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1. Kapitel

Das alle übrigen einleitet

 

In einem entlegenen Teil der Grafschaft Devonshire lebte einst ein braver Mann namens Gottfried Nickleby, der sich ziemlich spät noch in den Kopf gesetzt hatte zu heiraten. Da er aber weder jung noch begütert war und daher nicht auf die Hand einer vermögenden Dame rechnen durfte, so verehelichte er sich lediglich aus Zuneigung mit einer alten Flamme, die ihn ihrerseits aus demselben Grunde nahm – so wie etwa zwei Leutchen, die es sich nicht leisten können, um Geld Karten zu spielen, einander hin und wieder den Gefallen erweisen, mitsammen eine Partie »umsonst« zu machen.

Die Flitterwochen waren bald vorüber, und da Mr. Nicklebys jährliches Einkommen achtzig Pfund nicht überstieg, blickte das Ehepaar sehnsüchtig in die Zukunft und verließ sich in nicht geringem Maß auf den Zufall, der ihnen aufhelfen sollte.

Es gibt, der Himmel weiß, Menschen genug auf der Welt; und sogar in London, wo Mr. Nickleby in jenen Tagen wohnte, hört man nur wenig klagen, dass die Bevölkerung zu spärlich gesäet sei. Dabei aber – du lieber Gott – kann man lange suchen, bis man einen Freund entdeckt.

Mr. Nickleby spähte und spähte, bis ihn die Lider nicht weniger schmerzten als das Herz, aber nirgends wollte sich ein solcher blicken lassen. Wenn er dann die vom Ausschauen ermüdeten Augen seinem eigenen Herde zuwandte, so zeigte sich auch dort gar wenig, wo sie hätten ausruhen können.

Als schließlich Mrs. Nickleby nach fünf Jahren ihren Gatten mit ein paar Jungen beglückte, fühlte der tiefgedrückte Mann die Notwendigkeit, für seine Familie zu sorgen, immer mehr und mehr, und er war bereits nach reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen, sich am nächsten Quartal in eine Lebensversicherung einzukaufen und dann ganz zufällig von irgendeinem Monument oder Turm herunterzufallen, als eines Morgens ein schwarzgesiegelter Brief mit der Nachricht anlangte, Mr. Ralph Nickleby, sein Oheim, sei gestorben und habe ihm sein ganzes kleines Vermögen von ungefähr fünftausend Pfund Sterling hinterlassen.

Da der Selige bei Lebzeiten keine weitere Notiz von seinem Neffen genommen, als dass er dessen ältestem Knaben, der infolge einer verzweifelten Spekulation den Namen seines Großonkels in der Taufe erhalten hatte, einen silbernen Löffel in einem Maroquinfutteral schickte – was, da dieser nicht allzu viel damit zu essen hatte, fast wie eine Satire darauf aussah, dass das Kind nicht mit einem solchen nützlichen Artikel im Munde auf die Welt gekommen war – so wollte Mr. Gottfried Nickleby im Anfang die freudige Botschaft kaum glauben. Bei weiterer Prüfung stellte sich jedoch heraus, dass sich die Sache wirklich so verhielt.

Der wackere alte Herr hatte, wie es schien, zuerst beabsichtigt, seine ganze Habe dem allgemeinen Rettungsverein zu hinterlassen, und zu diesem Zwecke auch bereits ein Testament aufgesetzt. Aber dieser Verein hatte einige Monate vorher das Pech gehabt, das Leben eines armen Verwandten Mr. Nicklebys zu retten, dem dieser wöchentlich ein Almosen von sechs Schillingen und drei Pence auszahlte. Deshalb widerrief Mr. Ralph Nickleby in höchst gerechter Entrüstung das Vermächtnis durch ein Kodizill und setzte seinen Neffen Gottfried zum Universalerben ein, um dadurch seinen Unwillen sowohl gegen die Gesellschaft, die das Leben des armen Verwandten gerettet, als auch gegen den armen Verwandten selbst, der es sich hatte retten lassen, auszudrücken.

Mit einem Teile dieser Erbschaft kaufte Gottfried Nickleby ein kleines Landgut unweit Dawlish in Devonshire und zog sich dorthin mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern zurück, um von dem spärlichen Ertrage des Gütchens und den Interessen des ihm noch übrig bleibenden Kapitals zu leben.

Als er nach fünfzehn Jahren, etwa fünf Jahre nach dem Tode seiner Gattin, starb, hinterließ er seinem ältesten Sohne Ralph dreitausend Pfund in barem Gelde und dem jüngeren, Nikolas, tausend Pfund und das Landgut – wenn man anders ein Stück Feld ein Landgut nennen kann, das mit Ausnahme des Hauses und des eingeheckten Grasgartens keinen größeren Umfang hatte als der Russelplatz von Covent Garden.

Die zwei Brüder waren mitsammen in einer Schule in Exeter erzogen worden und hatten, da sie gewöhnlich wöchentlich einmal einen Besuch zu Hause machten, von ihrer Mutter oft lange Erzählungen über die Leiden ihres Vaters in den Tagen seiner Armut und der Wichtigkeit ihres verblichenen Onkels in den Tagen seines Wohlstandes mit angehört – Erzählungen, die auf die beiden Knaben einen sehr verschiedenen Eindruck hervorbrachten, denn während der Jüngere, dessen Charakter schüchtern und begnügsam war, nur Winke darin sah, das Getriebe der Weh zu meiden und sein Glück in der Ruhe des Landlebens zu suchen, schöpfte Ralph, der Ältere, die zwei großen Lehren daraus, dass Reichtum die einzige Quelle von Glück und Ansehen sei und dass er zur Erwerbung desselben alle Mittel anwenden dürfe, sofern sie nicht durch das Gesetz mit Todesstrafe bedroht wären.

»Wenn meines Onkels Geld auch keinen Nutzen brachte, so lange er lebte«, folgerte Ralph weiter, »so kam es doch nach seinem Tode meinem Vater zugute, der jetzt den höchst lobenswerten Vorsatz hat, es für mich aufzusparen. Und was den alten Herrn anbelangt, so fand dieser doch auch seinen Genuss darin, sich sein Lebtag lang bewusst zu sein, dass ihn seine Familie deshalb beneide und in Ehren halte.« So kam Ralph immer bei derartigen Selbstgesprächen zu dem Schluss, dass auf der ganzen Welt nichts dem Gelde gleich komme.

Doch schon in frühen Jahren beschränkte sich der hoffnungsvolle Knabe nicht auf Theorien und rein abstrakte Spekulationen, sondern eröffnete bereits in der Schule ein kleines Wuchergeschäft, indem er zuerst Schieferstifte und Marmeln auf gute Zinsen auslieh und dann allmählich auf Kupfermünzen überging. Er quälte aber dabei seine Schuldner nicht etwa mit umständlichen und verwickelten Zinseszinsberechnungen. Sein Satz: »Zwei Pence für jeden Halfpenny«, vereinfachte das Verfahren außerordentlich.

In gleicher Weise vermied der junge Ralph Nickleby alle umständlichen und verwickelten Berechnungen der einzelnen Tage – mit denen man, wie jeder weiß, der schon damit zu tun gehabt, selbst bei dem einfachsten Zinsfüße seine liebe Not hat –, indem er als allgemeine Regel feststellte, dass Kapital nebst Interessen immer am Taschengeldtage, das heißt am Samstag zurückzuzahlen seien, wobei es sich gleich blieb, ob die Schuld am Montag oder am Freitag kontrahiert worden war. Er folgerte nämlich, und nicht mit Unrecht, dass die Zinsen eigentlich für einen Tag höher sein sollten als für fünf, da man annehmen könne, dass in ersterem Falle dem Borger aus einer besonders großen Verlegenheit geholfen werde, weil dieser sonst gewiss nicht unter solch drückenden Bedingungen Geld würde aufgenommen haben.

Nach dem Tode seines Vaters widmete sich Ralph Nickleby, der kurz zuvor in einem Londoner Handlungshaus untergebracht worden, seinem alten Hange, Geld zu erwerben, mit einer solchen Leidenschaft, dass er darüber seinen Bruder viele Jahre lang ganz und gar vergaß. Wenn auch hin und wieder ein Rückerinnern an seinen lieben alten Spielgefährten durch den Nebel, in dem er lebte, brach – denn das Geld umhüllt den Menschen mit einem Nebel, der auf die Gefühle der Jugendzeit weit zerstörender wirkt und einschläfernder als Kohlengas –, so tauchte damit doch immer zugleich der Gedanke auf, jener werde vielleicht, falls das gegenseitige Verhältnis inniger wäre, Geld von ihm borgen wollen. Daher schüttelte Mr. Ralph Nickleby dann jedes Mal die Achsel und sagte: Es ist besser so, wie es ist.

Nikolas seinerseits lebte als Junggeselle auf seinem Erbgute, bis er, der Einsamkeit müde, die Tochter eines Nachbars mit einer Mitgift von tausend Pfund zum Weibe nahm. Die gute Dame gebar ihm zwei Kinder: einen Sohn und eine Tochter, und als der Sohn ungefähr neunzehn Jahre und die Tochter etwa vierzehn zählte, sah sich Mr. Nickleby nach Mitteln um, sein Kapital wieder zu vergrößern, das durch den Zuwachs seiner Familie und die Kosten der Erziehung der Kinder sehr zusammengeschmolzen war.

»Spekuliere damit!«, meinte Mrs. Nickleby.

»Spekulieren, mein Schatz?«, entgegnete Mr. Nickleby bedenklich.

»Warum denn nicht?«

»Weil wir nichts mehr zu leben hätten, wenn wir es verlören«, antwortete Mr. Nickleby in seiner gewohnten bedächtigen Weise.

»Pah«, erwiderte Mrs. Nickleby.

»Man könnte es ja immerhin überlegen, meine Liebe«, meinte Mr. Nickleby.

»Nikolas ist schon ziemlich herangewachsen«, drängte die Gattin, »und es ist Zeit, dass er sich für einen Beruf entscheidet. Und was soll aus unserem Käthchen, dem armen Kind, werden, wenn wir ihr keinen Heller mitgeben können? Denk an deinen Bruder. Würde er das sein, was er ist, wenn er nicht spekuliert hätte?«

»Das ist freilich wahr«, gab Mr. Nickleby zu. »Also gut, meine Liebe. Ich werde spekulieren.«

Spekulieren ist ein Hasardspiel. Die Spieler sehen am Anfang wenig oder gar nichts von ihren Karten, und der Gewinn kann groß sein, aber ebenso auch der Verlust.

Das Glück war gegen Mr. Nickleby. Die allgemeine Spekulationswut warf sich damals gerade wie toll auf eine bestimmte Aktienunternehmung; die Seifenblase barst, vier Faiseure kauften sich Landgüter in Florenz und vierhundert arme Schlucker, darunter auch Mr. Nickleby, waren – ruiniert.

»Das Haus, in dem ich wohne«, seufzte der unglückliche Spekulant, »kann mir morgen genommen werden. Kein Stück unserer alten Möbel bleibt uns. Alles wird an Fremde versteigert werden!«

Und dieser letzte Gedanke war ihm so schmerzlich, dass er sich in sein Bett legte, augenscheinlich fest entschlossen, wenigstens dieses in keinem Falle aufzugeben.

»Kopf hoch, Sir!«, riet der Arzt.

»Sie müssen sich nicht so niederdrücken lassen, Sir«, sagte die Krankenwärterin.

»Solche Dinge kommen alle Tag vor«, meinte der Advokat.

»Und es ist eine große Sünde, sich dagegen aufzulehnen«, ermahnte der Pfarrer.

»Ein Mann, der seine Familie hat, sollte so etwas nie tun«, fügten die Nachbarn hinzu.

Mr. Nickleby aber schüttelte nur den Kopf dazu, bedeutete allen, das Zimmer zu verlassen, umarmte sein Weib und seine Kinder, drückte sie an das immer matter pochende Herz und sank dann erschöpft auf sein Kissen zurück.

Bald sah die Familie zu ihrer großen Bestürzung, dass er irre zu reden begann, denn er sprach lange von der Großmut und der Güte seines Bruders und den schönen Tagen, die sie miteinander auf der Schule zugebracht hatten.

Als der Anfall vorüber war, empfahl er sie feierlich dem Einen, der nie der Witwen und Waisen vergisst, lächelte matt, richtete das Gesicht zur Zimmerdecke empor und sagte, er glaube jetzt einschlummern zu können.

2. Kapitel

Handelt von Mr. Ralph Nickleby, seinen Geschäften und Unternehmungen. Ferner von einer großen Aktiengesellschaft, die für das ganze Land von größter Bedeutung ist

 

Mr. Ralph Nickleby war im eigentlichen Sinne des Wortes weder Kaufmann noch Bankier noch Sensal noch Notar. Man hätte überhaupt seinen Beruf nicht leicht bestimmen können. Nichtsdestoweniger ließ sich aus dem Umstande, dass er in einem geräumigen Hause in Golden Square wohnte mit einer Messingplatte an der Eingangstüre, die die Aufschrift »Bureau« trug, entnehmen, dass er irgendein Geschäft betrieb oder zu betreiben vorgab.

Die weitere Tatsache, dass zwischen halb zehn und fünf Uhr täglich ein Mann mit einem aschfahlen Gesicht und rostbraunem Anzug anwesend war, in einem speisekammerähnlichen Gemach am Ende des Hausflurs auf einem ungewöhnlich harten Stuhl saß – und stets eine Feder hinter dem Ohr hatte, wenn er auf den Ruf der Klingel die Haustüre öffnete, schien das zu bestätigen.

Golden Square liegt ziemlich abgelegen. Es hat seine Glanzzeit hinter sich und gehört nur mehr unter die herabgekommenen Plätze, sodass nur wenige Geschäftsleute hier ihren Aufenthaltsort wählen. Die Wohnungen werden meistens vermietet, und die ersten und zweiten Stockwerke gewöhnlich möbliert an ledige Herren abgegeben, die zugleich auch im Hause einen Kosttisch finden.

Es ist vorzugsweise der Zufluchtsort der Fremden. Sonnverbrannte Männergestalten mit großen Ringen, schweren Uhrketten und buschigem Backenbart, wie sie sich zwischen vier und fünf nachmittags unter der Säulenhalle des Opernhauses versammeln, sobald geöffnet wird, um die Logenbillets auszugeben, leben in Golden Square oder dessen Nähe.

Einige Violinisten und ein Trompeter der Opernkapelle haben hier ihren Wohnsitz aufgeschlagen. In den Kosthäusern wird unaufhörlich musiziert, und die Töne der Klaviere und Harfen beleben die Abendstunden.

In Sommernächten kann man aus den offenen Fenstern Gruppen von dunklen, schnurrbärtigen Gesichtern sehen, die fürchterliche Rauchwolken von sich blasen; und der Geruch aller möglichen Sorten von Tabak durchduftet die Luft.

Dem Anscheine nach eignet sich ein derartiger Platz nicht besonders für einen Geschäftsmann, aber Mr. Ralph Nickleby wohnte bereits seit vielen Jahren hier, ohne dass man je eine Klage von ihm gehört hätte. Er kannte niemand in der ganzen Umgebung, und niemand kannte ihn, obgleich er in dem Rufe eines unermesslich reichen Mannes stand. Die Handwerker und Kaufleute hielten ihn für eine Art von Rechtsgelehrten, und die übrigen Nachbarn meinten, er wäre Generalagent oder etwas dergleichen. Aber alle diese Vermutungen stimmten so wenig wie Mutmaßungen über anderer Leute Angelegenheiten meistens.

Mr. Ralph Nickleby saß eines Morgens, zum Ausgehen angekleidet, in seinem Bureau. Er trug einen flaschengrünen Spencer über einem blauen Leibrock, eine weiße Weste, graumelierte Beinkleider und Stulpenstiefel. Der Zipfel eines schmal gefältelten Busenstreifs drängte sich, als ob er sich mit Gewalt sehen lassen wollte, zwischen dem Kinn und dem obersten Knopf der Weste hervor, während der Spencer nicht weit genug schloss, um eine lange, aus einer Reihe von einfachen goldenen Ringen bestehende Uhrkette zu verbergen, die an einer goldenen Repetieruhr in Mr. Nicklebys Tasche entsprang und in zwei Schlüssel endigte, von denen der eine zur Uhr selbst, der andere offenbar zu irgendeinem Patentvorlegeschloss gehörte. Mr. Nickleby trug das Haar gepudert, als wünsche er, sich dadurch ein menschenfreundlich wohlwollendes Aussehen zu geben. Wenn er dies aber wirklich beabsichtigte, so hätte er vor allem auch sein Gesicht pudern müssen, in dessen Falten, wie nicht minder in den kalten unsteten Augen, beständige Arglist lauerte.

Mr. Nickleby schlug ein vor ihm liegendes Kontobuch zu, warf sich in seinem Stuhl zurück und blickte mit zerstreuter Miene durch die glanzlosen Fensterscheiben. Häuser wie das seine pflegen in London einen trübseligen kleinen Hofraum zu haben, der gewöhnlich durch vier hohe weißgetünchte Mauern eingeschlossen ist und auf den die Schornsteine zürnend herabblicken.

Auf solchen Erdflecken welkt alle Jahre ein verkümmerter Baum, der im Spätherbst, wenn andere Bäume ihre Blätter verlieren, so tut, als wenn er etwas Laub hervorbringen wollte, gar bald aber wieder von seiner Anstrengung ablässt, um bis zum nächsten Sommer dürr dazustehen, wo er dann den gleichen Prozess wiederholt und vielleicht, wenn das Wetter besonders günstig ist, irgendeinen rheumatischen Sperling in Versuchung führt, auf seinen Zweigen zu zirpen.

Man nennt diese dunklen Höfe bisweilen Gärten. Der Mieter wirft gewöhnlich gleich bei seinem Einzug einige Packkörbe und ein halbes Dutzend zerbrochene Gläser hinein, und da bleibt dann alles, bis wieder ausgezogen wird, liegen, um unter dem spärlichen Buchsbaum, dem verkümmerten Immerbraun und den zerbrochenen Blumentöpfen in Schmutz und Kot nach Belieben zu modern.

In einen derartigen Raum schaute Mr. Ralph Nickleby hinaus, als er, die Hände in den Taschen, durch das Fenster sah. Die Aussicht hatte gerade nichts Einladendes, aber Mr. Nickleby war in düstere Gedanken verloren, und seine Augen wanderten schließlich zu einem kleinen schmutzigen Fenster linker Hand, durch das das Gesicht des Schreibers nur undeutlich sichtbar war, und da der Mann gerade aufblickte, so winkte er ihm einzutreten.

Sofort erhob sich der Schreiber von seinem hohen Sessel, der von dem ewigen Auf- und Abrutschen wie poliert aussah, und erschien in Mr. Nicklebys Zimmer. Er war ein großer Mann in mittleren Jahren mit ein paar Glotzaugen, von denen das eine unbeweglich war, einer Karfunkelnase, einem leichenfahlen Gesicht und einem Anzug, der aufs Äußerste abgetragen, viel zu kurz und zu knapp und mit so wenig Knöpfen versehen war, dass man sich wundern musste, wie es ihm gelang seinem Eigentümer nicht vom Leibe zu fallen.

»War das halb ein Uhr, Noggs?«, fragte Mr. Nickleby mit scharfer, unangenehmer Stimme.

»Nicht mehr als fünfundzwanzig Minuten nach der ….« Noggs wollte sagen, »nach der Wirtshausuhr«, besann sich jedoch rechtzeitig und ergänzte: »… nach der Sonne.«

»Meine Uhr ist stehen geblieben«, sagte Mr. Nickleby, »kann mir nicht erklären, warum.«

»Nicht aufgezogen«, meinte Noggs.

«Doch, doch«, versetzte Mr. Nickleby.

»Vielleicht die Feder überdreht.«

»Kann nicht gut sein.«

»Muss wohl«, beharrte Noggs.

»Na, meinetwegen«, sagte Mr. Nickleby und steckte seine Repetieruhr wieder in die Tasche. »Vielleicht ist’s so.«

Noggs gab einen eigentümlich grunzenden Ton von sich, wie er es gewöhnlich am Schlusse eines jeden Wortwechsels mit seinem Herrn zu tun pflegte, um dadurch anzudeuten, dass er recht behalten habe, und versank, da er selten zu sprechen wagte, ohne gefragt zu sein, in ein grämliches Schweigen, wobei er sich langsam die Hände rieb, an den Fingern knackte und sie auf jede mögliche Art verrenkte. Dabei gab er seinem gesunden Auge denselben starren und ungewöhnlichen Ausdruck, den das andere besaß, sodass es unmöglich war zu erkennen, wohin er eigentlich blicke. Es war dies eine von den zahlreichen Eigentümlichkeiten Mr. Noggs’, die jedem, selbst dem gleichgültigsten Beobachter, auf den ersten Blick auffallen musste.

»Ich will jetzt nach der London-Tavern gehen«, sagte Mr. Nickleby.

»Öffentliche Versammlung?«, fragte Noggs.

Mr. Nickleby nickte.

»Ich erwarte einen Brief von meinem Sachwalter betreffs Ruddles Pfandverschreibung. Wenn das Schreiben überhaupt eintrifft, so muss es um zwei Uhr hier sein. Ich werde um diese Zeit aus der City nach Charing Cross gehen. Wenn also Briefe kommen, so werden Sie mir sie entgegenbringen.«

Noggs nickte. In diesem Augenblick wurde die Bureauklingel gezogen. Mr. Nickleby blickte von seinen Papieren auf, und sein Schreiber blieb unbeweglich stehen.

»Man hat geläutet«, sagte Noggs, als halte er es für nötig, seinen Gebieter darauf aufmerksam zu machen. »Zu Hause?«

»Ja.«

»Für jedermann?«

»Ja.«

»Auch für den Steuereinnehmer?«

»Nein. Er soll ein andermal wiederkommen.«

Noggs ließ sein gewohntes Grunzen hören, was so viel bedeuten sollte wie »Ich dachte es ja«, und ging, da sich das Läuten wiederholte, zur Türe.

Bald darauf kehrte er mit einem blassen Herrn, namens Bonney zurück, der, eine schmale weiße Halsbinde nachlässig umgebunden, mit wirrem Haar hastig und unruhig ins Zimmer trat und überhaupt ganz so aussah, als habe man ihn in der Nacht aus den Federn geholt, ohne dass er sich zum Ankleiden hätte Zeit nehmen können.

»Mein lieber Nickleby«, rief der Herr, seinen weißen Hut abnehmend, der mit Papieren so voll gepfropft war, dass es ein Wunder schien, wie er ihn hatte auf dem Kopf tragen können, »es ist kein Augenblick zu verlieren, ich habe einen Wagen vor der Türe. Sir Matthew Pupker übernimmt den Vorsitz, und auf drei Parlamentsmitglieder können wir mit Bestimmtheit rechnen. Ich habe selbst zwei von ihnen aus den Betten geholt, und der Dritte, der die ganze Nacht durch im Crockfordklub am Spieltisch gesessen hat, ist eben nach Hause gegangen, um seine Wäsche zu wechseln und ein paar Flaschen Sodawasser zu trinken. Er wird aber zur rechten Zeit dort sein, um vor der Versammlung seine Rede zu halten. Die durchwachte Nacht hat ihn zwar ein wenig hergenommen, aber das hat nichts zu sagen, er pflegt in solchen Fällen mit besonderem Nachdruck zu reden.«

»Es scheint also alles gut gehen zu wollen?«, versetzte Mr. Ralph Nickleby, dessen Kaltblütigkeit in scharfem Gegensatz zu der Lebhaftigkeit seines Geschäftsfreundes stand.

»Gut gehen?«, rief Mr. Bonney. »Es ist die feinste Idee, die je ausgeheckt worden ist. Vereinigte, verbesserte, hauptstädtische Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktliche Ablieferungsgesellschaft. Kapital fünf Millionen mit fünfmalhunderttausend Aktien à zehn Pfund. Ha, schon der Name wird machen, dass die Aktien in zehn Tagen über Pari stehen.«

»Und wenn’s so weit ist?«, entgegnete Mr. Ralph Nickleby lächelnd.

»Wenn’s so weit ist, so wissen Sie so gut wie irgendeiner, was dann zu geschehen hat und wie man sich beizeiten ruhig aus der Affäre ziehen kann«, versetzte Mr. Bonney und klopfte dem Geldmann vertraulich auf die Schulter. »Apropos, Sie haben da einen seltsamen Menschen zum Schreiber.«

»Hm, ein armer Teufel«, brummte Ralph und zog seine Handschuhe an. »Und doch hat Newman Noggs seiner Zeit Pferde und Hunde gehalten.«

»Was Sie nicht sagen«, warf der Andere gleichgültig hin.

»Ja, ja. Und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Aber er hat sein Geld durchgebracht. Legte es leichtsinnig an, borgte auf Zinsen und wurde, mit einem Wort, in kurzer Zeit zum Bettler. Er ergab sich dem Trunk, wurde vom Schlag gerührt und kam dann zu mir, um mich um ein Pfund anzupumpen. Und da ich, als er noch in besseren Verhältnissen war …«

»In Geschäftsverbindung mit ihm stand«, ergänzte Mr. Bonney mit einem bedeutsamen Blick.

»Ganz recht. So konnte ich ihm natürlich nichts leihen.«

»Natürlich nicht.«

»Aber ich brauchte gerade einen Schreiber und Bedienten zum Türe Öffnen und so weiter und nahm ihn deshalb aus Barmherzigkeit auf. Und seitdem ist er hier.

Ich glaube zwar, dass es in seinem Kopf nicht ganz richtig ist«, fügte Mr. Nickleby mit einem Blick, der mitleidig sein sollte, hinzu, »aber ich kann den armen Kerl zur Not schon gebrauchen.«

Der weichherzige Mr. Nickleby vergaß hinzuzusetzen, dass der gänzlich mittellose Newman Noggs einen geringeren Lohn bezog, als ihn etwa ein dreizehnjähriger Knabe bekommen haben würde und dass die außergewöhnliche Schweigsamkeit des Mannes ihn zu einem sehr wertvollen Diener an einem Orte machte, wo so viel Geschäfte abgewickelt wurden, an deren Geheimhaltung Ralph außerordentlich viel liegen musste. Die beiden Herren hatten indes große Eile, brachen daher ihr Gespräch ab und verfügten sich zu der bereitstehenden Droschke.

Als sie in der Bishopsgatestreet anlangten, herrschte dort ein sehr bewegtes Treiben. Es war ein sehr windiger Tag, und ein halbes Dutzend Männer durchzogen die Straßen mit ungeheuern Ankündigungen, auf denen in riesigen Buchstaben zu lesen war, dass Punkt ein Uhr eine öffentliche Versammlung stattfinden werde, um die Zweckmäßigkeit einer Petition an das Parlament hinsichtlich der »Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktliche Ablieferungs-Gesellschaft« zu erörtern, deren Kapital auf fünf Millionen zu fünfmalhunderttausend Aktien à zehn Pfund veranschlagt sei. Die genannten Zahlen waren, wie es sich gehört, in gewaltigen schwarzen Ziffern auf den Plakaten verzeichnet.

Mr. Bonney brach sich unter den tiefen Bücklingen der Diener, die ihm die Treppe freimachten, mit den Ellenbogen Bahn und betrat mit Mr. Nickleby eine Reihe von Komiteezimmern, in deren zweitem sich ein für eine Sitzung hergerichteter Tisch befand, um den mehrere geschäftsmäßig aussehende Personen versammelt waren.

»Hört, hört!«, rief ein Herr mit einem Doppelkinn, als sich Mr. Bonney vorstellte. »Einen Stuhl, meine Herren, einen Stuhl!«

Die neuen Ankömmlinge wurden mit allgemeinem Beifall begrüßt, Mr. Bonney trat rasch an das Ende des Tisches, nahm seinen Hut ab, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und schlug mit einem kleinen Hammer kräftig auf den Tisch, worauf mehrere Herren »Hört« riefen und sich gegenseitig zunickten, als wollten sie ihre Bewunderung über dieses geistvolle Benehmen ausdrücken. In diesem Augenblick riss ein Diener in fieberhafter Erregung die Tür auf, stürzte herein und schrie: »Sir Matthew Pupker.«

Das Komitee stand auf und klatschte vor Freude in die Hände. Gleich darauf trat Sir Matthew Pupker ein, begleitet von zwei Parlamentsmitgliedern in Lebensgröße, einem irischen und einem schottischen. Alle drei lächelten, verbeugten sich und benahmen sich so obligeant, dass es ein wahres Wunder gewesen wäre, wenn jemand den Mut gehabt hätte, gegen sie seine Stimme zu erheben. Besonders Sir Matthew Pupker, der auf dem Scheitel seines kleinen runden Kopfes ein Flachstoupet trug, war von einem solchen Verbeugungsparoxismus befallen, dass ihm die Perücke jeden Augenblick herunterzufliegen drohte.

Als sich diese bedrohlichen Symptome einigermaßen gelegt hatten, drängten sich die Herren, die mit Sir Matthew Pupker und den Parlamentsmitgliedern näher bekannt waren, in kleinen Gruppen um sie, während diejenigen, die sich einer solchen Ehre nicht zu erfreuen hatten, sich sehnsüchtig heranschlichen und sich lächelnd die Hände rieben in der Hoffnung, etwas anbringen zu können, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken könnte.

Inzwischen gaben Sir Matthew Pupker und die beiden anderen Parlamentsmitglieder die Ansichten zum besten, die die Regierung hinsichtlich der Annahme der Bill hege, berichteten ausführlich, was ihnen die Minister, als sie das letzte Mal bei ihnen gespeist, zugeflüstert und welche bedeutungsvolle Winke sie dabei hätten fallen lassen. Aus all dem könnten sie nur die Folgerung ziehen, dass, wenn der Regierung irgendein Thema besonders am Herzen läge, dieses kein anderes sein könne, als das Gedeihen der »Allgemeinen, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft«.

Das Publikum hatte inzwischen auf den Galerien lebhafte Ungeduld an den Tag gelegt, und es war bereits zu einigen Scharmützeln gekommen, als plötzlich ein lauter Ruf die allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Durch eine Nebentür trat jetzt eine lange Reihe von Herren mit entblößten Häuptern auf die Tribüne.

Der Lärm verstummte, und Sir Matthew Pupker übernahm den Vorsitz. In schwungvoller Rede gab er kund, welche Gefühle ihn im gegenwärtigen Augenblick bewegten, was der gegebene Zeitpunkt in den Augen der Welt bedeute und welch wichtigen Einfluss auf den Wohlstand, das Glück, die Bequemlichkeit, die Freiheit und sogar auf die ganze Existenz eines freien und großen Volkes ein Institut üben müsse wie das der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme- Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Lieferungs-Gesellschaft.

Sodann stand Mr. Bonney auf, um die erste Resolution zu beantragen, fuhr sich mit der Rechten durch die Haare, pflanzte die Linke zierlich in die Hüfte, vertraute seinen Hut der Sorgfalt des Herrn mit dem Doppelkinn an, der außerdem auch noch die Weinflaschen für die Redner bereit hielt, und erklärte, dass die anwesende Versammlung nur mit Besorgnis und Unruhe auf den gegenwärtigen Stand des Semmelhandels in der Hauptstadt und deren Nachbarschaft blicken könne, dass die Semmeljungen, wie sie gegenwärtig beschaffen seien, das Vertrauen des Publikums ganz und gar nicht verdienten und dass überhaupt das ganze Semmelsystem ebenso nachteilig für die Gesundheit und Sittlichkeit des Volkes wie verderblich für die höchsten Interessen einer Großstadt wären.

Die Rede des ehrenwerten Herrn entlockte den zuhörenden Damen reichlich Tränen und weckte bei allen Anwesenden die lebhaftesten Empfindungen. Er hatte, wie er sagte, die Wohnungen der Armen in den verschiedenen Distrikten Londons besucht und auch nicht die mindesten Spuren von Semmeln daselbst aufgefunden, weshalb er sich zur Annahme berechtigt glaube, dass so mancher Bedürftige jahraus, jahrein keine solchen zu kosten bekäme.

Er hätte ferner bemerkt, dass unter den Semmelverkäufern Hang zu Trunksucht und Ausschweifungen aller Art herrschte, was er der entsittlichenden Natur ihres Geschäftes bei dem gegenwärtigen Betrieb zuschreibe.

Dieselben Laster habe er unter der ärmeren Klasse des Volkes, die doch auch am Semmelkonsum teilnehmen sollte, entdeckt und er glaube den Grund dazu in der Verzweiflung zu finden, die diese Leute antreibe, ein schädliches Reizmittel in berauschenden Getränken zu suchen, da sie nicht in der Lage seien, sich ein so ungemein kräftigendes Nahrungsmittel zu kaufen wie die Semmel.

Er wolle es auf sich nehmen, vor einem Komitee des Unterhauses zu beweisen, dass eine geheime Verbindung bestehe, die den Preis der Semmel in die Höhe schraube und den Austrägern ein Monopol sichere, und er erkläre sich bereit, dies durch die eigenen Aussagen der Verkäufer vor den Schranken dieses Hauses zu beweisen. Er wolle auch dartun, dass diese Sorte Menschen sich durch geheime Worte und Zeichen miteinander verständige.

Die Gesellschaft beabsichtige nun, diesem betrübenden Stand der Dinge abzuhelfen, indem sie erstlich beantrage, dass aller und jeder Privatsemmelverkauf bei schwerer Strafe verboten werde, und zweitens, dass sie selbst das Publikum ausschließlich mit dieser Ware versehen wolle, und zwar so, dass auch die Armen in ihren eigenen Häusern mit Semmeln von vorzüglicher Güte zu herabgesetzten Preisen versorgt werden könnten.

Der patriotische Präsident dieser Gesellschaft, Sir Matthew Pupker, habe bereis eine Bill im Parlament eingebracht, zu deren Unterstützung das gegenwärtige Meeting einberufen worden sei. Und wer diese Bill unterstütze, helfe mit, unsterblichen Ruhm und Glanz über England zu bringen durch Förderung der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmeln- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Lieferungs-Gesellschaft mit einem Kapital von fünf Millionen zu fünfmalhunderttausend Aktien à zehn Pfund.

Mr. Ralph Nickleby unterstützte den Antrag, und nachdem ein anderer Herr den Zusatzantrag gestellt hatte, an jeder Stelle in dem Entwürfe an das Parlament, wo das Wort »Semmeln« vorkäme, auch das Wort »Kuchen« hinzuzufügen, ging die Resolution einstimmig durch. Nur ein einziger Mann im dichtesten Gedränge rief »Nein«, wurde aber sofort festgenommen und hinausgeführt.

Die zweite Resolution galt der Ausrottung aller Kuchen- und Semmelverkäufer, mochten sie nun Männer oder Weiber, Knaben oder Erwachsene sein, und wurde durch einen weinerlichen Herrn in einer Art Geistlichenhabit vorgebracht, der mit einem so ergreifenden Pathos sprach, dass er sogar den ersten Redner in Schatten stellte. Man hätte eine Stecknadel, ja sogar eine Feder fallen hören können, als er die Grausamkeit schilderte, mit der die Semmeljungen von ihren Herren behandelt würden – was, wie er hervorhob, an sich schon ein hinreichender Grund wäre, um die beantragte, nicht genug zu schätzende Gesellschaft ins Leben zu rufen. Die unglücklichen Jungen würden alle Nacht, selbst in der rauesten Jahreszeit, auf die nassen Straßen hinausgestoßen, um stundenlang ohne Obdach, Nahrung und warme Bekleidung durch Finsternis und Regen, Hagel und Schnee umherzuwandern, während man die Semmeln fürsorglich in heiße Tücher einschlage. (Ausrufe: Schändlich.)

Die Wirkung der Rede auf die Zuhörer war durchschlagend. Die Männer riefen Beifall, und die Damen weinten ihre Taschentücher nass und schwenkten sie dann wieder trocken. Die allgemeine Aufregung war außerordentlich, und Mr. Nickleby flüsterte seinem Freunde zu, die Sache stehe so günstig, dass sie jetzt schon fünfundzwanzig Prozent Agio so gut wie sicher in der Tasche hätten.

Der Antrag ging natürlich unter lautem Beifall durch, und man würde in der Begeisterung wahrscheinlich nicht nur die Arme, sondern sogar die Beine in die Höhe gestreckt haben, wenn das angegangen wäre.

Sodann stand der Herr auf, der die ganze Nacht über im Spielklub zugebracht hatte und daher etwas hergenommen aussah, und erklärte seinen Mitbürgern, welche Glanzrede er zugunsten der Petition zu halten gedächte, wenn sie im Unterhaus zur Sprache käme, und mit welch grausamem Hohn er das Parlament überschütten wolle, wenn es diesem beifallen sollte, den Antrag zu verwerfen. Er bedaure nur, dass der hochgeschätzte Vorredner in den Entwurf nicht eine Klausel aufgenommen habe, nach der es allen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft zur zwingenden Aufgabe gemacht sei, Semmeln und Kuchen zu kaufen, denn er sei kein Freund von halben Maßregeln und huldige dem Prinzip: Aut Caesar aut nihil.

Als die Petition endgültig verlesen war, ließ das irische Parlamentsmitglied, ein temperamentvoller junger Mann, eine Rede vom Stapel, wie sie eben nur ein irisches Parlamentsmitglied zu halten imstande ist. Sie war ganz Poesie und rauschte in einem solchen Glutstrom dahin, dass man sich schon erwärmt fühlte, wenn man den Sprecher nur ansah. Sie gipfelte darin, dass der Redner die Ausdehnung der Vereinigten, verbesserten, hauptstädtischen Warme-Semmel- und Kuchenbäckerei und pünktlichen Ablieferungs-Gesellschaft auch für sein grünes Vaterland fordern werde, auf dass das Geläute der Semmelglocke dessen reiche Täler durchtöne.

Den Schluss machte das schottische Parlamentsmitglied mit verschiedenen erfreulichen Hinweisen auf die voraussichtliche Rentabilität des Unternehmens, was die frohe Stimmung, die der dichterische Schwung des Irländers geweckt hatte, noch erhöhte.

Kurz, sämtliche Reden bewirkten gerade das, was sie erzielen sollten, und brachten den Zuhörern die felsenfeste Überzeugung bei, dass keine Spekulation so vielverheißend und risikolos wie die gegenwärtige sei.

So ging denn die Petition zugunsten der Bill einstimmig durch, und die Versammlung trennte sich unter Beifallsrufen.

Mr. Nickleby und die anderen Direktoren verfügten sich nach einem Speisehaus, wo sie ein Lunch einnahmen und es, da die Gesellschaft ja erst im Entstehen war, mit nur je drei Guineen pro Kopf für ihre Bemühungen in Anrechnung brachten.

3. Kapitel

Mr. Ralph Nickleby erhält traurige Nachrichten von seinem Bruder, weiß sich aber mit edler Standhaftigkeit zu fassen. Der junge Nikolas gefällt seinem Onkel ausnehmend, und dieser fasst den edelmütigen Entschluss, für dessen Zukunft zu sorgen

 

Mr. Ralph Nickleby trat nach dem Mahle in ungewöhnlich guter Laune den Heimweg an. Als er bei der St.-Pauls-Kirche anlangte, trat er in einen Torweg, um seine Uhr zu richten, und wie er so den Schlüssel in der Hand und die Augen auf den Zeiger der Kirchturmuhr gerichtet dastand, trat plötzlich Newman Noggs an seine Seite.

»Ah, Newman«, sagte Mr. Nickleby aufblickend. »Das Schreiben wegen der Hypothek angelangt, was?«

»Falsch«, brummte Noggs.

»Was? Und es war auch niemand deshalb im Bureau?«

Noggs schüttelte den Kopf.

»Aber was ist denn also gekommen?«

»Ich«, entgegnete Newman.

»Und was sonst noch?«

»Dies da«, erwiderte Noggs und zog einen versiegelten Brief aus der Tasche. »Poststempel Strand, schwarzes Siegel, schwarzer Rand, Frauenzimmerhand, C. N. in der Ecke.«

»Schwarzes Siegel?«, fragte Mr. Nickleby mit einem Blick auf den Brief. »Die Schrift kommt mir bekannt vor. Es sollte mich nicht wundernehmen, Newman, wenn mein Bruder tot wäre.«

»Glaub’s wohl«, versetzte Noggs ruhig.

»Wieso?«

»Na, weil Sie sich überhaupt über nichts wundern«, antwortete Newman.

Mr. Nickleby öffnete den Brief, las ihn mit steinerner Miene, steckte ihn dann in die Tasche und begann, wieder seine Uhr aufzuziehen.

»Es ist, wie ich erwartet habe, Newman«, sagte er dabei. »Er ist tot. Hm, kommt mir recht ungelegen. Ich hätt’s nicht gedacht.«

»Kinder hinterlassen?«, forschte Noggs.

»Zwei. Das ist’s doch eben«, brummte Mr. Nickleby und ging schnell weiter.

»Zwei«, wiederholte Noggs mit leiser Stimme.

»Und auch eine Witwe. Alle drei sind jetzt in London. Hol sie der Henker. Alle drei hier, Newman!«

Noggs blieb ein wenig hinter seinem Gebieter zurück und schnitt merkwürdige Grimassen. Ob infolge von Krämpfen, eines Schmerzgefühls oder eines innerlichen Lachens, konnte niemand als er selbst sagen. Der Ausdruck des menschlichen Gesichtes ist sonst ein Spiegel der Seele, aber Newman Noggs’ Züge blieben in allen Gemütsstimmungen ein unlösliches Rätsel.

»Gehen Sie nach Hause«, sagte Mr. Nickleby nach einer Weile und warf dabei seinem Schreiber einen Blick zu wie einem Hund.

Die Worte waren kaum ausgesprochen, als Newman bereits über die Straße glitt und sich im Augenblick in dem Gedränge verlor.

»Hübsch ausgedacht«, brummte Mr. Nickleby im Weitergehen vor sich hin, »hübsch ausgedacht. Mein Bruder hat nie etwas für mich getan, und ich habe es auch nicht erwartet; aber kaum ist ihm der Atem ausgegangen, hält man sich an mich. Ich soll jetzt für ein stämmiges Weib, einen erwachsenen Jungen und ein dito Mädchen sorgen. Was gehen sie mich an? Ich kenne sie doch gar nicht.«

Unter solchen und ähnlichen Betrachtungen schlug Mr. Nickleby den Weg nach dem Strand ein, zog den Brief zu Rat, um hinsichtlich der Adresse nicht fehl zu gehen, und machte schließlich vor der Türe eines Hauses ungefähr in der Mitte der sehr belebten Straße Halt.

Es musste hier ein Miniaturmaler wohnen, denn neben dem Tor war ein großer vergoldeter Rahmen festgeschraubt, auf dem sich auf schwarzem Samtgrunde zwei Porträts in Marineuniform nebst den dazugehörigen Teleskopen – das eines jungen Herrn in Scharlach, der einen Säbel schwang, und das eines Gelehrten mit hoher Stirne, einer Feder, einem Tintenfass, sechs Büchern und einem Vorhang – befanden.

Daneben sah man noch das ungemein ansprechende Bild einer jungen Dame, die in einem riesigen Wuste von Manuskripten las, und die liebenswürdige ganze Figur eines großköpfigen, kleinen Knaben mit Beinen, die perspektivisch zu der Größe von Salzlöffelchen verkürzt waren.

Außer diesen Kunstwerken prangten noch viele Köpfe von alten Damen und Herren auf blauem und braunem Hintergründe, die sich gegenseitig zulächelten – und eine zierlich geschriebene Preisliste mit gepresstem Rand.

Mr. Nickleby warf einen verächtlichen Blick auf diese Armseligkeiten und klopfte mit Doppelschlägen an die Türe, bis ihm ein Dienstmädchen mit ungemein schmutzigem Gesicht öffnete.

»Ist Madam Nickleby zu Hause?«, fragte Mr. Ralph ungeduldig.

»Sie heißt net Nickleby; Sie meinen vielleicht La Creevy?«, antwortete das Mädchen und wollte sich eben näher auslassen, als eine weibliche Stimme von einer fast senkrechten Treppe herunter die Frage vernehmen ließ, zu wem der Herr wolle.

»Zu Mrs. Nickleby«, erwiderte Ralph.

»Das ist doch im zweiten Stock, Hanna«, fuhr dieselbe Stimme fort. »Was du doch für ein dummes Ding bist. Ist die Herrschaft im zweiten Stock zu Hause?«

»Es is eben jemand hinausgegangen, aber ich glaube, es war von der Dachstube, aus der man den Kehricht heruntergetragen hat«, versetzte das Mädchen.

»So sieh nach«, erwiderte das unsichtbare Frauenzimmer. »Zeig dem Herrn, wo die Klingel ist, und sage ihm, er dürfe nicht mit einem Doppelschlag klopfen, wenn sein Besuch im zweiten Stock gilt. Ich kann überhaupt das Klopfen nicht gestatten, wenn nicht die Klingel gebrochen ist, und dann muss es durch zwei einfache Schläge geschehen.«

»Schon gut«, sagte Mr. Ralph und trat ohne Weiteres in das Haus. »Pardon, sind Sie Madame La – wie ist Ihr Name?«

»Creevy – La Creevy«, versetzte die Stimme, und zugleich tauchte ein gelber Kopfputz über dem Geländer auf.

»Ich möchte, wenn Sie erlauben, einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Madam.«

Die Stimme ersuchte Mr. Nickleby heraufzukommen, doch dies war bereits geschehen, ehe sie noch ausgesprochen hatte, und als Mr. Ralph im ersten Stock anlangte, wurde er von der Besitzerin des gelben Kopfputzes empfangen, deren Kleid und Gesicht so ziemlich von derselben Farbe waren.

Miss La Creevy war eine geziert aussehende jugendliche Dame von fünfzig Jahren, und ihr Zimmer bildete ein passendes Seitenstück zu dem vergoldeten Rahmen an der Türe. Nur dass hier die Kunstproduktion üppiger wucherte und der Raum selbst um ein Beträchtliches schmutziger war.

»Ehüm«, begann Miss La Creevy, zimperlich hinter ihren seidenen Halbhandschuhen hüstelnd, »Sie wünschen wohl ein Miniaturporträt? Ihr Gesicht ist sehr markant, Sir. Sind Sie früher schon gesessen?«

»Sie sind, wie ich sehe, hinsichtlich meines Hierseins im Irrtum, Madam«, versetzte Mr. Nickleby in seiner gewohnten plumpen Weise. »Ich habe kein Geld übrig, um es für Miniaturbilder wegzuwerfen, Madame, und Gott sei Dank auch niemand, dem ich eines schenken könnte, im Fall ich welches besäße. Da ich Sie gerade auf der Treppe sah, so wollte ich Ihnen nur einige Fragen über die hier wohnenden Mieter vorlegen.«

Miss La Creevy hüstelte abermals, diesmal um ihre Enttäuschung zu verbergen, und sagte:

»Ach so.«

»Ich vermute aus den an Ihre Magd gerichteten Worten«, fuhr Mr. Nickleby fort, »dass der zweite Stock Ihnen gehört, Madame?«

Miss La Creevy erwiderte, dass dem allerdings so sei, aber da sie die Zimmer des zweiten Stockes zurzeit nicht brauche, so pflege sie sie zu vermieten. Und gegenwärtig seien sie an eine Dame vom Lande mit ihren beiden Kindern vergeben.

»An eine Witwe, Madam?«

»Ja, an eine Witwe.«

»Eine arme Witwe, Madam?«, forschte Ralph mit starker Betonung des kleinen Beiworts, das so viel in sich begreift.

»Hm, allerdings ich fürchte, sie ist arm«, versetzte Miss La Creevy.

»Ich kenne zufällig die näheren Umstände, Madam«, fuhr Ralph fort. »Mit einem Wort, ich bin ein Verwandter und möchte Ihnen raten, die Familie nicht länger zu behalten.«

»Wäre nicht zu hoffen«, entgegnete Miss La Creevy mit einem weiteren Husten, »dass, im Falle die Dame nicht imstande sein sollte, ihre Zahlungsverbindlichkeiten einzuhalten, ihre Familie …«

»Nein, nein, Madam«, unterbrach Ralph hastig, »daran ist nicht im Entferntesten zu denken.«

»Dann allerdings«, erwiderte Miss La Creevy, »erhält die Sache freilich ein ganz anderes Gesicht.«

»Richten Sie sich jedenfalls darnach, Madam«, sagte Ralph, »und treffen Sie demgemäß Ihre Vorkehrungen. Ich bin der einzige Verwandte, den die Familie hat, und halte es für meine Pflicht, Sie in Kenntnis zu setzen, dass ich ihre verschwenderische Lebensweise nicht unterstützen kann. Auf wie lange hat sie sich bei Ihnen eingemietet?«

»Es ist nur wochenweise gemietet worden, und Mrs. Nickleby hat für die ersten acht Tage vorausbezahlt.«

»Dann werden Sie gut tun, ihr sofort zu kündigen. Das Beste ist, wenn sie wieder aufs Land zurückgeht. Hier ist sie nur jedermann im Wege.«

»Allerdings«, erwiderte Miss La Creevy, sich die Hände reibend, »wäre es sehr unpassend für eine Dame wie Mrs. Nickleby, wenn sie Zimmer mieten würde, ohne die Mittel zu besitzen, sie auch zu bezahlen.«

»Natürlich, natürlich, Madam«, bekräftigte Ralph.

»Und da ich vorderhand, hm, nur eine einzeln lebende schutzlose Dame bin«, fuhr Miss La Creevy fort, »so könnte ich einen Verlust an Mietzins nicht verschmerzen.«

»Selbstverständlich nicht, Madam«, stimmte Ralph bei.

»Immerhin«, fuhr Miss La Creevy augenscheinlich zwischen Gutmütigkeit und ihrem Vorteile schwankend fort, »kann ich durchaus nichts gegen die Dame sagen. Wenn sie auch ungemein niedergedrückt zu sein scheint, so ist sie doch sehr gefällig und freundlich, und auch die jungen Leute sind so artig und wohlerzogen, dass man nicht leicht ihresgleichen heutzutage findet.«

»Ganz gut, Madam«, knurrte Ralph und wandte sich zum Gehen, da ihm dies der Armut gespendete Lob nicht behagte, »ich habe meine Schuldigkeit getan und vielleicht noch mehr, als ich hätte tun sollen. Ich bin es natürlich gewohnt, dass mir die Menschen dafür keinen Dank wissen.«

»Ich für meine Person bin Ihnen jedenfalls sehr verbunden, Sir«, versicherte Miss La Creevy mit einem zierlichen Knicks. »Übrigens, würden Sie mir nicht vielleicht die Gunst erweisen, einige Proben meiner Porträtmalerei anzusehen?«

»Sehr gütig, Madam«, lehnte Mr. Nickleby ab und machte sich in großer Eile davon, »aber da ich noch einen Besuch eine Treppe höher abzustatten habe und meine Zeit knapp bemessen ist, so bin ich in der Tat außerstande …«

»Ich werde mich jederzeit glücklich schätzen, wenn Sie etwa im Vorübergehen wieder einmal bei mir vorsprechen wollen«, fing Miss La Creevy wieder an. »Vielleicht haben Sie die Gewogenheit, hier meine Karte anzunehmen, Sir. Ich danke Ihnen. Guten Morgen …«

»Guten Morgen, Madam«, brach Ralph kurz ab und schloss rasch die Türe hinter sich, um jede Fortsetzung des Gespräches zu verhindern. »Also jetzt zu meiner Schwägerin. Na.«

Dann klomm er eine zweite steile Treppenflucht empor, die mit großem architektonischen Scharfsinn nur aus Eckstufen zusammengesetzt war, und hielt eben an dem Geländer inne, um ein wenig zu verschnaufen, als er von Miss La Creevys Dienstmagd überholt wurde, die seit ihrer letzten Begegnung mit ihm augenscheinlich nicht sehr gelungene Versuche gemacht hatte, ihr schmutziges Gesicht mit einer noch viel schmutzigeren Schürze zu reinigen, und von ihrer höflichen Gebieterin abgeschickt worden war, den Herrn anzumelden.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte das Mädchen.

»Ralph Nickleby.«

»Mrs. Nickleby, Mrs. Nickleby«, rief das Mädchen und riss die Türe auf. »Mr. Nickleby ist hier.«

Eine tief in Trauer gekleidete Dame erhob sich, als Ralph ins Zimmer trat, war jedoch augenscheinlich nicht imstande, ihm entgegen zu gehen, denn sie stützte sich auf den Arm eines zarten, aber ungemein schönen Mädchens von ungefähr siebzehn Jahren, das neben ihr gesessen hatte. Ein junger Mann, anscheinend ein oder zwei Jahre älter, sprang sofort auf und begrüßte Mr. Nickleby als seinen Onkel.

»Hm«, brummte Ralph mit einem ungnädigen Stirnrunzeln, »du bist vermutlich Nikolas?«

»Das ist mein Name, Sir«, erwiderte der junge Mann.

»Nimm mir den Hut ab«, versetzte Ralph herrisch. »Nun, wie geht’s Ihnen, Madam? Sie müssen Ihren Kummer niederkämpfen, Madam; ich mache es auch nie anders.«

»Der Verlust traf mich so plötzlich und unerwartet«, seufzte Mrs. Nickleby und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen.

»Gar nichts Unerwartetes«, murrte Ralph und knöpfte kaltblütig seinen Rock auf. »Familienväter sterben alle Tage und, Madam, Mütter nicht minder.«

»Und auch Brüder, Sir«, fügte Nikolas unwillig hinzu.

»Jawohl, Musjö, und auch naseweise Zierbengel und Muttersöhnchen«, bemerkte der Onkel und nahm einen Stuhl. »Sie sprechen sich in Ihrem Brief nicht darüber aus, woran mein Bruder litt, Madam.«

»Die Ärzte konnten keine besondere Todesursache finden«, sagte Mrs. Nickleby, in Tränen ausbrechend. »Ach, wir haben nur allzu viel Grund zu glauben, dass er an gebrochenem Herzen starb.«

»Pah«, sagte Ralph, »so etwas gibt es doch gar nicht. Ich kann mir vorstellen, dass sich ein Mensch den Hals bricht oder die Nase oder den Arm, den Fuß oder den Schädel, aber ein gebrochenes Herz? Dummheiten! Wenn einer seine Schulden nicht bezahlen kann, so stirbt er an gebrochenem Herzen, und seine Witwe gilt als Märtyrerin.«

»Ich will gern glauben, dass es Leute gibt, denen das Herz nicht brechen kann, weil sie keins haben«, bemerkte Nikolas ruhig.

»Wie alt, um Gotteswillen, ist denn dieser Bursche?«, fragte Ralph wütend, drehte sich auf seinem Stuhl um und musterte mit unaussprechlicher Geringschätzung seinen Neffen von Kopf bis zu Fuß.

»Nikolas geht ins neunzehnte.«

»Was, neunzehn?«, fuhr Ralph auf. »Und was gedenkst du anzufangen, um dir deinen Lebensunterhalt zu erwerben, Musjö?«

»Meiner Mutter will ich unter keinen Umständen zur Last fallen«, rief Nikolas lebhaft.

»Würdest auch wenig genug zu beißen haben, wenn du das vorhättest«, brummte Mr. Nickleby verächtlich.

»Wie wenig es auch sein mag«, erwiderte Nikolas zornig, »in keinem Falle werden Sie es wohl vermehren.«

»Nikolas, Liebling, vergiss dich nicht«, verwies Mrs. Nickleby.

»Bitte, bitte, lieber Nikolas«, flehte die Schwester.

»Halt deinen Mund, Musjö«, schimpfte Ralph. »Das ist ja ein recht netter Anfang, Madam. Ein netter Anfang.«

Mrs. Nickleby entgegnete weiter nichts und bat nur Nikolas durch Gebärden, ruhig zu bleiben.

Onkel und Neffe maßen sich gegenseitig einige Sekunden, ohne ein Wort zu sprechen. Die Züge des Alten waren streng, hart und abstoßend, die des jungen Mannes offen, schön und freimütig. In Ralphs stechenden Augen lag Geiz und Hinterlist, während aus Nikolas’ leuchtendem Blick, Verstand und Mut sprach. Die Gestalt des jungen Mannes war eher schmächtig, aber männlich und wohl gebaut, und abgesehen von der Frische der Jugend, lag in seiner ganzen Haltung etwas, was den Alten in Schranken hielt.

Wie schreiend auch ein derartiger Gegensatz für den Zuschauer sein mag, so wird er doch nur in seiner ganzen Schärfe und Bitterkeit von dem empfunden, der dabei die Rolle des Tieferstehenden übernehmen muss, und Ralph Nickleby hasste Nikolas von dieser Stunde an.

Der gegenseitigen Besichtigung wurde endlich durch Ralph ein Ende gemacht, der mit der Miene höchster Geringschätzung seine Augen abwandte und Nikolas einen Knaben nannte. Dieser Ausdruck wird von älteren Personen mit Vorliebe gegenüber jüngeren im Tone des Tadels gebraucht, wahrscheinlich in der Absicht, den Leuten glauben zu machen, dass sie um keinen Preis wieder jung werden möchten, selbst wenn sie es könnten.

»Nun, Madam«, begann Ralph ungeduldig, »die Gläubiger haben sich das ihrige geholt, wie Sie mir schrieben, und es ist nichts für Sie übrig geblieben?«

»Nichts«, antwortete Mrs. Nickleby.

»Und Sie haben das bisschen Geld, das sie noch besaßen, auf die weite Reise nach London verwendet, um zu sehen, was ich für Sie tun werde?«

»Ich hoffte«, stotterte Mrs. Nickleby, »dass Sie imstande sein würden, den Kindern Ihres Bruders in ihrem Fortkommen behilflich zu sein. Es war der Wunsch des Sterbenden, dass ich mich an Sie wenden sollte.«

»Ich weiß nicht, wie es kommt«, brummte Ralph und ging im Zimmer auf und ab, »aber immer, wenn jemand stirbt, ohne selbst etwas zu hinterlassen, so scheint er zu glauben, er hätte ein Recht, über das Vermögen anderer Leute zu verfügen. – Was hat Ihre Tochter gelernt, Madam?«

»Kate ist gut erzogen«, schluchzte Mrs. Nickleby. »Sag deinem Onkel, mein Kind, wie weit du im Französischen und den anderen Lehrgegenständen gekommen bist.«

Das arme Mädchen schickte sich an, einige Worte hervorzustottern, aber ihr Onkel fiel ihr unhöflich in die Rede.

»Wir müssen versuchen, dich als Hilfslehrerin in einer Klosterschule unterzubringen. Du bist doch hoffentlich nicht zu vornehm dafür?«

»Nein, nein, gewiss nicht, Onkel«, schluchzte das Mädchen, »ich will ja alles tun, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Nun, nun«, lenkte Ralph ein, vielleicht durch die Schönheit, vielleicht auch durch den Jammer seiner Nichte ein wenig besänftigt, »du musst es eben versuchen, und wenn es dir zu hart ankommt, so geht’s vielleicht mit der Kleidernäherei oder mit dem Stickrahmen. – Und hast du je etwas gearbeitet, Musjö?«, fuhr er seinen Neffen an.

»Nein«, erwiderte Nikolas unbefangen.

»Das hätte ich mir denken können. Das ist also die Art, wie mein Bruder seine Kinder erzogen hat, Madam?«

»Mein armer Mann hat Nikolas so weit herangebildet, als er es selbst vermochte«, versetzte die Witwe, »und er dachte eben …«

»In Zukunft etwas aus ihm zu machen«, fiel Ralph ein. »Die alte Geschichte. Immer denken und nie handeln. Wäre mein Bruder ein tätiger und kluger Mann gewesen, so würde er Ihnen ein schönes Vermögen hinterlassen haben, Madam, und hätte seinen Sohn in die Welt hinausgeschickt, wie es mein Vater mit mir machte, als ich noch anderthalb Jahre jünger als dieser Bursche war. Dann würde er jetzt in der Lage sein, Sie zu unterstützen, statt Ihnen zur Last zu fallen und Ihre traurige Lage noch zu verschlimmern. Mein Bruder war eben ein unüberlegter, gedankenloser Mensch, Madam, und gewiss kann das niemand mehr fühlen als Sie selbst.«

Diese Bemerkung erweckte in der sonst guten, aber äußerst schwachen Frau den Gedanken, dass sie vielleicht mit ihren tausend Pfund doch am Ende eine bessere Partie hätte machen können. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf und begann, im Übermaß ihres Schmerzes, ihr hartes Los zu beklagen. Unter vielem Schluchzen erzählte sie, dass sie von ihrem armen Gatten in wahrhaft sklavischer Abhängigkeit erhalten worden sei und ihm oft gesagt habe, wie viele bessere Partien sie hätte machen können. Auch habe sie die ganze Zeit über nie gewusst, wo das Geld hinkäme, und es wäre wohl alles weit besser gegangen, wenn er mehr Vertrauen in sie gesetzt hätte, und was dergleichen bittere Erinnerungen mehr sind, die man gewöhnlich bei verheirateten Frauen während ihres Ehestandes oder nachher zu hören bekommt.

Sie schloss mit der Klage, dass der teuere Verblichene sich von ihr nie habe raten lassen, ein einziges Mal ausgenommen – was auch in der Tat vollkommen der Wahrheit entsprach, denn das war damals gewesen, als der Grundstein zu seinem finanziellen Zusammenbruch gelegt wurde.

Mr. Nickleby hörte all das mit einem halben Lächeln an, und als die Witwe mit ihren Wehklagen endlich fertig war, nahm er das unterbrochene Thema genau da wieder auf, wo er durch den Herzenserguss seiner Schwägerin unterbrochen worden war.

»Hast du Lust zu arbeiten, Musjö?«, wendete er sich an seinen Neffen.

»Das versteht sich von selbst«, sagte Nikolas stolz.

»Dann sieh her. Diese Notiz fiel mir heute Morgen ins Auge, und du kannst Gott dafür danken.«

Nach dieser Einleitung zog Mr. Ralph ein Zeitungsblatt aus der Tasche, suchte eine Weile unter den Anzeigen herum und las dann laut vor:

»Erziehungsanstalt. – In Mr. Wackford Squeers’ Erziehungsheim, Dotheboys Hall, bei dem anmutigen Dorfe Dotheboys gelegen, in der Nähe von Greta-Bridge in Yorkshire, werden Knaben beköstigt, gekleidet, mit Büchern, Taschengeld und allem Erforderlichen versehen und erhalten Unterricht in allen Sprachen – lebenden wie toten – in Mathematik, Orthografie, Geometrie, Astronomie, Trigonometrie, Geografie, Algebra, ferner im Fechten (wenn es verlangt wird), Schreiben, Rechnen, in der Fortifikationslehre sowie jedem Zweige der klassischen Literatur. Pensionsgeld zwanzig Guineen jährlich, keine Extraanforderungen, keine Vakanzen und unvergleichlich gute Kost. Mr. Squeers hält sich gegenwärtig in London auf und ist täglich von ein bis vier Uhr im Mohrenkopf in Snow Hill zu sprechen. – N.B. Es wird ein fähiger Hilfslehrer gesucht. Jährliches Gehalt fünf Pfund. Ein Magister der freien Künste erhält den Vorzug.

So«, schloss Mr. Ralph Nickleby und steckte die Zeitung wieder ein. »Erhältst du diese Stelle, so ist dein Glück gemacht.«

»Aber er ist nicht Magister der freien Künste«, wendete Mrs. Nickleby ein.

»Das wird sich, glaube ich, machen lassen«, entgegnete Ralph.

»Aber das Gehalt ist so gering und die Entfernung gar so groß, Onkel«, jammerte Kate.

»Still, mein Kind«, verwies die Mutter, »dein Onkel muss das am besten verstehen.«

»Ich sage es noch einmal«, bemerkte Ralph mit Schärfe, »bekommt er die Stelle, so ist sein Glück gemacht. Behagt sie ihm nicht, so mag er selbst für eine andere sorgen. Wenn er aber ohne Freunde, ohne Geld, ohne Empfehlung und ohne jede Geschäftskenntnis eine ehrliche Beschäftigung in London finden kann, mit der er sich auch nur die Schuhsohlen verdient, so will ich ihm tausend Pfund geben.

Das heißt«, unterbrach er sich, »ich würde sie ihm geben, wenn ich sie hätte.«

»Armer, armer Bruder«, seufzte Kate. »Ach Onkel, müssen wir uns denn schon so bald trennen?«

»Belästige deinen Onkel nicht mit Fragen, wo er doch nur für unser Wohl bedacht ist, mein liebes Kind«, tadelte Mrs. Nickleby. »Lieber Nikolas, weißt du denn gar nichts darauf zu sagen?«

»Doch, doch, Mutter«, raffte sich Nikolas auf, der bisher schweigend und in Gedanken versunken dagesessen hatte. »Wenn ich so glücklich bin, die Stelle zu erhalten, für die ich mich so wenig geeignet fühle, was wird aber aus denen werden, die ich hier zurücklasse?«

»In diesem Fall, aber auch nur in diesem Fall, will ich für deine Mutter und deine Schwester sorgen«, versetzte Ralph, »und ihnen eine Position schaffen, in der sie unabhängig leben können. Es wird dann meine Sorge sein, dass sie keine Woche nach deiner Abreise in ihrer gegenwärtigen Lage bleiben.«

»Dann«, rief Nikolas, sprang freudig auf und ergriff die Hand seines Onkels, »dann bin ich bereit, alles zu tun, was Sie von mir wünschen. Wir wollen unverzüglich unser Glück bei Mr. Squeers versuchen. Höchstens kann er mir eine abschlägige Antwort geben.«

»Das wird er nicht«, brummte Ralph Nickleby. »Er wird dich mit Freuden annehmen, wenn ich dich ihm empfehle. Suche ihm nach Kräften nützlich zu sein, und du wirst dich binnen Kurzem zum Teilhaber an seinem Institut emporschwingen. Du mein Himmel, wenn er dann gar mit Tod abginge, dein Glück wäre auf immer gemacht.«

»Ja, ja, ich sehe schon alles vor mir«, rief der arme Nikolas, ganz hingerissen von jugendlicher Begeisterung. »Oder vielleicht gewinnt mich irgendein junger Aristokrat lieb, der in der Anstalt erzogen wird, bittet mich von seinem Vater, wenn er die Schule verlässt und auf Reisen geht, als Hofmeister aus und verschafft mir nach unserer Zurückkunft vom Festland irgendeine hübsche Anstellung. Was halten Sie davon, Onkel?«

»Hm, höchst wahrscheinlich«, höhnte Ralph.

»Und wer weiß, wenn er kommt, um mich zu Hause zu besuchen, was er natürlich tun würde, so verliebt er sich in Kate, die mir die Wirtschaft führt, und, und – heiratet sie. Wer weiß, nicht wahr, Onkel?«

»Ja, wer weiß«, brummte Ralph.

»Und wie glücklich würden wir sein!«, rief Nikolas begeistert. »Was ist der Schmerz der Trennung gegen die Freude des Wiedersehens. Ich werde stolz darauf sein, Kate eine schöne Frau nennen zu hören, und wie glücklich wird dann erst die Mutter sein, wenn wir wieder alle beisammen sind und diese traurigen Zeiten vergessen sein werden, und dann …«

Die Farben dieses Zukunftsbildes waren zu strahlend, um nicht zu blenden, und Nikolas, der ganz überwältigt war, lächelte leise und brach dann in Tränen aus.

Die einfache Familie, die in ihrer Zurückgezogenheit nicht von dem kennengelernt hatte, was man konventionell »Welt« nennt und was eigentlich so viel bedeutet wie Schurkerei, ließ ihren Tränen bei dem Gedanken an die Trennung freien Lauf.

Als der erste Gefühlsausbruch vorüber war, fuhren sie mit der Schwungkraft noch nie enttäuschter Hoffnung fort, sich die Zukunft aufs Glänzendste auszumalen, bis Mr. Ralph Nickleby einwendete, dass leicht ein glücklicher Bewerber Nikolas des Glückes berauben könne, das die Zeitung in Aussicht stellte, was so viel hieße, wie alle Luftschlösser mit einem Schlage zerstören, wenn man länger warte.

Dies steckte der Unterhaltung ein Ziel, und nachdem Nikolas die Adresse Mr. Squeers’ sorgfältig notiert hatte, schickte er sich mit seinem Onkel an, den Herrn aufzusuchen. Er hatte jetzt die feste Überzeugung, Ralph sehr unrecht getan zu haben, als er bei der ersten Begegnung einen solchen Widerwillen gegen ihn gefasst hatte, und Mrs. Nickleby gab sich nicht wenig Mühe, ihre Tochter zu belehren, welch wohlwollender menschenfreundlicher Herr der Onkel wäre.

Den Appell ihres Schwagers an ihre Einsicht, und das darin fein eingewickelte Kompliment für ihre hohen Verdienste, hatte nicht wenig zur Bildung dieser Ansicht beigetragen, und wenn auch die gute Frau ihren Mann zärtlich geliebt hatte und in ihre Kinder sozusagen vernarrt war, so hatte doch Ralph Nickleby, mit den Schwächen des menschlichen Herzens aufs Innigste vertraut, wenn ihm auch die schöneren Seiten desselben fremd geblieben, eine jener kleinen misstönenden Saiten mit so günstigem Erfolge berührt, dass sie sich allen Ernstes für das beklagenswerte, duldende Opfer der Unklugheit ihres verblichenen Gatten zu betrachten begann.

4. Kapitel

Nikolas und sein Onkel machen, um das Glück heim Schopf zu fassen, hei Mr. Wackford Squeers ihre Aufwartung

 

Snow Hill! Was für eine Art von Ort mag sich wohl der ruhige Städter unter Snow Hill denken, wenn er dieses Wort mit der vollen Deutlichkeit goldener Buchstaben auf den Landkutschen, die aus dem Norden kommen, liest? Man pflegt sich im Allgemeinen stets einen unbestimmten Begriff von einem Orte zu machen, dessen Namen man oft sieht oder hört; und welche Unzahl von falschen Vorstellungen mögen sich wohl schon an dieses Snow Hill gekettet haben? Es ist ein so vielsagender Name. Snow Hill! Und Snow Hill noch dazu in Verbindung mit einem »Mohrenkopf«!

Und wie verhält sich in Wirklichkeit die Sache? Der Weg führt uns in den Mittelpunkt von London, so recht in das Herz seines geschäftigsten Treibens, in den Wirbel des Lärms und des Verkehrs. Dort, gleichsam um die gewaltigen Ströme des Lebens zu hemmen, die von allen Seiten ohne Unterlass herbeifließen und sich unter seinen Mauern begegnen, steht Newgate.

In der gedrängt vollen Straße, auf die dieses Gebäude düster zürnend herunterblickt, wenige Fuß von den schmutzigen einsinkenden Häusern auf derselben Stelle, wo die Garköche, Fischhändler und Obstverkäufer ihr Gewerbe treiben, sind einst Hunderte von menschlichen Wesen, oft sechs bis acht kräftige Männer auf einmal, unter einem Gebrüll von Stimmen, gegen das sogar der Tumult einer großen Stadt als nichts erscheint, schnell und gewaltsam unter dem fürchterlichen Zudrang von Menschenmassen aus der Welt geschafft worden. Neugierige Augen blickten dann aus allen Fenstern, von allen Dachgiebeln, Mauern und Pfeilern, und wenn dann der zum Beil verurteilte Elende sich mit dem alles umfassenden Blick der Todesangst unter der Masse von weißen, aufwärts gerichteten Gesichtern umsah, so erblickte er auch nicht eines, das den Ausdruck von Mitleid oder Teilnahme getragen hätte.

In der Nähe des Gefängnisses und daher auch in der Nähe von Smithfield, dem Schuldturme, und dem Lärm der City, gerade an einer Stelle von Snow Hill, wo die nach Osten gehenden Omnibuspferde allen Ernstes daran denken, absichtlich zu fallen, und die westwärts ziehenden Fiakergäule zufällig stürzen, befindet sich der Wagenschuppen des Wirtshauses zum Mohrenkopf, dessen Portal durch die Büsten von zwei Mohren behütet wird.

Es war ehedem der Stolz und Ruhm der geistvollen Londoner Jugend, diese beiden Wächter herunterzustoßen, aber schon seit einiger Zeit befinden sie sich in ungestörter Ruhe. Vielleicht weil diese Art von Scherz sich nunmehr auf den St. James Sprengel beschränkt, wo man sich mit leichter tragbaren Türklopfern zu schaffen macht und Klingeldrähte für geeignetes Spielzeug hält.

Mag nun dies der Grund sein oder nicht, genug, sie sind da, zürnend von beiden Seiten des Torwegs herabstierend, und das Wirtshaus selbst, das mit einem weiteren Mohrenkopf geziert ist, blickt finster aus dem Hintergründe des Hofes hervor, während sich über der Türe des hinteren Schuppens, in dem die roten Postkutschen stehen, ein kleiner Mohrenkopf befindet, der dem vor dem Hauptportal stehenden sprechend ähnlich sieht, wie denn auch das ganze Äußere des Gebäudes mit seiner Säulenordnung dem sarazenischen Geschmack angepasst zu sein scheint.

Geradeaus nach vorn zu ging ein hohes Fenster, über dem das Wort »Kaffeezimmer« gemalt war. Wer da zu rechter Zeit kam, konnte durch dieses Fenster Mr. Wackford Squeers mit den Händen in den Rocktaschen auf und abgehen sehen.

Mr. Squeers’ Äußeres war nicht besonders ansprechend. Er besaß nur ein Auge, während man doch im Allgemeinen das Vorurteil hegt, der Mensch müsse zwei haben. Aber dieses eine kam ihm ohne Zweifel sehr zustatten, wenn es ihm auch nicht sonderlich zur Zierde gereichte, denn es war von grünlich grauer Farbe und glich so ziemlich dem Ventilator einer Haustüre.

Die blinde Seite seines Gesichtes war in unzählige Falten und Runzeln gelegt, und das gab dem Mann, besonders wenn er lächelte, einen umso hässlicheren Ausdruck, als seine Physiognomie sowieso eine nur allzu große Ähnlichkeit mit der eines Gauners hatte. Sein Haar war glänzend und glatt gestrichen, ausgenommen an der niedern sich vordrängenden Stirne, wo es steif in die Höhe gebürstet war. Es war ein Bild, das mit der rauen Stimme und dem unbeholfenen Benehmen Mr. Squeers’ trefflich zusammenstimmte.

Etwa zwei- oder dreiundfünfzig alt, war der Mann nur wenig unter Mittelgröße. Er trug ein weißes Halstuch mit langen Zipfeln sowie einen schwarzen Schulmeisteranzug, doch waren die Ärmel seines Leibrockes viel zu lang und seine Hosen viel zu kurz, sodass es fast aussah, als gehörten die Kleider gar nicht ihm.

Mr. Squeers stand also in einem Verschlage bei einem der Kaffeezimmer-Kamine. Auf einer Eckbank stand ein mit einem vermürbten Strick zusammengebundener Koffer, und auf diesem saß ein winziger Junge. Seine Schnürstiefel und Corduroy-Hosenbeine baumelten in der Luft, und die Schultern bis zu den Ohren emporgezogen und die Hände auf den Knien blickte er von Zeit zu Zeit in augenscheinlicher Furcht und Besorgnis nach dem Schulmeister hin.

»Halb drei«, brummte Mr. Squeers, wandte sich vom Fenster weg und schaute verdrießlich nach der Uhr des Kaffeezimmers. »Es wird heute niemand mehr kommen.«

Durch diese Aussicht sehr misslaunig gestimmt, blickte er sodann nach dem kleinen Jungen, um zu sehen, ob dieser nicht etwas täte, wofür man ihn züchtigen könne. Da aber der Junge zufällig gar nichts tat, so gab er ihm nur eine Ohrfeige und sagte ihm, er solle es nicht wieder tun.

»Als ich das letzte Mal hier war«, brummte Mr. Squeers, »konnte ich zehn Jungen mitnehmen. Zehnmal zwanzig macht zweihundert Pfund. Morgen Früh um acht kehre ich wieder heim und habe nur drei. Dreimal Null ist Null, dreimal zwei ist sechs, sechzig Pfund. Was ist denn aus diesen Jungen geworden? Was ist denn den Eltern in die Köpfe gestiegen? Was soll das alles heißen?« – Hier nieste der kleine Junge auf dem Koffer heftig.

»Was war das – was hast du gemacht, Schlingel?«, fuhr der Schulmeister auf.

»Nichts, Sir«, antwortete das Kind.

»Wieso nichts?«

»Ich habe nur geniest, Sir«, versetzte der Junge und zitterte dabei so heftig, dass der Koffer unter ihm klapperte.

»So, du hast geniest. Warum sagtest du dann, du hättest nichts getan, Bengel?«

In Ermangelung einer besseren Antwort bohrte der Kleine seine Fingerknöchel in die Augen und begann zu weinen, wofür ihn Mr. Squeers mit einer Ohrfeige von seinem Koffer herunter und mit einer zweiten wieder hinaufschlug.

»Warte nur, bis ich dich in Yorkshire habe, dann sollst du den Rest schon bekommen, Bursche«, knirschte er dabei. »Willst du augenblicklich still sein, Bengel!«

»J-j-a-a«, schluchzte das Kind und rieb sich das Gesicht mit einem baumwollenen Taschentuch, das mit der üblichen Bettlerpetition bedruckt war.

»Augenblicklich!«, donnerte Squeers. »Hörst du?«

Da diese Ermahnung mit einer wilden, drohenden Gebärde begleitet war, tat der kleine Junge sein Möglichstes, um die Tränen zurückzuhalten, und machte seinen Gefühlen nur noch durch gelegentliches Schluchzen Luft.

»Mr. Squeers«, rief jetzt der Kellner zur Tür herein, »in der Bar ist ein Herr, der nach Ihnen fragt.«

»Führen Sie ihn herein, Richard«, sagte Mr. Squeers mit sanfter Stimme. »Stecke dein Schnupftuch ein, Lausbub, oder ich bring dich um, sobald der Herr fort ist.«

Der Schulmeister hatte dem Kinde kaum diese Worte in grimmigem Tone zugeflüstert, als der Fremde eintrat. Mr. Squeers tat, als sähe er ihn nicht, und gab sich den Anschein, als sei er eben eifrig damit beschäftigt, seinem jungen Zögling eine Feder zu schneiden und ihm väterliche Ermahnungen zu erteilen.

»Mein liebes Kind«, sagte er laut, »jeder Mensch hat sein Bündel zu tragen. Aber diese frühe Prüfung, die dir so nahe geht und derentwegen du dir die Augen aus dem Kopfe weinst, was ist sie? Nichts. Weniger als nichts. Du verlässt zwar deine Familie, mein Kind, aber du wirst in mir einen Vater und in Mrs. Squeers eine Mutter finden. In dem anmutigen Dorfe Dotheboys, bei Greta-Bridge in Yorkshire, wo junge Leute verköstigt, gekleidet, mit Büchern, Wäsche, Taschengeld und allem Nötigen versehen werden …«

»Mr. Squeers, nicht wahr?«, unterbrach der Fremde die Reklamepredigt. »Mr. Squeers, wie ich glaube?«

»Derselbe, Sir«, sagte Mr. Squeers mit geheuchelter Überraschung.

»Der Herr, der eine Anzeige in die Zeitung einrücken ließ?«

»Ja, in der Times, der Morning Post, dem Chronicle, Herald und Advertiser, hinsichtlich der Erziehungsanstalt Dotheboys Hall, bei dem anmutigen Dorfe Dotheboys in der Nähe von Greta-Bridge in Yorkshire«, bestätigte Mr. Squeers. »Sie kommen in Geschäftsangelegenheiten, Sir, wie ich an ihren beiden jungen Begleitern bemerke. Wie geht es dir, mein junger Freund? Und wie geht’s dir, mein Junge?«

Mit diesen freundlichen Worten tätschelte Mr. Squeers die zwei hohläugigen, verhungert aussehenden kleinen Knaben, die der Fremde mitgebracht hatte, auf den Kopf und wartete, was ihm dieser mitzuteilen habe.

»Ich bin Farbwarenhändler und heiße Snawley, Sir«, stellte sich der Fremde vor.

Squeers nickte mit dem Kopf, als wolle er damit sagen: ein sehr schöner Name.

»Ich gedenke, Mr. Squeers, meine zwei Knaben ihrer Anstalt anzuvertrauen.«

»Es schickt sich vielleicht nicht für mich, Sir, mich selbst zu loben«, versetzte Mr. Squeers bescheiden, »aber Sie hätten keine bessere Wahl treffen können.«

»Hm«, brummte der Fremde. »Zwanzig Pfund jährlich, glaube ich, Mr. …«

»Guineen«, verbesserte der Schulmeister.

»Pfund! Was meinen Sie, Mr. Squeers, da ich gleich zwei mitbringe?«

»Wird sich kaum machen lassen, Sir«, erwiderte Mr. Squeers gekränkt, als ob ihm noch nie früher ein derartiger Antrag gestellt worden wäre. »Doch wir wollen sehen. Viermal fünf ist zwanzig und dies doppelt genommen … Also gut, auf ein Pfund mehr oder weniger soll es uns nicht ankommen. Aber Sie müssen mich bei ihren Bekannten empfehlen, Sir, damit ich auf diese Weise wieder auf meine Kosten komme.«

»Sie sind keine starken Esser«, warf Mr. Snawley hin.

»O, das kommt weiter nicht in Betracht«, meinte Squeers, »wir nehmen in unserer Anstalt keine Rücksicht auf falsche Appetite. – Die gesündeste Kost, Sir, die man in Yorkshire nur haben kann, und die besten Lehren in jeder Hinsicht. Alles, was sich ein Knabe nur zu Hause wünschen kann, Mr. Snawley!«

»Ich lege vor allem auf Sittlichkeit großes Gewicht«, bemerkte Mr. Snawley.

»Ich freue mich außerordentlich, dies zu hören«, versetzte der Schulmeister stolz und warf sich in die Brust. »Gerade was Moral anbelangt, hätten Sie kein besseres Institut finden können.«

»Davon bin ich überzeugt, Sir«, erwiderte Mr. Snawley. »Ich habe mich bei einem Herrn, auf den Sie sich beriefen, erkundigt, und erfuhr, Sie seien sehr religiös.«

»Ich hoffe allerdings, auf den richtigen Pfaden zu wandeln, Sir«, sagte Mr. Squeers bescheiden.

»Ich hoffe dies von mir gleichfalls. – Aber könnte ich nicht ein paar Worte mit Ihnen unter vier Augen sprechen?«

»O, bitte sehr«, versetzte Squeers grinsend. »Kinderchen, unterhaltet euch inzwischen einige Minuten mit euerm neuen Spielkameraden. Dies ist einer meiner Zöglinge, Sir. Er heißt Belling und ist aus Taunton.«

»So, so«, sagte Mr. Snawley und musterte den armen Kleinen wie eine Rarität von Kopf bis zu Fuß.

»Er geht morgen mit mir nach Dotheboys. Der Koffer, auf dem er sitzt, enthält sein Gepäck. Jeder Knabe muss zwei ganze Anzüge, sechs Hemden, sechs Paar Strümpfe, zwei Schlafmützen, zwei Taschentücher, zwei Paar Schuhe, zwei Hüte und ein – Rasiermesser mitbringen.«

»Ein Rasiermesser?«, rief Mr. Snawley. »Wozu denn das?«

»Zum – Rasieren«, sagte Mr. Squeers in gezogenem Tone.

Es waren zwei einfache Worte, aber in der Art, in der sie ausgesprochen wurden, musste etwas Bedeutsames liegen, denn der Schulmeister und der Fremde blickten einander einige Augenblicke scharf an und unterdrückten dann ein Lächeln. Snawley war ein wohlgenährter plattnasiger Mann, dunkelfarbig gekleidet, mit langen schwarzen Gamaschen, und seine Mienen trugen den Ausdruck großer Sittenstrenge, sodass dieses Lächeln ohne irgendeinen augenfälligen Grund sich nur umso auffallender ausnahm.

»Bis zu welchem Alter behalten Sie die Knaben in Ihrer Schule?«, fragte er nach einer Pause.

»Gerade so lange, als ihre Verwandten meinem Geschäftsträger in der Stadt die vierteljährliche Pension vorausbezahlen oder bis die Jungen davonlaufen«, antwortete Squeers. »Wir müssen zur Sache kommen. Kurz und gut, was sind das für Jungen? Natürliche Kinder?«

»N-nein«, erwiderte Snawley zögernd.

»Ich glaubte, es wäre so. Wir haben nämlich deren eine große Anzahl. Der Junge dort ist auch eines.«

»Der Belling?«

Squeers nickte; der Farbenhändler blickte wieder nach dem Knaben auf dem Koffer hinüber, wandte sich dann um und machte ein Gesicht, als wundere er sich höchlichst, dass das Kind ganz so wie andere aussehe.

»Ja, ja, so ist’s«, bestätigte Squeers. »Aber Sie wollten wegen Ihrer Knaben etwas sagen.«

»Ja. Hm«, erwiderte Snawley, »die Sache verhält sich so, dass ich nicht ihr eigentlicher Vater, sondern ihr Stiefvater bin, Mr. Squeers.«

»Ach, so stehen die Sachen!«, rief der Schulmeister. »Das erklärt natürlich alles. Ich konnte mir nicht vorstellen, was zum Henker Sie veranlassen konnte, die Jungen nach Yorkshire zu schicken. Ha, ha, ha, jetzt verstehe ich.«

»Sehen Sie mal, ich habe die Mutter geheiratet«, fuhr Snawley fort, »und es kostet viel, die Kinder zu Hause zu erziehen, und da meine Frau einiges Vermögen besitzt, so fürchte ich, sie könnte es vielleicht für die Jungen verschleudern, was ihnen, wie Sie wissen, doch nur schaden würde. Weiber haben doch keine Einsicht.«

»Verstehe schon«, wehrte Squeers ab, warf sich in seinem Stuhl zurück und winkte mit der Hand.

»Und dies«, nahm Mr. Snawley seine Rede wieder auf, »hat mich zu dem Wunsch veranlasst, sie in einer möglichst entfernt liegenden Kostschule unterzubringen, wo es keine Vakanzen gibt, damit das unzweckmäßige Nachhausekommen der Kinder, das sonst alle Jahre zweimal zum großen Nachteil der Erziehung stattfindet, wegfällt und sie ein wenig abgeschliffen werden. Sie verstehen?«

»Die Zahlungen regelmäßig, ohne irgendwelche weiteren Erkundigungen?«, forschte Squeers.

»Natürlich. Nur wünsche ich, dass dabei streng auf Sittlichkeit gesehen wird.«

»Versteht sich.«

»Ich hoffe, es ist nicht gestattet, dass sie zu viel nach Hause schreiben?«, fragte der Stiefvater zögernd weiter.

»Nie. Nur zu Weihnachten, wo alle in gleicher Weise ihren Angehörigen melden müssen, dass sie sich noch nie so glücklich befunden hätten und wünschten, nie wieder abgeholt zu werden.«

»Sehr gut, sehr gut«, erwiderte der Stiefvater sich die Hände reibend.

»Und wenn wir uns gegenseitig schon so gut verstehen«, fuhr Mr. Squeers fort, »werden Sie mir wohl die Frage gestatten, ob Sie mich auch für einen wirklich moralischen, exemplarischen und untadelhaften Mann im Privatleben betrachten und ob sie in meine Person als Erzieher und was makellose Rechtlichkeit, Uneigennützigkeit, Religiosität und Tüchtigkeit anbelangt, vollkommenes Vertrauen setzen?«

»Gewiss«, versicherte der Stiefvater, das Grinsen des Schulmeisters erwidernd.

»Sie würden also vielleicht auch nichts dagegen haben, wenn ich mich gelegentlich auf Sie berufe?«

»Nicht das Mindeste.«

»Sie sind ein Mann nach meinem Sinn!«, rief Squeers und nahm eine Feder zur Hand. »Das nenne ich mir ein Geschäft, wie ich es liebe.«

Nachdem er Mr. Snawleys Adresse notiert hatte, schrieb er noch freudestrahlend eine Quittung über den Empfang der ersten Vierteljahresrate und war kaum mit diesem Geschäft zu Ende, als im Nebenzimmer eine Stimme »nach Mr. Squeers« fragte.

»Hier bin ich«, antwortete der Schulmeister. »Was steht zu Diensten?«

»Nur eine Geschäftssache«, sagte Mr. Ralph Nickleby eintretend, wobei ihm Nikolas auf den Fersen folgte. »Diesen Morgen stand eine Annonce unter Ihrem Namen in den Zeitungen.«

»Gewiss, Sir. Wenn’s gefällig ist näherzutreten«, versetzte Squeers und deutete in das Zimmer mit dem Kamin. »Wollen Sie Platz nehmen?«

»Ich dächte schon«, brummte Ralph, ließ seinen Worten die Tat folgen und legte seinen Hut vor sich auf den Tisch. »Dies ist mein Neffe, Sir, Mr. Nikolas Nickleby.«

»Wie befinden Sie sich, Sir?«, fragte Squeers höflich.

Nikolas verbeugte sich, murmelte, dass er ganz wohl sei, und schien ein wenig erstaunt über das Äußere des Eigentümers von Dotheboys Hall zu sein, wozu er übrigens auch alle Ursache hatte.

»Vielleicht erinnern Sie sich meiner noch«, begann Ralph nach einer Weile und sah den Schulmeister scharf an.

»Ich glaube, Sie bezahlten mir einige Jahre lang bei meinen halbjährigen Besuchen in der Stadt eine kleine Rechnung, Sir«, versetzte Squeers.

»Stimmt schon.«

»Für Rechnung der Eltern eines Knaben, namens Dorker, der unglücklicherweise …«

»… unglücklicherweise in Dotheboys Hall starb«, beendete Ralph den Satz.

»Ich kann mich noch recht gut erinnern, Sir. Ach, meine Frau hatte den Knaben so gern, als ob er ihr eigenes Kind gewesen wäre. Und die Pflege, die sie ihm während seiner Krankheit angedeihen ließ! Toastschnitten und warmen Tee jeden Abend und jeden Morgen, als er nichts mehr anderes genießen konnte! Ein Licht in seinem Schlafzimmer in der Nacht, in der er starb! Das beste Kissen hinaufgeschickt! Doch ich bereue es nicht. Es liegt etwas Erhebendes in dem Gedanken, seine Schuldigkeit getan zu haben.«

Ralph lächelte gezwungen und musterte die anwesenden fremden Gesichter.

»Es sind nur einige meiner Zöglinge«, erklärte Wackford Squeers und deutete auf die Knaben. »Dieser Herr, Sir, ist ein Vater, der soeben die Güte hatte, mir ein Kompliment zu machen über den Erziehungsplan in Dotheboys Hall, bei dem hübschen Dörfchen Dotheboys, in der Nähe von Greta-Bridge in Yorkshire, wo junge Leute verköstigt, gekleidet, mit Büchern, Wäsche und Taschengeld …«

»Ja, ja, wir wissen das alles«, unterbrach ihn Ralph mürrisch, »es steht doch in der Anzeige.«

»Sie haben recht, Sir, es steht in der Anzeige«, entschuldigte sich Squeers.

»Und verhält sich auch so«, bekräftigte Mr. Snawley. »Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen das zu versichern, Sir, und ich bin stolz auf diese Gelegenheit, es tun zu können, zumal Mr. Squeers ein höchst moralischer, exemplarischer, in jeder Beziehung tadelloser Mann …«

»Ich bezweifle es doch gar nicht, Sir«, unterbrach Ralph grob. »Aber ich dächte, wir könnten zur Sache kommen?«

»Mit größtem Vergnügen, Sir«, sagte Squeers. »Du sollst ein Geschäft nie verschieben, sei deine erste Regel. Das legen wir unsern für den Handelsstand bestimmten Zöglingen stets ans Herz. Belling, mein Junge, behalte das stets im Gedächtnis. Hörst du?«

»Ja, Sir«, hauchte Belling.

»Ob er wohl das Sprüchlein jetzt noch weiß?«, höhnte Ralph.

»Sag es dem Herrn her«, befahl Squeers.

»Du sollst …«, stotterte Belling.

»Sehr gut. Weiter.«

»Dein Geschäft nie …«, fuhr das Kind fort.

»Sehr, sehr gut«, lobte Mr. Squeers. »Nun?«

»Ver…«, flüsterte Nikolas gutmütig dem Knaben zu.

»Verrichten«, ergänzte Belling hastig. »Du sollst ein Geschäft nie verrichten.«

»Schon gut, Bürschchen«, knirschte Squeers und warf dem Jungen einen vernichtenden Blick zu. »Wenn wir’s auch jetzt verschieben müssen, so werden wir doch, wenn wir allein sind, ein kleines Geschäft miteinander zu verrichten haben.«

»Vorderhand wäre es aber vielleicht angezeigter, wenn wir an das unserige gingen«, fiel Ralph ein.

»Ganz, wie es Ihnen beliebt, Sir.«

»Wir werden gleich fertig sein. – Ihrer Anzeige zufolge suchen Sie einen tüchtigen Hilfslehrer?«

»Ganz richtig.«

»Hier steht er«, sagte Ralph. »Mein Neffe Nikolas, der vor Kurzem die Schule verlassen und daher noch alles im Kopf und nichts in der Tasche hat, wäre gerade der Mann, den Sie brauchen.«

»Ich fürchte nur«, wendete Squeers ein, durch die Bewerbung eines jungen Mannes von Nikolas’ Äußerem verwirrt, »ich fürchte nur, er wird nicht recht für mich passen.«

»Er wird es«, sagte Ralph fest, »ich weiß das besser. Nikolas, du brauchst den Mut nicht gleich sinken zu lassen, denn du wirst in weniger als einer Woche die jungen Aristokraten in Dotheboys Hall unterrichten, wenn Mr. Squeers nicht eigensinniger ist, als ich voraussetze.«

»Ich fürchte nur, Sir«, wendete sich Nikolas an Squeers, »dass Sie gegen meine Jugend und den Umstand, dass ich nicht Magister bin, etwas einzuwenden haben.«

»Letzteres fällt allerdings sehr ins Gewicht«, versetzte Squeers mit möglichst ernster Miene, innerlich nicht wenig verblüfft durch den Gegensatz in der Offenherzigkeit des Neffen und dem weltklugen Benehmen des Onkels sowohl, wie durch die unverständliche Anspielung auf die jungen Aristokraten, die sich in seinem Institut befinden sollten.

»Merken Sie mal auf, Mr. Squeers«, mischte sich Ralph ein, »ich will die Sache in das rechte Licht stellen.«

»Wenn Sie die Güte haben wollten.«

»Wir haben hier einen jungen Mann, ein Jüngling, einen Guckindiewelt, oder wie Sie es nennen wollen, von achtzehn oder neunzehn Jahren.«

»Das sehe ich«, bemerkte der Schulmeister.

»Und ich auch«, mengte sich Snawley ein, der es für passend hielt, seinem neuen Freund den Rücken zu decken.

»Sein Vater ist tot. Er selbst weiß nichts von der Welt, ist durchaus mittellos und braucht Beschäftigung«, erklärte Ralph. »Ich empfehle ihn daher Ihrem vortrefflichen Institut, das er zum Grundstein seines Glückes machen kann, wenn er es recht anzugehen weiß. – Verstanden?«

»Alle Welt muss das einsehen«, nickte Squeers, den spöttischen Seitenblick nachahmend, mit dem Ralph seinen arglosen Neffen betrachtete.

»Natürlich«, bestätigte Nikolas hastig.

»Sie sehen, er hat mich verstanden«, fuhr Ralph in seiner harten und trockenen Weise fort. »Wenn irgendeine alberne Laune ihn veranlassen sollte, sich diese günstige Gelegenheit zu verscherzen, so hört meine Verbindlichkeit gegen seine Mutter und Schwester im selben Augenblick auf. Sehen Sie ihn einmal an und bedenken Sie, in wievielerlei Weise er Ihnen nützlich werden kann. Es fragt sich, ob er Ihren Zwecken für die nächste Zeit nicht besser entsprechen wird als zwanzig andere, die Sie unter normalen Umständen aufnehmen können. Nun, ist dies nicht der Überlegung wert?«

»Allerdings«, entgegnete Squeers, ein Blinzeln Ralphs erwidernd.

»Gut. Dann möchte ich nur noch ein paar Worte allein mit Ihnen sprechen.«

Die beiden Ehrenmänner zogen sich sodann zurück, und ein paar Minuten später erklärte Mr. Wackford Squeers, dass Mr. Nikolas Nickleby von Stund an das Amt eines Hilfslehrers in Dotheboys Hall übertragen sei.

»Sie verdanken es der Empfehlung ihres Onkels, Mr. Nickleby«, betonte er.

Nikolas drückte in der Überfülle seines Herzens seinem Onkel immer und immer wieder die Hand und wäre am liebsten auf der Stelle vor Squeers auf die Knie gefallen. Er sieht zwar etwas wunderlich aus, dachte er sich, aber was tut das? Bei Porson und dem Doktor Johnson war es auch der Fall, wie überhaupt bei allen solchen Bücherwürmern.

»Morgen Früh um acht Uhr geht die Postkutsche ab, Mr. Nickleby«, bemerkte Squeers. »Sie müssen eine Viertelstunde früher hier sein, da wir diese Knaben mitnehmen.«

»Ich werde nicht ermangeln, Sir«, sagte Nikolas.

»Ich habe die Fahrt für dich bezahlt«, knurrte Ralph. »Du hast also nichts weiter zu tun, als dich warm anzuziehen.«

Dies war ein neuer Beweis von Großmut, und Nikolas empfand diese unerwartete Güte so tief, dass er kaum genug Dankesworte finden konnte, und er hatte deren aus der Tiefe seines Herzens noch nicht halb genug hervorgestammelt, als sie sich von dem Schulmeister verabschiedeten und das Gasthaus zum Mohrenkopf verließen.

»Ich werde morgen hier sein, um dich wohlbehalten abfahren zu sehen«, sagte Ralph. »Dass du dich also beizeiten einstellst!«

»Ich danke Ihnen so sehr, Sir«, beteuerte Nikolas. »Ich werde Ihre Güte nie vergessen.«

»Daran wirst du gut tun. Aber mach jetzt, dass du nach Hause kommst, und packe ein, was du zu packen hast. Glaubst du den Weg nach Golden Square finden zu können?«

»Gewiss. Ich kann mich ja durchfragen.«

»Dann bring diese Papiere meinem Schreiber«, sagte Ralph, ein kleines Päckchen aus der Tasche ziehend, »und richte ihm aus, er solle auf mich warten, bis ich nach Hause komme.«

Nikolas übernahm die Botschaft, verabschiedete sich herzlich von seinem würdigen Onkel, was von dem warmherzigen, alten Herrn nur durch ein Brummen erwidert wurde, und eilte fort, um seinen Auftrag auszurichten. Bald fand er sich nach Golden Square zurecht, und Mr. Noggs, der auf seinem Heimwege einen Augenblick im Wirtshause vorgesprochen hatte, drückte eben auf die Türklinke, als Nikolas bei der Wohnung seines Oheims anlangte.

»Was ist das?«, fragte Noggs, auf das Päckchen deutend.

»Papiere von meinem Onkel«, erwiderte Nikolas. »Er lässt Ihnen sagen, Sie möchten warten, bis er nach Hause käme.«

»Onkel?«, rief Noggs.

»Mr. Nickleby«, erklärte Nikolas.

»Kommen Sie herein«, versetzte Newman und führte Nikolas, ohne weiter ein Wort zu sprechen, in den Hausflur und von da in das Bureau, wo er ihm einen Stuhl hinschob und dann selber seinen Schreiberbock bestieg. Dort blieb er mit schlaff herabhängenden Armen sitzen und betrachtete seinen Gast wie von einer Warte herunter.

»Antwort ist nicht nötig«, richtete Nikolas aus und legte das Päckchen vor sich auf den Tisch.

Newman erwiderte nichts, verschränkte nur die Arme, streckte den Kopf vor, um Nikolas’ Gesicht besser betrachten zu können, und forschte aufmerksam in dessen Zügen.

»Keine Antwort«, wiederholte Nikolas sehr laut, da er glaubte, Newman Noggs sei schwerhörig.

Newman faltete nur die Hände über dem Knie und fuhr unbeirrt, ohne eine Silbe laut werden zu lassen, fort, das Gesicht seines Gegenübers zu studieren.

Dieses Benehmen von Seiten dieses wildfremden Menschen war höchst auffallend und sein Äußeres so sonderbar, dass sich Nikolas nicht enthalten konnte, leise zu lächeln, als er Noggs fragte, ob er vielleicht einen Auftrag für ihn hätte.

Noggs schüttelte den Kopf und seufzte, worauf sich Nikolas mit der Bemerkung, dass er nicht müde sei, erhob und sich empfehlen wollte.

Newman Noggs seinerseits atmete jetzt tief auf und unterzog sich einer Anstrengung, der ihn niemand, am wenigstens einem Fremden gegenüber, für fähig gehalten haben würde. Er sagte, ohne auch nur ein einziges Mal zu stottern, dass es ihm sehr angenehm wäre, zu erfahren, was Mr. Ralph zu tun gedenke, wenn es der junge Herr für gut finden sollte, eine Mitteilung darüber zu machen.

Nikolas sah nicht ein, warum er es nicht sollte, und war im Gegenteil sehr erfreut, eine Gelegenheit zu finden, sich über das, was sein Inneres so ganz ausfüllte, auszulassen. Er setzte sich daher wieder nieder und erging sich mit Wärme in einer glühenden Schilderung all der Ehren und Vorteile, die er sich von seiner Anstellung an dem Sitze der Gelehrsamkeit in Dotheboys Hall versprach.

»Aber was ist Ihnen denn? Sind Sie unwohl?«, unterbrach er sich plötzlich, als der Schreiber sich in den verschiedenartigsten seltsamsten Stellungen verdrehte, die Hände unter seinem Sitz verkrampfte und mit den Gelenken knackte, als wolle er sich alle Finger zerbrechen.

Newman Noggs erwiderte kein Wort und fuhr nur fort, die Achseln zu zucken und mit den Knöcheln zu knacken. Dabei verzog er das Gesicht zu einem grauenhaften Lächeln und starrte mit gespenstigem Ausdruck unverwandten Blickes ins Leere.

Anfangs glaubte Nikolas, der rätselhafte Mensch habe einen Anfall von Veitstanz, aber bei weiterer Überlegung entschied er sich für die Meinung, er wäre wohl betrunken, und hielt es daher für das Vernünftigste, sich ohne weitere Erklärung zu entfernen.

Als er die Türe öffnete, blickte er noch einmal zurück, aber Newman Noggs erging sich noch immer in denselben seltsamen Gebärden, und das Knacken seiner Finger tönte noch lauter als vorher.

5. Kapitel

Nikolas begibt sich nach Yorkshire auf die Reise und nimmt Abschied von den Seinigen. Seine Reisegefährten, und was unterwegs vorfiel

 

Wenn Tränen, die in einen Koffer träufeln, ein Schutzmittel wären, das den Eigentümer vor Leid und Missgeschick bewahren könnte, so hätte Nikolas Nickleby seine Reise unter den glücklichsten Vorbedeutungen begonnen. Man hatte so viel zu tun und doch so wenig Zeit dazu; so viele herzliche Worte zu sprechen und doch so bitteren Schmerz im Herzen, dass die Vorbereitungen für die Reise in größter Trauerstimmung getroffen wurden.

Nikolas bestand darauf, hunderterlei Dinge, die Mutter und Schwester in ihrer Besorgnis für unentbehrlich für ihn hielten, nicht mitzunehmen, da sie den Seinigen in der Not vielleicht nützlich sein und erforderlichenfalls zu Geld gemacht werden könnten. Manch zärtlicher Wortwechsel über derartige strittige Punkte fand in der traurigen Nacht statt, die seiner Abreise voranging, und je näher sie das Ende eines jeden dieser harmlosen Zwiste dem Schlüsse ihrer Vorbereitungen brachte, desto geschäftiger wurde Kate und desto mehr weinte sie im Stillen.

Der Koffer war endlich gepackt, und dann wurde das Abendessen mit einigen für diesen Anlass bereiteten Leckerbissen herbeigebracht, deren Bestreitung willen Kate und ihre Mutter insgeheim nicht zu Mittag gegessen hatten. Die Bissen quollen jedoch Nikolas im Munde und es wollte ihm fast das Herz brechen, trotzdem er sich bemühte, fröhlich zu sein, und sich zwang zu lächeln.

Um sechs Uhr morgens nach einem unruhigen Schlummer erhob er sich leise, schrieb mit Bleistift einige Worte des Abschieds auf einen Zettel, da er sich den Schmerz eines mündlichen Lebewohls ersparen wollte, legte ihn nebst der Hälfte seiner spärlichen Barschaft vor die Türe seiner Schwester, nahm seinen Koffer über die Schultern und schlich sachte die Stiegen hinunter.

»Hanna bist du’s?«, rief Miss La Creevy aus ihrem Arbeitszimmer, aus dem hervor der matte Schein eines Kerzenlichtes die Wand des Stiegenhauses beleuchtete.

»Nein, ich bin’s, Miss La Creevy«, sagte Nikolas, setzte seinen Koffer nieder und blickte in die Stube.

»O du mein Himmel«, rief Miss La Creevy aufspringend und fuhr sich mit der Hand nach ihren Haarwickeln. »Sie sind aber sehr früh auf, Mr. Nickleby.«

»Sie gleichfalls, Madame«, erwiderte Nikolas.

»Die Kunst lockt mich so zeitig aus den Federn, Mr. Nickleby. Ich warte, bis es hell wird, um eine Idee auszuführen.«

Miss La Creevy war nämlich so früh aufgestanden, um eine Fantasienase in das Miniaturporträt eines hässlichen kleinen Jungen zu malen, das die Bestimmung hatte, seiner Großmutter auf dem Lande geschickt zu werden, in der Erwartung, sie würde ihn in ihrem Testament besonders bedenken, wenn sie bei dem Bilde eine Familienähnlichkeit herausfinde.

»Eine Idee auszuführen«, wiederholte Miss La Creevy, »und da kommt mir der Umstand, dass ich in einer so belebten Straße, wie der Strand ist, wohne, sehr zustatten. Wenn ich einer passenden Nase oder eines Auges für einen meiner Kunden bedarf, so brauche ich mich bloß ans Fenster zu setzen und zu warten, bis das vorbeikommt, was ich brauche.«

»Dauert es lange, bis eine geeignete Nase vorbeikommt?«, fragte Nikolas lächelnd.

»Das hängt doch ganz davon ab, was es für eine sein soll. Stumpfnasen und Habichtsnasen gibt es genug, und Plattnasen von jeder Sorte und Größe trifft man, wenn es eine Versammlung in Exeter Hall gibt; aber wirkliche Adlernasen sind, wie ich mit Bedauern gestehen muss, sehr selten, und doch brauchen wir sie so oft für Offiziere und öffentliche Würdenträger.«

»Wirklich? Nun, wenn mir auf meinen Reisen eine solche vorkommen sollte, so will ich versuchen, Ihnen ein Konterfei davon anzufertigen.«

»Sie wollen damit doch nicht sagen, dass Sie wirklich die Absicht haben, bei diesem kalten Winterwetter den weiten Weg nach Yorkshire hinunter zu machen, Mr. Nickleby?«, fragte Miss La Creevy. »Ich hörte Sie am verflossenen Abend davon sprechen.«

»Allerdings habe ich die Absicht«, erwiderte Nikolas. »Sie wissen, die Not kennt kein Gebot.«

»Nun, da kann ich weiter nichts sagen, als dass es mir wirklich leid tut, sowohl um ihrer Mutter und Schwester, als auch um Ihretwillen. – Ihre Schwester ist ein so hübsches Mädchen, Mr. Nickleby, und schon deswegen könnte sie sehr notwendig einen Beschützer brauchen. Ich habe sie überredet, mir ein paar Mal zu sitzen, um ihr Bild für meinen Haustürrahmen benutzen zu können. O, das wird eine herrliche Miniatüre geben.«

Mit diesen Worten hielt Miss La Creevy ein auf Elfenbein gemaltes Porträt mit sehr deutlich ausgeführten blauen Adern empor und betrachtete es mit so viel Wohlgefallen, dass Nikolas sie ordentlich beneidete.

»Wenn Sie je Gelegenheit haben sollten, Kate irgendeinen kleinen Liebesdienst zu erweisen, nicht wahr, Sie werden es tun?«, fragte er, ihr die Hand reichend.

»Sie können sich darauf verlassen«, versprach die gutmütige Porträtmalerin. »Gott sei mit Ihnen, auf dass es Ihnen wohl ergehe, Mr. Nickleby.«

Nikolas kannte die Welt nur wenig, glaubte aber, es könne jedenfalls nicht schaden, und es werde Miss La Creevy für die Seinigen günstig stimmen, wenn er ihr einen Kuss gäbe. Er versetzte ihr daher drei oder vier in einer Art scherzhafter Galanterie, und Miss La Creevy legte dagegen kein stärkeres Missfallen an den Tag, als dass sie ihren gelben Turban zurechtrückte und erklärte, das sei doch wirklich unerhört, und sie hätte nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich wäre.

Als dieses Tete-à-tete sich in so befriedigender Weise abgewickelt hatte, verließ Nikolas eilig das Haus. Es war erst sieben Uhr, als er einen Mann auftrieb, der ihm seinen Koffer trug.

Neugierig betrachtete er die geschäftigen Vorbereitungen für den kommenden Tag, die in jeder Straße und vor jedem Hause getroffen wurden, und dachte sich, wie hart es für ihn sei, so weit reisen zu müssen, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wo doch so viele Menschen in London durchkämen.

Als er endlich vor dem Mohrenkopf in Snow Hill anlangte, den Träger entlohnte und seinen Koffer wohlbehalten im Postbureau eingestellt hatte, sah er sich in den Kaffeezimmern nach Mr. Squeers um.

Er fand den Schulmeister gerade beim Frühstück, und die drei bereits erwähnten Knaben, sowie zwei andere, die Squeers durch einen glücklichen Zufall inzwischen noch aufgetrieben hatte, saßen in einer Reihe auf einer Bank gegenüber. Mr. Squeers hatte eine kleine Kaffeekanne, eine Platte mit gerösteten Brotschnitten und ein Stück kaltes Rindfleisch vor sich und war im Augenblick beschäftigt, das Frühstück für seine Zöglinge zu bereiten.

»Das soll für zwei Pence Milch sein, Kellner?«, fragte er und sah in einen großen blauen Krug, den er ein wenig schräg vor die Augen hielt, um einen genauen Einblick über die enthaltene Flüssigkeit zu gewinnen.

»Jawoll, das is für zwei Pence«, antwortete der Kellner.

»Was doch die Milch in London für ein teurer Artikel ist«, seufzte Mr. Squeers. »Also dann füllen Sie mir den Krug mit warmem Wasser, William.«

»Bis an den Rand, Sir? Na, da wird die Milch ja ersaufen.«

»Soll sie«, versetzte Mr. Squeers. »Es geschieht ihr ganz recht, warum ist sie so teuer. Haben Sie ein dickes Brot und Butter für drei bestellt?«

»Wird gleich da sein, Sir!«

»Ach, hat weiter keine Eile. Wir haben noch Zeit genug. – Haltet eure Lüste im Zaum, Jungens, und giert mir nicht nach Speise und Trank«, ermahnte Mr. Squeers und sprach dabei seinem Roastbeef kräftig zu, als er auf einmal seinen neuangestellten Hilfslehrer erblickte.

»Setzen Sie sich, Mr. Nickleby«, lud er Nikolas ein. »Sie sehen, wir sind hier beim Frühstück.«

Nikolas konnte zwar nicht sehen, dass jemand anders als Mr. Squeers frühstückte, verbeugte sich aber mit geziemendem Respekt und machte ein möglichst heiteres Gesicht.

»Ist das die Milch mit Wasser, William?«, fragte Squeers. »Schön, vergessen Sie das Brot und die Butter nicht.«

Bei dieser abermaligen Erwähnung der Butterbrote machten die fünf Knaben wieder heißhungrige Augen und folgten mit ihren Blicken sehnsüchtig dem Kellner, während Mr. Squeers die Wassermilch kostete.

»Ah«, rief er dann, mit den Lippen schnalzend, »das ist ja eine treffliche Milch. Denkt an die vielen Bettler und Waisen in den Straßen, die froh wären, ihr Jungens, wenn sie so etwas bekämen. Der Hunger ist eine leidige Sache, nicht wahr, Mr. Nickleby?«

»Allerdings sehr leidig«, gab Nikolas zu.

»Wenn ich ›eins‹ zähle«, wendete sich Mr. Squeers an seine Zöglinge und stellte den Krug vor die Kinder hin, »so kann der Knabe, der zunächst dem Fenster sitzt, einen Schluck tun; zähle ich zwei, so trinkt der Nächste, und so fort, bis ich zu fünf, das heißt zu dem letzten Knaben komme. Seid ihr bereit?«

»Ja, Sir«, riefen die Kleinen einstimmig.

»Dann ist’s recht«, sagte Mr. Squeers, ruhig mit seinem Frühstück fortfahrend. »Haltet euch fertig, bis ich zu zählen anfange. Bezähmt euern Appetit, Jungens, und ihr werdet Herr über eure tierischen Begierden.

Sehen Sie, dies ist die Art, wie wir die Kinder an Selbstbeherrschung gewöhnen, Mr. Nickleby«, fügte er mit von Fleisch und Butterbrotschnitten vollgepfropftem Munde, zu Nikolas gewendet, hinzu.

Nikolas murmelte etwas, er wusste nicht was, als Erwiderung, und die Knaben teilten ihre Blicke zwischen dem Krug, dem Butterbrot, das inzwischen angelangt war, und jedem Bissen, den Mr. Squeers in den Mund steckte, wobei in ihren heißhungrigen Augen alle Qualen der Erwartung zu lesen waren.

»Gottlob, das hat geschmeckt«, sagte Squeers, als er mit seinem Frühstück zu Ende war. »Nummer eins kann zu trinken anfangen.«

Nummer eins riss den Krug an den Mund und hatte eben genug getrunken, um noch begieriger zu sein, als Mr. Squeers das Signal für Nummer zwei gab, der ihn in demselben bedeutungsvollen Augenblick an Nummer drei abgeben musste. Und so wurde der Prozess wiederholt, bis die Wassermilch mit Nummer fünf zu Ende war.

Sodann begann der Schulmeister das »Butterbrot für drei« in ebenso viele Portionen, als Kinder waren, zu teilen und sagte:

Ihr werdet gut tun, mit euerem Frühstück rasch zu machen, denn das Posthorn wird in ein paar Minuten blasen, und dann muss jeder Knabe fertig sein.«

Da die Kinder jetzt Erlaubnis hatten, fielen sie sofort über das Butterbrot her und schlangen es gierig und in verzweifelter Hast hinunter, während sich der Pädagog, nach seiner Mahlzeit ungemein gut gelaunt, mit der Gabel die Zähne stocherte und lächelnd zusah. Kurz darauf ertönte das Horn.

»Ich habe mir’s gleich gedacht, dass es nicht lange dauern könnte«, sagte Squeers aufspringend und zog einen kleinen Korb unter seinem Sitz hervor. »Legt das, was ihr nicht habt essen können, hier herein, Jungens; es wird euch unterwegs gut tun.«

Nikolas war über diese höchst ökonomischen Maßnahmen nicht wenig verblüfft, hatte aber keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn die Zöglinge mussten auf die Kutsche hinaufgehoben, ihr Gepäck sowie auch das Mr. Squeers’ herausgeholt, versorgt und im Wagen untergebracht werden, was alles Sache des Hilfslehrers war. Nikolas hatte alle Hände voll zu tun und war eben mit diesen Vorkehrungen zustande gekommen, als ihn sein Onkel anredete.

»Ah, du bist hier, Musjö? Deine Mutter und Schwester sind auch da.«

»Wo?«, fragte Nikolas und sah sich hastig um.

»Hier. Da sie zu viel Geld haben und nicht wissen, was damit anfangen, wollten sie eben eine Droschke nehmen, als ich zu ihnen kam.«

»Wir fürchteten zu spät zu kommen und ihn nicht mehr zu sehen, ehe er abreiste«, entschuldigte sich Mrs. Nickleby, ihren Sohn umarmend, ohne weiter auf die im Hof umherschlendernden Gaffer zu achten.

»Schon gut, Madam«, brummte Ralph, »Sie müssen das natürlich am besten wissen. Ich sagte nur, Sie seien eben im Begriff gewesen eine Droschke zu nehmen. Ich leiste mir nie eine Droschke, Madam. Ich bin seit dreißig Jahren nicht auf eigene Kosten in einer gesessen und hoffe, es soll noch dreißig Jahre dauern, bis ich es tue – wenn ich es erlebe.«

»Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn ich ihn nicht noch einmal gesehen hätte«, sagte Mrs. Nickleby; »der liebe arme Junge, er ist sogar ohne Frühstück fortgegangen, weil er uns den Abschiedsschmerz ersparen wollte.«

»Wirklich außerordentlich zartsinnig«, höhnte Ralph. »Als ich ins Geschäftsleben trat, kaufte ich mir jeden Morgen, ehe ich in die City ging, ein Pennybrot und für einen halben Penny Milch. Was sagen Sie dazu, Madam? Frühstück? Lächerlich.«

»Nun, Nickleby«, meinte Squeers, der in diesem Augenblick, seinen Überrock zuknöpfend, herantrat. »Es wird gut sein, wenn Sie hinten aufsitzen; es könnte ein Knabe herunterfallen, und dann wären zwanzig Pfund jährlich beim Teufel.«

»Nikolas«, flüsterte Kate und berührte ihres Bruders Arm, »wer ist dieser gemeine Mensch?«

»He?«, brummte Ralph, dessen rasches Ohr die Frage aufgefangen hatte. »Wünschest du Mr. Squeers vorgestellt zu werden, meine Liebe?«

»Ach, das ist der Schuldirektor? Nein, nein, Onkel, bitte nicht«, versetzte das junge Mädchen und wich scheu zurück.

»Ich hörte doch eben, dass du ihn kennen zu lernen wünschest«, entgegnete Ralph in seiner kalten beißenden Weise. »Mr. Squeers – hier meine Nichte, Nikolas’ Schwester.«

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss«, erwiderte Mr. Squeers, seinen Hut um einige Zoll lüftend. »Ich wollte nur, dass Mrs. Squeers auch Mädchen aufnähme. Sie könnten mir so als Lehrerin passen. Ich möchte übrigens nicht dafür stehen, dass meine Alte nicht eifersüchtig würde, ha, ha, ha.«

Hätte der Schulmeister von Dotheboys Hall gewusst, was in diesem Augenblick in der Brust seines Hilfslehrers vorging, so würde er mit einiger Überraschung bemerkt haben, dass er einer gesunden Tracht Prügel so nahe war, wie nur je in seinem Leben, aber Kate, die die Gefühle ihres Bruders schnell erfasste, zog Nikolas sachte beiseite und verhinderte dadurch rechtzeitig, dass Mr. Squeers auf eine für ihn etwas unangenehme Weise Kunde davon bekam.

»Lieber Nikolas«, fragte sie leise, »was ist das nur für ein Mann, und wie wird deine Stellung bei ihm sein?«

»Ich weiß es selbst nicht, Kate«, flüsterte Nikolas und drückte seiner Schwester zärtlich die Hand. »Ich denke, die Leute von Yorkshire sind etwas roh und ungehobelt; das wird wohl alles sein. Jedenfalls ist er mein Brotherr und mein Vorgesetzter, oder wie ich es nennen soll, und es wäre einfältig von mir, seine Ungeschliffenheit übelzunehmen. Aber sie sehen nach uns herüber, und es ist Zeit, dass ich meinen Sitz einnehme. Gott sei mit dir, meine Liebe, und lasse es dir wohlergehn! Und du, Mutter, denk nicht an die Trennung, sondern an das Wiedersehen. Leben Sie wohl, Onkel, und Dank für alles, was Sie an uns getan haben und noch zu tun gedenken. – Ich bin bereit, Sir.«

Mit diesen raschen Abschiedsworten schwang sich Nikolas auf seinen Sitz und winkte den Seinigen fröhlich zu, als ob er unverzagten Herzens in die Zukunft blicke.

In diesem Augenblick, gerade als der Postillon zum letzten Mal vor der Abfahrt mit dem Kondukteur die Unkosten der Reise überschlug und die Gepäckträger die letzten sechs Pence aus den Passagieren herauszupressen versuchten, fühlte er sich leise am Bein berührt. Er sah hinunter und entdeckte Newman Noggs, der ihm einen schmutzigen Brief heraufreichte.

»Was ist das?«, fragte Nikolas.

»Pst«, flüsterte Noggs mit einem Blick auf Ralph, der mit Mr. Squeers in geringer Entfernung in eifrigem Gespräch begriffen war. »Nehmen Sie, lesen Sie! Niemand weiß davon; Punktum.«

»Halt. Einen Augenblick!«, rief Nikolas.

»Nein.«

Nikolas rief nochmals: »Halt, halt«, jedoch Noggs war verschwunden.

Ein Ruf, dass alles in Ordnung sei, ein paar Stöße in das Posthorn, noch ein hastiger Abschiedsblick von zwei bekümmerten Gesichtern unten, die harten Züge Ralph Nicklebys, und die Kutsche rasselte über das Pflaster von Smithfield dahin.

Die kleinen Jungen hatten zu kurze Beine, als dass sie sie, wenn sie saßen, hätten auf etwas ruhen lassen können, und da sie deshalb in unablässiger Gefahr schwebten, vom Wagen zu fallen, so hatte Nikolas alle Hände voll zu tun, achtzugeben. Er fühlte sich daher nach dieser damit verbundenen Angst und körperlichen Anstrengung nicht wenig erleichtert, als die Postkutsche vor dem »Pfauen« in Islington Halt machte. Noch mehr Trost gewährte es ihm aber, dass ein Herr von biederem Äußern, heiterer Miene und gesunder Gesichtsfarbe hinten aufstieg und sich erbot, die andere Seite des Sitzes einzunehmen.

»Wenn wir ein paar von den Jungen in die Mitte nehmen«, sagte der neue Passagier, »so sitzen sie, im Falle sie einschlafen sollten, sicherer. Meinen Sie nicht?«

»Wenn Sie die Güte haben wollen, Sir«, versetzte Squeers, »so wäre ich Ihnen sehr verbunden. Mr. Nickleby, nehmen Sie drei von den Knaben zwischen sich und den Herrn. Belling und der junge Snawley können zwischen mir und dem Kondukteur sitzen. Drei Kinder«, erklärte er dem Fremden, »zahlen nur für zwei.«

»Das kann man sich gefallen lassen«, lachte der Herr. »Ich habe einen Bruder, der nichts dagegen hätte, wenn seine sechs Kinder in den Büchern des Bäckers und Metzgers des ganzen Königreichs nur als vier zählen würden. Im Gegenteil –«

»Sechs Kinder, Sir!?«, rief Squeers.

»Ja, und lauter Knaben.«

»Mr. Nickleby«, sagte Squeers aufgeregt, »halten Sie mir mal diesen Korb. – Gestatten Sie, Sir, dass ich Ihnen die Geschäftskarte meines mustergültigen Erziehungsinstituts übergebe, wo diese sechs Knaben auf eine untadelige, freisinnige und moralische Weise erzogen werden könnten, ohne dass mehr als zwanzig Guineen – zwanzig Guineen jährlich, Sir – pro Kopf bezahlt zu werden brauchten. Ich würde sie auch alle zusammen für die runde Summe von hundert Pfund jährlich aufnehmen.«

»So, dann sind Sie vielleicht selbst der hier benannte Mr. Squeers?«, fragte der Herr mit einem Blick auf die Karte.

»So ist es, Sir«, erwiderte der würdige Pädagog. »Wackford Squeers ist mein Name, und ich brauche mich dessen wahrhaftig nicht zu schämen. Dies sind einige meiner Schüler, Sir, und dies einer meiner Hilfslehrer, Mr. Nickleby, ein Mann aus gutem Hause, mit hervorragenden mathematischen, klassischen und merkantilen Kenntnissen. Ja, ja, wir machen in unserer Anstalt nichts halb, und meine Schüler müssen alles lernen, Sir, was es gibt. Ich scheue dabei keine Kosten. Und welch väterliche Behandlung die Jungen genießen! Und obendrein noch Wäsche!«

»Meiner Treu«, sagte der Herr und musterte Nikolas halb lächelnd, halb nachdenklich, »das nenne ich mir in der Tat Vorteile.«

»Das will ich meinen, Sir. Auf Verlangen können auch hervorragende Anerkennungsschreiben vorgelegt werden«, renommierte Squeers und rieb sich die Hände. »Ich würde nie einen Zögling aufnehmen, für den nicht die Zahlung von fünf Pfund und fünf Schillingen verbürgt ist. Nein, nein, und wenn Sie auf die Knie vor mir niederfielen, und mich mit Tränen in den Augen darum bäten.«

»Sehr vorsichtig«, meinte der Reisende.

»Vorsicht ist mein oberstes Gebot«, versetzte Squeers. – »Snawley, wenn du nicht aufhörst, zu frieren und mit den Zähnen zu klappern, so werde ich dir, ehe eine halbe Minute vergeht, mit einer Prügelsuppe warm machen.«

»Setzen Sie sich fest, meine Herren«, ermahnte der Kondukteur und bestieg den Wagen.

»Ist alles hinten in Ordnung, Dick?«, rief der Postillon.

»Allright. Vorwärts.«

Und fort ging’s unter dem lauten Schmettern des Posthorns und dem stummen Beifall aller Rosse- und Wagenkenner, die vor dem Pfauen versammelt waren, insbesondere aber des Stallknechts, der, die Pferdedecken über dem Arm, der Kutsche nachsah, bis sie verschwunden war.

Als der Kondukteur, ein stämmiger alter Yorkshirer, sich außer Atem geblasen hatte, steckte er das Horn in ein an der Seite der Kutsche zu diesem Zwecke angebrachtes Futteral, klopfte sich mit der Bemerkung, es sei verdammt kalt, tüchtig Brust und Arme, und fragte dann jeden Passagier einzeln, ob er geradeaus zu reisen gedenke; und wenn nicht, wohin die Reise ginge. Die einzigen Dinge, für die er sonst noch ein Interesse übrig zu haben schien, waren Pferde und Viehherden, die er, so oft man an solchen vorbeikam, mit Kennerblick musterte.

Es war bitterkalt, hin und wieder stöberte es tüchtig, und der Wind war unerträglich schneidend.

Mr. Squeers stieg bei jeder Station aus, um wie er sagte, seine Beine auszustrecken, und da er von solchen Ausflügen immer mit einer sehr roten Nase zurückkam und unmittelbar darauf sein Schläfchen machte, so war Grund zur Annahme vorhanden, dass ihm dieses Verfahren sehr gut bekam.

Die kleinen Zöglinge wurden mit den Überresten ihres Frühstücks und einigen Schlückchen einer seltsamen Herzstärkung gelabt, die Mr. Squeers bei sich führte, und die fast wie Brotwasser, das aus Versehen in eine Branntweinflasche geraten war, schmeckte. Sie schliefen ein, erwachten wieder, fröstelten und weinten, wie es eben kam; und Nikolas und der andere Flügelmann wussten über so mancherlei zu sprechen, dass während ihrer Unterhaltung und den Versuchen, die Knaben aufzumuntern, die Zeit so schnell entschwand, wie es unter solch leidigen Umständen möglich war.

So verging der Tag. In Eton Slocomb war ein Mittagessen vorbereitet, an dem die Mehrzahl der Reisegesellschaft, darunter auch Nikolas, der freundliche Passagier und Mr. Squeers, teilnahm, während die fünf Knaben, um aufzutauen, an den Kamin gesetzt und mit Butterbrot und etwas kaltem Fleisch abgefüttert wurden.

Ein paar Stationen später wurde die Wagenlaterne angezündet und eine große Störung durch die Aufnahme einer zimperlichen Dame verursacht, die mit ihren dutzend Mänteln und Schachteln bei einem Wirtshaus in einer Nebenstraße einstieg. Zur großen Erbauung der Passagiere jammerte sie dabei laut über das Ausbleiben ihres eigenen Wagens, der sie hätte aufnehmen sollen, und nahm dem Kondukteur das feierliche Versprechen ab, jede grüne Kutsche, die er kommen sähe, anzuhalten – was dieser auch feierlich versprach, da es stockfinstere Nacht war und er mit dem Gesicht nach der anderen Seite saß.

Als endlich die zimperliche Dame fand, dass im Innern des Wagens nur ein einzelner Herr saß, ließ sie sich eine kleine Laterne, die sie aus ihrem Strickbeutel hervorholte, anzünden, und wieder flog der Wagen in vollem Galopp dahin.

Die Nacht durch schneite es stark, zum großen Leidwesen der Reisenden, und man hörte kein anderes Geräusch als das Heulen des Windes, denn das Rasseln der Räder und den Hufschlag der Pferde dämpfte die dicke Schneehülle, die die Erde bedeckte und mit jedem Augenblick zunahm.

Ungefähr eine Station vor Grantham erwachte Nikolas, der eben erst eingeschlafen war, plötzlich durch einen heftigen Stoß, der ihn beinahe von seinem Sitze warf. Er griff nach der Lehne und gewahrte, dass sich die Kutsche ganz auf die Seite neigte, obgleich sie noch immer von den Pferden fortgeschleppt wurde.

Durch den Stoß und das laute Kreischen der Dame im Innern des Wagens verwirrt, überlegte er eben, ob er hinausspringen solle oder nicht, als die Kutsche plötzlich vollends umwarf, ihn auf die Straße schleuderte und dadurch allen weiteren Ungewissheiten ein Ende machte.

6. Kapitel

Der erwähnte Unfall gibt ein paar Herren Gelegenheit, einander Geschichten zu erzählen

 

»Oha«, rief der Kondukteur, der im Augenblick wieder auf den Beinen war und zu den Vorderpferden eilte. »Ist denn Neamd do, wo mit Hand anlegen kunnt! Ob’st her gehst, Mistviech. Oha.«

»Was ist geschehen?«, fragte Nikolas verwirrt.

»Wos g’schegn is? Gnua für heut Nacht«, versetzte der Kondukteur. »Der Teufi hol den einäugigen Schinder. Toll is er gworden und bild’t sich was drauf ein a no, dass er d’ Kutschn umgworfen hat. Da, können S’ nöt Hand mit anlegen? Hols der Teufel, i tät’s, und wenn mir alle Knochen zerbrecheten.«

»Ich bin schon da«, rief Nikolas, sich auf die Beine helfend. »Meine Sinne waren nur noch nicht ganz beieinander. Das ist alles.«

»Ziagn S’ fest an«, rief der Kondukteur, »ich will daweil die Sträng oschneiden. Gut so, Herr. Jetzt können S’ es wieder fahren lassen, Blitz und Hagel, die werden schnell gnua heimlaufen.«

Und richtig, kaum waren die Tiere befreit, als sie umsichtig wieder nach dem Stalle zurücktrabten, den sie erst vor ein paar Minuten verlassen hatten.

»Können So Horn blasen?«, fragte der Kondukteur, eine der Kutschenlaternen losmachend.

Nikolas bejahte.

»No, dann blasen S’ amal in dös, wo dorten aufm Boden liegt. I will daweil dem Gekreisch drinnen a End mochen. Werden S’ nöt bald stad sein, Sö da drinnen?«

Mit diesen Worten war es dem Manne gelungen, den nach oben gekehrten Kutschenschlag aufzureißen, und Nikolas weckte mit einer der außerordentlichsten Leistungen, die je von menschlichen Ohren auf einem Posthorn gehört wurden, das Echo auf weite Ferne hin. Die Töne taten auch ihre Wirkung, denn sie brachten nicht bloß die Passagiere, die sich nur allmählich von der betäubenden Wirkung ihres Falles erholten, auf die Beine, sondern riefen auch Beistand herbei; wenigstens sah man bereits Lichter immer näher kommen.

In der Tat galoppierte auch, noch ehe sich die Passagiere gehörig gesammelt hatten, ein Reiter heran, und bei einer sorgfältigen Untersuchung stellte sich heraus, dass die Dame im Innern ihre Laterne und der Herr seinen Kopf angestoßen hatte. Zwei Reisende auf dem vorderen Außensitz waren mit blauen Augen, einer mit blutiger Nase, der Postillon mit einer Beule an der Schläfe, Mr. Squeers mit einer Kontusion seines Gesäßes und die übrigen Reisenden, dank der Schneeschicht, auf die sie geschleudert worden, ohne alle Beschädigung davongekommen.

Sobald man sich darüber Gewissheit verschafft, wollte die Dame in Ohnmacht fallen, aber man bedeutete ihr, dass man sie dann einem Herrn auf die Schulter laden und so nach dem nächsten Wirtshaus bringen würde, weshalb sie sich wohlweislich eines Besseren besann und mit der übrigen Gesellschaft auf ihren eigenen Beinen dahin zurückzugehen beschloss.

Als die Reisenden daselbst anlangten, fanden sie, dass es ein ziemlich einsames Haus war, das hinsichtlich der Räumlichkeiten keine sonderlichen Bequemlichkeiten gewährte. Als man jedoch ein großes Reisigbündel und eine hübsche Portion Kohlen zu einem Kaminfeuer aufgehäuft hatte, gewann das Ganze bald ein besseres Ansehen, und ehe man noch alle vertilgbaren Spuren des kürzlichen Unfalls wegwaschen konnte, war das Zimmer warm und hell. Eigentlich kein übler Tausch für die Nacht und Kälte im Freien.

»Nun, Mr. Nickleby«, sagte Squeers, der sich die wärmste Ecke ausgesucht hatte, »es war recht, dass Sie die Pferde gehalten haben. Ich hätte es auch so gemacht, wenn ich rechtzeitig dazu gekommen wäre. Es freut mich, dass Sie es getan haben. Es war gut so. Sehr gut.«

»So gut«, mischte sich der Herr mit dem freundlichen Gesicht, dem der Gönnerton, den Squeers Nickleby gegenüber anschlug, nicht sonderlich zu gefallen schien, »dass Ihnen wahrscheinlich kein Gehirn im Kopf geblieben wäre, mit dem Sie weiter hätten Unterricht erteilen können, wenn die Pferde nicht gerade im letzten Augenblick noch festgehalten worden wären.«

Diese Bemerkung entfesselte eine reichlich mit Komplimenten und Danksagungen gewürzte allgemeine Erörterung über die Gewandtheit, die Nikolas im kritischen Moment an den Tag gelegt hatte.

»Ich bin natürlich sehr froh, so davongekommen zu sein«, bemerkte Squeers, »denn jedermann freut sich, eine Gefahr glücklich überstanden zu haben. Wenn zum Beispiel einer meiner Pflegebefohlenen Schaden genommen hätte und ich verhindert worden wäre, einen dieser kleinen Knaben seinen Eltern wieder gesund zurückzugeben, was hätten da meine Gefühle sein müssen? Es würde mir weit lieber gewesen sein, wenn mir selbst ein Rad über den Kopf gegangen wäre.«

»Sind es lauter Brüder, Sir?«, fragte die Dame mit der Reise- und Grubenlampe.

»In gewissem Sinne sind sie es, Madam«, antwortete Squeers und suchte in seinen Überrocktaschen nach Karten herum. »Sie stehen alle unter der gleichen, liebevollen und väterlichen Hand. Mrs. Squeers und ich, wir beide sind jedem von ihnen Vater und Mutter. – Mr. Nickleby, geben Sie der Dame und den übrigen Herrschaften diese Karten. Vielleicht kennen sie einige Eltern, die sich gern meines Institutes bedienen würden.«

Mit diesen Worten legte Mr. Squeers, der keine Gelegenheit versäumte, seine Geschäftsanzeige unentgeltlich unter die Leute zu bringen, die Hände auf die Knie und blickte mit so viel Wohlwollen, als er aufzubringen vermochte, auf seine Zöglinge, während Nikolas schamrot dem Auftrag nachkam und die Karten verteilte.

»Ich hoffe, dass Sie bei dem Unfall keinen Schaden genommen haben, Madam?«, wendete sich der freundliche Herr hastig an die zimperliche Dame, als sei sein sehnlichster Wunsch, von dem Thema loszukommen.

»Körperlich nicht«, versetzte die Dame.

»Wie! Ich will doch nicht hoffen, dass Sie geistig –«

»Der Gegenstand ist mir äußerst peinlich, Sir«, entgegnete die Dame in großer Aufregung, »und ich bitte Sie als einen Mann von Erziehung, das Thema fallen zu lassen.«

»Du mein Himmel«, meinte der Herr mit dem freundlichen Gesicht lächelnd, »ich wollte doch bloß fragen.«

»Und ich hoffe, dass Sie weiter keine Fragen mehr an mich stellen werden«, sagte die Dame, »oder ich würde mich genötigt sehen, den Beistand der übrigen Herren anzurufen. Herr Wirt, ich bitte, lassen Sie einen Knaben vor der Türe Acht geben. Wenn eine grüne Equipage von Grantham her vorbeikommt, soll sie hier anhalten.«

Da der Kondukteur inzwischen nach Grantham geritten war, um eine andere Postkutsche zu holen, machte der Herr mit dem heitern Gesicht, als die Gesellschaft eine Weile schweigend um das Feuer gesessen hatte, den Vorschlag, eine Bowle Punsch zu trinken.

»Was meinen Sie dazu, Sir?«, fragte er den Passagier, der sich im Innern der Kutsche den Kopf verletzt hatte und einen sehr vornehmen Eindruck machte.

Der Punsch wurde gebracht, und heitere Gespräche waren bald im Gang.

Auf den allgemeinen Vorschlag, es möge doch jemand, um die Unterhaltung zu erhöhen, irgendeine nette Geschichte erzählen, erklärte sich der Herr mit dem freundlichen Gesicht endlich lächelnd dazu bereit und begann ohne weitere Ziererei folgende Erzählung zum Besten zu geben:

 

Freiherr von Saufaus

 

Der Freiherr von Saufaus auf Humpenburg in Deutschland war ein so liebenswürdiger junger Edelmann, wie man sich nur einen wünschen kann. Ich brauche wohl nicht zu sagen, dass er in einer Burg wohnte, denn das versteht sich von selber; auch brauche ich nicht zu bemerken, dass er in einer alten Burg lebte, denn welcher deutsche Baron hätte je in einer neuen gewohnt?

Es hatte mit diesem ehrwürdigen Gebäude in vieler Beziehung so seine Bewandtnis, und es galt für auch weiter nicht besonders befremdlich oder geheimnisvoll, dass es, wenn der Wind blies, in den Schornsteinen rumorte und dass die Strahlen des Mondes durch gewisse kleine Öffnungen in den Mauern schienen und die weiten Hallen und Galerien teilweise hell erleuchteten, während die größere Hälfte der Gemächer in tiefem Schatten lag.

Es hieß, dass ein Vorfahre des Freiherrn, als es ihm an Geld gebrach, einen Wanderer, der ihn eines nachts nach dem Weg gefragt, erdolcht habe, und man munkelte, die erwähnten sonderbaren Umstände seien eine Folge dieser Untat.

Ich meinesteils kann mir das kaum denken, zumal der Ahnherr des Freiherrn ein sehr frommer Mann war und seine übereilte Tat dadurch sühnte, dass er aus dem Bauholz und den Steinen, die einem weniger wehrhaften Nachbarn gehörten, eine Kapelle errichtete und sich auf diese Weise eine Generalquittung für alle Forderungen, die der Himmel jemals an ihn stellen könnte, erwarb.

Auf wie viele Ahnen der Freiherr zurückblicken mochte, vermag ich leider nicht anzugeben; eines aber ist sicher, nämlich dass er deren mehr hatte als irgendein Adliger seiner Zeit, und ich wünschte nur, er hätte in unseren Tagen gelebt, dann würde er noch mehr gehabt haben.

Es ist überhaupt ein Jammer für die großen Männer vergangener Zeiten, dass sie so früh geboren wurden, denn von einem Mann, der vor drei- oder vierhundert Jahren gelebt hat, kann man nicht erwarten, dass er so viele Vorfahren aufzuweisen hat, wie einer in unseren Tagen. Der letzte Mensch, und wäre er auch nur ein Schuhflicker oder sonst ein armer Tropf, wird naturgemäß einen größeren Stammbaum haben, als ein Mann von ältestem Adel in unsern Tagen; und das ist doch gewiss etwas, was von rechtswegen nicht sein sollte.

Also gut, der Freiherr von Saufaus auf Humpenburg war ein hübscher, dunkelhäutiger Mann mit schwarzem Haar und buschigem Schnurrbart, der in hellgrünem Wams und hohen Juchtenstiefeln, ein Horn über der Schulter, ähnlich dem der englischen Postkutschen-Kondukteure, auf die Jagd zu reiten pflegte. Wenn er in dieses Horn stieß, erschienen auf der Stelle vierundzwanzig Mannen von untergeordneterem Range in etwas gröberer grüner Tracht und etwas dicker besohlten Juchtenstiefeln und sprengten mit ihm, lange Spieße in den Händen, dahin, um Eber oder Bär zu hetzen; und wenn der Freiherr dem betreffenden Untier den Knickfang gegeben hatte, wichste er sich mit dem Fett seinen Schnurrbart.

Es war das ein lustiges Leben für den Freiherrn von Saufaus und ein noch lustigeres für seine Vasallen, die Nacht für Nacht Rheinwein tranken, bis sie unter den Tisch fielen, wo sie dann weiterzechten; und nie gab es wohl fröhlicher lärmende, scherzliebende Gesellen als Saufaus’ lustige Schar.

Doch auch die Freuden an oder unter der Tafel fordern bisweilen eine kleine Abwechslung. Daher sah sich der Freiherr eines Tages nach etwas Anregenderem um, fing mit seinen Kumpanen Händel an und trat zum Zeitvertreib zwei oder drei von ihnen jedes Mal nach dem Mittagessen mit Füßen. Aber auch das befriedigte ihn nicht viel länger als eine Woche; dann wich seine gute Laune, und er sah sich nach einer neuen Zerstreuung um.

Eines Abends nach der Jagd, auf der er wieder einen riesigen Bären zur Strecke gebracht hatte, saß er übelgelaunt an der Tafel und musterte mit missvergnügten Blicken die rauchige Decke der Halle. Er stürzte einen Humpen Wein nach dem andern hinunter, aber je mehr er trank, desto finsterer sah er drein. Die Herren, die die bedenkliche Auszeichnung genossen, in seiner Nähe zu sitzen, suchten natürlich nach Möglichkeit, es ihm im Trinken und in mürrischen Mienen gleichzutun.

»Ich will’s!«, schrie der Freiherr plötzlich und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Füllt eure Humpen auf das Wohl der Freifrau von Saufaus.«

Die vierundzwanzig Grünröcke erblassten bis auf ihre Nasen, die unverändert rot glühten.

»Ich habe die Gesundheit der künftigen Freifrau ausgebracht«, wiederholte der Freiherr und blickte wild umher.

»Die Freifrau von Saufaus soll leben!«, brüllten die grünen Mannen, und vierundzwanzig gewaltige Humpen, mit trefflichem altem Rheinwein gefüllt, ergossen ihren Inhalt durch vierundzwanzig Kehlen. Dann lautes Schnalzen von achtundvierzig Lippen und sehnsüchtiges neuerliches Blinzeln nach dem Fass.

»Die schöne Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen!«, rief Saufaus. »Wir wollen sie von ihrem Vater zur Ehe begehren, ehe noch die Sonne morgen in ihr Bett scheint. Und wenn er unsere Bewerbung zurückweist, so werden wir ihm die Nase abschneiden.«

Die Tafelrunde ließ ein drohendes Murmeln hören und jeder fasste mit schrecklicher Bedeutsamkeit zuerst nach seinem Schwertgriff und dann nach seiner Nasenspitze.

Es ist doch etwas Schönes um kindlichen Gehorsam. Hätte die Tochter des Freiherrn von Schwillenhausen erklärt, sie habe bereits ihr Herz verschenkt oder sich ihrem Vater zu Füßen geworfen, um sie mit Tränen zu benetzen, oder wäre sie nur in Ohnmacht gefallen und dem alten Herrn mit Gefühlsausbrüchen zu Leibe gegangen, so hätte man eins gegen hundert wetten können, dass Burg Schwillenhausen flöten gegangen und sein Herr aus dem Fenster geworfen worden wäre.

Das Freifräulein verhielt sich jedoch, als am nächsten Morgen ein Bote das Gesuch des Freiherrn überbrachte, ganz gefasst und zog sich sittsam in ihr Kämmerlein zurück und schaute von dort nach dem angekündigten Freier und seinem Gefolge aus.

Sie hatte sich kaum überzeugt, dass der Reiter mit dem großen Schnurrbart der Freier sei, als sie sogleich zu ihrem Vater eilte und ihm ihre Bereitwilligkeit ausdrückte, sich für ihn und den Frieden des Hauses zum Opfer zu bringen; und der ehrwürdige alte Herr umarmte sein Kind und ließ Freudentränen aus seinen Augen rieseln.

Auf der Burg ging es an diesem Tage gar hoch her. Saufaus’ vierundzwanzig grüne Mannen tauschten das Gelübde ewiger Freundschaft mit den zwölf Grünen derer von Schwillenhausen und schwuren dem alten Baron, nicht eher aufzuhören von seinem Weine zu trinken, bis alles blau wäre; womit sie wahrscheinlich in erster Linie meinten: bis ihre Gesichter dieselbe Farbe erhalten hätten, wie ihre Nasen.

Als die Zeit des Aufbruchs herankam, schlugen alle einander auf die Schulter, und der glückliche Bräutigam ritt mit seinem Gefolge frohen Mutes nach Hause.

Sechs lange Wochen hatten die Bären und Eber Feiertag. Die Häuser derer von Saufaus und Schwillenhausen waren vereinigt, die Spieße rosteten und das Horn des Freiherrn wurde heiser, weil es gar nicht mehr geblasen wurde.

Das waren glückliche Tage für die Vierundzwanzig. Aber ach, diese herrliche Zeit hatte bereits ihre Siebenmeilenstiefel angezogen und war im Schwinden begriffen.

»Mein Bester –«, sagte die Freifrau.

»Meine Liebe?«, sagte der Freiherr.

»Diese rohen, lärmenden Menschen –«

»Welche?«, fuhr der Freiherr auf.

Die Freifrau deutete aus dem Fenster, an dem sie mit ihrem Gemahl stand, in den Hof hinunter, wo die nichtsahnenden Grünröcke, den Fuß bereits im Steigbügel, um den Eber zu hetzen, noch einen guten Schluck zu sich nahmen.

»Mein Jagdgefolge?«, fragte der Ritter.

»Entlasse sie, mein Gemahl!«, flüsterte die Freifrau.

»Sie entlassen?«, fragte der Freiherr erstaunt.

»Mir zu Liebe, mein Gemahl!«, schmeichelte die Dame.

»Dem Teufel zu Liebe«, antwortete der Baron.

Die Freifrau aber stieß einen lauten Schrei aus und sank ohnmächtig zu den Füßen des Freiherrn nieder.

Was konnte der Freiherr tun? Er rief nach der Kammerfrau, eilte in den Hof hinunter, gab zweien der Grünröcke, die es am meisten gewöhnt waren, einen Tritt, verwünschte die Übrigen der Reihe nach und hieß sie, sich zum Henker scheren.

Dies war der erste Sieg der Freifrau über ihren Gemahl, und ich brauche hier wohl nichts mehr zu sagen, als dass er allmählich immer mehr und mehr bei strittigen Fragen den Kürzeren zog oder mit List aus dem Sattel irgendeines alten Steckenpferdes geworfen wurde.

Mit der Zeit wurde er ein wohlgenährter Achtundvierziger mit Herzverfettung und hielt weder Gelage noch Jagden ab oder sonst etwas, was ihm früher Freude gemacht. Er war zwar immer noch unbändig wie ein Löwe und starr wie Erz, aber fürchterlich unter dem Pantoffel.

Und das machte noch nicht einmal sein ganzes Missgeschick aus. Ungefähr ein Jahr nach seiner Vermählung kam ein junges, lustiges Freiherrlein auf die Welt, dem zu Ehren ein großes Feuerwerk abgebrannt und eine Unmasse von Wein getrunken wurde.

Im nächsten Jahr erschien ein kleines Freifräulein, das Jahr darauf wieder ein junger Freiherr, und so ging es abwechselnd weiter, bis der Herr Baron Vater einer kleinen Familie von zwölf Kindern war.

Bei einem jedem solchen Jahresfeste war die alte Freifrau von Schwillenhausen immer wieder in tausend Ängsten um das Wohl ihres lieben Kindes, der Freifrau von Saufaus; und obwohl man nicht behaupten konnte, dass sie zur Förderung der Genesung ihrer Tochter wesentlich beitrug, so machte sie sich’s doch jedenfalls zur Pflicht, auf dem Schlosse Humpenburg so bekümmert wie möglich zu tun und ihre Zeit zwischen spitzigen Bemerkungen über ihres Schwiegersohnes Haushalt und Klagen über das harte Schicksal ihres unglücklichen Kindes zu teilen.

Wenn sich dann der Freiherr von Saufaus, dadurch ein wenig gekränkt, zu der Bemerkung aufraffte, seine Gattin sei zum Mindesten nicht übler daran als die Frauen anderer Edelleute, so rief die Baronin von Schwillenhausen die ganze Welt zum Zeugen auf, dass niemand als sie Mitgefühl für die Leiden ihrer Tochter empfinde, worauf natürlich sämtliche Verwandten und Freunde bestätigten, dass sie jedenfalls weit mehr Tränen vergieße als ihr Schwiegersohn, und dass es keinen hartherzigeren Menschen gäbe als der! Freiherrn von Saufaus

Der arme Ritter ertrug dies alles, so gut es ging. Und als es nicht mehr ging, verlor er Appetit und Heiterkeit und setzte sich düster und niedergeschlagen in eine Ecke. Aber noch Schlimmeres stand ihm bevor, und als es kam, steigerte sich seine Schwermut. Nach und nach geriet er in Schulden; in seinen Truhen, die die Familie Schwillenhausen für unerschöpflich gehalten hatte, ging es zur Neige, und als seine Gemahlin im Begriffe war, den Stammbaum des Hauses mit einem dreizehnten Reis zu schmücken, machte er die betrübende Entdeckung, dass es mit seinen Mitteln zu Ende sei.

»Ich sehe nicht«, sagte sich der Freiherr, »wie ich mir weiter helfen könnte. Es wird wohl das Beste sein, ich bringe mich um.«

Das war ein glorreicher Gedanke. Der Freiherr nahm ein altes Jagdmesser aus einem Wandschrank, wetzte es an seiner Stiefelsohle und fuhr sich damit nach der Kehle.

»Hm«, sagte er dann und hielt inne, »vielleicht ist es nicht scharf genug.«

Abermals wetzte er es und wiederholte seinen Versuch, aber diesmal störte ihn das Kindergeschrei, das aus dem Turmzimmer über dem seinen herabtönte.

»Wäre ich Junggeselle«, seufzte der Freiherr, »so hätte ich es wohl fünfzig Mal ausführen können, ohne dabei unterbrochen worden zu sein. »Heda, man bringe mir einen Humpen Wein und die längste Pfeife in das kleine Zimmer hinter der Halle!«

Einer der Diener kam dem Befehl unterwürfig im Verlauf einer halben Stunde oder darüber nach, und als der Freiherr sich nach dem gewölbten Zimmer verfügte, dessen schwarzgetäfelte und polierte Wände von dem Feuer des im Kamin lodernden Holzstoßes widerstrahlten, standen Humpen und Pfeife bereit und der Ort sah im ganzen recht behaglich aus.

»Lass die Lampe da!«, befahl der Freiherr.

»Befehlen sonst noch etwas, gnädiger Herr?«, fragte der Diener.

»Abfahren«, brummte der Freiherr, jagte den Diener hinaus und verschloss die Türe.

»Ich will noch meine letzte Pfeife rauchen«, seufzte er dann, »ehe ich der Welt Lebewohl sage.«

Mit diesen Worten legte der Freiherr von Saufaus sein Messer auf den Tisch, goss ein ziemliches Quantum Wein hinunter, warf sich in seinem Stuhl zurück, streckte seine Füße vor dem Feuer aus und blies mächtige Rauchwolken in die Luft.

Er machte sich dabei allerlei Gedanken über seine gegenwärtige Trübsal, über die entschwundenen Tage seines Junggesellenlebens und über die vierundzwanzig Grünröcke, die sich seitdem nach allen Himmelsrichtungen zerstreut hatten, ohne dass man weiter etwas von ihnen gehört hätte. Sein Geist war mit Bären und Wildschweinen beschäftigt, und er hatte eben das Glas angesetzt, um es bis auf den Grund zu leeren, als er plötzlich zu seinem grenzenlosen Erstaunen bemerkte, dass er nicht allein sei.

Er war auch wirklich nicht allein, denn ihm gegenüber am Kamin saß mit verschränkten Armen eine runzlige, gräuliche Gestalt mit eingesunkenen blutunterlaufenen Augen und einem langgezogenen Leichengesicht, in das das verfilzte schwarze Haar wild herabhing. Der Mann trug eine Art Tunika von dunkler, ins Bläuliche spielender Farbe, die, wie der Freiherr zu seinem Erstaunen bemerkte, von oben bis unten mit Sarggriffen verziert und zusammengehalten war. Die Beine staken in Sargschildern, ähnlich den Schienen einer Rüstung, und über der linken Schulter trug die Erscheinung einen kurzen, dunklen Mantel, der aus den Überresten eines Sargtuches angefertigt zu sein schien. Das Phantom schenkte seinem Gegenüber nicht die geringste Aufmerksamkeit und blickte nur unablässig ins Feuer.

»Hallo!«, rief der Freiherr und stampfte mit dem Fuße auf, um sich bemerkbar zu machen.

»Nun, was gibt’s?«, fragte die Erscheinung und drehte ihre Augen dem Ritter zu.

»Was es gibt?«, fuhr der Freiherr auf, dem die hohle Stimme und die glanzlosen Augen keine Furcht einzujagen vermochten. »Diese Frage steht, dächte ich, eigentlich mir zu. Wie bist du hierher gekommen?«

»Durch die Türe.«

»Wer bist du?«, forschte der Freiherr.

»Ein Mensch wie du.«

»Das glaube ich nicht.«

»Dann lass es bleiben«, höhnte die Gestalt.

»Auch recht«, brummte der Freiherr.

Das Phantom blickte den unerschrockenen Ritter eine Weile lang an und lenkte dann ein:

»Ich sehe wohl, dass man dir nichts weismachen kann. Ich bin kein Mensch.«

»Also, was bist du denn?«

»Ein Engel.«

»Du siehst mir gerade nicht wie ein solcher aus«, meinte der Freiherr verächtlich.

»Ich bin der Engel der Verzweiflung und des Selbstmordes«, sagte die Erscheinung. »Jetzt kennst du mich.«

Mit diesen Worten wandte sich das Gespenst zu dem Freiherrn, als habe es dringend mit ihm zu sprechen. Höchst auffallend war, dass es dabei den Mantel zurückschlug und einen Pfahl sehen ließ, der ihm mitten durch den Leib getrieben war. Mit einem Ruck zog es ihn heraus und legte ihn so kaltblütig auf den Tisch, als ob er ein Spazierstock gewesen wäre.

»Nun«, sagte das Gespenst und schielte dabei nach dem Jagdmesser, »bist du bereit?«

»Noch nicht ganz«, antwortete der Freiherr. »Ich muss zuvor noch diese Pfeife ausrauchen.«

»Also mach schnell«, drängte das Gespenst.

»Du scheinst es ja sehr eilig zu haben«, meinte der Freiherr.

»Allerdings. In Frankreich und England geht augenblicklich das Geschäft so stark, dass meine Zeit sehr in Anspruch genommen ist.«

»Trinkst du?«, fragte der Freiherr und berührte den Humpen mit der Pfeife.

»In neun Fällen unter zehn, aber dann tüchtig.«

»Niemals mit Maß?«

»Niemals«, erwiderte die Gestalt mit einem Schauder, »das würde doch Fröhlichkeit erzeugen.«

Der Freiherr betrachtete seinen seltsamen Gast abermals von Kopf bis zu Fuß und kam zu dem Schluss, dass es wirklich ein kurioser Kauz wäre. »Nimmst du denn an allen Fällen, wie dem meinigen, so tätigen Anteil?«, fragte er endlich.

»N-nein«, sagte das Gespenst ausweichend, »aber ich bin immer zugegen.«

»Um zu sehen, ob alles in Ordnung ist? Was?«

»Ja«, gab das Phantom zu, mit dem Pfahle spielend, dessen Eisenbeschlag es sorgfältig untersuchte. »Aber mach schnell jetzt. Ich wittere, dass ein junger Herr, der zu viel Geld und freie Zeit hat, gegenwärtig meiner dringend bedarf.«

»Was? Einer will sich umbringen, weil er zu viel Geld hat?«, rief der Ritter, nicht wenig erheitert. »Ha, ha, ha, das ist eine kuriose Idee.« – Es war seit langer Zeit, dass der Freiherr wieder einmal lachte.

»Ich rate dir«, verwies der Geist ernstlich gekränkt, »lass das in Zukunft.«

»Warum denn?«

»Weil es mir durch Mark und Bein geht. Seufze lieber. Das tut mir wohl.«

Der Freiherr seufzte unwillkürlich, und das Gespenst war sofort wieder heiter und reichte ihm mit ausgesuchter Höflichkeit das Jagdmesser hin.

»Hm. Kein übler Gedanke, sich den Hals durchzuschneiden, weil man zu viel Geld hat«, brummte der Freiherr und prüfte die Schneide des Messers.

»Nicht schlimmer, als wenn sich jemand umbringt, weil er wenig oder gar keins hat«, meinte das Phantom.

Sprach der Geist aus Unvorsichtigkeit so oder hielt er den Entschluss des Freiherrn für so fest gefasst, dass er nicht mehr umzustoßen sei? Ich weiß es nicht, aber jedenfalls hielt der Freiherr in seinem Vorhaben plötzlich inne, riss die Augen weit auf und sah ganz so aus wie jemand, dem mit einem Male ein Licht aufgeht.

»Eigentlich«, überlegte er, »ist nichts so schlimm, dass es sich nicht wieder gut machen ließe.«

»Leere Truhen ausgenommen«, sagte das Gespenst.

»Na, die ließen sich schließlich vielleicht doch wieder füllen«, meinte der Freiherr.

»Keifende Weiber«, murrte der Geist unwirsch.

»Die könnte man zähmen«, entgegnete der Ritter.

»Dreizehn Kinder«, brüllte der Geist.

»Können unmöglich alle missraten.«

Der Geist war augenscheinlich grässlich wütend auf den Freiherrn, der auf einmal seine Ansichten so ganz und gar geändert hatte, aber er versuchte es, seinen Grimm unter einem Lächeln zu verbergen, und sagte, er würde sich dem Herrn Baron ungemein verpflichtet fühlen, wenn dieser mit seinen Scherzreden endlich aufhören wolle.

»Es ist mir nicht im Geringsten eingefallen zu scherzen«, versetzte der Freiherr.

»Nun, das freut mich«, sagte der Geist mit äußerst grämlicher Miene, »denn Scherz und gute Laune gehen mir furchtbar auf die Nerven. – Also rasch, gib sie auf, diese traurige Welt!«

»Ich weiß wirklich nicht«, überlegte der Freiherr, mit dem Messer spielend; »sie ist allerdings sehr traurig, aber ich glaube nicht, dass die deine viel besser ist. Dein Aussehen wenigstens ist nicht besonders tröstlich. – Und welche Sicherheit habe ich schließlich, dass ich besser daran sein werde, wenn ich diese Welt verlasse?!«, rief er und sprang auf. »Das habe ich wahrhaftig noch gar nicht bedacht.«

»Beeile dich!«, drängte das Gespenst zähneknirschend.

»Hebe dich weg von mir!«, rief der Freiherr. »Ich will nicht länger über meinem Unglück brüten. Vielmehr eine gute Miene dazu machen und es wieder mit der frischen Luft und der Bärenjagd versuchen. Hilft das nicht, so will ich ein Wörtchen mit meiner Gnädigen sprechen und die Schwillenhausens totschlagen.«

Mit diesen Worten warf sich der Ritter in seinem Stuhl zurück und lachte so laut, dass das Zimmer dröhnte.

Das Gespenst wich ein paar Schritte zurück und sah ihn mit einem Blick des größten Entsetzens an. Dann griff es wieder nach seinem Pfahl, stieß ihn sich mit aller Macht durch den Leib, heulte fürchterlich auf und verschwand.

Baron Saufaus sah das Phantom nie wieder. Da er wirklich entschlossen war zu handeln, brachte er die Freifrau und die von Schwillenhausen bald zur Vernunft und starb viele Jahre nachher als glücklicher, wenn auch nicht allzu reicher Mann, obschon ich in dieser Hinsicht keine bestimmte Auskunft zu geben vermag. Jedenfalls hinterließ er eine zahlreiche Familie, die unter seiner persönlichen Leitung zur Bären- und Eberjagd herangebildet worden war.

Mein Rat ist nun der, dass alle Männer, die aus ähnlichen Ursachen kopfhängerisch geworden sind, beide Seiten der Medaille betrachten mögen und die bessere an ein Vergrößerungsglas halten sollten. Fühlen sie sich dann noch versucht, ohne Sang und Klang aus der Welt zu scheiden, so sollten sie jedenfalls vorher noch eine lange Pfeife rauchen, eine Flasche Wein leeren, und aus dem lobenswerten Beispiel des Freiherrn von Saufaus …«

 

»Der Wagen steht bereit, meine Herrschaften!«, rief der Postillon in das Zimmer. »Einsteigen! Einsteigen!«

Die Punschgläser wurden in aller Eile geleert und die Reise wieder fortgesetzt. Nikolas schlief gegen Morgen ein, und als er wieder erwachte, fand er zu seinem großen Leidwesen, dass während seines Schlummers beide, der Baron von Saufaus und der grauhaarige Herr, ausgestiegen und auf und davon waren.

Der Tag schleppte sich langsam genug hin, und abends, ungefähr gegen sechs Uhr, wurden Mr. Squeers, sein Hilfslehrer, die Knaben und das gesamte Gepäck vor dem neuen Gasthaus zum »Heiligen Georg« in Greta-Bridge abgesetzt.

7. Kapitel

Mr. und Mrs. Squeers im häuslichen Kreise

 

Mr. Squeers ließ Nikolas und die Knaben mit dem Gepäck auf der Straße warten, um ihnen das Vergnügen, dem Wechseln der Pferde zuzusehen, nicht zu schmälern, und eilte ins Wirtshaus, um am Schenktische »die Beine ein wenig auszustrecken«. Nach einigen Minuten kam er »ausgeruht«, wie man aus der Röte seiner Nase und seinem Schlucksen deutlich entnehmen konnte, wieder heraus, und zugleich wurde ein schmutziger Einspänner und ein Karren, mit zwei Arbeitern davor, aus dem Hofe gezogen.

»Setzt die Knaben und die Koffer in den Karren«, befahl er, sich die Hände reibend. »Ich und dieser junge Mann werden den Einspänner benützen. Steigen Sie ein, Nickleby.«

Nikolas gehorchte, und nachdem Mr. Squeers die Mähre nicht ohne einige Mühe veranlasst hatte, gleichfalls zu gehorchen, fuhren sie ab und ließen den mit so viel Kinderelend beladenen Karren langsam nachfolgen.

»Ist es noch weit nach Dotheboys Hall, Sir?«, fragte Nikolas.

»Noch etwa drei Meilen«, versetzte Squeers. »Sie können übrigens hier unten das ›Hall‹ weglassen.«

Nikolas hustete, um anzudeuten, dass es ihm angenehm wäre, den Grund davon zu erfahren.

»Es gibt nämlich keine ›Hall‹ hier«, erklärte Squeers trocken.

»So?«, sagte Nikolas nicht wenig befremdet.

»In London nennen wir es Hall, weil es besser klingt, aber hier herum kennt niemand etwas dergleichen. Es kann einer sein Haus eine Insel nennen, wenn es ihm beliebt. So viel ich weiß, ist das durch keine Parlamentsakte verboten.«

»Allerdings nicht, Sir«, gab Nikolas zögernd zu und schwieg.

Squeers warf ihm einen schlauen Blick zu, aber da er ihn in Gedanken vertieft und keineswegs geneigt sah, weiter auf das Gespräch einzugehen, begnügte er sich, auf den Gaul einzuhauen, bis sie endlich am Ziele ihrer Reise anlangten.

»So, Mr. Nickleby, steigen Sie hier aus«, sagte er dann. »Heda! Holla! Das Pferd ausgespannt! Na, wird’s bald?«

Nikolas hatte inzwischen Zeit, Beobachtungen anzustellen, und sah, dass Mr. Squeers’ Erziehungsanstalt ein langes, kalt aussehendes, einstöckiges Haus war, hinter dem sich einige Nebengebäude, eine Scheune und ein Stall befanden. Nach ein paar Minuten hörte man jemand den Riegel des Hoftors zurückschieben, und gleich darauf trat ein aufgeschossener, aus gemergelter Junge mit einer Laterne in der Hand heraus.

»Bist du’s, Smike?«, rief Squeers.

»Ja, Sir.«

»Warum zum Teufel hast du so lange gemacht?«

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich war beim Feuer eingeschlafen«, antwortete Smike demütig.

»Feuer? Was für ein Feuer? Wo ist Feuer?«, fragte der Schulmeister scharf.

»Nur in der Küche, Sir«, entgegnete der Junge. »Mrs. Squeers sagte, ich könnte hineingehen und mich wärmen, bis Sie kämen.«

,»Ich glaube, Mrs. Squeers ist toll geworden«, brauste der Pädagog auf. »Du wärest in der Kälte wahrhaftig eher wach geblieben.«

Mr. Squeers war mittlerweile ausgestiegen und befahl dem Jungen, nach dem Pferd zu sehen und dafür Sorge zu tragen, dass es heute keinen Hafer mehr bekäme. Dann hieß er Nikolas an der Eingangstüre warten, die er von innen öffnen gehen wollte.

Ein Heer schlimmer Gedanken bestürmten Nikolas; die große Entfernung von der Heimat und die Unmöglichkeit, sie anders als zu Fuße zu erreichen, wenn er genötigt sein sollte zurückzukehren, stellten sich ihm in den beunruhigendsten Farben dar, und als er das trübselige Haus mit den dunklen Fenstern und die wilde, rings umher mit Schnee bedeckte Gegend betrachtete, fühlte er ein Herzeleid, wie er es bisher nie gekannt hatte.

»Nun?«, rief Squeers und steckte den Kopf aus der Türe. »Wo sind Sie denn, Nickleby?«

»Hier, Sir.«

»So kommen Sie doch herein. Der Wind saust durch die Türe, dass es einen umwerfen könnte.«

Nikolas gehorchte seufzend. Mr. Squeers legte, um das Tor gegen den Wind zu sichern, einen Balken vor und führte dann den Hilfslehrer in ein kleines, sparsam mit Stühlen versehenes Zimmer. An der Wand hing eine vergilbte Landkarte, und auf einem der beiden vorhandenen Tische standen die Vorbereitungen zu einem Abendessen, während auf dem andern Murrays Grammatik – der unentbehrliche Ratgeber des Pädagogen –, ein halbes Dutzend Geschäftskarten und ein alter, an Wackford Squeers, Wohlgeboren, adressierter Brief in malerischer Unordnung umherlagen.

Sie waren kaum ein paar Minuten in diesem Gemach, als ein Frauenzimmer hereinstürzte, Mr. Squeers an der Kehle packte und ihm zwei schallende Küsse applizierte, die einander so rasch wie das Klopfen eines Briefträgers folgten.

Die Dame, eine hagere, derbknochige Gestalt, war fast um einen halben Kopf größer als Mr. Squeers und trug eine barchentne Nachtjacke und eine schmutzige Schlafmütze, gegen die ein gelbes, baumwollenes Schnupftuch, das sie unter dem Kinn zusammengeknüpft hatte, lebhaft abstach.

»Was macht mein Squeerchen?«, fragte sie in scherzendem Tone und mit rauer heiserer Stimme.

»Ganz gut geht’s mir, meine Liebe«, versetzte Squeers. »Was machen die Kühe?«

»Alles wohl. Stück für Stück.«

»Und die Schweine?«

»Sind so gesund wie bei deiner Abreise.«

»Gott sei Dank«, sagte Squeers und zog seinen Reisemantel aus. »Mit den Jungen ist wahrscheinlich auch alles in Ordnung?«

»O ja, so ziemlich«, versetzte die Dame ärgerlich. »Der kleine Pitcher hat wieder Fieber.«

»Verdammter Bengel«, fluchte Squeers, »der hat auch immer was.«

»Ich glaube, auf der ganzen Welt gibt’s keinen so nichtsnutzigen Jungen mehr«, schimpfte Mrs. Squeers, »und wenn er etwas hat, dann ist’s auch jedes Mal noch ansteckend. Aber es ist nichts als seine Verstocktheit, das wird mir niemand ausreden. Ich werde es ihm aber schon ausprügeln, wie ich dir bereits vor sechs Monaten gesagt habe.«

»Ja, ich erinnere mich, meine Liebe«, brummte Squeers. »Na, wir werden ja sehen, was sich tun lässt.«

Nikolas stand mittlerweile verlegen mitten im Zimmer, unschlüssig, ob er sich in den Hausflur zurückziehen oder bleiben solle. Mr. Squeers erlöste ihn jetzt aus dieser peinlichen Ungewissheit.

»Dies ist der neue junge Mann, mein Schatz«, stellte er ihn der Frau vom Hause vor.

»So«, sagte Mrs. Squeers, nickte Nikolas zu und musterte ihn unfreundlich von Kopf bis zu Fuß.

»Er wird mit uns zu Abend essen und morgen sein Geschäft bei den Jungen beginnen. – Du kannst ihm doch eine Streu zurecht machen, was?«

»Will sehen, was sich tun lässt«, brummte die Dame. »Sie machen sich doch nichts daraus, wie Sie schlafen, was?«

»O nein«, beeilte sich Nikolas zu erwidern, »in dieser Hinsicht bin ich nicht heikel.«

»Na, das ist ja ein großes Glück«, höhnte Mrs. Squeers.

Der Witz der Dame pflegte sich zumeist in beißenden Antworten zu äußern, und Mr. Squeers lachte deshalb herzlich und schien von Nikolas dasselbe zu erwarten.

Sodann entspann sich zwischen dem Ehepaar wieder eine lebhafte Unterhaltung über den Erfolg von Mr. Squeers’ Abstecher und inzwischen eingegangene Zahlungen und böswillige Schuldner, die erst aufhörte, als ein Dienstmädchen eine Yorkshirer Pastete und ein kaltes Stück Rindfleisch hereintrug und beides auf den Tisch setzte, worauf der junge Smike mit einem Krug Bier erschien.

Mr. Squeers entleerte die Taschen seines Mantels von den Briefen an die verschiedenen Zöglinge und von kleinen Dokumenten, die er mitgebracht hatte, wobei der halbwüchsige Junge mit einem scheuen und ängstlichen Ausdruck auf die Papiere blickte, als hege er die schwache Hoffnung, es könne vielleicht auch etwas für ihn darunter sein. Der Blick war so schmerzlich und sprach von so langen qualvollen Leiden, dass er Nikolas tief ins Herz schnitt.

Obgleich Smike nicht weniger als achtzehn oder neunzehn Jahre zählen konnte und für dieses Alter ziemlich groß schien, so war doch seine Kleidung ungefähr die eines kleinen Knaben und an Armen und Beinen geradezu lächerlich kurz, nichtsdestoweniger aber weit genug, so mager und abgezehrt war die Gestalt des Jungen.

Um die untere Partie seiner Beine mit dieser seltsamen Garderobe in Einklang zu bringen, trug er ein Paar ungeheure Stiefel, die ursprünglich mit Stulpen versehen gewesen, für einen stämmigen Bauern gemacht sein mochten, aber jetzt sogar für einen Bettler zu zerschlissen waren.

Gott weiß, wie lange er schon bei Squeers sein konnte, aber offenbar trug er noch immer dasselbe Weißzeug, das er einst mitgebracht, denn um den Hals hing ihm eine zerrissene Kinderkrause, die zur Hälfte von einem groben Männerhalstuch bedeckt war. Er hinkte, und während er sich emsig mit der Herrichtung des Tisches beschäftigte, warf er einen so scharfen und doch so entmutigten und hoffnungslosen Blick auf die Briefe, dass Nikolas es kaum mehr mit ansehen zu können glaubte.

»Was schnüffelst du da herum, Smike?«, rief Mrs. Squeers plötzlich. »Willst du wohl die Sachen daliegen lassen, was?«

»Ah, du bist da?«, sagte der Pädagog und blickte auf.

»Ja, Sir«, hauchte der Junge und presste die Hände zusammen, als ob er mit Gewalt die zuckenden Finger zurückhalten müsse, nicht nach den Papieren zu greifen, »ist nicht –?«

»Was?«, fuhr Squeers auf.

»Haben Sie – ist jemand – hat man nichts gehört – über mich?«

»Zum Henker, nein«, brummte Squeers verdrießlich.

Der Junge blickte weg und schlich, sich mit der Hand die Augen bedeckend, zur Türe.

»Nicht ein Wort«, nahm Squeers seine Rede wieder auf, »und ich werde wohl auch nie etwas zu hören bekommen. Wirklich unglaublich, dass du jetzt schon so viele Jahre hier bist und man nach den ersten sechsen keinen Penny mehr für dich bezahlt hat. Nicht einmal gefragt hat man nach dir, sodass man hätte ausfindig machen können, wohin du gehörst. Eine feine Geschichte das, einen so großen Bengel wie dich auffüttern zu müssen, ohne die Hoffnung zu haben, je einen Penny dafür zu bekommen. Was?«

Der Junge legte die Hand an die Stirne, als versuche er, sich irgendeine Erinnerung zurückzurufen, blickte dann ausdruckslos nach dem Frager, verzog allmählich sein Gesicht zu einem krampfhaften Lächeln und hinkte hinaus.

»Ich muss dir sagen, Squeers«, bemerkte die Frau vom Hause, als sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte, »ich fürchte, der Bursche wird noch blödsinnig.«

»Will ich nicht hoffen«, brummte Squeers, »er ist sonst brauchbar und ganz anstellig und für das bisschen Essen und Trinken eigentlich billig. Wäre es aber schließlich auch der Fall, für unsere Zwecke wird er immer noch genug Verstand haben. Aber komm jetzt, wir wollen essen. Ich bin hungrig und müde und will machen, dass ich zu Bett komme.«

Auf diese Mahnung wurde noch ein Beefsteak für Mr. Squeers hereingebracht, der nicht säumte, ihm volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Nikolas zog sich einen Stuhl an den Tisch heran, aber der Appetit war ihm gänzlich vergangen.

»Wie findest du das Beefsteak?«, fragte Mrs. Squeers.

»Zart wie Lammfleisch«, schnaufte Squeers kauend. »Willst du versuchen?«

»Nein, nein, ich bin ganz satt«, lehnte die Hausfrau ab. »Was soll der junge Mann bekommen, mein Lieber?«

»Was er mag«, erwiderte Squeers in einer höchst ungewöhnlichen Anwandlung von Großmut.

»Also was, Mr. Knickerby?«, fragte Mrs. Squeers.

»Ich möchte mir ein kleines Stückchen von der Pastete ausbitten; nur ein ganz kleines, ich bin nicht hungrig«, antwortete Nikolas.

»Ist es aber nicht schade, die Pastete aufzuschneiden, wenn Sie nicht hungrig sind?«, meinte Mrs. Squeers. »Wollen Sie nicht lieber ein Stückchen von dem Rindfleisch versuchen?«

»Ganz wie es Ihnen beliebt«, murmelte Nikolas zerstreut, »es ist mir ganz gleichgültig.«

Mrs. Squeers schien diese Antwort sehr zu gefallen. Sie nickte ihrem Gatten zu, wie um ihm ihre Zufriedenheit darüber auszudrücken, dass der junge Mann sich so gut in seine Stellung zu finden wisse, und legte Nikolas mit ihren eigenen schönen Händen eine Fleischschnitte vor.

»Bier, Squeerchen?«, fragte sie dabei und gab ihrem Manne durch Blinzeln und Stirnrunzeln zu verstehen, dass sie meinte, ob der Hilfslehrer auch welches bekommen solle.

»Na ja«, antwortete Squeers unter ähnlichen Gebärden. »Ein Glas.«

Nikolas erhielt also ein Glas voll und trank es, da er mit seinen Gedanken zu sehr beschäftigt war, in glücklicher Nichtbeachtung dessen, was da verhandelt wurde, aus.

»Das Beefsteak war ungemein saftig«, lobte Squeers und legte endlich Messer und Gabel aus der Hand.

»Es ist Mastochsenfleisch«, erklärte die Hausfrau, »ich habe ein schönes großes Stück in der Absicht gekauft –«

»In was für einer Absicht?«, fuhr Squeers auf. »Doch nicht für die –«

»Natürlich nicht für sie«, beruhigte ihn Mrs. Squeers. »Natürlich für dich, wenn du wieder nach Hause kämest. Wie kannst du nur denken – Glaubst du vielleicht, ich bin verrückt?«

Dieser Teil der Unterhaltung war etwas unverständlich, wenn man keine Kunde von dem in der Gegend im Umlaufe befindlichen Gerüchte hatte, Mr. Squeers hasse Grausamkeit gegenüber Tieren so sehr, dass er für seine Zöglinge nur Fleisch von Vieh aufkaufe, das eines natürlichen Todes gestorben sei.

Als das Abendessen vorüber war, wurde es von einem kleinen Dienstmädchen mit hungrigen Augen wieder abgetragen, und Mrs. Squeers entfernte sich, um die Überbleibsel einzuschließen. Ebenso trug sie Sorge, die Kleider der soeben halberfroren angekommenen fünf Knaben aufzubewahren.

Die Kinder wurden mit einem dünnen Süppchen abgespeist und dann Seite an Seite in eine kleine Bettstelle gepackt, wo sie sich aneinander wärmen und von einem besseren Mahle in einem geheizten Stübchen träumen durften, wenn ihre Einbildungskraft diese Richtung einschlagen sollte.

Mr. Squeers selbst labte sich noch mit einem tüchtigen Glas Grog, der nach dem beliebten Grundsatz, Branntwein und heißes Zuckerwasser genau zu gleichen Teilen, zusammengesetzt war, und seine liebenswürdige Gattin mischte für Nikolas ein kleines Glas voll desselben Getränkes, aber natürlich in wesentlich verdünnterer Lösung. Sodann rückte das Ehepaar dicht an das Feuer, stemmte die Füße auf das Kamingitter und flüsterte vertraulich zusammen, während Nikolas Murrays Grammatik hernahm und geistesabwesend darin blätterte.

Endlich gähnte Mr. Squeers entsetzlich und meinte, es wäre höchste Zeit, zu Bett zu gehen, worauf seine Gattin und das Dienstmädchen einen kleinen Strohsack und ein paar Decken in das Zimmer schleppten und zu einem Lager für Nikolas herrichteten.

»Wir werden Ihnen morgen Ihre regelmäßige Schlafstelle anweisen, Nickleby«, sagte Squeers. »Wer schläft in Brooks Bett, meine Liebe?«

»In Brooks Bett?«, sann Mrs. Squeers nach. »Jennings, der kleine Bolder, Graymarsh und – wie heißt doch noch der Vierte!?«

»Hm, ja«, brummte Squeers, »Brooks Bett ist also voll.«

Voll?, dachte Nikolas. Man sollte denken, mehr als voll.

»Es muss aber doch irgendwo noch Platz sein«, fuhr Squeers fort, »ich kann mich nur im Augenblick nicht recht besinnen. Aber lassen wir das bis morgen. Gute Nacht, Nickleby. Vergessen Sie nicht, morgen Früh um sieben!«

»Ich werde bereit sein, Sir. Gute Nacht«, erwiderte Nikolas.

»Ich werde übrigens selbst kommen und Ihnen den Brunnen zeigen. Sie werden immer ein Stückchen Seife auf dem Küchenfenster finden. Das ist für Sie. Und – hm, ich weiß momentan nicht, wessen Handtuch ich Ihnen anweisen soll. Aber Sie können sich ja morgen Früh mit etwas anderem behelfen; meine Frau wird dann im Lauf des Tages schon dafür Sorge tragen. Vergiss nicht, meine Liebe.«

»Ich werde schon dran denken«, entgegnete Mrs. Squeers, »und Sie junger Mann, sehen Sie darauf, dass Sie zuerst zum Waschbecken kommen, ehe es Ihnen die Jungen schmutzig machen.«

Dann verschloss sie noch sorgsam die Brandyflasche, damit ihr Nikolas nicht am Ende in der Nach zuspräche, und entfernte sich mit ihrem Gatten.

Als Nikolas allein war, ging er in großer Erregung ein paar Mal im Zimmer auf und ab. Allmählich wurde er jedoch ruhiger, setzte sich auf einen Stuhl und nahm sich fest vor, alles Ungemach, und möge kommen was da wolle, eine Zeitlang geduldig über sich ergehen zu lassen, um seinem Onkel keinen Vorwand zu geben, die Hand von seiner hilflosen Mutter und Schwester abzuziehen. Das tat ihm gut; seine Verzagtheit ließ nach, und so sanguinisch sind die Träume der Jugend, dass er sogar zu hoffen begann, es würde sich die Sache in Dotheboys Hall vielleicht doch noch besser machen, als sie sich jetzt anließ.

Er wollte sich eben, wieder ein bisschen ermutigt, auf sein Lager werfen, als ihm der versiegelte Brief aus der Rocktasche fiel, den ihm Newman Noggs so geheimnisvoll in London zugesteckt hatte.

»Himmel, was für eine wunderliche Handschrift«, sagte Nikolas und betrachtete das merkwürdig bekritzelte Papier. Nach vieler Mühe gelang es ihm endlich, folgendes zu entziffern:

 

Mein lieber junger Herr!

 

Ich kenne die Welt. Ihr Vater kannte sie nicht, sonst würde er mir keine Wohltaten erwiesen haben, wo er doch so offenkundig nicht auf Rückerstattung rechnen durfte. Auch Sie kennen sie nicht, sonst hätten Sie sich nicht zu einer solchen Reise verpflichtet.

Wenn Sie je eines Obdachs in London bedürfen sollten (nehmen Sie mir diese Worte nicht übel, ich glaubte auch einst, nie eines solchen zu bedürfen), so können Sie meine Wohnung bei dem Wirte zur Krone, Golden Square, Silverstreet, erfragen. Es ist das Eckhaus in Silver- und Jamesstreet und hat auf beide Straßen hinaus einen Eingang. Sie können abends kommen. Einst schämte sich dessen niemand, doch das ist jetzt gleichgültig – die Zeit ist vorüber.

Entschuldigen Sie die schlechte Schrift. Ich weiß heute kaum mehr, wie ein sauberer Anzug aussieht, geschweige denn, wie man Briefe schreibt.

 

Newman Noggs

 

P.S. Wenn Sie nach Barnard Castle kommen, im »Königskopf« ist gutes Bier. Sagen Sie, dass Sie mich kennen, und man wird Ihnen dafür nichts anrechnen. Sie können dort von Mr. Noggs, Wohlgeboren, sprechen, denn ich war damals ein Gentleman. Auf mein Wort, ein Gentleman.

 

Als Nikolas Nickleby den Brief wieder zusammenfaltete und in seine Brusttasche steckte, standen Tränen in seinen Augen.

8. Kapitel

Der Haushalt in Dotheboys Hall

 

Eine Fahrt von zweihundert und etlichen Meilen bei schlechtem Wetter kann auch das härteste Bett weich machen. Vielleicht ist sie auch imstande, die Träume zu versüßen; wenigstens waren die, die Nikolas’ hartes Lager umgaukelten und ihr luftiges Nichts in sein Ohr flüsterten, heiterster und glücklichster Art. Er war eben im Begriff, das rollende Rad des Glücks auf Windesflügeln einzuholen, als der schwache Schimmer einer ersterbenden Kerze auf seine Augen fiel und eine Stimme, die er ohne Schwierigkeiten für die Mr. Squeers’ erkennen konnte, ihn erinnerte, dass es Zeit sei zum Aufstehen.

»Sieben vorbei«, mahnte der Schulmeister.

»Es ist schon Morgen?«, fragte Nikolas und setzte sich im Bett auf.

»Na freilich. Und noch dazu ein recht eisiger Morgen. Machen Sie rasch, Nickleby, beeilen Sie sich.«

Nikolas bedurfte keiner weitern Ermahnung und kleidete sich beim Schein der Kerze, die Mr. Squeers in der Hand hielt, so rasch er konnte, an.

»Eine schöne Bescherung«, bemerkte Squeers, »der Brunnen ist zugefroren.«

»So«, entgegnete Nikolas zerstreut, da ihn diese Nachricht nicht besonders interessierte.

»Jawohl, Sie können sich daher heute nicht waschen.«

»Mich nicht waschen?«, rief Nikolas.

»Nein; geht eben nicht«, erwiderte Squeers spitzig, »Sie müssen sich begnügen, sich eine trockene Politur zu geben, bis wir das Eis im Brunnen aufhacken und einen Eimer Wasser für die Jungen heraufholen können. Na, was starren Sie mich so an? Eilen Sie sich gefälligst!«

Nikolas erwiderte kein Wort und schlüpfte hastig in seine Kleider, während Squeers die Läden öffnete und das Licht ausblies. Bald darauf ließ sich die Stimme der liebenswürdigen Frau vom Hause vernehmen, die Einlass begehrte.

»Komm nur herein, mein Schatz«, sagte der Schulmeister.

Mrs. Squeers trat ein, noch immer in derselben Nachtjacke, in der sie sich schon abends so zweifelhaft ausgenommen, nur dass sie als weitere Zierde einen alten Castorhut mit vieler Anmut über der bereits erwähnten Nachthaube trug.

»Verfluchtes Zeug«, schimpfte sie, den Wandschrank öffnend, »ich kann den Schullöffel nirgends finden.«

»Mach dir nichts draus«, begütigte Squeers, »es ist doch ganz egal.«

»Ganz egal? Wie kannst du nur so reden«, entgegnete die Dame bissig. »Heute ist doch Schwefeltag.«

»Ja, ja, richtig. Das habe ich ganz vergessen«, sagte Mr. Squeers. »Wir geben den Jungen hie und da zum Blutreinigen ein, müssen Sie wissen, Nickleby.«

»Ach was, Papperlapapp«, unterbrach die Hausfrau. »Glauben Sie ja nicht, junger Mann, dass wir uns für Schwefelblüte und Sirup Unkosten machen würden, bloß um ihnen das Blut zu reinigen. – Wenn sie vielleicht glauben, wir betreiben das Geschäft auf diese Weise, sind Sie stark im Irrtum.«

»Meine Liebe«, wendete Squeers mit Stirnrunzeln ein. »Hm –«

»Ach, Dummheiten«, keifte Mrs. Squeers. »Wenn der junge Mann hier Lehrer sein will, so muss er auch wissen, dass wir kein Federlesens mit den Jungen machen. – Also, sie kriegen den Schwefel mit Sirup erstens einmal, weil sie, wenn man anders mit ihnen dokterte, immer etwas zu klagen hätten, sodass man gar nicht fertig würde; und dann, weil es ihnen die Fresslust nimmt und billiger zu stehen kommt als ein Frühstück und ein Mittagessen. So tut es zu gleicher Zeit ihnen und uns gut. Was will man weiter?«

Nach dieser umfassenden Erklärung steckte Mrs. Squeers den Kopf in den Schrank und stellte genaue Nachforschungen nach dem Löffel an, wobei ihr ihr Gatte half. Während des Suchens flüsterten sie miteinander, aber der Schrank dämpfte den Ton der Stimme so, dass Nikolas nichts weiter verstehen konnte, als dass Mr. Squeers behauptete, sie hätte etwas Unverständiges gesagt – eine Ansicht, die indes die Gnädige für dummes Geschwätz erklärte.

Als sich alles Suchen und Umherstöbern als fruchtlos erwies, rief sie Smike herein, den sie solange mit Püffen und Mr. Squeers mit Ohrfeigen bearbeitete, bis sich im Lauf dieser Doppelbehandlung sein Geist so weit aufhellte, dass er die Vermutung auszusprechen vermochte, Mrs. Squeers habe den Löffel vielleicht in der Tasche, was sich denn auch als richtig herausstellte. Da jedoch Mrs. Squeers vorher beteuert hatte, sie wisse ganz bestimmt, dass er nicht dort wäre, so erhielt Smike eine weitere Ohrfeige, weil er sich unterfangen, seiner Gebieterin zu widersprechen – und zugleich die Verheißung einer Tracht Prügel, wenn er sich in Zukunft nicht respektvoller benehme, sodass ihm also sein Scharfsinn keinen besonders Gewinn brachte.

»Eine unbezahlbare Frau, Nickleby«, bemerkte Squeers, als seine Ehehälfte hinauseilte und dabei den armen Haussklaven vor sich hinstieß. »Ich kenne keine zweite. Sie ist immer dieselbe, Nickleby, geschäftig, rührig, tätig, sparsam.«

Nikolas seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken an die liebenswürdigen Aussichten, die sich ihm in diesem Hause auftaten, aber Squeers war zufällig zu sehr in Gedanken, um es zu bemerken.

»Wenn ich in London oben bin, so gebrauche ich gewöhnlich die Redensart, dass sie den Knaben eine Mutter sei. Aber sie tut Dinge für die Jungen, Nickleby, dass ich wohl behaupten kann, die Hälfte aller Mütter vermöchte nicht, etwas der Art für ihre eigenen Söhne zu tun.«

»Das glaube ich gerne, Sir«, entgegnete Nikolas doppelsinnig.

Das Wahre an der Sache war übrigens, dass beide, Mr. und Mrs. Squeers, die Zöglinge sozusagen als ihre natürlichen Feinde betrachteten, aus denen so viel wie möglich herauszupressen ihre Pflicht und ihr Beruf sei. Über diesen Punkt waren beide einig und richteten demgemäß ihr Benehmen ein.

Der einzige Unterschied zwischen ihnen war nur, dass sie den Krieg gegen die Feinde offen und furchtlos führte, während er, auch zu Hause seine Niederträchtigkeit mit dem Mäntelchen seiner gewohnten Verstellung verhüllend, sich einreden zu wollen schien, dass er im Grunde genommen eigentlich eine seelengute Haut wäre.

»Aber kommen Sie«, unterbrach er einen ähnlichen Gedankengang in dem Geiste seines Hilfslehrers. »Wir wollen jetzt in die Klasse gehen. Helfen Sie mir in meinen Schulrock, Nickleby.«

Nikolas half seinem Brotherrn, ein altes barchentnes Jagdwams anzuziehen, das auf einem Kleiderständer im Hausflur hing, und Squeers bewaffnete sich mit seinem spanischen Rohr und führte ihn über einen Hof zu einer Türe des Hinterhauses.

»So«, sagte er, als sie mitsammen eintraten, »dies ist unsere Werkstatt.«

In der »Werkstatt« bot sich ein so buntes Schauspiel, und so viel Sonderbares entrollte sich dem Auge, dass Nikolas im Anfang nur herumschauen konnte, ohne irgendetwas genauer zu unterscheiden.

Nach und nach löste sich jedoch das Bild in ein kahles schmutziges Zimmer mit ein paar Fenstern auf, an denen übrigens das Glas kaum den zehnten Teil ausmachen mochte, da die Löcher darin mit Papier von alten Schreibbüchern geflickt waren.

Ein paar lange, gebrechliche Tische, mit Messern zerschnitten, mit Tinte besudelt und auf jede nur mögliche Weise beschädigt, standen nebst einigen Bänken, einem besondern Pult für Mr. Squeers und einem zweiten für den Hilfslehrer umher.

Die Decke war, wie bei einer Scheune, durch Querbalken und Sparren gestützt, und die Wände sahen so besudelt und geschwärzt aus, dass es unmöglich war, zu ermitteln, welche Farbe ihr ursprünglicher Anstrich, wenn ein solcher überhaupt vorhanden gewesen, gehabt haben mochte.

Und erst die Zöglinge! Die jungen Aristokraten! Die letzten schwachen Hoffnungsstrahlen, der entfernteste Lichtblick einer Möglichkeit, dass ernste Bemühungen in dieser Höhle des Elends je etwas Gutes erzielen könnten, schwanden aus Nikolas’ Seele, als er mit Schrecken der Wirklichkeit ansichtig wurde. Bleiche, abgezehrte Gesichter, hagere Gerippe, Kinder mit den Zügen von Greisen, Missgestalten mit eisernen Schienen an den Gliedern, Knaben, im Wachstum unterdrückt, und andere, deren lange, dünne Beinchen die gebeugten Körper kaum zu tragen vermochten, drängten sich vor seinen Blicken.

Da gab es Triefaugen, Hasenscharten, Klumpfüße, kurz jede erdenkliche Hässlichkeit und Entstellung, die auf eine unnatürliche Abneigung der Eltern oder auf ein Leben hindeutete, das von frühester Kindheit an nur Grausamkeit und Vernachlässigung gekannt hatte. Unter ihnen hin und wieder ein schmales Gesicht, das schön gewesen sein würde, wäre es nicht durch den finstern Blick eines durch Leiden verstockten Innern verdüstert gewesen. Ein Bild der Kindheit, der der Glanz der Augen erloschen, deren Schönheit entschwunden, und wo nur die Hilflosigkeit allein zurückgeblieben war. Boshafte Gesichter mit bleiernen Augen, wie man sie bei Verbrechern im Gefängnis sieht, vor sich hinbrütend, und arme Geschöpfe, die die Sünden ihrer Eltern büßten und sich nach den gedungenen Wärterinnen sehnten, dem einzigen Lichtblick, den sie gekannt, als sie noch nicht ganz verlassen und einsam waren.

Eine Höllensaat wurde hier großgezogen, in der Mitgefühl und Liebe schon bei der Geburt erstickt und jedes frische und jugendliche Denken durch Prügel und Hunger ausgerottet wurde und jede der Rachsucht entquellende Leidenschaft sich leise ihre Eitergänge bis in das Innerste eines zertretenen Herzens fraß.

Und doch hatte das Schauspiel, das sich da entrollte, so schmerzlich es war, etwas so Groteskes, dass ein minder beteiligter Zuschauer als Nikolas vielleicht ein Lächeln kaum hätte unterdrücken können. Mrs. Squeers stand hinter einem Lehrpult, eine ungeheuere Schüssel mit Schwefel und Sirup vor sich, und gab von dieser köstlichen Mischung jedem Kind eine starke Dosis, wobei sie sich eines ursprünglich wohl für einen Riesen angefertigten, hölzernen Löffels bediente, der den Mund eines jeden der jungen Herren um ein Beträchtliches erweiterte, da sie unter Strafandrohungen den ganzen Löffel voll auf einmal hinunterschlucken mussten.

In einer Ecke der Stube hatten sich die neuen in der Nacht angekommenen kleinen Jungen zusammengedrängt, drei von ihnen in ungemein weiten Lederhosen, und zwei in alten Pantalons, die womöglich noch enger anlagen, als man es bei gewöhnlichen Trikotunterhosen zu sehen pflegt.

In einer kleinen Entfernung von ihnen saß Mr. Squeers’ jugendlicher Sohn und Erbe, ein sprechendes Ebenbild seines Vaters, und wehrte sich aus Leibeskräften und mit Händen und Füßen gegen Smike, der ihm ein paar neue Stiefel von verdächtigter Ähnlichkeit mit denen, die der Kleinste der neuen Ankömmlinge auf der Herreise getragen hatte, anzuziehen bemüht war.

Außerdem stand eine lange Reihe von Knaben harrend da, freilich mit Gesichtern, die nicht das angenehmste Vorgefühl hinsichtlich des Geschwefeltwerdens ausdrückten, während ein anderes Häuflein, das eben diese Tortur überstanden hatte, durch allerhand Mundverzerrungen andeutete, dass dieses Löffeltraktament gerade nicht zu den angenehmsten gehörte.

Die Knaben waren insgesamt so buntscheckig, schlecht zusammenpassend und ungewöhnlich gekleidet, dass man sich des Lachens nicht hätte erwehren können, wäre nicht der ekelhafte Anblick von Schmutz, Misswirtschaft und Siechtum damit verbunden gewesen.

»Nein«, sagte Squeers und schlug mit dem spanischen Rohr so heftig auf den Tisch, dass die Hälfte der Jungen beinahe aus ihren Stiefeln gesprungen wäre. »Ist das Doktern endlich vorbei?«

»Sofort«, erwiderte Mrs. Squeers und klopfte das letzte Kind, das sie in der Eile fast erstickt hätte, mit dem hölzernen Löffel auf den Kopf, um es wieder zu sich zu bringen. »Smike, nimm die Schüssel fort. Rasch.«

Smike hinkte mit der Schüssel hinaus, und die Dame folgte ihm, nachdem sie sich zuvor die schmutzigen Finger an dem Lockenkopf eines Jungen abgewischt hatte, hastig nach einer Art Waschhaus, in dem ein kleines Feuer unter einem großen Kessel brannte, und eine Anzahl kleiner hölzerner Näpfe auf einem Tische umherstanden.

In diese Näpfe goss sie, assistiert von dem ausgehungerten Dienstmädchen, ein braunes Gemisch, das wie Lohbrühe aussah und Suppe genannt wurde. In jeden Napf kam ein winziges Scheibchen Schwarzbrot, und als die Zöglinge ihre Suppe mit dem Brot ausgelöffelt und hinterdrein auch den Löffel verzehrt hatten, womit das Frühstück beendigt war, sprach Mr. Squeers weihevoll: »Herr, lasset uns danken für alles Gute, was wir von dir empfangen haben«, und begab sich hinaus, um seinerseits sich daran zu erquicken, was ihm der Herr bescherte.

Nikolas spülte sich den Magen mit einem Napf Suppe aus; wohl aus demselben Grunde, der gewisse Wilde veranlasst, Erde zu verschlucken, um die mahnenden Eingeweide zu besänftigen, wenn nichts zu essen da ist. Und nachdem er noch eine Brotschnitte mit Butter verzehrt hatte, die ihm in seiner Eigenschaft als Lehrer zuteil wurde, setzte er sich nieder und wartete, bis der Unterricht begänne.

Es konnte ihm natürlich nicht entgehen, dass statt frischen Lebensmutes nur stumme Trauer unter den Kindern herrschte. Keine Spur von dem Tumult und Lärmen eines Schulzimmers, nichts von geräuschvollen Spielen oder herzlicher Fröhlichkeit. Die Kleinen kauerten sich zitternd zusammen und schienen sich nicht zu getrauen, sich auch nur zu bewegen.

Der einzige Zögling, der einigermaßen Neigung zu Scherz an den Tag legte, war der junge Master Squeers. Da aber seine Hauptbelustigung darin bestand, mit seinen Stiefeln den anderen auf die Zehen zu treten, so bot seine Munterkeit gerade keinen besonders erfreulichen Anblick.

Nach einer halben Stunde trat Mr. Squeers wieder ein. Die Knaben gingen an ihre Plätze und griffen nach ihren Büchern, von denen durchschnittlich eines auf etwa acht Schüler kam. Der Schulmeister nahm einige Minuten eine sehr gelehrte Miene an, als wisse er alles auswendig und könne jedes Wort aus dem Kopfe hersagen – wenn er sich nur die Mühe dazu nehmen wollte, und rief dann die erste Klasse auf.

Dem Befehle gehorsam stellten sich etwa ein halbes Dutzend Vogelscheuchen mit an den Knien und Ellenbogen durchlöcherten Kleidern vor seinem Pulte auf, und eine davon unterbreitete ein zerrissenes und beschmutztes Buch seinem gelehrten Auge.

»Dies ist die erste Klasse. Sie erhält Unterricht im Lesen und in der Philosophie, Nickleby«, erklärte Squeers und winkte Nikolas näher heran. »Wir wollen später auch eine Lateinklasse gründen und sie Ihnen übertragen. – Also gut. Wo ist unser Primus?«

»Er putzt in der hintern Stube die Fenster«, hauchte der Zugführer der philosophischen Klasse.

»Ja, richtig«, brummte Squeers. »Wir halten uns an die praktische Lehrmethode, Nickleby; das einzige, richtige Erziehungssystem.

P-u-tz Putz, e-n-, en, Putzen, Zeitwort, reinmachen, reinigen, F-e-n, Fen, s-t-e-r, ster, Fenster. Eine mit einer durchsichtigen Substanz verwahrte Öffnung, durch die Licht in die Häuser fällt. – Wenn ein Knabe etwas der Art aus dem Buche gelernt hat, so geht er hin und tut es. Wir folgen hier ganz demselben Grundsatz, den man bei dem Gebrauch der Erdgloben in Anwendung bringt. Wo ist der Zweite?«

»Er jätet im Garten Unkraut aus«, rief eine zarte Stimme.

»So ist es«, fuhr Squeers fort, ohne aus der Fassung zu kommen, »so ist’s. B-o, Bo, d-a, da, Boda, n-i-k, nik, Bodanik, Hauptwort, Kenntnis der Pflanzen. – Wenn er gelernt hat, dass »Bodanik« Kenntnis der Pflanzen bedeutet, so geht er hin und lernt sie kennen. Dies ist mein System, Nickleby. Was halten Sie davon?«

»Jedenfalls sehr nutzbringend«, sagte Nikolas doppelsinnig.

»Das will ich meinen«, entgegnete Squeers, dem die ironische Betonung seines Hilfslehrers nicht weiter auffiel. »Nun, du Dritter, was ist ein Pferd?«

»Ein Tier, Sir«, antwortete der Knabe.

»Richtig«, lobte Squeers. »Stimmt’s, Nickleby?«

»Ich glaube, dass hier kein Zweifel obwalten kann, Sir«, meinte Nikolas.

»Natürlich nicht. Ein Pferd ist ein Quadruped, und Quadruped ist das lateinische Wort für Tier, wie jeder, der die Grammatik durchgemacht hat, weiß, denn wo läge sonst der Nutzen der Grammatik?«

»In der Tat, wo läge er«, bestätigte Nikolas zerstreut.

»Da du deine Sache so gut gemacht hast«, lobte Squeers den Schüler, »so geh in den Stall, sieh nach meinem Pferd und striegle es ordentlich, sonst will ich dich striegeln. Die Übrigen der Klasse scheren sich hinaus und schöpfen Wasser, bis man sie aufhören heißt, denn die Kessel müssen für den morgigen Waschtag gefüllt werden.«

Mit diesen Worten entließ er die erste Klasse zu ihren praktischen Übungen in der Philosophie und sah Nikolas mit einem halb verschmitzten, halb unsichern Blick an, als wolle er sich überzeugen, welchen Eindruck dieses Verfahren auf seinen Hilfslehrer gemacht habe.

»So wird die Sache bei uns betrieben, Nickleby«, sagte er nach einer langen Pause.

Nikolas zuckte kaum merklich die Achseln und sagte, dass ihn dies der Augenschein lehre.

»Es ist wirklich eine sehr gute Methode«, fuhr Squeers fort. »Doch lassen Sie jetzt die vierzehn kleinen Knaben lesen, denn Sie müssen anfangen, sich nützlich zu machen. Faulenzerei gibt’s bei uns nicht.«

Mr. Squeers sagte dies in einem Tone, als sei ihm plötzlich eingefallen, dass er seinem Hilfslehrer nicht zu viel anvertrauen dürfe oder dass dieser ihm nicht genug zum Lobe der Anstalt gesagt habe.

Die Kinder mussten sich sodann im Halbkreis um den neuen Lehrer aufstellen, und bald horchte dieser auf ihr träges, eintöniges und stockendes Herunterbuchstabieren jener wichtigen Geschichten, die in den ältern Fibelbüchern zu finden sind.

Unter dieser angenehmen Beschäftigung schleppte sich der Morgen schwerfällig hin. Um ein Uhr kamen die Zöglinge, nachdem man ihnen zuerst den Appetit durch Haferbrei und Kartoffeln genommen hatte, zu einem Stückchen stark eingepökelten Ochsenfleisch in die Küche, und Nikolas erhielt gnädigst die Erlaubnis, seinen Anteil nach seinem einsamen Pulte tragen zu dürfen, um es dort ungestört verzehren zu können. Dann kauerten sich die Knaben abermals eine Stunde lang fröstelnd in dem kalten Schulzimmer zusammen, worauf der Unterricht wieder seinen Anfang nahm.

Mr. Squeers pflegte nach jedem seiner halbjährigen Besuche in der Hauptstadt die Knaben zusammenzurufen und ihnen eine Art Mitteilung zu machen über ihre Verwandten, wenn er sie gesehen, über Nachrichten, die er gehört, Briefe, die er mitgebracht, Rechnungen, die man bezahlt, oder Noten, die man schuldig geblieben war und so weiter.

Diese festliche Revue fand jedes Mal stets erst am Nachmittag nach seiner Zurückkunft statt; vielleicht, damit die Knaben durch längeres Hangen und Bangen Seelenstärke gewönnen, vielleicht auch, weil Mr. Squeers durch gewisse warme Getränke, die er gewöhnlich nach dem Mittagessen zu sich zu nehmen pflegte, größere Unbeugsamkeit gewann.

Doch sei dem, wie es wolle, die Knaben wurden von den Fenstern, dem Stalle, dem Garten und dem Hofe zurückgerufen, und das Schulzimmer war gesteckt voll, als Mr. Squeers mit einem Paketchen Briefschaften in der Hand und von seiner Gattin begleitet, die ein paar Haselstöcke trug, in das Zimmer trat und Stillschweigen gebot.

»Wenn einer, ohne dass er gefragt wird, das Maul auftut«, begann Mr. Squeers in mildem Tone, »so kriegt er Haue, bis ihm das Fell von den Knochen fällt.«

Diese Ankündigung hatte den beabsichtigten Erfolg; im Augenblick trat eine totengleiche Stille ein und Squeers fuhr fort:

»Jungen, ich bin in London gewesen und gesund und wohl wieder zu meiner Familie und zu euch zurückgekehrt.«

Die Zöglinge begrüßten diese Nachricht dem halbjährigen Brauche zufolge mit drei schwachen Freudenrufen, die mehr wie ein Seufzer klangen aus der Brust eines Menschen, dem der Todesschweiß auf der Stirne steht.

»Ich habe die Eltern von einigen unter euch gesehen«, fuhr Squeers, seine Papiere durchblätternd, fort, »und sie sind so erfreut über die Fortschritte ihrer Söhne, dass an ein Zurücknehmen derselben nicht zu denken ist, was natürlich eine sehr erfreuliche Nachricht bedeutet.«

Bei diesen Worten fuhren zwei oder drei kleine Hände über zwei oder drei Augenpaare, aber der größere Teil der Kinder wusste nicht viel von seinen Eltern und war daher bei der Sache in keiner Weise beteiligt.

»Ich hatte mit Widerwärtigkeiten aller Art zu kämpfen«, sagte Squeers und nahm eine zürnende Miene an. »Bolders Vater ist zwei Pfund, zehn Schillinge schuldig geblieben. Wo ist Bolder?«

»Hier, Sir«, antworteten zwanzig diensteifrige Stimmen. – Knaben sind in solchen Fällen genau wie Erwachsene.

»Komm her, Bolder!«, befahl Squeers.

Ein kränklich aussehender Junge mit von Warzen bedeckten Händen trat leichenblass und klopfenden Herzens an das Pult und erhob flehend seine Augen.

»Bolder«, begann Squeers ganz langsam, denn er überlegte noch im Sprechen, wie er dem Kinde am besten beikommen könne, »Bolder! Wenn dein Vater glaubt – Aber, was ist das, Bengel?!«

Mit diesen Worten fasste Squeers die Hand des Knaben am Ärmelaufschlag und betrachtete die Warzen mit einem erbaulichen Ausdruck von Entrüstung und Ekel.

»Wie nennst du das, Musjö?«, fragte er und gab dem Knaben zuvorderst einmal einen Schlag mit der Haselrute, um die Antwort zu beschleunigen.

»Ach, ich kann ja nichts dafür, Sir«, jammerte der Junge. »Sie kommen von selbst; ich glaube, es macht die schmutzige Arbeit, Sir. Ich weiß wirklich nicht, woher es kommt, Sir, aber ich kann nichts dafür.«

»Bolder«, knirschte Squeers, schlug die Hemdärmel zurück und feuchtete die Fläche der rechten Hand mit der Zunge an, um den Stock besser halten zu können, »du bist ein unverbesserlicher Lügner, und da die letzte Tracht Prügel bei dir nicht gefruchtet hat, so wollen wir mal sehen, ob eine neue nicht bessere Wirkung tut.«

Und ohne auf den kläglichen Schrei um Schonung zu achten, fiel er über den Knaben her und bearbeitete ihn so lange mit dem Stock, bis er kaum mehr den Arm rühren konnte.

»So«, keuchte Squeers, als er fertig war, »reib dir den Buckel, so viel du willst. Das da wirst du dir nicht so schnell herunterreiben. Was, du willst nicht zu heulen aufhören?! Führ ihn hinaus, Smike.«

Der Haussklave wusste aus Erfahrung zu gut, dass durch Zögern nichts gewonnen wurde, und schaffte daher das arme Opfer durch eine Seitentüre, während sich Mr. Squeers wieder auf seinen Stuhl hinpflanzte und seine Gattin an seiner Seite Platz nahm.

»So. Und jetzt weiter. Hier ist ein Brief für Cobbey. – Steh auf, Cobbey!«

Ein anderer Zögling erhob sich und betrachtete mit ängstlicher Miene den Brief, den der Schulmeister in einem kurzen Auszug vortrug.

»Also. Cobbeys Großmutter ist gestorben und sein Onkel John hat sich dem Trunk ergeben. Das sind die Neuigkeiten, die seine Schwester sendet – achtzehn Pence ausgenommen, die gerade hinreichen, die von Cobbey zerbrochene Fensterscheibe zu bezahlen. Liebe Frau, hier nimm das Geld.«

Die würdige Dame steckte die achtzehn Pence mit der gleichgültigsten Geschäftsmiene von der Welt ein, und Squeers ging ebenso kaltblütig zu dem nächsten Knaben über.

»Die Reihe kommt jetzt an Graymarsh. Steh auf, Graymarsh!«

Der Junge gehorchte, und der Schulmeister überlas wie früher einen Brief.

Graymarshs Tante sei sehr erfreut über die Nachricht, dass ihr Neffe so gesund und zufrieden sei, und lasse Mrs. Squeers die achtungsvollsten Komplimente vermelden. Sie glaube, dass sie ein Engel sein müsse, und ebenso wie Mr. Squeers, der hoffentlich der Menschheit noch lange erhalten bleiben werde, zu gut für diese Welt sei. Sie würde die verlangten zwei Paar Strümpfe gestrickt haben, wenn in ihrer Kasse nicht Ebbe geherrscht hätte. Stattdessen sende sie ein Traktätchen und hoffe, Graymarsh werde sein Vertrauen immer auf Gott setzen. Vor allem aber wünsche sie, dass er sich eifrig Mühe gebe, sich Mr. und Mrs. Squeers’ Liebe in jeder Hinsicht zu erwerben und in ihnen seine einzigen Freunde zu sehen. Er solle den jungen Master Squeers lieben und sich nicht unchristlicherweise darüber beschweren, dass er zu fünft im Bett schlafen müsse.

»Hm«, brummte Squeers und faltete das Schreiben zusammen, »ein herrlicher Brief. – So liebreich!«

In gewissem Sinn war er allerdings sehr liebreich, denn des Knaben Tante war, wie sich ihre vertrauten Freundinnen ins Ohr flüsterten, niemand anders als seine wirkliche Mutter. Squeers ging natürlich, ohne auf diesen Teil der Geschichte anzuspielen, die vor den Knaben unmoralisch geklungen haben würde, weiter und rief den Namen Mobbs, worauf sich wieder ein Zögling erhob und Graymarsh auf seinen Platz ging.

»Mobbs’ Stiefmutter«, berichtete Squeers, »hat sich zu Bett legen müssen, als sie hörte, dass er keinen Speck essen wolle, und ist seitdem immerwährend krank gewesen. Sie wünscht mit der nächsten Post zu erfahren, wo er eigentlich hingetan zu werden erwarte, wenn er sich über die Kost beklage, und will wissen, wieso er über die Kuhleberbrühe noch die Nase rümpfen kann, nachdem sein guter Lehrer den Segen darüber gesprochen hat. Dass das geschehen, habe sie aus den Londoner Zeitungen und nicht von Mr. Squeers erfahren, der zu menschenfreundlich und wohlwollend sei, Verwandte gegeneinander aufzuhetzen. Sie fühle sich übrigens in einer Weise gekränkt, dass sich Mobbs gar keinen Begriff davon machen könne. Es schmerze sie unendlich, eine so sündhafte und abscheuliche Unzufriedenheit an ihm zu bemerken, weshalb sie hoffe, Mr. Squeers werde ihn in mehr Duldsamkeit hineinprügeln. Wegen seines schlechten Betragens behalte sie auch den wöchentlichen halben Penny Taschengeld zurück und habe ein Messer mit doppelter Klinge und einem Korkenzieher, das für ihn bestimmt gewesen, der christlichen Mission geschenkt.

»Ja, ja, Widerspenstigkeit tut nicht gut«, sagte Mr. Squeers nach einer schrecklichen Pause und befeuchtete sich wieder die Fläche seiner rechten Hand. »Frohsinn und Zufriedenheit müssen stets aufrecht erhalten werden. Mobbs komm her.«

Mobbs bewegte sich langsam nach dem Pulte hin und rieb sich in der Vorahnung, bald genug Anlass dazu zu haben, die Augen und erhielt ihn auch in so hohem Maße, wie es sich ein Knabe nur wünschen kann, und wurde dann gleichfalls durch die Seitentür entfernt.

Mr. Squeers fuhr sodann fort, die noch übrigen Briefe zu öffnen. Einige erhielten Geld, das Mrs. Squeers zum Aufheben übergeben wurde, und andere bezogen sich auf verschiedene kleine Kleidungsstücke, wie Mützen und so weiter, die aber

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Jürgen Müller
Lektorat: Abenteuerverlag Pockau Jürgen Müller
Übersetzung: Gustav Meyrink
Tag der Veröffentlichung: 07.12.2014
ISBN: 978-3-7368-6255-5

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