»Was konnte ich weiter tun?«, versetzte die arme Frau sanft.

»Was du weiter tun konntest?«, höhnte Quilp. »Hättest du nicht vielleicht noch weniger tun können? Konntest du nicht tun, was du zu tun hattest, ohne in deiner Lieblingsrolle als Krokodil aufzutreten, du Hexe?«

»Mir tut das Kind sehr leid, Quilp«, sagte die Frau; »gewiss habe ich genug getan. Ich habe sie veranlasst, mir ihr Geheimnis mitzuteilen; aber sie glaubte, dass wir allein wären, und du warst in der Nähe. Gott verzeih mir’s!«

»Du hast sie veranlasst? Da hast du natürlich recht viel getan!«, entgegnete Quilp. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollest mich nicht zu oft mit der Tür knarren lassen? Ein Glück für dich, dass ihre Worte mir den nötigen Schlüssel gaben; denn wäre das nicht der Fall gewesen, so hättest du mir’s entgelten sollen – das kann ich dir sagen!«

Da Frau Quilp hiervon vollkommen überzeugt war, gab sie keine Antwort. Ihr Gatte fügte mit einem Frohlocken hinzu:

»Du magst es übrigens deinen glücklichen Sternen danken – denselben Sternen, die dich zur Frau Quilp gemacht haben –, du magst es ihnen danken, dass ich dem alten Herrn auf der Fährte bin und dass mir ein neues Licht aufgegangen ist. Ich will daher nichts mehr von der Sache hören, weder jetzt noch ein andermal; auch brauchst du nichts besonders Gutes fürs Mittagessen zu bereiten, denn ich komme nicht nach Hause.«

Mit diesen Worten setzte Herr Quilp seinen Hut auf und entfernte sich, während Frau Quilp, über die Maßen betrübt bei der Erinnerung an die Rolle, die sie eben gespielt hatte, sich in ihre Kammer einschloss, den Kopf in die Polster vergrub und bitterlicher ihren Fehler beweinte, als viele weniger weichherzige Personen über ein weit größeres Vergehen getrauert haben würden, denn in den meisten Fällen ist das Gewissen ein gar elastischer und biegsamer Gegenstand, der sich ziemlich strecken und den verschiedensten Verhältnissen anpassen lässt.

Manche Leute bringen es durch ein weises Verhalten mit der Zeit so weit, dass sie das Gewissen ganz entbehren können, indem sie es stückweise – wie Flanellwäsche bei warmem Wetter – ablegen. Aber es gibt auch andere, die dieses Gewand nach Belieben an- und ablegen können; begreiflicherweise ist diese Art von Akkommodation, als die behaglichere, am meisten an der Tagesordnung.

7. Kapitel

»Fritz«, sagte Herr Swiveller, »erinnere dich an das einst so beliebte Lied: ›Verscheuchet jetzt die Grillen‹; fache die erlöschende Flamme der Heiterkeit mit dem Fittich der Freundschaft an und lass den rosigen Wein umhergehen.«

Herrn Swivellers Appartements befanden sich in der Nähe von Drury-Lane und hatten außer dieser bequemen Lage auch noch den Vorteil, sich über einem Tabakladen zu befinden, sodass der Mieter imstande war, seinen verehrten Korpus, wenn er es wünschte, durch ein fröhliches Niesen zu erleichtern, indem er bloß in den Gang zu treten brauchte, um sich eine Prise zu holen, wodurch ihm die Kosten und die Mühe, eine Schnupftabaksdose zu führen, erspart blieben.

In diesen Appartements war es, wo Herr Swiveller die gedachten Ausdrücke des Trostes und der Ermunterung bei seinem verzagenden Freunde in Anwendung brachte; und es ist wohl nicht unpassend zu bemerken, dass sogar dieses kurze Zitat in einem doppelten Sinne Herrn Swivellers figürlichen und poetischen Charakter bezeichnete, da in Wahrheit der rosige Wein durch ein Glas kalten Grogs repräsentiert wurde, den man gelegentlich aus einer Flasche und einem Kruge auf dem Tisch ergänzte. Er wanderte in Ermangelung zweier Gläser von einer Hand zur andern, wie man wohl ohne Erröten zugestehen darf, sintemal ein solcher Umstand einer Junggesellenwirtschaft – denn die des Herrn Swiveller war eine solche – nicht zum Vorwurf gereichen kann.

Infolge einer gleich angenehmen Fiktion wurde seines einzigen Zimmers immer in der Mehrzahl gedacht. Als es noch unbewohnt war, hatte es der Tabakskrämer in seinem Fenster als »Appartements« für einen einzelnen Herrn bezeichnet, und Herr Swiveller, der sich diesen Wink zunutze machte, ermangelte nie, davon als von seinen Zimmern, seinen Gelassen und dergleichen zu reden und somit den Zuhörern Begriffe von einem unbegrenzten Raum beizubringen, indem er es ihrer Einbildungskraft überließ, nach Gefallen durch Reihen hoher Hallen zu wandern.

In dieser fantastischen Illusion wurde Herr Swiveller durch ein täuschendes Möbelstück unterstützt, das in Wirklichkeit eine Bettstatt, dem äußern Anscheine nach aber ein Bücherschrank war und eine so augenfällige Stellung in seinem Gemach einnahm, dass es allem Verdacht Hohn zu sprechen und die Untersuchung herauszufordern schien.

Auch unterliegt es keinem Zweifel, dass Herr Swiveller bei Tage fest daran glaubte, dieses geheimnisvolle Dekorationsstück sei nichts anderes als ein Bücherschrank, und um keinen Preis sich eingestehen wollte, dass es ein Bett sei, fest entschlossen, das Vorhandensein von Leintüchern und Decken zu ignorieren und die Kissen absolut nicht zu kennen. Kein Wort über seinen wahren Zweck, kein Hinweis auf seinen nächtlichen Dienst, keine Anspielung auf seine besondern Eigentümlichkeiten waren je zwischen ihm und seinen intimsten Freunden gewechselt worden. Unbedingter Glaube an diese Täuschung war der erste Artikel seines Credos; um Herrn Swivellers Freund zu sein, musste man alle Indizienbeweise, alle Vernunft, alle Beobachtung und alle Erfahrung verwerfen und sich einem blinden Glauben an den Bücherschrank hingeben. Es war nun einmal seine Lieblingsschwäche, die er hegte und pflegte.

»Fritz«, sagte Herr Swiveller, als er fand, dass seine frühere Beschwörung keine Wirkung hervorgebracht hatte, »lass den Rosigen kreisen!«

Der junge Trent schob ihm das Glas mit einer ungeduldigen Gebärde hin und verfiel wieder in seine trübsinnige Haltung, aus der er wider Willen geweckt worden war.

»Ich will dir einen kurzen Toast bringen, Fritz«, fuhr sein Freund fort, indem er die Mischung umrührte, »wie es für die Gelegenheit passt. Wir haben im Mai …«

»Brr!«, unterbrach ihn der andere. »Du bringst mich um mit deinem Plappern. Freilich, du kannst unter allen Umständen heiter sein!«

»Je nun, mein verehrter Trent«, entgegnete Dick, »es gibt ein Sprichwort über das Heitersein und Weisesein. Manche Leute sind heiter ohne Weisheit, und andere sind weise, oder glauben es wenigstens zu sein, ohne heiter sein zu können. Ich gehöre zu der ersten Sorte. Wenn das Sprichwort wahr ist, so scheint es mir geeigneter, es mit der Hälfte als mit gar nichts zu halten; jedenfalls bin ich lieber heiter und nicht weise, als so ein Kerl wie du, der keins von beiden ist.«

»Possen!«, murmelte sein Freund verdrießlich.

»Ei, meinetwegen«, sagte Herr Swiveller. »Freilich glaube ich, dass man in feinen Zirkeln etwas derart nicht zu einem Gentleman in seinen eigenen Appartements zu sagen pflegt; doch gleichviel. Tu, als wenn du zu Hause wärst!«

Indem Herr Swiveller dieser Entgegnung eine Bemerkung beifügte des Inhalts, dass sein Freund in einer etwas »ruppigen« Stimmung zu sein scheine, machte er dem Rosigen den Garaus und verhalf sich zu einem andern Glas voll derselben Mischung, mit dem er, nachdem er es mit großem Wohlbehagen gekostet hatte, vor einer eingebildeten Gesellschaft einen Toast ausbrachte.

»Meine Herren, ich trinke mit Ihrer Genehmigung auf das gute Glück der alten Familie Swiveller und auf die Gesundheit des Herrn Richard, insbesondere – des Herrn Richard, meine Herren«, fügte Dick mit großem Nachdruck hinzu, »der all sein Geld für seine Freunde ausgibt und durch den liebenswürdigen Ausdruck ›Possen‹ dafür belohnt wird. Hört! Hört!«

»Dick!«, sagte der andere, zu seinem Sitze zurückkehrend. »Willst du nur einige Minuten deinen Ernst zusammennehmen, wenn ich dir einen Weg zeige, wie du mit sehr wenig Mühe dein Glück machen kannst?«

»Du hast mir schon so viele gezeigt«, erwiderte Dick, »und nie ist etwas anderes dabei herausgekommen, als eine leere Tasche …«

»Du wirst von diesem anders sprechen, und zwar in sehr kurzer Zeit«, sagte sein Gefährte, indem er den Stuhl näher an den Tisch zog. »Du hast meine Schwester Nell gesehen?«

»Was ist’s mit ihr?«, versetzte Dick.

»Sie hat ein hübsches Lärvchen, nicht wahr?«

»Ei gewiss«, entgegnete Dick. »Ich muss ihr nachrühmen, dass keine besonders starke Familienähnlichkeit zwischen dir und ihr obwaltet!«

»Hat sie ein hübsches Gesicht?«, wiederholte sein Freund ungeduldig.

»Ja«, sagte Dick, »sie hat ein hübsches Gesicht – ein sehr hübsches Gesicht. Doch, was willst du damit?«

»Lass dir sagen«, erwiderte sein Freund, »es liegt auf der Hand, dass der alte Mann und ich bis an unser Lebensende Todfeinde bleiben werden und dass ich nichts von ihm zu erwarten habe. Vermutlich siehst du das ein?«

»Eine Fledermaus könnte das beim Sonnenschein sehen«, sagte Dick.

»Ebenso klar ist, dass das Geld, das der alte Filz – mögen ihn die Würmer fressen – mir nach seinem Tode zur Hälfte in Aussicht stellte, ganz an sie fallen wird. Ist’s nicht so?«

»Ich möchte es fast glauben«, entgegnete Dick, »wenn nicht die Art, wie ich ihm den Fall zu Gemüte führte, einen Eindruck auf ihn gemacht hat, was recht wohl möglich wäre. Ich hab’s ihm kräftig gegeben, Fritz. Da ist ein ›jovialer, alter Großvater‹ – das war stark, sollte ich meinen – sehr freundlich und natürlich. Ist’s dir nicht auch so vorgekommen?«

»Es ist ihm nicht so vorgekommen«, erwiderte der andere, »und deshalb bedarf’s keiner weiteren Worte. Aber gib einmal Acht! Nell ist nächstens vierzehn.«

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Jürgen Müller
Lektorat: Abenteuerverlag Pockau Jürgen Müller
Übersetzung: Leo Feld
Tag der Veröffentlichung: 19.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6594-5

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