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Zum Buch

Gustav Schwabs berühmte Nacherzählung der griechischen und römischen Mythologie: Ilias und Odyssee, Trojanischer Krieg und Argonautensage usw.

 

 

 

VORWORT

Es ist eine schöne Eigentümlichkeit der Mythen und Heldensagen des klassischen Altertums, dass sie für die Blicke des Forschers und für das Auge der Einfalt einen zwar verschiedenartigen, aber doch gleich mächtigen Reiz haben.

Während der Gelehrte in ihnen den Anfängen alles menschlichen Wissens, den Grundgedanken der Religion und Philosophie, der ersten Morgendämmerung der Geschichte nachgeht, entzückt den unbefangenen Betrachter die Entfaltung der reichsten Gestalten, das Schauspiel einer gleichsam noch in der Schöpfung begriffenen Natur- und Geisterwelt; er sieht mit Lust und Bewunderung die Erde mit Göttern und Göttersöhnen aus dem Chaos emporsteigen und in raschen Bilderreihen den Prometheusfunken im Menschen den Kampf mit der Barbarei beginnen, sieht, wie die Kultur der Wildnis, die Bildung der Rohheit, die Vernunft oder die Notwendigkeit der Leidenschaft den Sieg abringen.

Die innere lebendige Kraft dieser Bilder ist so groß, dass sie nicht von der vollendeten Kunstgestalt abhängig erscheint, in welcher ein guter Teil jener Gebilde von den größten Dichtern verarbeitet ist, sondern dass die schlichteste Darstellung genügt, ihre Größe auch vor denen zu entfalten, für welche die Kunstform eher ein Hemmnis als eine Förderung des Verständnisses sein muss.

In diesem Falle ist die Jugend im Beginn ihrer klassischen Bildung. Die Heroensage, von der ihre Fantasie mit dem ersten Unterrichte in den Sprachen der Alten Bruchstücke aufnimmt, übt einen Zauber über ihren Geist, lang ehe sie imstande ist, diese Heroengestalten in den Schöpfungen der Dichter zu fassen.

Nähere Bekanntschaft mit diesen Mythen wird sogar als Vorschule für die höhere Bildung ein frühzeitiges Bedürfnis, das auch unsere Literatur längst gefühlt hat und dem sie durch Hilfsbücher aller Art bald in wissenschaftlich belehrender, bald in unterhaltender Form abzuhelfen gesucht hat und noch sucht.

Im vorliegenden Buche nun wird der Versuch gemacht, die schönsten und bedeutungsvollsten Sagen des klassischen Altertums den alten Schriftstellern und vorzugsweise den Dichtern einfach und vom Glanze künstlerischer Darstellung entkleidet, doch, wo immer möglich, mit ihren eigenen Worten nachzuerzählen.

Man hat sich längst von der Ansicht befreit, dass diese auf mythischem Boden spielenden und von den Mythen durchwobenen Geschichten zum Mittel dienen könnten, der Jugend gelegentlich historische, geografische und naturwissenschaftliche Kenntnisse beizubringen, und dass man sie gar zum Vehikel eines moralischen Lehrkurses gebrauchen dürfe.

Die Moral, die auch der antiken Weltanschauung nicht fehlte, muss in der Darstellung empfunden werden; auf das Einseitige und in wesentlichen Stücken Irrtümliche derselben und ihre Unzulänglichkeit gegenüber der Offenbarung des Christentums wird eine mündliche Unterweisung des Vaters oder Lehrers den jungen Leser besser aufmerksam machen als das Buch selbst, das vom Leser zunächst nur mit der Absicht, sich eine angenehme und doch würdige Erholung zu verschaffen, in die Hand genommen werden soll.

Nur dafür hat der Verfasser gesorgt, dass alles Anstößige entfernt bleibe, und deswegen unbedenklich alle diejenigen Sagen ausgeschlossen, in welchen unmenschliche Gräuel erzählt werden, die nur eine symbolische Erklärung gewissermaßen entschuldigt, die aber als Geschichte dargestellt – und als solche müssen diese Sagen der Jugend doch gelten – nur einen empörenden Eindruck auf sie machen könnten.

Wo aber unsern höheren Begriffen von Sittlichkeit widerstrebende oder auch schon im Altertum als unsittlich und widernatürlich anerkannte Verhältnisse (wie in der Ödipussage) in einer ihrer Totalrichtung nach hochsittlichen Mythe nicht verschwiegen werden konnten, glaubt der Bearbeiter dieser Sagen jene auf eine Weise angedeutet zu haben, welche die Jugend weder zum Ausspinnen unedler Bilder noch zu neugierigem Grübeln veranlasst.

Vorausgesetzt wird bei diesem Buche nur die allgemeinste Kenntnis der griechisch-römischen Mythologie und Vorzeit, wie sie die Schulbildung unsrer Jugend beizeiten verschafft.

Während der erste Teil dieser Sammlung eine Mannigfaltigkeit kleinerer Mythen und Geschichten in sich schließt, folgt im zweiten eine einzige Sage, aber die großartigste der alten Zeit, die Sage von Troja, und zwar von der Stadtgründung bis zu ihrem Untergänge, mithin in einer Vollständigkeit, wie sie als Erzählung aus den Quellen noch nie in dieser Gestalt zusammengefasst worden ist.

Der Bearbeiter wünscht und hofft, dass das Ganze, auf diese Weise übersichtlich gemacht, nicht nur der Jugend neu und interessant erscheinen, sondern auch manchem älteren Leser der Ilias als eine im Geiste dieses unsterblichen Gedichts wenigstens versuchte Vervollständigung nicht unwillkommen sein werde. Umso mehr hat er die Pflicht, sich darüber auszuweisen, dass jene Ergänzung von ihm nicht willkürlich, sondern mit gewissenhafter Benützung der Alten selbst, deren Quelle ihrerseits die epischen Darstellungen einzelner zyklischer Dichter waren, vorgenommen worden ist.

Im ersten Viertel dieses Teils musste sich der Verfasser für den Strom der Erzählung mit den trübe fließenden Quellen jener rhetorischen Machwerke behelfen, die wir, aus spätester Zeit, unter dem Namen des Dictys Cretensis und des Dares Phrygius besitzen. Doch bildet ihr Bericht, aus welchem immer das mit Homer am leichtesten Vereinbare herausgesucht wurde, nur das historische Grundgewebe oder die Kette der Begebenheit, während die berühmtesten Dichter des griechischen und römischen Altertums, Sophokles, Euripides, Horaz, Ovid und andere, den farbenreichen Einschlag ihrer Fantasie zu dem Gewebe beisteuerten.

Den Kern der Sage bildet sodann die Ilias Homers, welchem der Erzähler auch für das zweite und dritte Viertel den allgemeinen Ton der Darstellung abzulauschen bemüht war, und dessen Färbung er in dem Teile, in welchem er der einzige Berichterstatter ist, so unverkümmert, als es in ungebundener Rede und doch dabei zusammengedrängtem Vortrage geschehen konnte, beizubehalten sich bestrebt hat.

Die homerische Geschichte der Ilias bildet auf solche Weise fast die Hälfte des zweiten Bandes. Täuscht den Verfasser dieses Buches seine Hoffnung nicht, so ist die innere Gestalt dieser unsterblichen Dichtung auch unter Aufopferung der poetischen Form nicht verlorengegangen, und ihr Götterleib schimmert noch durch das prunklose Gewand der schlichtesten Prosa hindurch.

Das letzte Viertel ist wieder mehreren Dichtern entnommen: Pindar, Sophokles, Vergil sind wiederholt berücksichtigt worden; doch ist hier der Darsteller so glücklich gewesen, in der Fortsetzung Homers durch den Dichter Quintus, dessen weiterer Name, Vaterland und Zeitalter in eine ungerechte Vergessenheit oder Unsicherheit gehüllt sind und den nur die Gelehrsamkeit bald Calaber, bald Smyrnäus benannt hat, eine echt poetische Grundlage und Stoff wie Form zu fortlaufender Erzählung vorzufinden. Die Dichtungen dieses Poeten sind ein klassisches Kunstwerk und werden hoffentlich in ihrer Schönheit und Größe, gleich den Schöpfungen anderer Dichter, sich die Anerkennung aller Freunde echter Poesie gewinnen.

Der künstlerischen Übertragung jenes Gedichtes, welche der Erzähler dieser Sagen im Manuskripte zu benützen Gelegenheit gehabt hat, verdankt seine Darstellung an Farbe und lebendigem Ausdrucke nicht wenig, und der Gelehrte möge den öffentlichen Dank, welcher ihm hier dargebracht wird, nicht verschmähen.

Als der Plan des in den dritten und letzten Teil Aufnehmbaren vom Verfasser entworfen wurde, hielt er es fast für unmöglich, die Schicksale der letzten Tantaliden einer Lesewelt, die zum großen Teile voraussichtlich aus Frauen und Kindern bestehen sollte, unverkürzt mitzuteilen.

Das Verlangen nach Vollständigkeit ermutigte ihn jedoch zu dem Versuche, auch diese Schwierigkeit zu überwinden, und er hofft, dass das gerechte Urteil, welches in den früheren Bänden zarte Schonung verletzbarer Ohren und mit heiliger Scheu zu behandelnder Gemüter anerkannt hat, sich auch auf die Bearbeitung des genannten Stoffes erstrecken werde. Bei der möglichst hergestellten Harmonie der Tragiker ist besondere Rücksicht auf diese Forderung der Sittlichkeit, welche selbst der freieste Schönheitssinn anerkennen wird, genommen worden.

Im vierten Teil, der Odyssee, war eine solche Vorsicht nicht nötig. Hier brauchte sich der Darsteller nur so streng als möglich an das Originalkunstwerk des Altertums zu halten, um den rührendsten Eindruck der Unschuld und Sittenreinheit zu machen.

Wer sich überzeugen will, dass die menschliche Natur, so untüchtig sie auch zum vollkommenen Guten scheint, doch keineswegs vollkommen untüchtig zum Guten ist, der stärke seinen Glauben an die Menschheit, welcher der frömmsten Religionsüberzeugung nicht zuwiderläuft, an diesem Werke des grauen Heidentums.

Die Äneis hat dem Verfasser am meisten zu schaffen gemacht. Hier die Längen abzuschneiden, ohne das Ziel des Weges selbst unzugänglich zu machen, alle jene Zutaten ersonnener Volkssage, die nach einer Ilias und Odyssee in ihrem prunkenden Scheine selbst einem Kinde fühlbar werden müssten, zu entfernen, ohne den Zusammenhang der originellsten und lieblichsten Erfindungen, die bald einen Teil der poetischen Geschichte des Gedichtes, bald unschätzbare Episoden bilden, unerkennbar zu machen oder gar zu zerstören – dies empfand der Bearbeiter als keine kleine Aufgabe, zumal da dieselbe noch von keinem modernen Erzähler der Sagen des Altertums versucht worden war. Sein Bestreben ging dahin, durch Zusammendrängen wesentlicher Schönheit dem kunstvollen Werke des Römers für die Jugend einen Reiz der Neuheit und gewissermaßen der Kurzweiligkeit zu geben, den man im Originale vergebens sucht. Mit dem fünften Abschnitt findet das Werk seinen Abschluss.

Und so möchten denn alle diese Sagen zusammen, als der Inbegriff der klassischen Heroenmythen, sich durch gewissenhafte und dem Zwecke des Buches angemessene Bearbeitung ihres Inhalts zahlreiche Freunde bei der Jugend und manche auch bei den Alten erwerben.

Mit diesem Wunsche entlässt der Verfasser sein Werk, das für ihn zugleich der Widerhall zwanzigjähriger öffentlicher und häuslicher Beschäftigung ist.

 

Stuttgart, September 1837

ERSTER TEIL – METAMORPHOSEN UND KLEINERE SAGEN

Prometheus

Himmel und Erde waren geschaffen; das Meer wogte in seinen Ufern und die Fische spielten darin; in den Lüften sangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Tieren. Aber noch fehlte es an dem Geschöpf, dessen Leib so beschaffen war, dass der Geist in ihm Wohnung nehmen und von ihm aus die Erdenwelt beherrschen konnte.

Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprössling des alten Göttergeschlechtes, das Zeus entthront hatte, ein Sohn des erdgeborenen Uranussohnes Iapetos, kluger Erfindung voll.

Dieser wusste wohl, dass im Erdboden der Same des Himmels schlummere; darum nahm er vom Tone, befeuchtete denselben mit dem Wasser des Flusses, knetete ihn und formte daraus ein Gebilde nach dem Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Diesen seinen Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von den Tierseelen gute und böse Eigenschaften und schloss sie in die Brust des Menschen ein.

Unter den Himmlischen hatte er eine Freundin, Athene, die Göttin der Weisheit. Diese bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem halbbeseelten Bilde den Geist, den göttlichen Atem, ein.

So entstanden die ersten Menschen und füllten bald vervielfältigt die Erde. Lange aber wussten sie nicht, wie sie sich ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen sollten. Sehend sahen sie nichts, hörten hörend nicht; wie Traumgestalten liefen sie umher und wussten sich der Schöpfung nicht zu bedienen.

Unbekannt war ihnen die Kunst, Steine auszugraben und zu behauen, aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem gefällten Holze des Waldes zu zimmern und mit allem diesem sich Häuser zu erbauen.

Unter der Erde, in sonnenlosen Höhlen, wimmelte es von ihnen, wie von beweglichen Ameisen: nicht den Winter, nicht den blütenvollen Frühling, nicht den früchtereichen Sommer kannten sie an sicheren Zeichen; planlos war alles, was sie verrichteten.

Da nahm sich Prometheus seiner Geschöpfe an: Er lehrte sie den Auf- und Niedergang der Gestirne beobachten, erfand ihnen die Kunst zu zählen, die Buchstabenschrift, lehrte sie Tiere ans Joch spannen und als Genossen ihrer Arbeit verwenden, gewöhnte die Rosse an Zügel und Wagen, erfand Nachen und Segel für die Schifffahrt.

Auch fürs übrige Leben belehrte er den Menschen. Bei Erkrankungen in früheren Zeiten wusste man kein Heilmittel anzuwenden, kannte weder ein Salböl zur Linderung der Schäden noch war man auf geeignete Krankenkostdiät bedacht; wegen Arzneimangel starben die Leidenden elendiglich dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Mischung milder Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu bekämpfen.

Dann lehrte er sie die Wahrsagekunst, deutete ihnen Vorzeichen und Träume, Vogelflug und Opferschau. Ferner lenkte er ihren Blick unter die Erde und ließ sie hier das Erz, das Eisen, das Silber und das Gold entdecken; kurz in alle Bequemlichkeiten und Künste des Lebens führte er sie ein.

Im Himmel herrschte mit seinen Kindern seit Kurzem Zeus, der seinen Vater Kronos entthront und das alte Göttergeschlecht, von welchem auch Prometheus abstammte, gestürzt hatte.

Jetzt wurden die neuen Götter aufmerksam auf das eben entstandene Menschenvolk. Sie verlangten Verehrung von ihm für den Schutz, welchen sie ihm angedeihen lassen wollten. Zu Mekone (Sikyon) in Griechenland wurde Gericht gehalten zwischen Sterblichen und Unsterblichen und Rechte und Pflichten der Menschen bestimmt. Bei dieser Versammlung erschien Prometheus als Anwalt seiner Menschen, dafür zu sorgen, dass die Götter für die übernommenen Schutzämter den Sterblichen nicht allzu lästige Gebühren auferlegen möchten.

Da verführte den Titanensohn seine Klugheit, die Götter zu betrügen. Er schlachtete im Namen seiner Geschöpfe einen großen Stier, davon sollten die Himmlischen wählen, was sie für sich gerne verlangten.

Er hatte aber nach Zerstückelung des Opfertieres zwei Haufen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleisch und die Eingeweide mit reichlichem Speck, in die Haut des Stieres zusammengefasst, und deckte den Magen darauf, auf die andere die kahlen Knochen, künstlich in das Unschlitt des Schlachtopfers eingehüllt. Und dieser Haufen war der größere.

Zeus, der Göttervater, der Allwissende, durchschaute aber seinen Betrug und sprach:

„Sohn des Iapetos, erlauchter König, guter Freund, wie ungleich hast du die Teile geteilt!“

Prometheus glaubte jetzt erst recht, dass er ihn betrogen, lächelte bei sich selbst und sprach:

„Erlauchter Zeus, größter der ewigen Götter, wähle den Teil, den dir dein Herz im Busen anrät zu wählen.“

Zeus ergrimmte im Herzen, aber geflissentlich fasste er mit beiden Händen das weiße Unschlitt. Als er es nun auseinandergedrückt und die bloßen Knochen gewahrte, stellte er sich an, als entdecke er jetzt eben erst den Betrug, und zornig sprach er:

„Ich sehe wohl, Freund Iapetionide, dass du die Kunst des Truges noch nicht verlernt hast!“

Zeus beschloss, sich an Prometheus für seinen Betrug zu rächen, und versagte den Sterblichen die letzte Gabe, die sie zur Lebenserhaltung bedurften, das Feuer.

Doch auch dafür wusste der schlaue Sohn des Iapetos Rat. Er nahm den langen Stängel des markigen Riesenfenchels, näherte sich mit ihm dem vorüber fahrenden Sonnenwagen und setzte so den Stängel in glosenden Brand.

Mit dem brennenden Feuerzunder kam er auf die Erde, und bald loderte der eiste Holzstoß gen Himmel.

In innerster Seele schmerzte es den Donnerer, als er den fernhin leuchtenden Glanz des Feuers unter den Menschen emporsteigen sah. Sofort formte er, zum Ersatz für des Feuers Gebrauch, das den Sterblichen nicht mehr zu nehmen war, ein neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuergott Hephästos musste ihm das Scheinbild einer schönen Jungfrau fertigen; Athene selbst, die, auf Prometheus eifersüchtig, ihm abhold geworden war, warf dem Bild ein weißes, schimmerndes Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Gesicht wallen, den das Mädchen mit den Händen geteilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es mit einer goldenen Binde, die gleichfalls Hephästos seinem Vater zulieb kunstreich verfertigt und mit bunten Tiergestalten herrlich verziert hatte. Hermes, der Götterbote, musste dem holden Gebilde Sprache verleihen und Aphrodite allen Liebreiz.

Also hatte Zeus unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Übel geschaffen und nannte sie Pandora, das heißt die Allbeschenkte; denn jeder der Unsterblichen hatte dem Mägdlein irgendein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben.

Darauf führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern lustwandelten. Alle miteinander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk des Zeus zu bringen.

Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom olympischen Zeus anzunehmen, damit den Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurückzusenden.

Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der Menschen, von seinem Bruder beraten, frei vom Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit.

Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäße eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde.

Ein einziges Gut war zuunterst in dem Gefäß verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe es herausflattern konnte, und verschloss es für immer in dem Gefäß.

Das Elend erfüllte inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen beschleichend, beflügelte seinen Schritt.

Darauf wandte sich Zeus mit seiner Rache gegen Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem Hephästos und seinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang und der Gewalt). Diese mussten ihn in die szythischen Einöden schleppen und hier, über einem schauderhaften Abgrund, an eine Felswand des Berges Kaukasus mit unauflöslichen Ketten schmieden.

Ungern vollzog Hephästos den Auftrag seines Vaters, er liebte in dem Titanensohn den verwandten Abkömmling seines Urgroßvaters Uranus, den ebenbürtigen Göttersprössling. Unter mitleidsvollen Worten und von den roheren Knechten gescholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen.

So musste nun Prometheus an der freudlosen Klippe hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde Knie zu beugen.

„Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirst du versenden“, sagte Hephästos zu ihm, „denn Zeus’ Sinn ist unerbittlich, und alle, die erst seit Kurzem die Herrschergewalt an sich gerissen, sind hartherzig.“

Wirklich sollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder doch dreißigtausend Jahre dauern. Obwohl laut aufseufzend und Winde, Ströme, Quellen und Meereswellen, die Allmutter Erde und den allschauenden Sonnenkreis zu Zeugen seiner Pein aufrufend, blieb er doch ungebeugten Sinnes.

„Was das Schicksal beschlossen hat“, sprach er, „muss derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der Notwendigkeit einsehen gelernt hat.“

Auch ließ er sich durch keine Drohungen des Zeus bewegen, die dunkle Weissagung, dass dem Götterherrscher durch einen neuen Ehebund Verderben und Untergang bevorstehe, näher auszudeuten. Zeus hielt Wort; er sandte dem Gefesselten einen Adler, der als täglicher Gast an seiner Leber zehren durfte, die sich, abgeweidet, immer wieder erneuerte. Die Qual sollte nicht eher aufhören, bis ein Ersatzmann erscheinen würde, der durch freiwillige Übernahme des Todes gewissermaßen sein Stellvertreter sein wollte.

Endlich erschien dem Unglücklichen der Tag der Erlösung. Als er jahrhundertelang, furchtbare Leiden erduldend, an dem Felsen gehangen, kam Herakles des Weges, auf der Fahrt nach den Hesperiden und ihren Äpfeln begriffen. Wie er den Götterenkel am Kaukasus hängen sah und sich seines guten Rates zu erfreuen hoffte, erbarmte ihn sein Geschick, denn er sah, wie der Adler, auf den Knien des Prometheus sitzend, an der Leber des Unglückseligen fraß. Da legte er Keule und Löwenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte den Pfeil und schoss den grausamen Vogel von der Leber des Gequälten hinweg. Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten mit sich davon.

Damit aber des Götterkönigs Bedingung erfüllt würde, stellte er ihm als Ersatzmann den Zentauren Chiron, der bereit war, an jenes Statt zu sterben; denn vorher war er unsterblich.

Damit jedoch Zeus’ Urteil, der den Prometheus auf weit längere Zeit an den Felsen verbannt hatte, trotzdem nicht unvollzogen bliebe, musste Prometheus fortwährend einen eisernen Ring tragen, an welchem sich ein Steinchen von jenem Kaukasusfelsen befand. So konnte sich Zeus rühmen, dass sein Feind noch immer an den Kaukasus angeschmiedet sei.

Deukalion und Pyrrha

Als das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste und Zeus, dem Weltbeherrscher, schlimme Sage von seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloss er, selbst in menschlicher Gestalt die Erde zu durchstreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch milder als die Wahrheit.

Eines Abends in später Dämmerung trat er unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, dessen Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, dass ein Gott gekommen sei, und die Menge hatte sich auf die Knie geworfen. Lykaon jedoch spottete über diese frommen Gebete.

„Lasst uns sehen“, .sprach er, „ob es ein Sterblicher oder ein Gott sei!“

Dabei beschloss er im Herzen, den Gast um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber schlachtete er einen armen Menschen, den ihm das Volk der Molosser als Geisel gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in siedendem Wasser oder briet sie am Feuer und setzte sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch.

Zeus, der alles durchschaut hatte, fuhr vom Mahle empor und sandte die rächende Flamme über die Burg des Gottlosen. Bestürzt entfloh der König ins freie Feld. Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul, sein Gewand wurde zu Zotteln, seine Arme zu Beinen, er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.

Zeus kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rat und gedachte das ruchlose Menschengeschlecht zu vertilgen.

Schon wollte er auf alle Länder die Blitze verstreuen; aber die Furcht, der Äther möchte in Flammen geraten und die Achse des Weltalls auflodern, hielt ihn ab. Er legte die Donnerkeile, welche ihm die Zyklopen geschmiedet, wieder beiseite und beschloss, über die ganze Erde Platzregen vom Himmel zu senden und so unter Wolkengüssen die Sterblichen zu vernichten.

Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen andern die Wolken verscheuchenden Winde in die Höhlen des Äolos verschlossen und nur der Südwind von ihm ausgesendet.

Dieser flog mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel, sein Bart war schwer vom Gewölk, von seinem weißen Haupthaar rann die Flut, Nebel lagerten auf der Stirn, aus der Brust troff ihm das Wasser.

Der Südwind griff an den Himmel, fasste mit der Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an, sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, darnieder lag die Hoffnung des Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres.

Auch Poseidon, Zeus’ Bruder, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und sprach:

„Lasst euren Wogen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!“

Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchbrach mit seinem Dreizack das Erdreich und schaffte durch Erschütterung den Fluten freie Bahn.

So strömten die Flüsse über die offene Flur hin, bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im Strudel.

Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, und gestadeloser See. Die Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über die Flügel seiner Weinpflanzungen hin, dass der Kiel an ihnen streifte.

In den Ästen der Wälder arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden, erjagte die Flut: Ganze Völker wurden vom Wasser hinweggerafft, und was die Welle verschonte, starb den schrecklichen Hungertod auf den unbebauten Heidegipfeln.

Ein solch hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis aus der alles bedeckenden Meeresflut heraus. Es war der Parnassos.

An ihn schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, dem dieser eine Warnung gegeben und ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib ward je gefunden, die an Rechtschaffenheit und Gottesfurcht diese beiden übertroffen hätten.

Als nun Zeus vom Himmel herabschauend die Welt von stehenden Gewässern überschwemmt und von den viel tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah, beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte dem Himmel die Erde und der Erde den Himmel wieder.

Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten; endlich breitete sich auch wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.

Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet, und die Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha:

„Geliebte, einzige Lebensgenossin! So weit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle andern sind in der Wasserflut untergegangen.

Aber auch wir sind unseres Lebens noch nicht mit Gewissheit sicher. Jede Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch.

Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, dass mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzuflößen.“

So sprach er, und das verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie sich vor einem halbzerstörten Altar der Göttin Themis auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen:

„Sag uns, o Göttin, durch welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Geschlecht wieder her! O hilf der versunkenen Welt wieder zum Leben!“

„Verlasset meinen Altar“, tönte die Stimme der Göttin, „umschleiert euer Haupt, löst eure Gürtel und werft die Gebeine eurer Mutter hinter euren Rücken.“

Lange wunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das Schweigen.

„Verzeih mir, hohe Göttin“, sprach sie, „wenn ich dir schaudernd nicht gehorche und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!“

Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit den freundlichen Worten:

„Wenn mich mein Scharfsinn nicht trügt, bergen die Worte der Götter keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine, und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!“

Beide misstrauten indessen dieser Deutung noch lange.

Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie. So gingen sie denn seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter sich.

Da ereignete sich ein großes Wunder: Das Gestein begann seine Härte und Spröde abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden oder einer in Marmor vom Künstler erst aus dem Groben heraus gemeißelten Figur ähnlich.

Was jedoch an den Steinen Feuchtes und Erdiges war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame und Feste ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen die vom Manne geworfenen Steine mit Hilfe der Götter in kurzer Frist männliche Gestalt, die vom Weibe geworfenen weibliche.

Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.

Io

Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io. Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna die Herden ihres Vaters hütete. Der Gott ward von Liebe zu ihr erfüllt, trat zu ihr in Menschengestalt und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen:

„O Jungfrau, glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des höchsten Gottes Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus, Fliehe nicht vor mir!

Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen?

Fürchte dich doch nicht, den dunklen Wald und die Schluchten, in welchen das Wild haust, zu betreten. Bin doch ich da, dich zu schirmen, der Gott, der das Zepter des Himmels führt und die zackigen Blitze über den Erdboden versendet.“

Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht missbraucht und das ganze Land in dichte Finsternis gehüllt hätte.

Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu stoßen oder in einen Fluss zu stürzen. So kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.

Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer Liebe ab- und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Misstrauen beobachtete sie alle Schritte des Zeus auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr Gemahl ohne ihr Wissen wandelte.

Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde und wie dieser weder einem Strome noch dem dunstigen Boden entsteige noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und fand ihn nicht.

„Wenn mich nicht alles täuscht“, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, „werde ich von meinem Gatten schnöde gekränkt!“

Und nun fuhr sie auf einer Wolke vom hohen Äther zur Erde hernieder und gebot dem Nebel, der den Entführer mit seiner Beute umschlossen hielt, zu weichen.

Zeus hatte die Ankunft seiner Gemahlin geahnt, und um seine Geliebte ihrer Rache zu entziehen, verwandelte er die schöne Tochter des Inachos schnell in eine schmucke, schneeweiße Kuh.

Aber auch so war die Holdselige noch schön geblieben. Hera, welche die List ihres Gemahls alsbald durchschaut hatte, pries das stattliche Tier und fragte, als wüsste sie nichts von der Wahrheit, wem die Kuh gehöre, woher und von welcher Zucht sie sei.

Zeus, in der Not und um sie von weiterer Nachfrage abzuschrecken, nahm seine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh entstamme der Erde.

Hera gab sich damit zufrieden, aber sie bat sich das schöne Tier von ihrem Gemahl zum Geschenk aus.

Was sollte der betrogene Betrüger machen? Gibt er die Kuh her, so wird er seiner Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloss er sich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und schenkte die schimmernde Kuh, die er immer noch für unentdeckt hielt, seiner Gemahlin.

Hera knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen Tier ein Band um den Hals und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der Tiergestalt schlug, im Triumphe davon.

Doch machte der Göttin dieser Diebstahl selbst Angst, und sie ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte.

Daher suchte sie den Argos, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungetüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien. Denn Argos halte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich in schloss und der Ruhe ergab, während alle übrigen, über Vorder- und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten.

Diesen bestellte Hera zum Wächter der armen Io, damit ihr Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne.

Unter seinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, tagsüber auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute; auch wenn er sich abwandte und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er sie vor Augen.

Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloss er sie ein und belastete den Hals der Unglücklichen mit Ketten; bittere Kräuter und Baumlaub waren ihre Speise, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank schlammige Pfützen.

Io vergaß oft, dass sie kein Mensch mehr war, sie wollte Mitleiden erflehend ihre Arme zu Argos erheben: Da ward sie erst daran erinnert, dass sie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in Worten rührende Bitten vortragen: Dann entfuhr ihrem Munde ein Brüllen, dass sie vor ihrer eigenen Stimme erschrak, welche sie daran mahnte, wie sie durch ihres Räubers Selbstsucht in ein Tier verwandelt worden sei.

Doch blieb Argos mit ihr nicht an einer Stelle, denn so hatte es ihm Hera geheißen, die Io durch Wechsel des Aufenthaltsortes dem Gemahl umso eher zu entziehen hoffte.

Ihr Wächter zog daher mit ihr im Lande umher, und so kam sie auch mit ihm in ihre alte Heimat, an das Gestade des Flusses, wo sie oft als Kind zu spielen gepflegt. Da sah sie zum ersten Mal ihr Bild in der Flut; als das Tierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Wasser entgegenblickte, schauderte sie zurück und floh bestürzt vor sich selbst.

Ein sehnsüchtiger Trieb führte sie in die Nähe ihrer Schwestern, in die Nähe ihres Vaters Inachos; aber diese erkannten sie nicht. Inachos streichelte wohl das schöne Tier und reichte ihm Blätter, die er von dem nächsten Strauche pflückte: Io beleckte dankbar seine Hand und benetzte sie mit Küssen und heimlichen Tränen. Aber wen er liebkoste und von wem er geliebkost wurde, das ahnte der Greis nicht.

Endlich kam der Armen, deren Geist unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an, Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen, und erregte durch diese Bewegung die Aufmerksamkeit des Vaters, der bald im Staube die Kunde las, dass er sein eigenes Kind vor sich habe.

„Ich Unglückseliger“, rief der Greis bei seiner Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der stöhnenden Tochter hing, „so muss ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe! Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, solange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich gefunden habe!

Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll antworten! Ich Tor, einsam sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Gatten zuführen könnte, und dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde –“

Argos, der grausame Wächter, ließ den jammernden Vater nicht vollenden, er riss Io von dem Vater hinweg und schleppte sie fort auf einsame Weiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt, indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.

Zeus konnte das Leid der Inachostochter nicht länger ertragen. Er rief seinem geliebten Sohne Hermes und befahl ihm, seine List zu gebrauchen und dem verhaften Wächter das Augenlicht auszulöschen.

Dieser beflügelte seine Füße, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Rute und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Palaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er Hut und Schwingen ab und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io weidete und Argos die Wache hielt. Hier angekommen, zog er ein Hirtenrohr, das man Syrinx nennt, hervor und fing an, so anmutig und voll zu blasen, wie man von irdischen Hirten zu vernehmen nicht gewohnt ist.

Der Diener Heras freute sich dieses ungewohnten Schalls, erhob sich von seinem Felsensitze und rief hernieder:

„Wer du auch sein magst, willkommener Rohrbläser, du könntest wohl bei mir auf diesem Felsen hier ausruhen. Nirgends ist der Graswuchs üppiger für das Vieh als hier, und du siehst, wie behaglich der Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume für den Hirten ist!“

Hermes dankte dem Rufenden, stieg hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing und sich so ernstlich ins Gespräch vertiefte, dass der Tag herumging, ehe Argos sich dessen versah. Diesem begannen die Augen zu schläfern, und nun griff Hermes wieder zu seinem Rohr und versuchte sein Spiel, um ihn vollends in Schlummer zu wiegen.

Aber Argos, der an den Zorn seiner Herrin dachte, wenn er seine Gefangene ohne Fesseln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn sich auch der Schlummer in einen Teil seiner Augen schlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem andern Teil, nahm sich zusammen. Da die Rohrpfeife erst kürzlich erfunden worden war, so fragte er seinen Gesellen nach dem Ursprünge dieser Erfindung.

„Das will ich dir gern erzählen“, sagte Hermes, „wenn du in dieser späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug hast, mich anzuhören.

In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit Namen Syrinx. Die Waldgötter und Satyrn, von ihrer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon lange mit ihrer Werbung, aber immer wusste sie ihnen zu entschlüpfen. Denn sie scheute das Joch der Vermählung und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Artemis, gleich dieser in jungfräulichem Stande verharren.

Endlich wurde auch der mächtige Gott Pan auf seinen Streifzügen durch jene Wälder der Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb, im stolzen Bewusstsein seiner Hoheit, dringend um ihre Hand.

Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegsame Steppen, bis sie zuletzt an das langsame Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Übergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre Schutzgöttin Artemis, sich ihrer Verehrerin zu erbarmen und sie zu verwandeln, ehe sie in die Hand des Gottes fiele.

Indes kam der Gott herangeflogen und umfasste die am Ufer Zögernde; aber wie staunte er, als er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfasst hielt; seine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr und wiederholten sich mit tiefem, klagendem Gesäusel. Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott.

,Wohl denn, verwandelte Nymphe‘, rief er mit schmerzlicher Freude, ,auch so soll unsere Verbindung unauflöslich sein!‘

Und nun schnitt er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verband sie mit Wachs untereinander und nannte die lieblich tönende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade, und seitdem heißt dieses Hirtenrohr Syrinx.“

So lautete die Erzählung des Hermes, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt im Auge behielt. Die Mär war noch nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich schloss und endlich alle die hundert Leuchten im dichten Schlaf erloschen waren.

Nun hemmte der Götterbote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe nacheinander die hundert eingeschläferten Augenlider und verstärkte ihre Betäubung.

Während nun der hundertäugige Argos in tiefem Schlafe nickte, griff Hermes schnell zu dem Sichelschwerte, das er unter seinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals zunächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf stürzten nacheinander vom Felsen herab und färbten das Gestein mit einem Strome von Blut.

Nun war Io befreit, und obwohl noch unverwandelt, rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den durchdringenden Blicken Heras entging nicht, was in der Tiefe geschehen war. Sie dachte auf eine ausgesuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das unglückliche Geschöpf durch ihren Stich zum Wahnsinne trieb.

Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Stachel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Szythen an den Kaukasus, zum Amazonenvolke, zum kimmerischen Bosporus und an die mäotische See; dann hinüber nach Asien und endlich nach langem verzweiflungsvollem Irrlaufe nach Ägypten.

Hier, am Strande des Nils angelangt, sank Io auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Augen zum Olymp empor, mit einem Blick voll Jammer gegen Zeus.

Diesen erbarmte der Anblick; er eilte zu seiner Gemahlin Hera, umfing ihren Hals mit den Armen, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen, das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwur ihr beim Styx, dem Wasser der Unterwelt, bei dem die Götter schwören, von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen.

Hera hörte während dieser Bitte das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göttermutter erweichen und gab dem Gemahle Vollmacht, der Missgestalteten den menschlichen Leib zurückzugeben.

Zeus eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier strich er der Kuh mit der Hand über den Rücken; da war es wunderbar anzuschauen: Die Zotteln flohen vom Leibe des Tieres, das Gehörn schrumpfte zusammen, die Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu Lippen zusammen, Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Gestalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht in menschlicher Schönheit leuchtend.

Am Nilstrome gebar sie dem Zeus den Epaphos, und weil das Volk die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, so herrschte sie lange mit Fürstengewalt über jene Lande. Doch blieb sie trotzdem nicht ganz von Heras Zorn verschont.

Diese stiftete das wilde Volk der Kureten an, ihren jungen Sohn Epaphos zu entführen, und nun trat sie aufs Neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzusuchen.

Endlich, nachdem Zeus die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den entführten Sohn an der Grenze Äthiopiens wieder, kehrte mit ihm nach Ägypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrschen.

Er heiratete die Memphis, und diese gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt; Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt und erhielten, sie als Isis, er als Apis, göttliche Verehrung.

Phaethon

Auf herrlichen Säulen erbaut stand die Königsburg des Sonnengottes, von blitzendem Gold und glühendem Karfunkel schimmernd; den obersten Gipfel umschloss blendendes Elfenbein, gedoppelte Türen strahlten im Silberglanz, darauf in erhabener Arbeit die schönsten Wundergeschichten zu schauen waren.

In diesen Palast trat Phaethon, der Sohn des Sonnengottes Helios, und verlangte den Vater zu sprechen. Doch stellte er sich nur von ferne hin, denn in der Nähe war das strahlende Licht nicht zu ertragen.

Der Vater Helios, von Purpurgewand umhüllt, saß auf seinem fürstlichen Stuhle, der mit glänzenden Smaragden besetzt war; zu seiner Rechten und zu seiner Linken stand sein Gefolge geordnet, der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und die Horen, der jugendliche Lenz mit seinem Blütenkranze, der Sommer mit Ährengewinden bekränzt, der Herbst mit einem Füllhorn voll Trauben, der eisige Winter mit schneeweißen Haaren. Helios, in ihrer Mitte sitzend, wurde mit seinem allschauenden Auge bald den Jüngling gewahr, der über so viele Wunder staunte.

„Was ist der Grund deiner Wallfahrt“, sprach er, „was führt dich in den Palast deines göttlichen Vaters, mein Sohn?“

Phaethon antwortete:

„Erlauchter Vater, man spottet mein auf Erden und beschimpft meine Mutter Klymene. Sie sagen, ich erheuchle nur himmlische Abkunft und sei der Sohn eines unbekannten Vaters. Darum komme ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor aller Welt als deinen wirklichen Sprössling erweise.“

So sprach er; da legte Helios die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchteten, ab und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und sprach:

„Deine Mutter Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verleugnen. Damit du aber ja nicht länger zweifelst, erbitte dir ein Geschenk; ich schwöre beim Styx, dem Flusse der Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte, welche sie auch sei, soll dir erfüllt werden!“

Phaethon ließ den Vater kaum ausreden.

„So erfülle mir denn“, sprach er, „meinen glühendsten Wunsch und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens!“

Schrecken und Reue wurden sichtbar auf dem Angesichte des Gottes. Drei-, viermal schüttelte er sein umleuchtetes Haupt und rief endlich:

„O Sohn, du hast mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O könnte ich doch mein Versprechen zurücknehmen! Du verlangst ein Geschenk, dem deine Kräfte nicht gewachsen sind; du bist zu jung; du bist sterblich, und was du wünschest, ist ein Werk der Unsterblichen!

Du erstrebest sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt ist. Denn außer mir vermag keiner von ihnen auf der glutsprühenden Achse zu stehen.

Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe erklimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch frisches Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zu oberst am Himmel.

Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in solcher Höhe stehe, da kommt mich oft selbst ein Grausen an, und mein Haupt droht ein Schwindel zu fassen, wenn ich so herniederblicke in die Tiefe und Meer und Land weit unter mir liegt.

Zuletzt ist dann die Straße ganz abschüssig, da bedarf es gar sichrer Lenkung. Die Meeresgöttin Tethys selbst, die mich in ihre Fluten aufnimmt, pflegt alsdann zu befürchten, ich möchte in die Tiefe geschmettert werden.

Dazu bedenke, dass der Himmel sich in beständigem Umschwunge dreht und ich diesem reißenden Kreisläufe entgegenfahren muss. Wie vermöchtest du das, wenn ich dir auch meinen Wagen gäbe?

Darum, geliebter Sohn, verlange nicht ein so schlimmes Geschenk und bessere deinen Wunsch, solange es noch Zeit ist.

Sieh mein erschrecktes Gesicht an! O könntest du durch meine Augen in mein sorgenvolles Vaterherz eindringen! Verlange, was du sonst willst von allen Gütern des Himmels und der Erde! Ich schwöre dir beim Styx, du sollst es haben! – Warum bedrängst du mich mit solchem Ungestüm?“

Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und der Vater hatte den heiligen Schwur geschworen. So nahm er denn seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zu dem Sonnenwagen, des Hephästos herrlicher Arbeit. Achse, Deichsel und der Kranz der Räder waren von Gold, die Speichen Silber; vom Joche schimmerten Chrysolithen und Juwelen.

Während Phaethon die herrliche Arbeit von Herzen bestaunte, tat im geröteten Osten die erwachte Morgenröte ihr Purpurtor und ihren Vorsaal, der voll Rosen ist, auf. Die Sterne verschwanden allmählich, der Morgenstern war der Letzte, der seinen Posten am Himmel verließ, und die äußersten Hörner des Mondes verloren sich am Rande.

Jetzt gab Helios den geflügelten Horen den Befehl, die Rosse zu schirren, und diese führten die glutsprühenden Tiere, von Ambrosia gesättigt, von den prunkvollen Krippen und legten ihnen herrliche Zäume an.

Während dies geschah, bestrich der Vater das Antlitz seines Sohnes mit einer heiligen Salbe und machte es dadurch fähig, die glühende Flamme zu ertragen. Um das Haupthaar legte er ihm seine Strahlensonne, aber er seufzte dazu und sprach warnend:

„Kind, schone mir die Stacheln, brauche wacker die Zügel; denn die Rosse rennen schon von selbst, und es kostet Mühe, sie im Fluge zu halten; die Straße geht schräg mit weitumbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol musst du meiden. Du erblickst deutlich die Geleise der Räder. Senke dich nicht zu tief, sonst gerät die Erde in Brand; steige nicht zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel! Auf, die Finsternis flieht, nimm die Zügel zur Hand; oder – noch ist es Zeit; besinne dich, liebes Kind; überlass den Wagen mir, lass mich der Welt das Licht schenken und bleibe du Zuschauer!“

Der Jüngling schien die Worte des Vaters gar nicht zu hören; er schwang sich mit einem Sprung auf den Wagen, voll Freude, die Zügel in den Händen zu haben, und nickte dem unzufriedenen Vater einen kurzen, freundlichen Dank zu.

Mittlerweile füllten die vier Flügelrosse mit glutatmendem Wiehern die Luft, und ihr Huf stampfte gegen die Barren. Tethys, Phaethons Großmutter, welche nichts vom Lose des Enkels ahnte, tat diese auf; die Welt lag in unendlichem Raume vor den Blicken des Knaben, die Rosse flogen die Bahn aufwärts und spalteten die Morgennebel, die vor ihnen lagen.

Inzwischen fühlten die Rosse wohl, dass sie nicht die gewohnte Last trugen und das Joch leichter sei als gewöhnlich: und wie die Schiffe, wenn sie das rechte Gewicht nicht haben, im Meere schwanken, so machte der Wagen Sprünge in der Luft, ward hoch emporgestoßen und rollte dahin, als wäre er leer.

Als das Rossegespann dies merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlassend, und lief nicht mehr in der vorigen Ordnung. Phaethon fing an zu erbeben, er wusste nicht, wohin die Zügel lenken, wusste den Weg nicht, wusste nicht, wie er die wilden Rosse bändigen sollte.

Als nun der Unglückliche hoch am Himmel abwärts sah auf die tief, tief unter ihm sich hinstreckenden Länder, wurde er blass, und seine Knie zitterten vor plötzlichem Schrecken. Er sah rückwärts; schon lag viel Himmel hinter ihm, aber mehr noch vor seinen Augen. Beides ermaß er in seinem Geiste.

Unwissend, was beginnen, starrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog sie auch nicht weiter an; er wollte den Rossen rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen sah er die mannigfaltigen Sternbilder an, die in abenteuerlichen Gestalten am Himmel herumhingen.

Da ließ er, von kaltem Entsetzen erfasst, die Zügel fahren, und wie sie herabschlotternd den Rücken der Pferde berührten, verließen diese ihre Spur, schweiften seitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief hernieder; jetzt stießen sie an den Fixsternen an, jetzt wurden sie auf abschüssigen Pfaden in die Nachbarschaft der Erde herabgerissen. Schon berührten sie die erste Wolkenschicht, die bald entzündet aufdampfte. Immer tiefer stürzte der Wagen, und unversehens war er einem Hochgebirge nahe gekommen.

Da lechzte vor Hitze der Boden und spaltete sich, und weil plötzlich alle Säfte austrockneten, fing er an zu glimmen; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; weiter unten loderte das Laub der Waldbäume auf; bald war die Glut bei der Ebene angekommen; nun wurde die Saat weggebrannt, ganze Städte loderten in Flammen auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung wurden versengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Damals sollen auch die Neger schwarz geworden sein.

Die Ströme versiegten oder flohen erschreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer selbst wurde zusammengedrängt, und was jüngst noch See war, wurde trockenes Sandfeld.

An allen Seiten sah Phaethon den Erdkreis entzündet, ihm selbst wurde die Glut bald unerträglich; wie tief aus dem Innern einer Feueresse atmete er siedende Luft ein und fühlte unter seinen Sohlen, wie der Wagen erglühte. Schon konnte er den Dampf und die vom Erdbrand emporgeschleuderte Asche nicht mehr ertragen, Qualm und pechschwarzes Dunkel umgab ihn; das Flügelgespann war nicht mehr zu bändigen.

Schließlich ergriff die Glut seine Haare, er stürzte aus dem Wagen, und brennend wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu schießen scheint. Ferne von der Heimat nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und bespülte ihm sein schäumendes Angesicht.

Helios, der Vater, der dies alles mit ansehen musste, verhüllte sein Haupt in tiefer Trauer. Damals, sagt man, sei ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht vorübergeflohen. Der ungeheure Brand leuchtete allein über den Erdball.

Europa

Im Lande von Tyrus und Sidon lebte die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Ihr wurde nach Mitternacht, wo untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und stritten um ihren Besitz.

Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden, die andere – und dies war Asien – glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen.

Diese wehrte sich mit zärtlichem Eifer für ihr Kind Europa und erklärte, dass sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt habe. Das fremde Weib aber umfasste sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich fort, ohne dass Europa im Innern zu widerstreben vermochte.

„Komm nur mit mir, Liebchen“, sprach die Fremde, „ich trage dich als Beute dem Ägiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir’s vom Geschick beschieden.“

Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn der nächtliche Traum war hell wie ein Anblick des Tages gewesen.

Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weitaufgetanen Augen standen noch die beiden Frauen. Erst später öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräch.

„Welcher Himmlische“, sprach sie, „hat mir diese Bilder zugeschickt? Was für wunderbare Träume haben mich aufgeschreckt, während ich im Elternhaus süß und fest schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen? Und wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen und, auch als sie mich gewaltsam entführte, mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum Besten kehren!“

Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein verwischte den nächtlichen Schimmer des Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhob sich zu den Beschäftigungen und Freuden ihres jungfräulichen Lebens.

Bald sammelten sich um sie ihre Altersgenossinnen und Gespielinnen, Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Spaziergängen zu begleiten pflegten.

Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen am Meer einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen Wuchse der Blumen und am hallenden Rauschen des Meeres zu erfreuen pflegten.

Alle Mädchen waren in schmucke, blumengestickte Gewande gekleidet; Europa selbst trug ein wunderherrliches, goldgesticktes Schleppkleid voll glänzender Bilder aus der Göttersage; das köstliche Gewand war ein Werk des Hephästos, ein uraltes Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen.

Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen.

Jubelnd zerstreute sich die Schar der Mädchen da- und dorthin, jede suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu, eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel der würzige Quendel, wieder andere wählten den gelben lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her. Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden; sie stand, wie unter den Grazien die Liebesgöttin, alle ihre Genossinnen überragend, und hielt hoch in der Hand einen Strauß von Rosen.

Als sie genug Blumen gesammelt hatten, lagerten sich die Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf den Rasen und fingen an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an grünenden Bäumen aufhängen wollten.

Aber nicht lange sollten sie sich an den Blumen erfreuen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte.

Zeus, der Kronide, war von den Geschossen des Liebesgottes, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden.

Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier.

Aber welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwer beladenen Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen Wammen am Bug; seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt, und durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war die Farbe seines Leibes, nur auf der Stirne schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich; bläuliche, von Verlangen funkelnde Augen rollten in seinem Kopf.

Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er den Hermes zu sich auf den Olymp und sprach, ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen:

„Beeile dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien: Dorthin wende dich und treibe mir das Vieh des Königs Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst, gegen das Meeresufer hinab.“

In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königs, unter die sich auch, ohne dass Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte, vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors, von tyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte.

Die übrige Herde nun zerstreute sich über die Wiesen ferne von den Mädchen; nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Stolz schritt er im üppigen Gras dahin, über seiner Stirne schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine Furcht ein: Sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut.

Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die edle Gestalt des Tieres und sein friedliches Gebaren, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln.

Der Stier schien dies zu merken, denn er kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin.

Diese sprang auf und wich anfangs einige Schritte zurück; als aber das Tier zahm stehenblieb, fasste sie sich ein Herz, näherte sich wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosischer Atem anwehte.

Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn zärtlich zu streicheln begann.

Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuss auf seine glänzende Stirne.

Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gewöhnliche Stiere brüllen, sondern es tönte wie der Klang einer lydischen Flöte, die ein Bergtal durchhallt. Dann legte er sich zu den Füßen der schönen Fürstin nieder, blickte sie sehnsüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da sprach Europa zu ihren Freundinnen, den Jungfrauen:

„Kommt doch auch näher, liebe Gespielinnen, wir wollen uns auf den Rücken dieses schönen Stieres setzen und unser Vergnügen damit haben: Ich glaube, unserer vier haben leicht Platz wie in einem geräumigen Kahn. Er sieht so freundlich und sanftmütig aus und gleicht gar nicht anderen Stieren. Wahrhaftig, er hat Verstand wie ein Mensch, und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!“

Mit diesen Worten nahm sie ihren Gespielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und schmückte damit die gesenkten Hörner des Stieres; dann schwang sie sich lächelnd auf seinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und unschlüssig zusahen.

Als dem Stier seine Absicht gelungen war, sprang er vom Boden auf. Anfangs ging er ganz sachte mit der Jungfrau davon, doch so, dass ihre Genossinnen nicht gleichen Schritt mit seinem Gange halten konnten.

Als er aber die Wiesen im Rücken und den kahlen Strand vor sich hatte, verdoppelte er seinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stier, sondern einem fliegenden Ross. Und ehe sich Europa besinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen und schwamm mit seiner Beute dahin.

Die Jungfrau hielt mit der Rechten eines seiner Hörner umklammert, mit der Linken stützte sie sich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind wie in ein Segel; ängstlich blickte sie nach dem verlassenen Lande zurück und rief umsonst nach den Gespielinnen; das Wasser umwallte den rudernden Stier, und die hüpfenden Meereswellen scheuend, zog die Jungfrau furchtsam die Fersen hinauf. Aber das Tier schwamm dahin wie ein Schiff: Bald war das Ufer verschwunden, die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht sah die unglückliche Jungfrau nichts um sich her als Wogen und Gestirne.

So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag schwamm sie durch die unendliche Flut auf dem Tiere dahin; doch wusste dieses so geschickt die Wellen zu durchschneiden, dass kein Tropfen seine geliebte Beute benetzte.

Endlich gegen Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume sanft vom Rücken gleiten und verschwand vor ihren Blicken. An seine Stelle trat ein herrlicher, göttergleicher Mann, der ihr erklärte, dass er der Beherrscher der Insel Kreta sei und sie schützen werde, wenn er durch ihren Besitz beglückt würde.

Europa in ihrer restlosen Verlassenheit reichte ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung, und Zeus hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht. Aber auch er verschwand, wie er gekommen war.

Aus langer Betäubung erwachte Europa, als schon die Morgensonne am Himmel stand. Mit verwirrten Blicken sah sie um sich her, als wollte sie die Heimat suchen.

„Vater, Vater!“, schrie sie mit durchdringendem Wehelaut, besann sich eine Weile und rief wieder:

„Ich verworfene Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur aussprechen? Welcher Wahnsinn hat mich die Kindesliebe vergessen lassen!“

Dann sah sie wieder, wie sich besinnend, umher und fragte sich selbst

„Woher, wohin bin ich gekommen? – Zu leicht ist der Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiss unschuldig an allem, und es neckt meinen Geist nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird. Wie wäre es auch möglich, dass ich mich hätte entschließen können, lieber auf dem Rücken eines Untiers durch unendliche Fluten zu schwimmen, als in Sicherheit frische Blumen zu pflücken!“

So sprach sie und fuhr mit der flachen Hand über die Augen, als wolle sie den hässlichen Traum verwischen. Als sie aber um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felsen umgaben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an starren Klippen sich brechend, empor am nie geschauten Gestade.

„Ach, dass mir jetzt der verwünschte Stier begegnete“, rief sie verzweifelnd, „wie wollte ich ihn von mir treiben: nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Ungeheuers zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien!

Eitler Wunsch! Nachdem ich schamlos die Heimat verlassen, was bleibt mir übrig als zu sterben? Wenn ich nicht von allen Göttern verlassen bin, so sendet mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muss nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen blühenden Wangen zehrt.“

Aber kein wildes Tier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr, und vom heiteren, ewig blauen Himmel leuchtete die Sonne.

Wie von Furien bestürmt, sprang die verlassene Jungfrau auf.

„Elende Europa“, rief sie, „hörst du nicht die Stimme deines abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen und als Sklavin von Tag zu Tag die zugeteilte Wolle abspinnen, du, eines hohen Königs Tochter?“

So quälte sich das unglückliche, verlassene Mädchen mit Todesgedanken und hatte doch den Mut nicht in sich, zu sterben.

Da vernahm sie plötzlich ein heimliches, spottendes Geflüster hinter sich, glaubte sich belauscht und blickte erschrocken um.

In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Aphrodite vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte ein Lächeln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie:

„Lass deinen Zorn und Hader, schönes Mädchen! Der verhasste Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerbrechen darreichen; ich bin es, die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes. Unsterblich wird dein Name werden; denn der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!“

Kadmos

Kodmos war ein Sohn des phönizischen Königs Agenor, ein Bruder der Europa. Als Zeus, in einen Stier verwandelt, diese entführt hatte, sandte Agenor den Kadmos und dessen Bruder aus, sie zu suchen, und erlaubte ihnen nicht, ohne sie wieder zurückzukommen.

Lange hatte Kadmos vergebens die Welt durchirrt, ohne Zeus’ Schliche entdecken zu können. Als er die Hoffnung verloren hatte, seine Schwester wieder aufzufinden, scheute er seines Vaters Zorn, wandte sich an das Orakel Phöbos Apollons und forschte, welches Land er künftig bewohnen sollte.

Apollon gab ihm die Weisung:

„Du wirst ein Rind auf einsamen Auen treffen, das noch kein Joch geduldet hat. Von diesem sollst du dich leiten lassen, und an dem Platz, wo es im Grase ruhen wird, erbaue Mauern und nenne die Stadt Theben.“

Kaum hatte Kadmos die kastalische Höhle verlassen, wo Apollons Orakel war, als er schon auf der grünen Weide eine Kuh bedächtig grasen sah, die noch kein Zeichen der Dienstbarkeit um den Nacken trug.

Lautlos zu Phöbos betend, folgte er mit langsamen Schritten den Spuren des Tieres. Schon hatte er die Furt des Kephissos durchwatet und war über eine gute Strecke Landes gekommen, als das Rind auf einmal stille stand, sein Gehörn gen Himmel streckte und die Luft mit Brüllen erfüllte: Dann schaute es um nach der Schar der Männer, die ihm folgte, und kauerte sich endlich im schwellenden Grase nieder.

Dankbar warf sich Kadmos auf der fremden Erde nieder und küsste sie. Hierauf wollte er dem Zeus opfern und hieß die Diener sich aufmachen, um ihm Wasser aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu holen.

Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile jemals ausgehauen worden war. Mitten darin bildete zusammengefügtes Felsgestein, mit Gestrüpp und Strauchwerk verwachsen, eine Kluft, reich an Quellwasser.

In dieser Höhle versteckt, ruhte ein grausamer Drache. Weithin sah man seinen roten Kamm schimmern, aus den Augen sprühte Feuer, sein Leib schwoll von Gift, mit drei Zungen zischte er, und sein Rachen war mit drei Reihen Zähnen bewaffnet.

Als nun die Phönizier den Hain betreten hatten und der niedergelassene Krug in den Wellen plätscherte, streckte der bläuliche Drache plötzlich sein Haupt weit aus der Höhle und erhob ein entsetzliches Zischen.

Die Schöpfurnen entglitten der Hand der Diener, und vor Schrecken stockte ihnen das Blut im Leibe.

Der Drache aber verwickelte seine schuppigen Ringe zum schlüpfrigen Knäuel, dann krümmte er sich im Bogensprunge, und über die Hälfte aufgerichtet, schaute er auf den Wald herab. Darauf reckte er sich gegen die Phönizier, tötete die einen durch seinen Biss, erdrückte die andern mit seiner Umschlingung oder erstickte sie mit bloßem Hauch, und wieder andere brachte sein giftiger Geifer um.

Kadmos wusste nicht, warum seine Diener so lange nicht kamen. Zuletzt machte er sich auf, selbst nach ihnen zu schauen. Er umhüllte sich mit dem Felle, das er einem Löwen abgezogen hatte, nahm Lanze und Wurfspieß mit sich, dazu ein Herz, das besser war als jede Waffe.

Das Erste, was ihm beim Eintritt in den Hain auffiel, waren die Leichen seiner getöteten Diener, und über ihnen sah er den Feind mit geschwollenem Leibe triumphieren und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken.

„Ihr armen Genossen“, rief Kadmos voll Jammer aus, „ich will euch rächen oder der Gefährte eures Todes sein!“

Mit diesen Worten ergriff er ein Felsstück und schleuderte es gegen den Drachen.

Mauern und Türme hätte der Stein wohl erschüttert, so groß war er. Aber der Drache blieb unverwundet, sein harter, schwarzer Balg und die Schuppenhaut schirmten ihn wie ein eherner Panzer.

Nun versuchte es der Held mit dem Wurfspieß. Diesem hielt der Leib des Ungeheuers nicht stand, die stählerne Spitze drang tief in seine Eingeweide hinein.

Wütend vor Schmerz drehte der Drache den Kopf gegen den Rücken und zermalmte die Stange des Wurfspießes, aber das Eisen blieb im Leibe stecken. Ein Streich mit dem Schwerte steigerte noch seine Wut, der Schlund schwoll ihm auf, und weißer Schaum floss aus dem giftigen Rachen. Aufrechter als ein Baumstamm schoss der Drache hinaus, dann rannte er mit der Brust wieder gegen die Waldbäume.

Agenors Sohn wich dem Angriff aus, deckte sich mit der Löwenhaut und ließ die Drachenzähne an der Lanzenspitze sich abmühen.

Endlich begann das Blut dem Untier aus dem Halse zu fließen und rötete die grünen Kräuter in der Runde; aber die Wunde war nur leicht, denn der Drache wich jedem Stoß und Stich aus, und kein Streich verletzte ihn ernstlich.

Zuletzt jedoch stieß ihm Kadmos das Schwert in die Gurgel, so tief, dass es rückwärts in einen Eichenbaum fuhr und mit dem Nacken des Ungeheuers zugleich der Stamm durchbohrt wurde. Der Baum wurde von dem Gewichte des Drachen krumm gebogen und seufzte, weil er sich am Stamm von der Spitze des Schweifes gepeitscht fühlte. Nun war der Feind überwältigt.

Kadmos betrachtete den erlegten Drachen lange; als er sich wieder umsah, stand Pallas Athene, die vom Himmel niedergestiegen war, an seiner Seite und befahl ihm, sofort die Zähne des Drachen als Nachwuchs künftigen Volkes in aufgelockertes Erdreich zu säen.

Er gehorchte der Göttin, zog mit dem Pflug eine breite Furche in den Boden und fing an, die Drachenzähne, wie ihm befohlen war, in die Furche zu streuen.

Auf einmal begann die Scholle sich zu rühren, und aus den Furchen hervor blickte zuerst nur die Spitze einer Lanze, dann kam ein Helm heraus, auf welchem ein farbiger Busch sich schwenkte, bald ragten Schulter und Brust und bewaffnete Arme aus dem Boden, und endlich stand ein gerüsteter Krieger, vom Kopf bis zum Fuße der Erde entwachsen, da. Dies geschah an vielen Orten zugleich, und eine ganze Saat bewaffneter Männer wuchs vor den Augen des Phöniziers aus dieser Erde.

Agenors Sohn erschrak und war gefasst darauf, einen neuen Feind bekämpfen zu müssen. Aber einer von dem erdentsprossenen Volke rief ihm zu:

„Nimm die Waffen nicht, menge dich nicht in innere Kriege!“

Sofort holte dieser Krieger gegen einen der ihm zunächst aus der Furche hervorgekommenen Brüder mit einem Schwertstreich aus; ihn selbst streckte zu gleicher Zeit ein Wurfspieß nieder, der aus der Ferne geflogen kam. Auch der, welcher ihm den Tod gegeben, verhauchte unter einer Wunde den kaum empfangenen Lebensatem bald wieder. Der ganze Männerschwarm tobte in fürchterlichem Wechselkampfe; fast alle lagen mit zuckender Brust auf dem Boden, und die Mutter Erde trank das Blut ihrer eben erst geborenen Söhne.

Nur fünf waren übrig geblieben. Einer davon – er ward später Echion genannt – warf zuerst auf Athenes Geheiß die Waffen zur Erde und erbot sich zum Frieden; ihm folgten die andern.

Mit Hilfe dieser fünf erdentsprossenen Krieger nun baute der phönizische Fremdling Kadmos die neue Stadt, dem Orakel des Phöbos gehorsam, und nannte sie, wie ihm befohlen war, Theben.

Pentheus

Zu Theben war Bakchos oder Dionysos geboren, der Sohn des Zeus und der Semele, der Enkel des Kadmos, der Gott der Fruchtbarkeit, der Schöpfer des Weinstocks.

In Indien erzogen, verließ er bald die Nymphen, seine Pflegerinnen, und durchreiste die Länder, um überall die Menschen zu unterrichten, den Bau des herzerfreuenden Weines zu lehren und die Verehrung seiner Gottheit zu gründen. So gütig er gegen seine Freunde war, so hart bestrafte er jene, die seinen Gottesdienst nicht anerkennen wollten.

Schon war sein Ruhm durch die Städte Griechenlands und bis zur Stadt seiner Geburt, nach Theben, gedrungen. Dort aber herrschte Pentheus, welchem Kadmos das Königreich übergeben hatte, der Sohn des erdentsprossenen Echion und der Agave, einer Mutterschwester des Bakchos. Pentheus verachtete die Götter, besonders aber seinen Verwandten, den Dionysos.

Als nun der Gott mit seinem jauchzenden Gefolge von Bacchanten herannahte, um sich dem Könige von Theben als Gott zu offenbaren, hörte dieser nicht auf die Warnung des blinden, greisen Sehers Tiresias. Und als ihm die Nachricht zu Ohren kam, dass auch aus Theben Männer, Frauen und Jungfrauen zur Verehrung des neuen Gottes entgegenströmten, fing er an, ergrimmt zu schelten:

„Welch ein Wahnsinn hat euch betört, ihr drachenentsprossenen Thebaner, dass euch, die kein Schlachtschwert, keine Trompete jemals geschreckt hat, jetzt ein weichlicher Zug von berauschten Toren und Weibern besiegt?

Und ihr Phönizier, die ihr weit über Meere gefahren seid und euren alten Göttern eine Stadt gegründet, habt ihr ganz vergessen, aus welchem Heldengeschlecht ihr stammt? Wollt ihr es dulden, dass ein wehrloses Knäblein Theben erobere, ein Weichling mit balsamtriefendem Haar, auf dem ein Kranz aus Weinlaub sitzt, in Purpur und Gold anstatt in Stahl gekleidet, der kein Ross tummeln kann, dem keine Wehr, keine Fehde behagt?

Wenn ihr nur wieder zur Besinnung kommt, so will ich ihn bald nötigen, einzugestehen, dass er ein Mensch ist wie ich, sein Vetter, dass nicht Zeus sein Vater und all diese prächtige Gottesverehrung erlogen ist!“

Dann wandte er sich zu seinen Dienern und befahl ihnen, den Anführer dieser neuen Raserei, wo sie ihn anträfen, zu fassen und in Fesseln herzuschleppen.

Die Freunde und Verwandten des Königs erschraken über den frevelhaften Befehl; sein Ahnherr Kadmos, der im hohen Greisenalter noch lebte, schüttelte das Haupt und missbilligte das Tun des Enkels: Aber durch Ermahnungen wurde seine Wut nur noch mehr aufgestachelt, sie schäumte über alle Hindernisse hin, wie ein rasender Fluss über das Wehr.

Unterdessen kamen die Diener mit blutigen Köpfen zurück.

„Wo habt ihr den Bakchos?“, rief ihnen Pentheus zornig entgegen.

„Den Bakchos“, antworteten sie, „haben wir nirgends gesehen. Dafür bringen wir hier einen Mann aus seinem Gefolge. Er scheint noch nicht lange bei ihm zu sein.“

Pentheus starrte den Gefangenen mit grimmigen Augen an und schrie dann:

„Mann des Todes! Sag an, wie ist dein und deiner Eltern Name, wie heißt dein Land? Und sag auch, warum verehrst du die neuen Gebräuche?“

Frei und ohne Furcht erwiderte jener:

„Mein Name ist Akötes, meine Heimat Mäonien, meine Eltern sind aus dem gemeinen Volke. Keine Fluren, keine Herden ließ mir der Vater zum Erbteil, er lehrte mich nur die Kunst, mit der Angelrute zu fischen, denn diese Kunst war sein ganzer Reichtum. Bald lernte ich auch ein Schiff befehligen, die leitenden Gestirne, die Winde, die wohlgelegenen Häfen kennen und fing an, Schifffahrt zu treiben.

Einst, auf einer Fahrt nach Delos, geriet ich an eine unbekannte Küste, wo wir anlegten. Ein Sprung brachte mich auf den feuchten Sand und ich übernachtete hier noch ohne die Gefährten am Ufer. Des andern Tages machte ich mich mit der ersten Morgenröte auf und bestieg einen Hügel, um zu sehen, was der Wind uns verspreche.

Inzwischen waren auch meine Gefährten gelandet, und auf dem Rückwege nach dem Schiffe begegnete ich ihnen, wie sie gerade einen Jüngling mit sich schleppten, den sie am verlassenen Gestade geraubt hatten. Der Knabe, von jungfräulicher Schönheit, schien vom Wein betäubt, taumelte wie ein Schlaftrunkener und hatte Mühe ihnen zu folgen.

Als ich Angesicht, Haltung, Bewegung des Jünglings näher ins Auge fasste, schien sich mir an dem Jüngling etwas Überirdisches zu offenbaren.

,Was für ein Gott in dem Jüngling ist‘, sprach ich zu der Mannschaft, ,weiß ich noch nicht recht; aber so viel ist gewiss, dass ein Gott in ihm ist.‘

,Wer du auch seiest‘, sprach ich weiter, ,sei uns hold und fordere unsre Arbeit! Verzeih auch diesen, die dich geraubt!‘

,Was fallt dir ein‘, rief ein anderer, ,lass du das Beten!‘

Auch die Übrigen lachten über mich, von Raubgier verblendet, und somit fassten sie den Knaben, um ihn in das Schiff zu schleppen.

Vergebens stellte ich mich entgegen: Der Jüngste und Kräftigste unter der Rotte, ein flüchtiger Mörder aus einer tyrrhenischen Stadt, packte mich an der Gurgel und schleuderte mich hinaus. Ich wäre im Meer ertrunken, wenn mich das Takelwerk nicht aufgefangen hätte.

Inzwischen war der Knabe auf dem Schiffe, wohin man ihn gebracht hatte, wie im tiefen Schlummer gelegen. Plötzlich, wie vom Geschrei erwacht und vom Rausch ernüchtert, raffte er sich auf, trat unter die Schiffer und rief:

,Welcher Lärm? Sprecht, ihr Männer, wieso kam ich hierher? Wohin wollt ihr mich bringen?‘

,Fürchte dich nicht, Knabe‘, sprach einer der falschen Schiffer, ,nenne uns nur den Hafen, nach welchem du gebracht zu werden wünschest, gewiss, wir setzen dich ab, wo du verlangst.‘

,Nun wohl“, sprach der Knabe, ,so steuert nach der Insel Naxos; dort ist meine Heimat!‘

Die Betrüger versprachen es ihm bei allen Göttern und hießen mich die Segel richten. Uns zur rechten Seite lag Naxos. Wie ich nun die Segel rechtshin spanne, winken und murmeln sie mir alle zu:

,Unsinniger, was machst du? Was für ein Wahnwitz plagt dich? Fahr links!‘

Ich erstaunte darüber und begriff sie nicht.

,Nehme sich ein anderer des Schiffes an!‘, sprach ich und trat auf die Seite.

,Als ob das Heil unsrer Fahrt allein auf dir beruhte!‘, schrie mir ein roher Geselle zu und verrichtete die Arbeit anstatt meiner.

So ließen sie Naxos liegen und steuerten in der entgegengesetzten Richtung. Hohnlächelnd, als ob er den Trug jetzt erst bemerkte, schaute der Götterjüngling vom Hinterdeck in die See, und sprach endlich mit weinerlicher Miene:

,Ach, Schiffer, ihr verspracht mir doch, mich nach Naxos zu bringen, dies ist nicht das erbetene Land! Ist es auch recht, dass ihr alten Männer ein Kind auf diese Weise täuscht?‘

Aber die gottvergessene Rotte spottete seiner und meiner Tränen und ruderte eilig davon.

Plötzlich aber, als umschlösse sie eine trockene Schiffswerft, stand die Barke mitten im Meere still.

Vergebens schlagen ihre Ruder die See, ziehen sie die Segel herab, streben fort mit doppelter Kraft. Efeu fängt an, die Ruder zu umschlingen, kriecht rückwärts in geschlängelter Windung herauf, streift mit seinen schwellenden Träubchen schon die Segel; Bakchos selbst – denn er war es – steht herrlich da, die Stirn mit beerenbelasteten Trauben bekränzt, den mit Weinlaub umschlungenen Thyrsosstab schwingend. Tiger, Luchse, Panther erschienen um ihn gelagert, ein duftender Strom von Wein ergoss sich durch das Schiff.

Jetzt sprangen die Männer scheu empor, in Furcht und Wahnsinn. Dem Ersten, der aufschreien wollte, krümmte sich Mund und Nase zum Fischmaul, und ehe die andern sich darüber entsetzen konnten, war auch ihnen das Gleiche geschehen: Ihr Leib senkte sich, von blauen Schuppen umgeben, das Rückgrat wurde hochgewölbt, die Arme schrumpften zu Flossen ein, die Füße vereinigten sich zu einem Schwanze. Sie waren alle zu Fischen geworden, sprangen in das Meer und tauchten auf und nieder.

Von zwanzig Mann war ich allein übriggeblieben, aber ich zitierte an allen Gliedern und erwartete jeden Augenblick die gleiche Verwandlung. Bakchos jedoch sprach mir freundlich zu, weil ich ihm ja mir Gutes erwiesen hätte.

,Fürchte dich nicht‘, sagte er, ,und steuere mich gegen Naxos.‘

Als wir dort gelandet waren, weihte er mich an seinem Altar zum feierlichen Dienste seiner Gottheit ein.“

„Schon zu lange horchen wir deinem Geschwätz“, schrie jetzt der König Pentheus, „auf, ergreifet ihn, ihr Diener, peinigt ihn mit tausend Martern und schickt ihn zur Unterwelt hinab!“

Die Knechte gehorchten und warfen den Schiffer gefesselt in einen tiefen Kerker. Aber eine unsichtbare Hand befreite ihn.

Nun erst begann die ernstliche Verfolgung der Bakchosfeier. Des Pentheus eigne Mutter, Agave, und ihre Schwestern hatten an dem rauschenden Gottesdienste teilgenommen. Der König sandte nach ihnen aus und ließ alle Bacchantinnen in den Stadtkerker werfen. Aber ohne Hilfe eines Sterblichen wurden auch sie ihrer Bande ledig, die Pforten ihr es Gefängnisses taten sich auf, und sie rannten in bacchischer Begeisterung frei in den Wäldern umher.

Der Diener, der abgesandt worden, mit bewaffneter Macht den Gott selbst einzufangen, kam ganz bestürzt zurück, denn jener hatte sich willig und lächelnd selbst in Fesseln gelegt. So stand er jetzt gefangen vor dem Könige, der selber nicht umhin konnte, seine jugendliche, göttliche Schönheit zu bewundern. Und doch beharrte er in seiner Verblendung und behandelte ihn als einen Betrüger, der den Namen Bakchos fälschlich führe. Er ließ den gefangenen Gott mit Fesseln belasten und im hintersten und tiefsten Teile seines Palastes, in der Nähe der Pferdekrippen, in einem dunkeln Loche verwahren.

Auf des Gottes Geheiß spaltete jedoch ein Erdbeben das Gemäuer, seine Bande verschwanden. Er trat unversehrt und herrlicher als zuvor in die Mitte seiner Verehrer.

Ein Bote über den andern kam vor den König Pentheus und meldete ihm, welche Wundertaten die Chöre begeisterter Frauen, von seiner Mutter und ihren Schwestern angeführt, verrichteten. Ihr Stab durfte nur an Felsen schlagen, so sprang Wasser oder sprudelnder Wein heraus, die Bäche flössen unter seinem Zauberschlage mit Milch, aus den hohlen Bäumen träufelte Honig.

„Ja“, fügte einer der Boten hinzu, „wärest du zugegen gewesen, o Herr, und hättest den Gott, den du jetzt schiltst, selbst gesehen, du würdest dich in Gebeten vor ihm niedergeworfen haben!“

Pentheus, immer entrüsteter, bot auf diese Nachricht alle schwerbewaffneten Krieger, alle Reiter, alle Leichtbeschildeten gegen das rasende Weiberheer auf.

Da erschien Bakchos selbst wieder und trat als sein eigener Abgeordneter vor den König. Er versprach, ihm die Bacchantinnen entwaffnet vorzuführen, wenn nur der König selbst die Frauentracht anlegen wolle, damit er nicht als Mann und Uneingeweihter von ihnen zerrissen werde.

Ungern und mit sehr natürlichem Misstrauen ging Pentheus auf den Vorschlag ein; doch folgte er endlich dem Gotte zur Schlachtbank. Aber als er hinausschritt zur Stadt, war er schon vom Wahnsinne, den ihm der mächtige Gott zugesandt hatte, besessen. Ihm deuchte es, als schaue er zwei Sonnen, ein gedoppeltes Theben und jedes seiner Tore zweifach. Bakchos selbst kam ihm vor wie ein Stier, der mit großen Hörnern an dem Kopfe vor ihm herschreite. Er selbst wurde wider Willen von bacchischer Begeisterung ergriffen, verlangte und erhielt einen Thyrsosstab und stürmte in Raserei dahin.

So gelangten sie in ein tiefes, quellenreiches, von Fichten beschattetes Tal, wo die Bakchospriesterinnen ihrem Gotte Hymnen sangen, andere ihre Thyrsosstäbe mit frischem Efeu bekleideten. Des Pentheus Augen aber waren mit Blindheit geschlagen oder sein Führer Bakchos hatte ihn so zu leiten gewusst, dass sie die Versammlung der begeisterten Frauen nicht gewahr wurden.

Der Gott fasste nun mit seiner wunderbar in die Höhe reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbaumes, beugte ihn hernieder, wie man einen Weidenzweig biegt, setzte den wahnsinnigen Pentheus darauf und ließ den Baum sachte und allmählich wieder in seine vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb der König fest sitzen und erschien auf einmal, hoch auf den Tannenwipfel hingepflanzt, den Bacchantinnen im Tale, ohne dass er sie erblickte.

Dann rief Dionysos mit lauter Stimme ins Tal hinab:

„Ihr Mägde, schauet hier den, der unsre heiligen Feste verspottet; bestraft ihn!“

Der Äther schwieg, kein Blatt im Walde regte sich, kein Schrei eines Wildes ertönte. Aufrichteten sich die Bacchantinnen, sperrten ihre Augen weit auf und horchten auf der Stimme Hall, die zum zweiten Mal ertönte. Als sie in dem Wort ihren Meister erkannt, schossen sie dahin, schneller denn Tauben: Wilder Wahnsinn, vom Gotte gesandt, trieb sie mitten durch die angeschwollenen Waldbäche.

Endlich waren sie nahe genug gekommen, um ihren Herrn und Verfolger auf dem Tannenwipfel sitzen zu sehen. Schnell flogen Kiesel, abgerissene Tannenäste, Thyrsosstäbe gegen den Unglücklichen empor, ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd schwebte.

Endlich durchwühlten sie mit harten Eichenstäben den Boden rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß war und Pentheus unter lautem Jammergeschrei mit der stürzenden Tanne aus der Höhe zu Boden fiel.

Seine Mutter Agave, vom Gotte geblendet, damit sie den Sohn nicht wiedererkenne, gab das erste Zeichen zum Morde. Dem Könige selbst hatte die Angst seine volle Besinnung wiedergegeben.

„Mutter“, rief er, sie umarmend, „kennst du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den du im Hause Echions geboren? Hab Erbarmen mit mir, sei du es nicht, Mutter, die meine Sünden am eigenen Kinde straft!“

Aber die wahnsinnige Bakchospriesterin, schäumend und mit weit aufgerissenen Augen, sah nicht ihren Sohn in Pentheus, sondern glaubte einen Berglöwen in ihm zu erblicken, fasste ihn an der Schulter und riss ihm den rechten Arm vom Leibe; die Schwestern verstümmelten den linken; die ganze wütende Rotte stürmte auf ihn ein, jede ergriff ein Glied des Zerrissenen: Agave selbst umklammerte das abgerissene Haupt mit blutigen Fingern und trug es als Löwenhaupt auf einen Thyrsosstab gesteckt durch die Wälder des Kithäron.

So rächte der mächtige Gott Bakchos sich an dem Verächter seines Gottesdienstes.

Perseus

Perseus, der Sohn des Zeus, wurde mit seiner Mutter Danae von dem Großvater Akrisios, König von Argos, dem ein Orakelspruch gesagt hatte, dass ein Enkel ihm Thron und Leben rauben würde, in einen Kasten eingeschlossen und ins Meer geworfen. Zeus behütete sie in den Stürmen des Meeres, und sie schwammen bei der Insel Seriphos ans Land.

Dort herrschten zwei Brüder, Diktys und Polydektes. Diktys fischte eben, als der Kasten angeschwommen kam, und zog ihn ans Land. Beide Brüder nahmen sich der Verlassenen liebreich an; Polydektes erhob die Mutter zu seiner Gemahlin, und der Sohn des Zeus, Perseus, wurde von ihm sorgfältig erzogen.

Als Perseus herangewachsen war, überredete ihn sein Stiefvater, auf Taten auszuziehen und etwas Großes zu unternehmen.

Der mutige Jüngling zeigte sich willig, und bald waren sie einig darüber, dass Perseus der Medusa ihr furchtbares Haupt abschlagen und dem Könige nach Seriphos bringen sollte.

Perseus machte sich auf den Weg und kam unter der Götter Leitung in die ferne Gegend, wo Phorkys, der Vater vieler entsetzlicher Ungeheuer, hauste. Hier traf er zuerst auf drei seiner Töchter, die Gräen oder Grauen; diese waren grauhaarig von Geburt an; alle drei miteinander hatten nur ein Auge und einen Zahn, die sie einander gegenseitig abwechselnd zum Gebrauche liehen.

Perseus nahm ihnen beides weg, und als sie ihn flehentlich baten, ihnen das Unentbehrlichste doch wiederzugeben, zeigte er sich zur Zurückgabe nur unter der Bedingung bereit, dass sie ihm den Weg zu den Nymphen zeigen sollten. Das waren andere Wundergeschöpfe, die Flügelschuhe, einen Rucksack als Tasche und einen Helm von Hundefell besaßen. Wer sich damit bekleidete, konnte fliegen, wohin er wollte, sah, wen er wollte, und wurde von niemand gesehen.

Die Töchter des Phorkys zeigten dem Perseus den Weg zu den Nymphen und erhielten Zahn und Auge von ihm zurück. Bei den Nymphen fand und nahm er, was er wollte, warf den Rucksack um, schnallte die Flügelschuhe an seine Knöchel und setzte den Helm aufs Haupt. Dazu erhielt er von Hermes eine eherne Sichel, und so ausgerüstet flog er zu dem Ozean, wo die andern drei Töchter des Phorkys, die Gorgonen, hausten. Die dritte, die Medusa hieß, war allein sterblich; drum war auch Perseus ausgesandt worden, ihr Haupt zu holen.

Er fand die Ungeheuer schlafend; ihre Häupter waren mit Drachenschuppen übersät, mit Schlangen statt Haaren bedeckt, große Hauzähne hatten sie wie Schweine, eherne Hände und goldene Flügel, mit welchen sie flogen. Jeden, der sie ansah, verwandelte dieser Anblick in Stein.

Das wusste Perseus. Deswegen stellte er sich mit abgewandtem Gesichte vor die Schlafenden und fing nur in seinem ehernen, glänzenden Schilde ihr dreifaches Bild auf. So fand er die Gorgo Medusa heraus, Athene führte ihm die Hand, und er hieb dem schlafenden Ungeheuer ungefährdet das Haupt ab.

Kaum war dies vollbracht, so entsprang dem Rumpfe ein geflügeltes Ross, der Pegasus, und ein Riese, Chrysaor. Beide waren Geschöpfe des Poseidon.

Perseus schob nun das Haupt der Medusa in den Rucksack und entfernte sich rücklings, wie er gekommen war.

Indessen hatten sich die Schwestern Medusas vom Lager erhoben. Sie erblickten den Rumpf der getöteten Schwester und erhoben sich auf ihren Fittichen, den Räuber zu verfolgen. Diesen aber verbarg der Nymphenhelm vor ihren Augen, und sie konnten ihn nirgends erblicken.

In der Luft fassten inzwischen die Winde den Perseus und schleuderten ihn, wie Regengewölk, bald da-, bald dorthin. Als er über den Sandwüsten Libyens schwebte, rieselten blutige Tropfen vom Medusenhaupte auf die Erde nieder, welche sie auffing und zu bunten Schlangen belebte. Seitdem gibt es in jenem Gebiet so viele gefährliche Nattern.

Perseus flog nun weiter westwärts und senkte sich endlich im Reiche des Königs Atlas nieder, um ein wenig zu rasten. Dieser hütete mit einem gewaltigen Drachen einen Hain voll goldener Früchte. Umsonst bat der Besieger der Gorgone ihn um ein Obdach. Um sein goldenes Besitztum bangend, stieß ihn Atlas unbarmherzig von seinem Palaste fort. Da ergrimmte Perseus und sprach:

„Du willst mir nichts gönnen: empfange du wenigstens ein Geschenk von mir.“

Er holte die Gorgo aus seinem Rucksacke hervor, wandte sich ab und streckte sie dem König Atlas entgegen. Groß wie der König war, wurde er augenblicklich zu Stein und in einen Berg verwandelt, Bart und Haupthaare dehnten sich zu Wäldern aus; Schultern, Hände und Gebein wurden Felsrücken; sein Haupt wuchs als hoher Gipfel in die Wolken.

Perseus nahm seine Fittiche wieder und schnallte sie sich an die Sohlen, hängte sich den Rucksack um, setzte sich den Helm auf und schwang sich in die Lüfte.

Auf seinem Fluge kam er an die Küste Äthiopiens, wo der König Kepheus regierte. Hier sah er eine Jungfrau an eine aufragende Meeresklippe gebunden. Hätte nicht ein Lüftchen ihr Haupthaar bewegt und wären nicht ihren Augen Tränen entströmt, so hätte er sie für ein Marmorbild gehalten. Fast hätte er vergessen, in der Luft die Flügel zu bewegen, so bezaubert war er von dem Reize ihrer Schönheit.

„Sprich, schöne Jungfrau“, redete er sie an, „du, die du ganz anderes Geschmeide verdientest, warum bist du hier in Banden? Nenne mir doch den Namen deines Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!“

Das gefesselte Mädchen schwieg verschämt; sie scheute sich, den fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angesicht mit den Händen bedeckt, wenn sie sich hätte regen können. Ihre Augen füllten sich mit quellenden Tränen.

Endlich, damit der Fremdling nicht glauben möchte, sie habe eine eigne Schuld vor ihm zu verbergen, erwiderte sie:

„Ich bin Kepheus’, des Königs der Äthiopier, Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mutter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeresnymphen, geprahlt, schöner zu sein als sie alle. Darüber zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ eine Überschwemmung und einen alles verschlingenden Haifisch über das Land kommen. Ein Orakelspruch versprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Tochter der Königin, dem Fische zum Fraß hingeworfen würde. Das Volk drang in meinen Vater, dieses Rettungsmittel zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an diesen Felsen zu binden.“

Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgesprochen, als die Wogen aufrauschten und aus der Tiefe des Meeres ein Scheusal auftauchte, das mit seiner breiten Brust die ganze Wasserfläche ringsum einnahm.

Das Mädchen jammerte laut auf; zugleich sah man Vater und Mutter herbeieilen, beide verzweifelt, doch in der Mutter Zügen noch dazu das Bewusstsein der Schuld ersichtlich. Sie umarmten die gefesselte Tochter, aber brachten ihr nichts mit als Tränen und Wehklagen.

Jetzt begann der Fremdling:

„Zum Jammern wird euch noch Zeit genug übrigbleiben; die Stunde der Rettung ist kurz. Ich bin Perseus, der Sprössling des Zeus und der Danae, ich habe die Gorgone besiegt, und wunderbare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbst wenn die Jungfrau frei wäre und zu wählen hätte, wäre ich als Schwiegersohn nicht zu verachten. Jetzt werbe ich um sie mit dem Erbieten, sie zu retten. Nehmt ihr meine Bedingungen an?“

Wer hätte in solcher Lage gezaudert? Die erfreuten Eltern versprachen ihm nicht nur die Tochter, sondern auch ihr eigenes Königreich zur Mitgift.

Während sie dieses verhandelten, war das Untier wie ein schnell ruderndes Schiff herangeschwommen und nur noch einen Schleuderwurf von dem Felsen entfernt.

Da plötzlich, sich vom Land mit dem Fuße abstoßend, schwang sich der Jüngling hoch empor in die Wolken.

Das Tier sah den Schatten des Mannes auf dem Meere. Während es tobend auf diesen losging wie auf einen Feind, der ihm die Beute zu entreißen drohte, fuhr Perseus aus der Luft wie ein Adler herunter, trat schwebend auf den Rücken des Tieres und senkte das Schwert, mit dem er die Meduse getötet hatte, dem Haifisch unter dem Kopf in den Leib bis an den Knauf.

Kaum hatte er es wieder herausgezogen, sprang der Fisch bald hoch in die Lüfte, bald tauchte er wieder unter die Flut, bald tobte er nach beiden Seiten, wie ein von Hunden verfolgter Eber. Perseus brachte ihm Wunde um Wunde bei, bis ein dunkler Blutstrom sich aus seinem Rachen ergoss.

Indessen troffen die Flügel des Halbgottes, und Perseus wagte nicht länger, sich dem wasserschweren Gefieder anzuvertrauen. Glücklicherweise erblickte er ein Felsriff, dessen oberste Spitze aus dem Meere hervorragte. Auf die Felswand stützte er sich mit der Linken und stieß das Eisen drei- bis viermal in das Gekröse des Ungetüms.

Das Meer trieb die ungeheure Leiche fort, und bald war sie in den Fluten verschwunden. Perseus hatte sich indessen ans Land geschwungen, den Felsen erklommen und die Jungfrau, die ihn mit Blicken des Dankes und der Liebe begrüßte, der Fesseln entledigt. Er brachte sie den glücklichen Eltern, und der goldene Palast empfing ihn als Bräutigam.

Noch währte das Hochzeitsmahl, und die Stunden strichen dem Vater und der Mutter, dem Bräutigam und der geretteten Braut in sorgenfreier Eile dahin, als plötzlich die Vorhöfe der Königsburg mit einem dumpfen, brausenden Getümmel sich füllten.

Phineus, der Bruder des Königs Kepheus, der früher um seine Nichte Andromeda geworben, aber in der letzten Not sie verlassen hatte, nahte mit einer Schar von Kriegern und erneuerte seine Ansprüche. Den Speer schwingend, trat er in den Hochzeitssaal und rief dem erstaunten Perseus zu:

„Sieh mich hier, ich komme, Rache zu nehmen, da du mir die Gattin genommen; weder deine Flügel noch dein Vater Zeus sollen dich mir entreißen!“

So rief er und schickte sich schon an, seinen Speer zu werfen: da erhob sich Kepheus, der König, vom Mahle.

„Rasender Bruder“, rief er, „welcher Gedanke treibt dich zur Untat? Nicht Perseus raubt dir die Geliebte; sie wurde dir schon damals entrissen, als wir sie dem Tode preisgaben, als du zusahest, wie sie gefesselt wurde und weder als Oheim noch als Geliebter ihr deinen Beistand liehest. Warum hast du nicht selbst dir den Preis von dem Felsen geholt, an den er geschmiedet war? So lass wenigstens den, der ihn sich errungen hat, der mein Alter durch die Rettung der Tochter getröstet hat, in Ruhe!“

Phineus antwortete ihm nichts, er betrachtete nur abwechselnd mit grimmigen Blicken bald seinen Bruder, bald seinen Nebenbuhler, als besänne er sich, auf wen er zuerst zielen sollte.

Endlich nach kurzem Verzug schwang er mit aller Kraft, die der Zorn ihm verlieh, den Speer gegen Perseus; aber er tat einen Fehlwurf, und die Waffe blieb im Polster hängen.

Jetzt fuhr Perseus vom Lager empor und schleuderte seinen Spieß nach der Tür, durch welche Phineus eingedrungen war, und er würde die Brust seines Todfeindes durchbohrt haben, wenn dieser sich nicht mit einem Sprung hinter den Hausaltar geflüchtet hätte.

Das Geschoss hatte die Stirn eines seiner Begleiter getroffen, und jetzt kam das Gefolge des Eingedrungenen mit den längst von der Tafel aufgestörten Gästen ins Handgemenge.

Lang und mörderisch war der Kampf; aber die Eindringlinge waren in der Überzahl. Zuletzt wurde Perseus, an dessen Seite sich die Schwiegereltern und die Braut umsonst schutzflehend stellten, von Phineus und seinen Leuten umringt. Von allen Seiten flogen die Pfeile an ihnen vorbei, wie Hagelkörner im Sturme. Perseus hatte die Schultern an einen Pfeiler gelehnt und sich so den Rücken gedeckt. Zur Heerschar der Feinde gewendet, hielt er so den Anlauf der Feinde ab und streckte einen um den andern nieder.

Erst als er sah, dass die Tapferkeit der Menge erliegen müsse, entschloss er sich, das letzte, aber untrügliche Mittel, das ihm zu Gebote stand, zu gebrauchen.

„Weil ihr mich genötigt“, sprach er, „will ich mir die Hilfe bei meinem alten Freunde holen! Wende sein Antlitz ab, wer noch mein Freund ist!“

Mit diesen Worten zog er aus der Tasche, die ihm immer an der Seite hing, das Gorgonenhaupt und streckte es dem ersten Gegner entgegen, der jetzt eben auf ihn eindrang.

„Suche andere“, rief dieser beim ersten Blicke verächtlich, „die du mit deinem Mirakel erschüttern kannst.“

Aber als seine Hand sich erheben wollte, den Wurfspieß zu schleudern, blieb er mitten in dieser Gebärde versteinert, wie eine Bildsäule. Und so widerfuhr es einem nach dem andern. Zuletzt waren nur noch zweihundert übrig.

Da hob Perseus das Gorgonenhaupt hoch in die Luft empor, dass es alle erblicken konnten, und verwandelte die zweihundert auf einmal in starres Gestein.

Jetzt erst bereute Phineus den zu Unrecht begonnenen Krieg. Rechts und links erblickte er nichts als Steinbilder in der mannigfaltigsten Stellung. Er ruft seine Freunde mit Namen, er berührt ungläubig die Körper der Zunächststehenden: alles ist Marmor. Entsetzen fasst ihn, und sein Trotz verwandelt sich in demütiges Flehen.

„Lasst mir nur das Leben, dein sei das Reich und die Braut!“, rief er und kehrte sein verzagendes Angesicht seitwärts.

Aber Perseus, über den Tod seiner neuen Freunde erbittert, kannte kein Erbarmen.

„Verräter“, schrie er zornig, „ich will dir für alle Ewigkeit ein bleibendes Denkmal in meines Schwiegervaters Hause stiften!“

Und sosehr Phineus bemüht war, dem Anblick zu entgehen, traf doch bald das ausgestreckte Schreckensbild sein Auge: Sein Hals erstarrte, sein feuchter Blick verharschte zu Stein. So blieb er stehen mit furchtsamer Miene, die Hände gesenkt, in knechtischer, demütiger Stellung.

Ohne Hindernis führte jetzt Perseus seine Geliebte, Andromeda, heim. Lange glückliche Tage erwarteten ihn und er fand auch seine Mutter Danae wieder.

Doch sollte er an seinem Großvater Akrisios das Verhängnis erfüllen. Dieser war aus Furcht vor dem Orakelspruche zu einem fremden König ins Pelasgerland geflohen. Hier half er Kampfspiele feiern, als eben Perseus ankam, der auf der Fahrt nach Argos begriffen war, wo er seinen Großvater begrüßen wollte.

Ein unglücklicher Wurf mit der Scheibe traf den Großvater von des Enkels Hand, ohne dass dieser jenen kannte oder treffen wollte. Nicht lange blieb ihm verborgen, was er getan. In tiefer Trauer begrub er den Akrisios außerhalb der Stadt und vertauschte das Königreich, das ihm durch des Großvaters Tod zugefallen war. Doch verfolgte ihn der Neid des Geschickes nicht länger. Andromeda gebar ihm herrliche Söhne, und der Ruhm des Vaters lebte in ihnen fort.

Ion

Der König Erechtheus von Athen erfreute sich einer schönen Tochter, die Kreusa hieß. Mit dieser hatte sich, ohne Wissen ihres Vaters, Apollon vermählt, und sie hatte ihm einen Sohn geboren, welchen sie aus Furcht vor dem Zorn ihres Vaters in eine Kiste verschloss und in der Höhle aussetzte, wo sie ihre heimlichen Zusammenkünfte mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, dass sich die Götter des Verlassenen erbarmen würden. Um aber den neugeborenen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen zu lassen, hing sie ihm den Schmuck um, den sie als Jungfrau zu tragen pflegte.

Apollon, dem als einem Gotte die Geburt seines Sohnes nicht verborgen geblieben war und der weder seine Geliebte verraten noch den Knaben ohne Hilfe lassen wollte, wandte sich an seinen Bruder Hermes, welcher als Götterbote, ohne Aufsehen zu erregen, zwischen Himmel und Erde verkehren konnte.

„Lieber Bruder“, sprach er, „eine Sterbliche hat mir ein Kind geschenkt, es ist die Tochter des Königs Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem Vater hat sie es in einem hohlen Felsen verborgen; hilf mir es retten, bring es in der Kiste, in der es liegt, und mit den Windeln, in die es gewickelt ist, nach meinem Orakel zu Delphi und lege es dort auf die Schwelle des Tempels. Das Übrige lass meine Sorge sein, denn es ist mein Kind.“

Hermes, der geflügelte Gott, eilte nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in welchem er verschlossen lag, nach Delphi, wo er ihn vor den Pforten des Tempels niedersetzte und den Deckel des Korbes öffnete, damit das Kind bemerkt würde. Dies geschah bei Nacht.

Am andern Morgen, als schon die Sonne emporstieg, kam die delphische Priesterin nach dem Tempel geschritten, und als sie ihn betreten wollte, fiel ihr Auge auf das neugeborene Kind, das in der Kiste schlummerte. Sie hielt es für die Frucht irgendeines Verbrechens und war schon geneigt, es von der heiligen Schwelle fortzustoßen, als das Mitleid in ihrer Seele doch die Oberhand gewann; denn der Gott wandte ihr Herz und sprach herzlichst für seinen Sohn.

Die Prophetin nahm also das Kind aus dem Korbe und zog es auf, ohne seinen Vater und seine Mutter zu kennen.

Der Knabe wuchs um den Altar seines Vaters spielend heran und wusste nichts von seinen Eltern. Er wurde ein stattlicher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn schon als kleinen Tempelhüter gekannt hatten, setzten ihn zum Schatzmeister über alle Geschenke ein, die der Gott erhielt. Und so verbrachte er sein Leben im Tempel seines Vaters.

Inzwischen hatte Kreusa von dem Gotte nichts mehr erfahren und musste wohl glauben, dass er ihrer und ihres Sohnes vergessen habe.

Um diese Zeit gerieten die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nachbarinsel Euböa, der bis zur Vernichtung geführt wurde und in welchem die Letztem unterlagen.

In diesem Kampfe war den Athenern ein Fremdling aus Achaja besonders wirksam beigestanden. Es war dies Xuthos, ein Sohn des Hellen, der selbst ein Sohn Deukalions war. Zum Lohne für seine Hilfe begehrte und erhielt er die Hand der Königstochter Kreusa; aber es war, als ob der ihr heimlich angetraute Gott die Geliebte seinen Zorn empfinden ließe, dass sie sich einem andern vermählt hatte, denn ihre Ehe war nicht mit Kindern gesegnet.

Nach langer Zeit verfiel Kreusa auf den Gedanken, sich an das Orakel zu Delphi zu wenden und von ihm Kindersegen zu erflehen.

Dies war es, was Apollon gewollt, denn er hatte seines Sohnes keineswegs vergessen. So brach die Fürstin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von Dienerinnen auf und wallfahrtete zu dem Tempel nach Delphi.

Als sie vor dem Gotteshause ankamen, trat gerade der junge Sohn Apollons über die Schwelle, um gewohnterweise die Pfosten der Tore mit Lorbeerzweigen zu schmücken. Da fiel sein Auge auf die edle Matrone, die auf die Tore des Tempels zugewandelt kam und der beim Anblick des Heiligtums Tränen über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren würdige Gestalt ihm auffiel, bescheiden um die Ursache ihres Kummers zu befragen.

„Es wundert mich nicht, o Jüngling“, erwiderte sie seufzend, „dass meine Traurigkeit deinen Blick auf sich zieht; habe ich doch Leid zu beweinen, das man mir wohl ansehen mag. Die Götter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!“

„Ich will deinen Kummer nicht weiter stören“, sprach der Jüngling, „aber sage mir, wenn es zu wissen erlaubt ist, wer du bist und woher du kommst.“

„Ich bin Kreusa“, antwortete die Fürstin, „mein Vater heißt Erechtheus, mein Vaterland ist Athen.“

Mit unschuldiger Freude rief der Jüngling:

„Ei aus welchem berühmten Lande, aus welch berühmten Geschlecht stammst du! Aber sage mir, ist es wahr, wie man es auf Bildern bei uns sieht, dass deines Vaters Großvater Erichthonios aus der Erde emporgesprossen ist wie ein anderes Gewächs. Dass die Göttin Athene den erdgebornen Knaben in eine Kiste eingeschlossen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und das Kistchen den Töchtern des Kekrops zur Bewahrung überlassen habe; dass diese aus Neugierde dasselbe eröffnet und beim Anblicke des Knaben in Wahnsinn geraten und sich von dem Felsen der kekropischen Burg herabgestürzt?“

Kreusa bejahte die Frage schweigend, denn das Schicksal ihres Urahns erinnerte sie an das Geschick ihres verlornen Sohnes. Dieser aber, der vor ihr stand, fuhr fort, unbefangen weiter zu fragen:

„Sage mir auch, hohe Fürstin, ist es wahr, dass dein Vater Erechtheus seine Töchter, deine Schwestern, auf den Ausspruch eines Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert, um über die Feinde zu siegen? Und wie kam es, dass du allein gerettet worden bist?“

„Ich war“, sprach Kreusa, „ein neugebornes Kind und lag in den Armen der Mutter.“

„Und ist es auch wahr“, so fragte der Jüngling weiter, „dass dein Vater Erechtheus von einem Erdspalt verschlungen worden ist, dass der Dreizack Poseidons ihn vernichtet hat und dass in der Nähe seines Grabes eine Grotte ist, die mein Herr, der pythische Apollon, so lieb hat?“

„O schweige mir von jener Grotte, Fremdling“, unterbrach ihn seufzend Kreusa, „in ihr ist eine Treulosigkeit und ein großer Frevel begangen worden.“

Die Fürstin schwieg eine Weile, sammelte sich wieder und erzählte dem Jüngling, in welchem sie den Tempelhüter des Gottes erkannte, dass sie die Gemahlin des Fürsten Xuthos und mit diesem nach Delphi gewallfahrtet sei, um für ihre kinderlose Ehe den Segen des Gottes zu erflehen.

„Phöbos Apollon“, sprach sie mit einem Seufzer, „kennt die Ursache meiner Kinderlosigkeit; er allein kann mir helfen.“

„So bist du kinderlos, Unglückliche?“, sagte betrübt der Jüngling.

„Ich bin es längst“, erwiderte Kreusa, „und ich muss deine Mutter beneiden, guter Jüngling, die sich eines so stattlichen Sohnes erfreut.“

„Ich weiß nichts von einer Mutter und von einem Vater“, gab der junge Mann betrübt zur Antwort, „ich lag nie an eines Weibes Brust; ich weiß auch nicht, wie ich hierher gekommen bin; nur so viel weiß ich aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Priesterin dieses Tempels, dass sie sich meiner erbarmt und mich großgezogen hat; das Haus des Gottes ist seitdem meine Wohnung, und ich bin sein Knecht.“

Bei diesen Mitteilungen wurde die Fürstin sehr nachdenklich, doch drängte sie ihre Gedanken in die Brust zurück und sprach die traurigen Worte:

„Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der es gegangen ist wie deiner Mutter; um ihretwillen bin ich hierher gekommen und soll das Orakel befragen. So will ich denn dir, als dem Diener Gottes, ihr Geheimnis anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der diese Wallfahrt auch gemacht hat, aber unterwegs abgezweigt ist, um das Orakel des Trophonios zu hören, den Tempel betritt.

Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit dem großen Gott Phöbos Apollon vermählt gewesen zu sein und ihm ohne Wissen ihres Vaters einen Sohn geboren zu haben. Diesen setzte sie aus und weiß seitdem nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht schaut oder nicht.

Über sein Leben oder seinen Tod den Gott auszuforschen, bin ich im Namen meiner Freundin hierher gekommen.“

„Wie lang ist es her, dass der Knabe tot ist?“, fragte der Jüngling.

„Wenn er noch lebte, so hätte er dein Alter, o Knabe“, sprach Kreusa.

„O wie ähnlich ist das Schicksal deiner Freundin und das meine“, rief mit dem Ausdruck des Schmerzes der junge Mann, „sie sucht ihren Sohn, und ich suche meine Mutter.

Doch ist, was ihr geschehen ist, fern von diesem Lande geschehen, und leider sind wir beide einander ganz fremd. Hoffe auch nicht, dass der Gott von seinem Dreifuße dir die gewünschte Antwort erteilen wird. Bist du doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer Treulosigkeit anzuklagen; er wird nicht über sich selbst Richter sein wollen!“

„Halt ein, Jüngling“, rief jetzt Kreusa, „dort sehe ich den Gatten jener Frau herannahen; lass dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.“

„Frau“, rief er ihr entgegen, „Trophonios hat einen glücklichen Ausspruch getan: ich soll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber sage mir, wer ist dieser junge Prophet des Gottes?“

Der Jüngling trat dem Fürsten bescheiden entgegen und erzählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollons sei und im innersten Heiligtume die vornehmsten Delphier selbst, durchs Los ausgewählt, den Dreifuß umlagerten, von dem jetzt eben die Priesterin Orakel zu geben bereit ist.

Als der Fürst dieses hörte, befahl er Kreusa, sich mit den Zweigen zu schmücken, welche Bittflehende zu tragen pflegen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer umwunden unter freiem Himmel stand, zu Apollon zu beten, dass er ihnen ein günstiges Orakel senden möge.

Er selbst eilte nach dem Heiligtume des Tempels, indes der junge Schatzmeister des Gottes im Vorhofe seine Wache fortsetzte.

Es hatte nicht sehr lange gedauert, so hörte der Jüngling die Türen des innersten Heiligtums gehen und sich dröhnend wieder schließen, dann sah er Xuthos in freudiger Bestürzung herauseilen. Mit Ungestüm schloss der Fürst den Jüngling in die Arme, nannte ihn immer wieder seinen Sohn und verlangte wiederholt seinen Handschlag und Kindeskuss.

Der junge Mann aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten für wahnsinnig und stieß ihn mit jugendlicher Kraft von sich. Doch Xuthos ließ sich nicht abweisen.

„Der Gott selbst hat es mir geoffenbart“, sprach er, „sein Spruch lautete: der Erste, der mir draußen begegnen würde, der sei mein Sohn und ein Göttergeschenk. Wie das möglich ist, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin hat mir nie zuvor Kinder geboren, doch trau’ ich dem Gotte; mag er selbst sein Geheimnis enthüllen.“

Jetzt gab sich auch der Jüngling der Freude hin, doch nur halb; und mitten unter den Küssen und Umarmungen seines Vaters musste er seufzen:

„O geliebte Mutter, wer bist du, wo bist du? Wann wird es mir vergönnt sein, auch dein teures Antlitz zu schauen?‘

Dazu kamen ihm große Zweifel, wie die kinderlose Gemahlin des Xuthos, die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten Stiefsohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht gesetzlichen Erben ihres Fürsten empfangen würde.

Sein Vater hieß ihn aber guten Mutes sein; er versprach, ihn den Athenern und seiner Gattin als einen Fremdling und nicht als seinen Sohn vorzustellen, und gab ihm den Namen Ion, das heißt Wanderer, weil er im Tempel den ihm Entgegengehenden als seinen Sohn erkannt hatte.

Kreusa war indessen von dem Altar Apollons, vor dem sie sich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie wurde endlich in ihrem inbrünstigen Flehen von ihren Dienerinnen unterbrochen, welche sich unter Wehklagen nahten.

„Unglückliche Herrin“, riefen sie ihr entgegen, „dein Gatte hat zwar große Freude, du aber wirst nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und an deine Brust legen. Ihm freilich hat Apollon einen Sohn gegeben, einen erwachsenen Sohn, den ihm vorzeiten wer weiß welch ein Nebenweib geboren hat; als er aus dem Tempel trat, kam ihm dieser entgegen, er wird sich seines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber wirst wie zuvor einer Witwe gleich im öden Hause wohnen.“

Die arme Fürstin, deren Geist der Gott selbst mit Blindheit geschlagen zu haben schien, dass sich ein so naheliegendes Geheimnis ihr nicht enthüllte, brütete über ihrem traurigen Schicksal eine Weile fort. Endlich fragte sie nach der Person und dem Namen des Stiefsohnes, den sie so unvermutet erhalten hatte.

„Es ist der junge Tempelhüter, den du schon kennst“, erwiderten die Dienerinnen, „sein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben; wer seine Mutter ist, wissen wir nicht; jetzt ist dein Gatte zu dem Altare des Bakchos gegangen, um heimlich für seinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erkennungsschmaus zu feiern; uns hat er unter Androhung des Todes verboten, dir, o Herrin, die Geschichte zu berichten, nur unsere große Liebe zu dir hat uns bewogen, dieses Verbot zu übertreten. Du wirst uns ja nicht bei ihm verraten!“

Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blinder Treue anhing und seiner Gebieterin mit großer Liebe zugetan war. Dieser schalt den Fürsten Xuthos einen treulosen Ehebrecher und ließ sich von seinem Eifer so weit verleiten, dass er ihr das Anerbieten machte, dm Bastard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßigerweise an sich bringen würde, aus dem Wege zu räumen.

Kreusa glaubte sich von ihrem Gatten und von ihrem früheren Geliebten, dem Gott Apollon, verlassen, und betäubt von ihrem Kummer lieh sie den frevelhaften Anschlägen des Greises allmählich ihr Ohr und machte ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnisses zu dem Gott.

Als Xuthos mit Ion, in welchem er unbegreiflicherweise einen Sohn gefunden zu haben meinte, den Tempel des Gottes verlassen hatte, begab er sich mit ihm nach dem hohen Gipfel des Berges Parnassos, wo der Gott Bakchos, nicht weniger heilig als Apollon, selbst von den Delphiern verehrt und mit seinem wilden Orgiendienste von den Frauen gefeiert wurde.

Nachdem er hier ein Trankopfer ausgegossen zum Danke für den gefundenen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hilfe der Diener, die ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumiges Zelt, das er mit schöngewirkten Teppichen bedeckte, die er aus Apollons Tempel hatte herbeischaffen lassen.

In dem Zelte wurden lange Tafeln aufgestellt und mit silbernen Schüsseln voll köstlicher Speisen und goldenen Bechern voll des edelsten Weines kredenzt. Dann sandte der Athener Xuthos seinen Herold in die Stadt Delphi und lud sämtliche Einwohner ein, an seiner Freude teilzunehmen. Bald füllte sich das große Zelt mit bekränzten Gästen, und sie tafelten in Herrlichkeit und Freude.

Beim Nachtische trat ein alter Mann, dessen sonderbare Gebärden die Gäste belustigten, mitten in das Zelt und maßte sich das Amt des Mundschenken an. Xuthos erkannte in ihm jenen greisen Diener seiner Gemahlin Kreusa, lobte vor den Gästen seinen Eifer und seine Treue und ließ ihn arglos schalten.

Der Alte stellte sich an den Schenktisch und fing an, sich der Becher anzunehmen und die Gäste zu bedienen. Als nun gegen den Schluss des Mahles die Flöten ertönten, befahl er den Dienern, die kleinen Becher von der Tafel wegzunehmen und den Gästen große silberne und goldene Trinkgefäße vorzusetzen.

Er selbst ergriff das herrlichste Gefäß und trat, als wollte er damit seinen neuen jungen Herrn ehren, an den Schenktisch, füllte es bis zum Rand mit köstlichem Weine, schüttete aber zugleich unbemerkt ein tödliches Gift in den Becher. Indem er sich nun damit Ion näherte und einige Tropfen des Weines als Trankopfer auf den Boden goss, entfuhr zufälligerweise einem der nahestehenden Knechte ein Fluch.

Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels aufgewachsen war, erkannte darin eine böse Vorbedeutung und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden schüttete, dass ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus welchem er selbst feierlich das Trankopfer ausgoss, während alle Gäste aus ihren Bechern dasselbe taten.

Während dies geschah, flatterte eine Schar heiliger Tauben, die im Tempel des Apollon unter dem Schirme des Gottes aufgefüttert wurden, lustig in das Zelt herein.

Als sie die Ströme Weines sahen, die von allen Seiten ausgegossen wurden, ließen sie sich, lüstern gemacht, auf den Boden nieder und fingen an, von dem herumschwimmenden Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen; und allen Übrigen schadete das Trankopfer nicht: Nur die eine Taube, die sich an die Stelle gesetzt hatte, wo Ion seinen ersten Becher ausgegossen, schüttelte, als sie den Trank gekostet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen aller Gäste, an zu ächzen und zu toben und verendete unter Flügelschlag und Zuckungen.

Da erhob sich Ion von seinem Sitz, streifte sein Gewand zürnend von den Armen, ballte die Fäuste und rief:

„Wo ist der Mensch, der mich töten wollte? Rede, Alter! Denn du hast deine Hand dazu geliehen, du hast mir den Trank gemischt!“

Damit fasste er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht wieder loszulassen.

Dieser, überrascht und erschrocken, gestand die ganze Freveltat und dass sie von Kreusa anbefohlen sei.

Da verließ der durch Apollons Orakel für des Xuthos Sohn erklärte Ion das Zelt, und alle Gäste folgten ihm in wilder Aufregung nach.

Als er draußen im Freien stand, erhob er die Hände, umringt von den vornehmsten Delphiern, und sprach:

„Heilige Erde, du bist mein Zeuge, dass dieses fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus dem Wege räumen will!“

„Steiniget, steiniget sie!“, erscholl es von der Versammlung der Delphier wie aus einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf, die Verbrecherin zu suchen. Xuthos selbst, dem die schreckliche Entdeckung seine Besinnung geraubt hatte, wurde von dem Strome mit fortgerissen, ohne zu wissen, was er tat.

Kreusa hatte am Altar Apollons die Früchte ihrer verzweifelten Tat erwartet. Diese aber keimten ganz anders auf, als sie vermutet hatte. Ein Tosen aus der Ferne schreckte sie aus ihrer Versunkenheit auf. Noch ehe es ganz nahe kam, war einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr selbst vor andern getreu war, dem heranstürmenden Haufen vorangeeilt und hatte kaum Zeit gehabt, die Entdeckung ihres Frevels und den Beschluss, den das Volk von Delphi gefasst hatte, ihr zu melden. Ihre Dienerinnen scharten sich um sie.

„Halte dich fest am Altare, Gebieterin“, riefen sie, „denn sollte dich auch der heilige Ort nicht vor deinen Mördern schützen, so werden sie doch durch deine Ermordung eine unsühnbare Blutschuld auf sich laden!“

Indessen kam die tobende Schar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altäre immer näher. Noch ehe sie bei diesem angelangt waren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der Wind durch die Luft führte.

„Die Götter haben es gut mit mir gemeint“, rief er in lautem Grimme, „dass dieser Frevel mich von der Stiefmutter befreien sollte, die mich zu Athen erwartete. Wo ist die Verruchte, die Viper mit der Giftzunge, der Drache mit dem todspeienden Flammenauge? Auf, dass die Mörderin vom höchsten Felsen in den Abgrund gestürzt werde!“

Das ihn begleitende Volk brüllte Beifall.

Jetzt waren sie am Altäre angekommen, und Ion zerrte die Frau, die seine Mutter war und in der er nur seine Todfeindin erkannte, um sie von dem Asyl, auf dessen Heiligkeit und Unverletzlichkeit sie sich berief, hinwegzureißen.

Aber Apollon wollte nicht, dass sein eigener Sohn der Mörder seiner Mutter würde. Auf' seinen göttlichen Wink war das Gerücht von dem geplanten Verbrechen Kreusas und der Strafe, welche sie dafür erwartete, schnell bis in den Tempel und zu den Ohren der Priesterin gedrungen.

Der Gott hatte ihren Sinn erleuchtet, sodass sie den Zusammenhang aller Ereignisse erkannte und ihr plötzlich klar wurde, dass ihr Pflegling Ion nicht des Xuthos, wie sie selbst nebelhaft prophezeit hatte, sondern Apollons und Kreusas Sohn sei.

Sie verließ den Dreifuß und suchte das Kistchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe samt einigen Erkennungszeichen, die siegleichfallssorgsam aufbewahrt hatte, einst zu Delphi vor dem Tempeltor ausgesetzt worden war. Mit diesem im Arme eilte sie ins Freie und nach dem Altare, wo Kreusa gegen den eindringenden Ion um ihr Leben kämpfte.

Als Ion die Priesterin herannahen sah, ließ er sogleich von seiner Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief:

„Sei mir willkommen, liebe Mutter, denn so muss ich dich nennen, obgleich du mich nicht geboren hast! Hörst du, welchen Nachstellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich einen Vater gefunden, so sinnt auch schon die böse Stiefmutter auf meinen Tod! Nun sage mir, Mutter, was soll ich tun; denn deiner Mahnung will ich folgen!“

Die Priesterin erhob warnend ihren Finger und sprach:

„Ion, geh mit unbefleckter Hand und unter günstigen Vogelzeichen nach Athen!“

Ion besann sich eine Weile, eher er antwortete.

„Ist denn der nicht fleckenlos“, sprach er endlich, „der seine Feinde tötet?“

„Handle nicht, bist du mich gehört hast“, sprach die ehrwürdige Frau. „Siehst du dies alte Körbchen, das ich, mit frischen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? Darin bist du einst ausgesetzt worden, aus ihm habe ich dich herausgezogen.“

Ion staunte.

„Davon, Mutter“, sprach er, „hast du mir nie etwas gesagt. Warum hast du es so lange vor mir verborgen?“

„Weil der Gott“, antwortete die Priesterin, „dich bisher zu seinem Priester haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben hat, entlässt er dich nach Athen.“

„Was soll mir aber dieses Kistchen helfen?“, fragte Ion weiter.

„Es enthält die Windeln, in welchen du ausgesetzt worden bist, lieber Sohn!“, antwortete die Priesterin.

„Meine Windeln?“, sprach Ion hastig. „Nun, das ist ja eine Spur, die mich zu meiner rechten Mutter führen kann. Wie erwünscht ist mir diese Entdeckung!“

Die Priesterin hielt ihm nun das offene Kistchen hin, und Ion griff gierig hinein und zog die reinlich zusammengewickelte Leinwand heraus.

Während er seine tränenfeuchten Augen auf die kostbaren Überbleibsel heftete, hatte sich Kreusas Angst allmählich verloren, und ein Blick auf das Kistchen ihr die ganze Wahrheit entdeckt. Mit einem Sprunge verließ sie den Altar und mit dem Freudenrufe: „Mein Sohn!“ hielt sie den staunenden Ion umschlungen.

Diesem schlich sich aufs Neue Misstrauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Fremden als eine Hinterlist und wollte sich unwillig losmachen. Aber Kreusa raffte sich zusammen, trat einige Schritte zurück und sprach:

„Diese Leinwand soll für mich zeugen, Kind! Wickle sie getrost auseinander, du wirst die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die Stickerei, die sie schmückt, ist das Werk meiner mädchenhaften Nadel. In der Mitte des Gewebes muss sich das Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf dem Ägisschilde!“

Ungläubig entfaltete Ion die Windeln, aber plötzlich entfuhr ihm ein Freudenruf:

„O großer Zeus, hier ist die Gorgone, hier sind die Schlangen!“

„Noch nicht genug“, sprach Kreusa, „es müssen in dem Kistchen auch kleine goldne Drachen sein, zur Erinnerung an die Drachen in der Kiste des Erichthonios, ein Halsschmuck für das neugeborene Knäblein.“

Ion durchforschte den Korb weiter, und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch die Drachenbilder hervor.

„Das letzte Zeichen“, rief Kreusa, „muss ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven sein, die vom erstgepflanzten Ölbaume Athenes stammen; den Kranz habe ich meinem neugebornen Knaben aufgesetzt.“

Ion durchsuchte den Grund des Kistchens, und seine Hand brachte einen schönen Olivenkranz hervor.

„Mutter, Mutter!“, rief er mit einer von schluchzenden Tränen unterbrochenen Stimme, fiel Kreusa um den Hals und bedeckte ihre Wangen mit Küssen.

Endlich riss er sich von ihrem Halse los und verlangte nach seinem Vater Xuthos. Da entdeckte ihm Kreusa das Geheimnis seiner Geburt und dass er der Sohn jenes Gottes sei, dem er so lange und getreu im Tempel gedient habe. Auch die früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Kreusas wurden ihm jetzt klar, und er fand selbst den verzweifelten Anschlag seiner Mutter auf des unerkannten Sohnes Leben verzeihlich.

Xuthos nahm den Ion, obgleich nur als Stiefsohn, doch als ein teures Göttergeschenk in seine Arme, und alle drei erschienen wieder im Tempel, dem Gotte zu danken.

Die Priesterin aber weissagte von ihrem Dreifuß herab, dass Ion der Vater eines großen Stammes werden sollte, Ionier nach seinem Namen genannt.

Voll Freude, dass sich alles so glücklich erfüllt, und voll Hoffnung auf die Zukunft brach das athenische Fürstenpaar mit dem glücklich gefundenen Sohne nach der Heimat auf, und alle Einwohner Delphis gaben ihnen das Geleite.

Dädalos und Ikaros

Dädalos aus Athen war ein Erechthide, ein Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war der kunstreichste Mann seiner Zeit, Baumeister, Bildhauer und Arbeiter in Stein. In den verschiedensten Gegenden der Welt wurden Werke seiner Kunst bewundert und von seinen Bildsäulen sagte man, sie lebten, gingen und sähen und seien nicht für ein Bild, sondern für ein beseeltes Geschöpf zu halten. Denn während an den Bildsäulen der früheren Meister die Augen geschlossen waren und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht getrennt, schlaff herunterhingen, war er der Erste, der seinen Bildern offene Augen gab, sie die Hände ausstrecken und auf schreitenden Füßen stehen ließ.

Aber so kunstreich Dädalos war, so eitel und eifersüchtig war er auch auf seine Kunst, und diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend.

Er hatte einen Schwestersohn, namens Talos, den er in seinen eigenen Künsten unterrichtete und der noch herrlichere Anlagen zeigte als sein Oheim und Meister.

Noch als Knabe hat Talos die Töpferscheibe erfunden; den Kinnbacken einer Schlange, auf den er irgendwo gestoßen, gebrauchte er als Säge und durchschnitt mit den gezackten Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieses Werkzeug in Eisen nach, in dessen Schärfe er eine Reihe fortlaufender Zähne einschnitt, und wurde so der gepriesene Erfinder der Säge.

Ebenso erfand er das Drechseleisen, indem er zuerst zwei eiserne Arme verband, von welchen der eine stille stand, während der andere sich drehte. Auch andere künstliche Werkzeuge ersann er, alles ohne die Hilfe seines Lehrers, und erwarb sich damit hohen Ruhm.

Dädalos fing an zu befürchten, der Name des Schülers möchte größer werden als der des Meisters, der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg herabstürzte. Beim Begräbnis des Knaben wurde er überrascht; er gab vor, eine Schlange zu verscharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des Areopags wegen eines Mordes angeklagt und schuldig befunden.

Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in Attika umher, bis er weiter nach der Insel Kreta floh. Hier fand er bei dem König Minos eine Freistätte, ward dessen Freund und als berühmter Künstler hochangesehen. Er wurde von ihm ausersehen, dem Minotaurus einen Aufenthalt zu schaffen, wo das Ungetüm den Augen der Menschen ganz entrückt würde. Der Minotaurus war ein Ungeheuer von abscheulicher Abkunft, ein Doppelwesen, das vom Kopfe bis an die Schultern die Gestalt eines Stieres hatte, im Übrigen aber einem Menschen glich.

Der erfindsame Geist des Dädalos erbaute zu dem Zwecke das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmungen, welche Augen und Füße des Betretenden verwirrten. Die unzähligen Gänge schlangen sich ineinander, wie der verworrene Lauf des geschlängelten phrygischen Flusses Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts-, bald zurückfließt und oft seinen eigenen Wellen entgegenkommt.

Als der Bau vollendet war und Dädalos ihn durchmusterte, fand der Erfinder selbst nur mit Mühe zur Schwelle zurück, ein so trügerisches Irrsal hatte er gegründet.

Im Innersten dieses Labyrinthes wurde der Minotaurus gehegt, und seine Speise waren sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen, die vermöge alter Zinsbarkeit alle neun Jahre von Athen dem Könige Kretas zugesandt werden mussten.

Indessen wurde dem Dädalos die lange Verbannung aus der geliebten Heimat doch allmählich zur Last, und es quälte ihn, bei einem tyrannischen und selbst gegen seinen Freund misstrauischen Könige sein ganzes Leben auf einem vom Meere rings umschlossenen Eilande verbringen zu sollen.

Sein erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich freudig aus:

„Die Rettung ist gefunden; mag mich Minos immerhin von Land und Wasser aussperren, die Luft bleibt mir doch offen; so viel Minos besitzt, über sie hat er keine Herrschergewalt. Durch die Luft will ich davongehen!“

Gesagt, getan. Dädalos überwältigte mit seinem Erfindungsgeiste die Natur. Er fing an, Vogelfedern von verschiedener Größe so in Ordnung zu legen, dass er mit der kleinsten begann und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte, sodass man glauben konnte, sie seien von selbst ansteigend gewachsen. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfaden, unten mit Wachs. Die so vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, sodass sie ganz das Ansehen von Flügeln bekamen.

Dädalos hatte einen Knaben, namens Ikaros. Dieser stand neben ihm und mischte seine kindischen Hände neugierig unter die künstliche Arbeit des Vaters: Bald griff er nach dem Gefieder, dessen Flaum von dem Luftzuge bewegt wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, dessen der Künstler sich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater ließ es sorglos geschehen und lächelte zu dem unbeholfenen Bemühen seines Kindes.

Nachdem er die letzte Hand an seine Arbeit gelegt hatte, passte sich Dädalos selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte. Dann, nachdem er sich wieder zu Boden gesenkt, belehrte er auch seinen jungen Sohn Ikaros, für den ein kleineres Flügelpaar gefertigt bereitlag.

„Flieg immer, lieber Sohn“, sprach er, „auf der Mittelstraße, damit nicht, wenn du den Flug zu sehr nach unten senkst, die Fittiche ans Meerwasser streifen und von Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du dich zu hoch in die Luftregionen verstiegest, dein Gefieder den Sonnenstrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer fange. Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.“

Unter solchen Ermahnungen knüpfte Dädalos auch dem Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte die Hand des Greises, während er es tat, und eine bange Träne tropfte ihm auf die Hand. Dann umarmte er den Knaben und gab ihm einen Kuss, der auch sein letzter sein sollte.

Jetzt erhoben sich beide mit ihren Flügeln. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine zarte Brut zum ersten Mal aus dem Nest in die Luft führt. Doch schwang er besonnen und kunstvoll das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken, bald Delos und Paros, die Eilande, zur Rechten vorübergeflogen.

Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der Knabe Ikaros, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte.

Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzu kräftigen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zusammenhielt, und ehe es Ikaros nur bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und schwang seine nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu fassen, und plötzlich stürzte er in die Tiefe. Er hatte den Namen seines Vaters als Hilferuf auf den Lippen; doch ehe er ihn aussprechen konnte, hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen.

Das alles war so schnell geschehen, dass Dädalos, als er sich nach seinem Sohne umsah, wie er von Zeit zu Zeit zu tun gewohnt war, nichts mehr von ihm gewahr wurde.

„Ikaros, Ikaros!“, rief er trostlos durch den leeren Luftraum. „Wo bist du, in welchem Bereiche der Luft soll ich dich suchen?“

Endlich sandte er die ängstlich forschenden Blicke nach der Tiefe. Da sah er im Wasser die Federn schwimmen. Nun senkte er seinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, trostlos am Ufer hin und her, wo die Meereswellen bald den Leichnam seines unglückseligen Kindes ans Gestade spülten.

Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der verzweifelnde Vater sorgte für das Begräbnis des Sohnes. Es war eine Insel, wo er sich niedergelassen und wo der Leichnam ans Ufer geschwemmt worden war. Zum ewigen Gedächtnis an das jammervolle Ereignis erhielt das Eiland den Namen Ikaria.

Als Dädalos seinen Sohn begraben hatte, fuhr er von dieser Insel weiter nach der großen Insel Sizilien. Hier herrschte der König Kokalos. Wie einst bei Minos auf Kreta fand er bei ihm gastliche Aufnahme, und seine Kunst setzte die Einwohner in Erstaunen. Noch lange zeigte man da einen künstlichen See, den er gegraben und aus dem ein breiter Fluss sich in das benachbarte Meer ergoss; auf den steilsten Felsen, der nicht zu erstürmen war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu haben schienen, setzte er eine feste Stadt und führte zu ihr einen so engen und künstlich gewundenen Weg empor, dass drei oder vier Männer hinreichten, die Feste zu verteidigen.

Diese unbezwingliche Burg wählte dann der König Kokalos zur Aufbewahrung seiner Schätze. Das dritte Werk des Dädalos auf der Insel Sizilien war eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdischen Feuers so geschickt auf, dass der Aufenthalt in einer Grotte, die sonst feucht zu sein pflegte, so angenehm war wie in einem gelinde geheizten Zimmer und der Körper allmählich in einen wohltätigen Schweiß kam, ohne dabei von der Hitze belästigt zu werden.

Auch den Aphroditentempel auf dem Vorgebirge Eryx erweiterte er und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit der größten Kunst ausgearbeitet war und einer wirklichen Honigwabe täuschend ähnlich sah.

Nun erfuhr aber König Minos, dessen Insel der Baumeister heimlich verlassen hatte, dass Dädalos sich nach Sizilien geflüchtet habe, und fasste den Entschluss, ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er rüstete eine ansehnliche Flotte aus und fuhr damit von Kreta nach Agrigent. Hier schiffte er seine Landtruppen aus und schickte Botschafter an den König Kokalos, welche die Auslieferung des Flüchtlings verlangen sollten.

Aber Kokalos war über den Einfall des fremden Tyrannen entrüstet und sann auf Mittel und Wege, ihn zu verderben. Er stellte sich an, als ginge er in die Absichten des Kreters ganz ein, versprach, ihm in allem zu willfahren, und lud ihn schließlich zu einer Zusammenkunft ein.

Minos kam und wurde mit großer Gastfreundschaft von Kokalos aufgenommen. Ein warmes Bad sollte ihn von der Ermüdung des Weges befreien. Als er aber in der Wanne saß, ließ Kokalos diese so lange heizen, bis Minos in dem siedenden Wasser erstickte. Die Leiche überließ der König von Sizilien den Kretern, die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der König sei im Bade ausgeglitten und in das heiße Wasser gefallen.

Hierauf wurde Minos von seinen Kriegern mit großer Pracht bei Agrigent bestattet und über seinem Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut.

Dädalos blieb bei dem Könige Kokalos in ununterbrochener Gunst, erzog viele und berühmte Künstler und wurde der Gründer seiner Kunst auf Sizilien.

Glücklich aber war er seit dem Sturze seines Sohnes Ikaros nicht mehr, und während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt hatte, durch die Werke seiner Hand ein heiteres und lachendes Ansehen verlieh, durchlebte er selbst ein kummervolles und trübsinniges Alter. Er starb auf der Insel Sizilien und wurde dort begraben.

Meleagros und die Eberjagd

Öneus, der König von Kalydon, brachte die Erstlinge eines mit besonderer Fülle gesegneten Jahres den Göttern dar: der Demeter Feldfrüchte, dem Bakchos Wein, Öl der Athene und so jeder Gottheit die ihr willkommene Frucht; nur Artemis wurde von ihm vergessen, und ihr Altar blieb ohne Weihrauch.

Dies erzürnte die Göttin, und sie beschloss, Rache an ihrem Verächter zu nehmen. Ein verheerender Eber wurde von ihr auf die Fluren des Königs losgelassen. Glut sprühten seine roten Augen, sein Nacken starrte; gleich Schanzpfählen richteten sich seine struppigen Borsten auf, aus dem schäumenden Rachen schoss es ihm wie ein Blitzstrahl, und seine Hauer waren gleich riesigen Elefantenzähnen. So stampfte er durch Saaten und Kornfelder hin, Tenne und Scheuer warteten vergeblich auf die versprochene Ernte; die Trauben fraß er mitsamt den Ranken, die Olivenbeeren mitsamt den Zweigen ab; Schäfer und Schäferhunde vermochten ihre Herden, die trotzigsten Stiere ihre Rinder nicht gegen das Ungeheuer zu verteidigen.

Endlich erhob sich der Sohn des Königs, der herrliche Held Meleagros, und versammelte Jäger und Hunde, den grausamen Eber zu erlegen.

Die berühmtesten Helden aus ganz Griechenland kamen, zu der großen Jagd eingeladen, unter ihnen auch die heldenmütige Jungfrau Atalante aus Arkadien, die Tochter des Iasion.

In einem Walde ausgesetzt, von einer Bärin gesäugt, von Jägern gefunden und erzogen, brachte die schöne Männerfeindin ihr Leben im Walde zu und lebte von der Jagd. Alle Männer wehrte sie von sich ab, und zwei Zentauren, die ihr in dieser Einsamkeit nachstellten, hatte sie mit ihren Pfeilen erlegt. Jetzt lockte sie die Liebe zur Jagd hervor in die Gemeinschaft der Helden.

Sie kam, ihr einfaches Haar in einen einzelnen Knoten gebunden, über den Schultern hing ihr der elfenbeinerne Köcher, die Linke hielt den Bogen, ihr Antlitz wäre an Knaben ein Jungfrauengesicht gewesen, an der Jungfrau konnte man es ein Knabengesicht nennen.

Als Meleagros sie in ihrer Schönheit erblickte, sprach er bei sich selbst: „Glücklich der Mann, den diese Frau zum Gatten erwählt!“ Mehr zu denken erlaubte ihm die Zeit nicht, denn die gefährliche Jagd durfte nicht länger aufgeschoben werden.

Die Schar der Jäger ging einem Gehölze mit uralten Stämmen zu, das sich aus der Ebene einen Berghang hinanzog.

Als die Männer hier angekommen waren, stellten die einen Netze, die andern ließen die Hunde von der Fessel los, wieder andere folgten schon der Fährte.

Bald gelangte man in ein abschüssiges Tal, das die geschwollenen Waldbäche tief eingerissen hatten; Binsen, Sumpfgras, Weidengebüsch und Schilfrohr wucherten unten im Abgrunde. Hier lag der Eber im Versteck und, von den Hunden aufgejagt, durchbrach er das Gehölz, wie ein Blitzstrahl die Wetterwolke, und stürzte sich wütend mitten unter die Feinde.

Die Jünglinge schrien laut auf und hielten ihm die eisernen Spitzen ihrer Speere vor; aber der Eber wich aus und durchbrach eine Koppel von Hunden. Geschoss um Geschoss flog ihm nach, aber die Speere streiften ihn nur und vermehrten seinen Grimm. Mit funkelndem Auge und dampfender Brust kehrte er um, flog wie ein von der Wurfmaschine geschleuderter Felsblock auf die rechte Flanke der Jäger und riss ihrer drei tödlich verwundet zu Boden.

Ein Vierter, es war Nestor, der nachmals so berühmte Held, rettete sich auf die Äste eines Eichenbaumes, an dessen Stamm der Eber grimmig seine Hauer wetzte. Hier hätten ihn die Zwillingsbrüder Kastor und Polydeukes, die hoch auf schneeweißen Rossen saßen, mit ihren Speeren erreicht, wenn das borstige Tier sich nicht in unzugängliches Dickicht geflüchtet hätte.

Jetzt legte Atalante einen Pfeil auf ihren Bogen und sandte ihn dem Tier in das Gebüsch nach. Das Rohr traf den Eber unter dem Ohr, und zum ersten Mal rötete Blut seine Borsten. Meleagros sah die Wunde zuerst und zeigte sie jubelnd seinen Gefährten:

„Fürwahr, o Jungfrau“, rief er, „der Preis der Tapferkeit gebührt dir!“

Da schämten sich die Männer, dass ein Weib ihnen den Sieg streitig machen sollte, und alle zumal warfen ihre Speere; aber gerade dieser Schwarm von Geschossen verhinderte die Würfe, das Tier zu treffen.

Mit stolzen Worten erhob jetzt der Arkadier Anköas die doppelte Streitaxt mit beiden Händen und stellte sich zum Hieb ausholend auf die Zehen. Aber der Eber stieß ihm die beiden Hauer in die Weichen, ehe er den Streich ausführen konnte, und er stürzte, in sein Blut gebadet, mit entblößten Gedärmen auf den Boden.

Dann warf Iason seinen Speer: Allein diesen lenkte der Zufall in den Nacken einer unschuldigen Dogge.

Endlich schoss Meleagros zwei Speere hintereinander ab. Der erste fuhr in den Boden, der zweite dem Eber mitten in den Rücken.

Das Tier fing an zu toben und sich im Kreise zu drehen. Schaum und Blut quoll aus seinem Munde, Meleagros versetzte ihm mit dem Jagdspieße eine neue Wunde am Hals, und nun fuhren ihm von allen Seiten die Spieße in den Leib.

Der Eber, weit auf der Erde ausgestreckt, wälzte sich verendend in seinem Blute. Meleagros stemmte seinen Fuß auf den Kopf des Getöteten, streifte mit Hilfe seines Schwertes die borstige Hülle seines Rückens vom Leibe des Tieres und reichte sie mitsamt dem abgehauenen Haupte, aus dem die mächtigen Hauer hervorschimmerten, der tapferen Arkadierin Atalante.

„Nimm die Beute hin“, sprach er, „die von Rechts wegen mir gehörte; ein Teil des Ruhmes soll auch auf dich kommen!“

Diese Ehre missgönnten die Jäger dem Weibe, und rings in der Schar erhob sich ein Gemurmel. Mit geballten Fäusten und lauter Stimme traten die Söhne des Thestios vor Atalante hin, Meleagros’ Oheime.

„Auf der Stelle“, riefen sie, „leg die Beute nieder, Weib, und erschleiche nicht, was uns gehört; deine Schönheit dürfte dir sonst wenig helfen und dein verliebter Gabenspender auch nicht!“

Mit diesen Worten nahmen sie ihr das Geschenk weg und sprachen dem Helden das Recht ab, darüber zu verfügen. Dies ertrug Meleagros nicht. Vor Jähzorn knirschend schrie er:

„Ihr Räuber fremden Verdienstes! Lernet von mir, wie weit Drohungen von Taten verschieden sind!“

Und damit stieß er dem einen und, eh der andere Oheim sich besinnen konnte, auch diesem den Stahl in die Brust.

Althäa, die Mutter des Meleagros, war auf dem Wege nach dem Göttertempel, um Dankopfer für den Sieg ihres Sohnes darzubringen, als sie die Leichen ihrer Brüder herbeibringen sah. Sie schlug sich wehklagend die Brust, eilte in ihren Palast zurück, legte statt der goldenen Freudengewänder schwarze Kleidung an und erfüllte die Stadt mit Jammergeschrei.

Aber als sie erfuhr, dass der Urheber des Mordes ihr eigener Sohn Meleagros sei, da versiegten ihre Tränen, ihre Trauer ward in Mordlust verwandelt, und sie schien sich plötzlich auf etwas zu besinnen, das ihrem Gedächtnis längst entschwunden war. Denn als Meleagros erst wenige Stunden zählte, da waren die Parzen am Wochenbette seiner Mutter Althäa erschienen.

„Aus deinem Sohne wird ein tapferer Held“, verkündete ihr die Erste; „dein Sohn wird ein großmütiger Mann sein“, sprach die Zweite; „dein Sohn wird so lange leben“, schloss die Dritte, „als der eben jetzt auf dem Herde glühende Brand vom Feuer nicht verzehrt wird.“

Kaum hatten sich die Parzen entfernt, so nahm die Mutter das helllodernde Scheit aus dem Feuer, löschte es im Wasser, und liebevoll für das Leben ihres Sohnes besorgt, verwahrte sie es im geheimsten ihrer Gemächer.

Entflammt von Rache dachte sie jetzt wieder an dieses Holz und eilte in die Kammer, wo es in einem heimlichen Versteck sorgfältig aufbewahrt lag.

Sie hieß Kienholz auf Reisig legen und fachte einen lodernden Brand an. Dann ergriff sie das hervorgesuchte Holzscheit.

Aber in ihrem Herzen bekämpften sich Mutter und Schwester, blasse Angst und glühender Zorn wechselten auf ihrem Angesichte; viermal wollte sie den Ast auf die Flammen legen, viermal zog sie die Hand zurück. Endlich siegte die Schwesterliebe über das Muttergefühl.

„Wendet eure Blicke hierher“, sprach sie, „ihr Strafgöttinnen, zu diesem Furienopfer! Und ihr, eben erst dahingeschiedene Geister meiner Brüder, fühlet, was ich für euch tue, sieget und nehmet als teuer erkauftes Totengeschenk die unselige Frucht meines eigenen Leibes an! Mir selbst bricht das Herz von Mutterliebe, und bald werde ich dem Troste, den ich euch sende, selbst nachfolgen.“

So sprach sie, und mit abgewendetem Blick und zitternder Hand legte sie das Holz mitten in die Flammen hinein.

Meleagros, der inzwischen auch in die Stadt zurückgekehrt war und über seinem Siege, seiner Liebe und seiner Mordtat in wechselnden Empfindungen brütete, fühlte plötzlich, ohne zu wissen woher, sein Innerstes von einer heimlichen Fieberglut ergriffen, und verzehrende Schmerzen warfen ihn auf das Lager. Er unterdrückte sie mit Heldenkraft; aber es schmerzte ihn tief, eines unrühmlichen und unblutigen Todes sterben zu müssen. Er beneidete die Genossen, die unter den Streichen des Ebers gefallen waren, er rief den Bruder, die Schwestern, den greisen Vater und mit stöhnendem Munde auch die Mutter herbei, die noch immer am Feuer stand und mit starren Augen dem sich verzehrenden Brande zusah.

Der Schmerz ihres Sohnes wuchs mit dem Feuer, und als allmählich die Kohle sich in der bleichenden Asche verbarg, erlosch auch seine Qual und er verhauchte seinen Geist mit dem letzten Funken in die Luft.

Über seiner Leiche wehklagten Vater und Schwestern, und ganz Kalydon trauerte; nur die Mutter war ferne. Den Strick um den Hals gewunden, fand man ihre Leiche vor dem Herde niedergestreckt, auf welchem die verglommene Asche des Feuerbrandes ruhte.

Tantalos

Tantalos, ein Sohn des Zeus, herrschte zu Sipylos in Lydien und war außerordentlich reich und berühmt. Wenn die olympischen Götter je einen sterblichen Mann geehrt haben, so war es dieser. Seiner hohen Abstammung wegen wurde er zu ihrer vertrauten Freundschaft erhoben, zuletzt durfte er an der Tafel des Zeus speisen und alles mit anhören, was die Unsterblichen unter sich besprachen.

Aber sein eitler Menschengeist vermochte das überirdische Glück nicht zu tragen, und er fing an, mannigfach gegen die Götter zu freveln. Er verriet den Sterblichen die Geheimnisse der Himmlischen; er stahl von ihrer Tafel Nektar und Ambrosia und verteilte den Raub unter seine irdischen Genossen; er barg den köstlichen goldenen Hund, den ein anderer aus dem Zeustempel zu Kreta gestohlen hatte, und als dieser ihn zurückforderte, leugnete er mit einem Eide ab, ihn erhalten zu haben.

Endlich lud er im Übermute die Götter wieder zu Gaste, und um ihre Allwissenheit auf die Probe zu stellen, ließ er seinen eigenen Sohn Pelops schlachten und ihnen zum Mahle zurichten.

Nur Demeter, in kummervolle Gedanken an ihre geraubte Tochter Persephone versunken, verzehrte von dem grässlichen Gericht ein Schulterblatt, die übrigen Götter aber merkten den Gräuel, warfen die zerstückelten Glieder des Knaben in einen Kessel, und die Parze Klotho zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anstatt der verzehrten Schulter wurde eine elfenbeinerne eingesetzt.

Jetzt hatte Tantalos das Maß seiner Frevel erfüllt und wurde von den Göttern in die Unterwelt gestoßen, um hier von quälenden Leiden hart gepeinigt zu werden.

Er stand mitten in einem Teiche, und die Wasser spielten ihm um das Kinn, dennoch litt er den brennendsten Durst und konnte den Trank, der ihm so nahe war, niemals erreichen. Sooft er sich bückte und den Mund gierig ans Wasser bringen wollte, versiegte vor ihm die Flut, und der dunkle Boden erschien zu seinen Füßen; ein Dämon schien den See ausgetrocknet zu haben. Dabei litt er zugleich den peinigendsten Hunger. Hinter ihm strebten am Ufer des Teiches herrliche Fruchtbäume empor und wölbten ihre früchtetragenden Äste über seinem Haupte.

Wenn er sich emporrichtete, so lachten ihm saftige Birnen, rotwangige Äpfel, glühende Granaten, liebliche Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber sobald er hinauflangte, sie mit seiner Hand zu fassen, riss ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige hoch hinauf zu den Wolken.

Zu dieser Höllenpein gesellte sich beständige Todesangst, denn ein großes Felsenstück hing über seinem Haupte in der Luft und drohte unaufhörlich auf ihn herabzustürzen.

So ward dem Verächter der Götter, dem ruchlosen Tantalos, dreifache Qual, niemals endend, in der Unterwelt beschieden.

Pelops

So schwer der Vater an den Göttern sich versündigt hatte, so fromm ehrte sie sein Sohn Pelops. Er war nach der Verbannung seines Vaters in die Unterwelt in einem Kriege mit Ilos, dem benachbarten Könige Trojas, aus seinem väterlichen Reiche vertrieben worden und wanderte nach Griechenland aus.

Eben erst erschien der erste Bartanflug am Kinn des Jünglings, aber schon hatte er sich im Herzen eine Gattin ausersehen. Es war dies die schöne Tochter des Königs Önomaos von Elis, mit Namen Hippodamia.

Sie war ein Kampfpreis, der nicht leicht zu erringen war. Das Orakel hatte nämlich ihrem Vater vorhergesagt, er werde sterben, wenn seine Tochter einen Gatten erhielte. Deswegen wandte der erschrockene König alles an, um jeden Freier von ihr zu entfernen. Er ließ in allen Landen verkünden, dass derjenige seine Tochter zur Gemahlin erhalten sollte, der ihn selbst im Wagenrennen überwinden würde. Wen aber er, der König, besiegte, der sollte sein Leben lassen.

Der Wettlauf geschah von Pisa aus nach dem Altäre des Poseidon auf der Meerenge bei Korinth, und die Zeit zur Abfahrt der Wagen bestimmte der Vater also: Er selbst wollte erst gemächlich dem Zeus einen Widder opfern, während der Freier mit dem vierspännigen Wagen ausfahren sollte; erst wenn er das Opfer beendigt hätte, wollte er selbst den Lauf beginnen und auf seinem von dem Wagenlenker Myrtilos geleiteten Wagen mit einem Spieß in der Hand den Freier verfolgen. Gelänge es ihm, den vorauseilenden Wagen einzuholen, so sollte er das Recht haben, den Freier mit seinem Spieß zu durchbohren.

Als die vielen Freier, welche Hippodamia wegen ihrer Schönheit erringen wollten, das vernahmen, waren sie alle getrosten Mutes. Sie hielten den König Önomaos für einen altersschwachen Greis, der im Bewusstsein, mit Jünglingen doch nicht um die Wette rennen zu können, ihnen absichtlich einen so großen Vorsprung bewilligte, um seine wahrscheinliche Niederlage aus dieser Großmut erklären zu können. Daher kam einer um den andern nach Elis gezogen, stellte sich dem Könige vor und begehrte seine Tochter zur Frau.

Der König empfing sie jedes Mal freundlich, überließ ihnen ein schönes Viergespann zur Fahrt und ging hin, dem Zeus seinen Widder zu opfern, wobei er sich gar nicht beeilte. Dann erst bestieg er einen leichten Wagen, vor welchen seine beiden Rosse Phylla und Harpinna gespannt waren, die geschwinder liefen als der Nordwind. Mit ihnen holte sein Wagenlenker die Freier jedes Mal noch lange vor dem Ziele ein, und unversehens durchbohrte sie der Speer des grausamen Königs von hinten. Auf diese Art hatte er schon mehr als zwölf Freier erlegt, denn immer holte er sie mit seinen schnellen Pferden ein.

Nun war Pelops auf seiner Fahrt zu seiner Braut an der Halbinsel, die später nach ihm den Namen (Peloponnesos) führen sollte, gelandet. Bald hörte er, was sich zu Elis mit den Freiern zutrage. Da trat er bei Nacht ans Meeresufer und rief seinen Schutzgott, den mächtigen Dreizackschwinger Poseidon, an, der ihm zu Füßen aus der Meeresflut emporrauschte.

„Mächtiger Gott“, rief Pelops ihn an, „wenn dir selbst die Geschenke der Liebesgöttin willkommen sind, so lenke den ehernen Speer des Önomaos von mir ab, bring mich auf dem schnellsten Wagen gegen Elis und führe mich zum Siege. Denn schon hat er dreizehn liebende Männer ins Verderben gestürzt, und noch schiebt er die Hochzeit der Tochter auf.

Eine große Gefahr duldet keinen unkriegerischen Mann. Ich bin entschlossen, sie zu bestehen. Wer doch einmal sterben muss, was soll der ein namenloses Alter in Finsternis dasitzend erwarten, ohne allen Anteil am Edlen? Darum will ich den Kampf bestehen: Gib du mir erwünschten Erfolg.“

So betete Pelops, und sein Flehen war nicht vergebens. Denn abermals rauschte es in den Gewässern, und ein schimmernder goldner Wagen mit vier pfeilschnellen Flügelrossen stieg aus den Wellen empor. Auf ihn schwang sich Pelops und flog, die Götterpferde nach Gefallen lenkend, mit dem Wind um die Wette nach Elis.

Als Önomaos ihn kommen sah, erschrak er, denn auf den ersten Blick erkannte er das göttliche Gespann des Meeresgottes. Doch verweigerte er dem Fremdling den Wettkampf nach den gewohnten Bedingungen nicht; auch er verließ sich auf die Wunderkraft seiner eigenen Rosse, die es dem Winde zuvortaten.

Nachdem sich die Pferde des Pelops von der Reise durch die Halbinsel ausgerastet, betrat er mit ihnen die Laufbahn. Schon war er dem Ziele ganz nahe, als der König, der das Widderopfer wie gewöhnlich verrichtet hatte, ihm plötzlich mit seinen luftigen Rossen auf den Nacken kam und schon den Speer schwang, dem kühnen Freier den tödlichen Stoß zu versetzen.

Da fügte es Poseidon, der den Pelops beschirmte, dass mitten im Laufe die Räder des königlichen Wagens aus den Fugen gingen und dieser zusammenbrach, Önomaos stürzte zu Boden und gab vom Falle den Geist auf.

In demselben Augenblicke hielt Pelops mit seinem Viergespann am Ziele. Als er sich umblickte, sah er den Palast des Königs in Flammen stehen; ein Blitzstrahl hatte ihn angezündet und zerstörte ihn von Grund aus, dass nichts als eine Säule davon stehenblieb.

Pelops aber eilte mit seinem Flügelgespann dem brennenden Hause zu und holte sich die Braut aus den Flammen.

Niobe

Niobe, die Königin von Theben, war auf vieles stolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Musen eine herrliche Leier erhalten, auf deren Spiel sich die Steine der thebischen Stadtmauern von selbst zusammenfügten; ihr Vater war Tantalos, der Gast der Götter; sie war die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und selbst voll Hoheit des Geistes und von majestätischer Schönheit; auf nichts von all dem aber war sie so stolz als auf die stattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren.

Auch hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichste, und sie wäre es gewesen, wenn sie sich nur selbst nicht dafür gehalten hätte; so aber wurde das Bewusstsein ihres Glückes ihr Verderben.

Einst rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahrsagers Tiresias, von göttlicher Regung angetrieben, mitten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung der Leto (Latona) und ihrer Zwillingskinder, Apollon und Artemis, auf, hieß sie die Haare mit Lorbeer bekränzen und frommes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen.

Als nun die Thebanerinnen zusammenströmten, kam auf einmal Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem golddurchwirkten Gewande angetan, prunkend dahergerauscht. Sie strahlte von Schönheit, soweit es der Zorn zuließ, ihr herrliches Haupt bewegte sich zugleich mit dem über beide Schultern herabwallenden Haar. So stand sie in der Mitte der unter freiem Himmel mit dem Opfer beschäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem Kreise der Versammelten ruhen und rief:

„Seid ihr nicht wahnsinnig, Götter zu ehren, von denen man euch fabelt, während vom Himmel begünstigtere Wesen mitten unter euch weilen? Wenn ihr der Leto Altäre errichtet, warum bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch?

Ist doch Tantalos mein Vater, der einzige Sterbliche, der am Tische der Himmlischen gesessen, meine Mutter Dione, die Schwester der Plejaden, die als leuchtendes Gestirn am Himmel glänzen; einer meiner Ahnen, Atlas der Gewaltige, der das Gewölbe des Himmels auf dem Nacken trägt; mein Großvater Zeus, der Vater der Götter; selbst Phrygiens Völker gehorchen mir; mir und meinem Gatten ist die Stadt des Kadmos, sind die Mauern untertan, die sich dem Saitenspiel gefügt haben; jeder Teil meines Palastes zeigt mir unermessliche Schätze; dazu kommt ein Antlitz, wie es einer Göttin wert ist, ferner eine Kinderschar, wie keine Mutter sie aufweisen kann: sieben blühende Töchter, sieben starke Söhne, bald ebenso viele Schwiegersöhne und Schwiegertöchter.

Fragt nun, ob ich auch Grund habe, stolz zu sein! Wagt es noch ferner, mir Leto, die unbekannte Titanentochter, vorzuziehen, der einst die breite Erde keinen Raum gegönnt hat, wo sie ein Kind bekommen könnte, bis die schwimmende Insel Delos der Umherschweifenden aus Mitleid ihren unbefestigten Sitz darbot. Dort wurde sie Mutter zweier Kinder, die Armselige.

Das ist der siebente Teil meiner Mutterfreude! Wer leugnet, dass ich glücklich bin, wer zweifelt, dass ich glücklich bleibe? Die Schicksalsgöttin hätte viel zu tun, wenn sie meinem Besitze gründlich schaden wollte! Nehme sie mir dies oder jenes, selbst von der Schar meiner Kinder, wann wird je ihr Haufen zu der armen Zwillingszahl Letos heruntersinken?

Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren mit dem Lorbeer! Zerstreut euch in eure Häuser und lasst euch nicht wieder bei so törichtem Beginnen treffen!“

Erschrocken nahmen die Frauen die Kränze vom Haupte, ließen die Opfer unvollendet und schlichen nach Hause, mit stillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.

Auf dem Gipfel des delischen Berges Kynthos stand mit ihren Zwillingen Leto und schaute mit ihrem Götterauge, was in dem fernen Theben vorging.

„Seht, Kinder: ich, eure Mutter, die auf eure Geburt so stolz ist, die keiner Göttin außer Hera weicht, werde von einer frechen Sterblichen geschmäht, ich werde von den alten heiligen Altären hinweggestoßen, wenn ihr mir nicht beisteht, meine Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beschimpft, werdet ihrem Kinderhaufen von ihr nachgesetzt!“

Leto wollte zu ihren Worten noch Bitten hinzufügen, aber Phöbos unterbrach sie und sprach:

„Lass die Klage, Mutter, sie verzögert nur die Strafe!“

Ihm stimmte seine Schwester bei; beide hüllten sich in eine Wolkendecke, und mit einem raschen Schwung durch die Lüfte hatten sie die Stadt und Burg des Kadmos erreicht.

Hier breitete sich vor den Mauern ein geräumiges Blachfeld aus, das nicht für die Saat bestimmt, sondern den Wettlaufen und Übungen zu Ross und Wagen gewidmet war. Da belustigten sich eben die sieben Söhne Amphions: die einen bestiegen mutige Rosse, die andern vergnügten sich mit dem Ringspiel.

Der Älteste, Ismenos, trieb eben sein Tier im Viertelstrabe sicher im Kreise um, den schäumenden Rachen ihm bändigend, als er plötzlich: „Wehe mir!“ ausrief, den Zaun aus den erschlaffenden Händen fahren ließ und, einen Pfeil mitten ins Herz geheftet, langsam rechts am Buge des Rosses heruntersank.

Sein Bruder Sipylos, der ihm zunächst sich tummelte, hatte das Gerassel des Köchers in den Lüften gehört und floh mit verhängtem Zügel, wie ein Steuermann vor dem Weller jedes Lüftchen in den Segeln auffängt, um in den Hafen einzulaufen.

Dennoch holte ihn ein durch die Lüfte schwirrender Wurfspieß ein, zitternd haftete ihm der Schaft hoch im Genick, und das nackte Eisen ragte zum Halse heraus. Über die Mähne des Pferdes am gestreckten Halse herab glitt der tödlich Getroffene zu Boden und besprengte die Erde mit seinem rauchenden Blut.

Zwei andere – der eine hieß wie sein Großvater Tantalos, der andere Phädimos –, lagen, miteinander ringend, in fester Umschlingung Brust an Brust verschränkt.

Da tönte der Bogen aufs Neue und, wie sie vereinigt waren, durchbohrte sie beide ein Pfeil. Beide seufzten zugleich auf, krümmten die schmerzdurchzuckten Glieder auf dem Boden, verdrehten die erlöschenden Augen und hauchten im Staube mit einem Atem die Seele aus.

Ein fünfter Sohn, Alphenor, sah diese fallen: Die Brust sich schlagend, flog er herbei und wollte die erkalteten Glieder der Brüder durch seine Umarmungen wieder beleben, aber unter diesem frommen Hilfsdienst sank auch er dahin, denn Phöbos Apollon sandte ihm das tödliche Eisen tief in die Herzkammer hinein, und als er es wieder herauszog, drängte sich mit dem Atem das Blut und das Eingeweide des Sterbenden hervor.

Damasichthon, den sechsten, einen zarten Jüngling mit langen Locken, traf ein Pfeil in das Kniegelenk, und während er sich rückwärts bog, das unerwartete Geschoss mit der Hand herauszuziehen, drang ihm ein anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund hinab in den Hals, und ein Blutstrahl schoss wie ein Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor.

Der letzte und jüngste Sohn, der Knabe Ilioneus, der dies alles mit angesehen hatte, warf sich auf die Knie nieder, breitete die Arme aus und fing an zu flehen:

„O all ihr Götter miteinander, verschonet mich!“

Der furchtbare Bogenschütze selbst wurde gerührt, aber der Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe sank zusammen. Doch fiel er an der leichtesten Wunde, die kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.

Der Ruf des Unglücks verbreitete sich bald in der Stadt. Amphion, der Vater, durchbohrte sich die Brust mit dem Stahl, als er die Schreckenskunde hörte. Der laute Jammer seiner Diener und des ganzen Volkes drang bald auch in die Frauengemächer.

Niobe vermochte das Schreckliche lange nicht zu fassen; sie wollte nicht glauben, dass die Himmlischen so viel Vorrechte hätten, dass sie es wagten, dass sie es vermöchten. Aber bald konnte sie nicht mehr zweifeln.

Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe der vorigen, die eben erst das Volk von den Altären der mächtigen Göttin zurückscheuchte und mit stolz erhobenem Haupt durch die Stadt einherschritt! Jene erschien auch ihren liebsten Freunden beneidenswert, diese des Mitleids würdig selbst dem Feinde.

Sie kam herausgestürzt auf das Feld, sie warf sich auf die erkalteten Leichname, sie verteilte ihre letzten Küsse an die Söhne, bald an diesen, bald an jenen. Dann hob sie die zerschlagenen Arme gen Himmel und rief:

„Weide dich nun an meinem Jammer, sättige dein grimmiges Herz, du grausame Leto, der Tod dieser Sieben wirft mich ins Grab; triumphiere, siegende Feindin!“

Jetzt waren auch ihre sieben Töchter, schon in Trauergewande gekleidet, herbeigekommen und standen mit fliegenden Haaren klagend um die gefallenen Brüder.

Ein Strahl der Schadenfreude zuckte bei ihrem Anblick über Niobes blasses Gesicht. Sie vergaß sich, warf einen spottenden Blick gen Himmel und sagte:

„Siegerin! Nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr als dir in deinem Glück. Auch nach so vielen Leichen bin ich noch die Überwinderin!“

Kaum hatte sie’s gesprochen, als man eine Sehne ertönen hörte wie von einem straff angezogenen Bogen. Alles erschrak, nur Niobe bebte nicht, das Unglück hatte sie beherzt gemacht.

Da fuhr plötzlich eine der Schwestern mit der Hand ans Herz; sie zog einen Pfeil heraus, der ihr im Innersten haftete. Ohnmächtig zu Boden gesunken, senkte sie ihr sterbendes Antlitz über den nächstgelegenen Bruder.

Eine andere Schwester eilte auf die unglückliche Mutter zu, sie zu trösten; aber von einer verborgenen Wunde gefällt, verstummt sie plötzlich.

Eine dritte sinkt im Fliehen zu Boden, andere fallen, über die sterbende Schwester hingeneigt. Nur die Letzte war noch übrig, die sich in den Schoß der Mutter geflüchtet und an diese, von ihrem faltigen Gewand zugedeckt, sich kindlich anschmiegte.

„Nur die Einzige lass mir“, schrie Niobe wehklagend zum Himmel, „nur die Jüngste von so vielen!“

Aber während sie noch flehte, stürzte schon das Kind auf ihrem Schoße nieder, und einsam saß Niobe zwischen ihres Gatten, ihrer Söhne und ihrer Töchter Leichen.

Da erstarrte sie vor Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes; aus dem Gesichte wich das Blut; die Augen standen unbewegt in den traurigen Wangen; im ganzen Bilde war kein Leben mehr; die Adern stockten mitten im Pulsschlag, der Nacken drehte, der Arm regte, der Fuß bewegte sich nicht mehr; auch das Innere des Leibes war zum kalten Felsstein geworden. Nichts lebte mehr an ihr als die Tränen; diese rannen unaufhörlich aus den steinernen Augen.

Jetzt fasste eine gewaltige Windsbraut den Stein, führte ihn fort durch die Lüfte und über das Meer und setzte ihn in der alten Heimat Niobes, in Lydien, im öden Gebirge, unter den Steinklippen des Sipylos nieder. Hier haftete Niobe als ein Marmorfelsen am Gipfel des Berges, und noch jetzt zerfließt der Marmor in Tränen.

Sisyphos und Bellerophontes

Sisyphos, der Sohn des Äolos, der Listigste aller Sterblichen, baute und beherrschte die herrliche Stadt Korinth auf der schmalen Landenge zwischen zwei Ländern. Als Zeus die Ägina entführt hatte, verriet ihn Sisyphos aus Eigennutz dem Vater der Geraubten, dem Flussgott Asopos, und ließ sich von diesem dafür versprechen, dass er eine Quelle auf der Burg von Korinth entstehen lassen werde. Wirklich schlug Asopos die berühmte Quelle Pirene aus dem Felsen.

Zeus beschloss, den Verräter zu strafen, und schickte den Tod (Thanatos) zu ihm. Aber Sisyphos wusste diesen mit starken Banden zu fesseln, sodass niemand auf Erden sterben konnte, bis endlich der starke Kriegsgott Ares kam und den Tod befreite, der nun den Sisyphos in die Unterwelt führte.

Dieser jedoch hatte seiner Gemahlin befohlen, die Totenopfer für ihn zu unterlassen. Darüber zürnten Hades und Persephone und ließen sich von Sisyphos beschwatzen, ihn auf die Oberwelt zurückzusenden, damit er die säumige Gattin mahne.

So dem Schattenreiche entwischt, dachte er nicht daran, wieder dahin zurückzukehren, sondern tat sich oben gütlich. Während er aber, beim üppigen Mahle sitzend, sich über den gelungenen Betrug freute, kam plötzlich der Tod und schleppte ihn unerbittlich hinab in die Unterwelt.

Dort traf ihn die Strafe, dass er einen schweren Marmorstein, mit Händen und Füßen angestemmt, von der Ebene eine Anhöhe hinaufwälzen musste. Wenn er aber schon glaubte, ihn auf den Gipfel gedreht zu haben, wandte sich die Last um, und der tückische Stein rollte wieder in die Tiefe hinunter. So musste der gepeinigte Verbrecher von Neuem und immer von Neuem wieder das Felsstück emporwälzen, dass der Angstschweiß von seinen Gliedern floss.

Sein Enkel war Bellerophontes, der Sohn des Korintherkönigs Glaukos. Wegen eines unvorsätzlichen Mordes flüchtig, wandte sich der Jüngling nach Tiryns, wo der König Prötos regierte. Bei diesem wurde er gütig aufgenommen und von seiner Schuld befreit.

Bellerophontes hatte von den Unsterblichen schöne Gestalt und männliche Tugenden empfangen. Deswegen entbrannte die Gemahlin des Königs Prötos, Antea, in unreiner Liebe zu ihm und wollte ihn zum Bösen verführen. Aber der edelgesinnte Bellerophontes gehorchte ihr nicht.

Da verwandelte sich ihre Liebe in Hass; sie sann auf Lüge, ihn zu verderben, erschien vor ihrem Gemahl und sprach zu ihm:

„Erschlage den Bellerophontes, o Gemahl, wenn du nicht selbst ein unrühmliches Ende nehmen willst, denn der Treulose hat mir seine strafbare Neigung bekannt und mich zur Untreue gegen dich verleiten wollen.“

Als der König das vernommen, bemächtigte sich seiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den verständigen Jüngling so liebgehabt hatte, vermied er den Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen. Aber dennoch sann er auf sein Verderben.

Er schickte daher den Unschuldigen zu seinem Schwiegervater Iobates, dem Könige von Lyzien, und gab ihm ein zusammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem König bei seiner Ankunft in Lyzien, gleichsam als einen Empfehlungsbrief, vorweisen sollte; auf dieses waren gewisse Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Überbringer hinrichten zu lassen.

Arglos wandelte Bellerophontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn in ihren Schutz. Als er, übers Meer nach Asien gefahren, am schönen Strome Xanthos angekommen war und also Lyzien erreicht hatte, trat er vor den König Iobates.

Dieser aber, ein gütiger, gastfreundlicher Fürst vom alten Schlag, nahm den edlen Fremdling auf, ohne zu fragen, wer er sei noch woher er komme. Seine edle Gestalt und sein fürstliches Benehmen genügten ihm zur Überzeugung, dass er keinen gemeinen Gast beherberge. Er ehrte den Jüngling auf jede Weise, gab ihm alle Tage ein neues Fest und brachte den Göttern von Morgen zu Morgen ein neues Stieropfer.

Neun Tage waren so vergangen, und erst als die zehnte Morgenröte am Himmel aufstieg, fragte er den Gast nach seiner Herkunft und seinen Absichten. Da sagte ihm Bellerophontes, dass er von seinem Schwiegersöhne Prötos komme, und wies ihm als Beglaubigungsschreiben das Täfelchen vor.

Als der König Iobatcs den Sinn der mörderischen Zeichen erkannte, erschrak er in tiefster Seele, denn er hatte den edlen Jüngling sehr liebgewonnen. Doch mochte er nicht denken, dass sein Schwiegersohn ohne gewichtige Ursache die Todesstrafe über den Unglücklichen verhänge, glaubte also, dieser müsse durchaus ein todeswürdiges Verbrechen verübt haben. Aber auch er konnte sich nicht entschließen, den Menschen, der so lange sein Gast gewesen war und durch sein ganzes Benehmen sich seine Zuneigung zu erwerben gewusst hatte, geradezu umzubringen. Er gedachte ihm deswegen nur Kämpfe aufzutragen, in denen er notwendig zugrunde gehen müsste.

Zuerst ließ er ihn das Ungeheuer Chimära erlegen, das Lyzien verwüstete, und das göttlicher, nicht menschlicher Art entstammte. Der grässliche Typhon hatte es mit der riesigen Schlange Echidna gezeugt. Vorn war es ein Löwe, hinten ein Drache und in der Mitte eine Ziege, aus seinem Rachen ging Feuer und ein entsetzlicher Gluthauch.

Die Götter selbst hatten Mitleid mit dem schuldlosen Jüngling, als sie sahen, welcher Gefahr er ausgesetzt wurde. Sie schickten ihm auf seinem Wege zu dem Ungeheuer das unsterbliche Flügelross Pegasos, das Poseidon mit der Medusa gezeugt hatte.

Wie konnte ihm aber dieses helfen? Das göttliche Pferd hatte nie einen sterblichen Reiter getragen. Es ließ sich nicht einfangen und nicht zähmen.

Müde von seinen vergeblichen Anstrengungen war der Jüngling am Quell Pirene, wo er das Ross gefunden hatte, eingeschlafen. Da erschien ihm im Traume seine Beschirmerin Athene; sie stand vor ihm, einen köstlichen Zaum mit goldenen Buckeln in der Hand und sprach:

„Was schläfst du, Sprössling des Äolos? Nimm dieses rossebändigende Werkzeug; opfere dem Poseidon einen schönen Stier und gebrauche den Zaum.“

So schien sie dem Helden im Traume zuzusprechen, schüttelte ihren dunklen Ägisschild und verschwand. Er aber erwachte aus dem Schlafe, sprang auf und fasste mit der Hand nach dem Zaume. Und, o Wunder! Der Zaum, nach dem er im Traume gegriffen – der Wachende hielt ihn wirklich und leibhaftig in der Hand.

Bellerophontes suchte nun den Seher Polydos auf und erzählte ihm seinen Traum sowie das Wunder, das sich in demselben zugetragen. Der Seher riet ihm, das Begehren der Göttin ungesäumt zu erfüllen, dem Poseidon den Stier zu schlachten und seiner Schutzgöttin Athene einen Altar zu bauen.

Als dies alles geschehen war, fing und bändigte Bellerophontes das Flügelross ohne alle Mühe, legte ihm den goldenen Zaum an und bestieg es in eherner Rüstung. Nun schoss er aus den Lüften herab und tötete die Chimära mit seinen Pfeilen.

Hierauf schickte ihn Iobates gegen das Volk der Solymer aus, ein streitbares Männergeschlecht, das an den Grenzen von Lyzien wohnte, und nachdem er wider Erwarten den härtesten Kampf mit diesen glücklich bestanden, wurde er von dem Könige gegen die männergleiche Schar der Amazonen gesandt.

Auch aus diesem Streite kam er unverletzt und siegreich zurück. Nun legte ihm der König, um dem Verlangen seines Schwiegersohnes doch endlich nachzukommen, eben auf diesem Rückwege einen Hinterhalt, wozu er die tapfersten Männer des lyzischen Landes ausersehen hatte. Aber keiner von ihnen kehrte zurück, denn Bellerophontes erschlug alle, die ihn überfallen hallen, bis auf den Letzten.

Nunmehr erkannte der König, dass der Gast, den er beherbergte, kein Verbrecher, sondern ein Liebling der Götter sei. Statt ihn zu verfolgen, hielt er ihn in seinem Königreich zurück, teilte den Thron mit ihm und gab ihm seine blühende Tochter Philonoe zur Gemahlin. Die Lyzier überließen ihm die schönsten Äcker und Pflanzungen zum Bebauen. Seine Gemahlin gebar ihm drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter.

Aber jetzt hatte das Glück des Bellerophontes ein Ende. Sein ältester Sohn Isandros wuchs zwar auch zu einem gewaltigen Helden auf, aber er fiel in einer Schlacht gegen die Solymer.

Seine Tochter Laodamia wurde, nachdem sie dem Zeus den Helden Sarpedon geboren, durch einen Pfeil der Artemis erschossen.

Nur sein jüngerer Sohn Hippolochos gelangte zu ruhmvollem Alter und schickte im Kampfe der Trojaner gegen die Griechen seinen heldenmütigen Sohn Glaukos, den auch sein Vetter Sarpedon begleitete, mit einer stattlichen Schar von Lyziern den Troern zu Hilfe.

Bellerophontes selbst, durch den Besitz des unsterblichen Flügelrosses übermütig gemacht, wollte sich auf demselben zum Olymp emporschwingen und, der Sterbliche, in die Versammlung der Unsterblichen eindrängen.

Aber das göttliche Ross selbst widersetzte sich dem kühnen Unterfangen, bäumte sich in der Luft und schleuderte den irdischen Reiter hinunter zur Erde.

Bellerophontes erholte sich zwar von diesem Fall, aber den Himmlischen seitdem verhasst und vor den Menschen sich schämend, irrte er einsam umher, vermied die Pfade der Sterblichen und verzehrte sich in einem rühmlosen und kummervollen Alter.

Salmoneus

Salmoneus, der Bruder des Sisyphos, der Herrscher in Elis, war ein reicher, ungerechter und in seinem Herzen übermütiger Fürst. Er hatte eine herrliche Stadt, Salmonia genannt, gegründet und ging in seinem Stolze so weit, dass er von seinen Untertanen göttliche Ehren und Opfer forderte und für Zeus gehalten sein wollte.

Als Zeus durchzog er auch sein Land und die griechischen Völkerschaften auf einem Wagen, der dem Wagen des Donnerers gleichen sollte. Er ahmte dabei des Göttervaters Blitz durch emporgeworfene Fackeln, seinen Donner durch den Hufschlag wilder Rosse nach, die er über eherne Brücken trieb. Menschen ließ er niedermachen und gab vor, der Blitz habe sie getötet.

Zeus sah vom Olymp herab das törichte Beginnen. Aus dichten Wolken griff er einen echten Blitz heraus und schleuderte ihn wirbelnd auf den in wahnsinnigem Übermute dahinfahrenden Sterblichen herunter.

Der Donnerstrahl zerschmetterte den König und vertilgte die von ihm gebaute Stadt samt allen ihren Bewohnern.

DIE ARGONAUTEN

Iason und Pelias

 

Von Äson, dem Sohne des Kretheus, stammte Iason ab. Sein Großvater hatte in einer Bucht des Landes Thessalien die Stadt und das Königreich Iolkos gegründet und dieses seinem Sohn Äson hinterlassen. Aber der jüngere Sohn, Pelias, bemächtigte sich des Thrones; Äson starb, und Iason, sein Kind, war zu Chiron dem Zentauren, dem Erzieher vieler großer Helden, gebracht worden, wo er in guter Mannszucht aufwuchs.

Als Pelias schon alt war, wurde er durch einen dunklen Orakelspruch geängstigt, welcher ihn warnte, er solle sich vor dem Einschuhigen hüten.

Pelias grübelte vergeblich über den Sinn dieses Wortes, als Iason, der jetzt zwanzig Jahre den Unterricht und die Erziehung des Chiron genossen hatte, sich heimlich aufmachte, nach Iolkos in seine Heimat zu wandern und das Thronrecht seines Geschlechtes gegen Pelias zu behaupten.

Nach Art der alten Helden war er mit zwei Speeren, den einen zum Werfen, den .andern zum Stoßen, ausgerüstet; er trug ein Reisekleid und darüber die Haut eines Panthers, den er erlegt hatte; sein ungeschorenes Haar hing lang über die Schultern herab.

Unterwegs kam er an einen breiten Fluss, an dem er eine alte Frau stehen sah, die ihn flehentlich bat, ihr über den Strom zu helfen. Es war die Göttermutter Hera, die Feindin des Königs Pelias.

Iason erkannte sie in ihrer Verwandlung nicht, er nahm sie mitleidig auf die Arme und watete mit ihr durch den Fluss. Auf diesem Wege blieb ihm der eine Schuh im Schlamme stecken. Dennoch wanderte er weiter und kam zu Iolkos an, als sein Oheim Pelias gerade mitten unter allem Volke auf dem Marktplatze der Stadt dem Meeresgotte Poseidon ein feierliches Opfer brachte.

Alles Volk verwunderte sich über die Schönheit des Jünglings und seinen majoririschen Wuchs. Sie meinten, Apollon oder Ares sei plötzlich in ihre Mitte getreten.

Jetzt fielen auch die Blicke des opfernden Königs auf den Fremdling, und mit Entsetzen bemerkte er, dass nur der eine Fuß Iasons beschuht war. Als die heilige Handlung vorüber war, trat er dem Ankömmling entgegen und fragte ihn mit verhehlter Bestürzung nach seinem Namen und seiner Heimat.

Iason antwortete mutig, doch sanft, er sei Äsons Sohn, sei in Chirons Höhle , erzogen worden und komme jetzt, das Haus seines Vaters zu schauen.

Der kluge Pelias empfing ihn auf diese Mitteilung freundlich und ohne seinen Schrecken merken zu lassen. Er ließ ihn überall im Palaste herumführen, und Iason weidete seine Augen mit Sehnsucht an dieser ersten Wohnstätte seiner Jugend.

Fünf Tage lang feierte er hierauf das Wiedersehen mit seinen Vettern und Verwandten in fröhlichen Festen. Am sechsten Tage verliehen sie die Zelle, die für die Gäste aufgeschlagen waren, und traten miteinander vor den König Pelias. Sanft und bescheiden sprach Iason zu seinem Oheim:

„Du weißt, o König, dass ich der Sohn des rechtmäßigen Königs bin und alles, was du besitzt, mein Eigentum ist. Dennoch lasse ich dir die Schaf- und Rinderherden und alles Feld, das du meinen Eltern entrissen hast, ich verlange nichts von dir zurück als das Königszepter und den Thron, auf dem einst mein Vater saß.“

Pelias war schnell gefasst. Er erwiderte freundlich:

„Ich will deine Forderung erfüllen, dafür sollst aber auch du mir eine Bitte gewähren und eine Tat für mich ausführen, die deiner Jugend wohl ansteht und deren mein Greisenalter nicht mehr fähig ist. Denn mir erscheint seit Langem in nächtlichen Träumen der Schatten des Phrixos und verlangt von mir, ich solle seine Seele zufriedenstellen, nach Kolchis zum Könige Äetes reisen und von da seine Gebeine und das Vlies des goldenen Widders zurückholen.

Den Ruhm dieser Unternehmung habe ich dir zugedacht: Wenn du mit der herrlichen Beute zurückkehrst, sollst du Reich und Zepter übernehmen.“

 

 

Beginn des Argonautenzuges

 

Mit dem Goldenen Vlies aber verhielt es sich so: Phrixos, ein Sohn des böotischen Königs Athamas, hatte viel von der Nebengattin seines Vaters, seiner bösen Stiefmutter Ino, zu dulden. Um ihn vor ihren Nachstellungen zu bewahren, raubte ihn die eigene Mutter Nephele mit Hilfe seiner Schwester Helle. Sie setzte die Kinder auf einen geflügelten Widder, dessen Vlies oder Fell von echtem Gold war und welchen sie von dem Gott Hermes zum Geschenk erhalten hatte.

Auf diesem Wundertiere ritten Bruder und Schwester durch die Luft über Land und Meer hin. Unterwegs wurde das Mägdlein vom Schwindel überwältigt. Sie fiel in die Tiefe und fand ihren Tod in dem Meere, das von ihr den Namen Helles Meer oder Hellespontos erhielt.

Phrixos kam glücklich in das Land der Kolcher, an der Küste des Schwarzen Meeres. Hier wurde er von dem Könige Äetes gastfreundlich aufgenommen, der ihm eine seiner Töchter, Chalkiope, zur Gattin gab.

Den Widder opferte Phrixos dem Zeus, dem Beschützer der Flucht; sein Vlies gab er dem Könige Äetes zum Geschenk. Dieser weihte es dem Ares und befestigte es mit Nägeln in einem Haine, der diesem Gotte geheiligt war.

Zur Bewachung des Goldenen Vlieses bestellte Äetes einen feurigen Drachen; denn ein Schicksalsspruch hatte sein Leben vom Besitze dieses Widderfelles abhängig gemacht.

Das Vlies wurde in der ganzen Welt als ein großer Schatz betrachtet, und lange sprach man auch in Griechenland davon. Manchen Helden und Fürsten gelüstete es darnach; so hatte Pelias nicht falsch gerechnet, wenn er hoffte, seinen Iason durch die Aussicht auf eine so herrliche Beute zu reizen.

Iason stimmte auch bereitwillig zu; er durchschaute die Absicht seines Oheims nicht, Iason werde den Gefahren dieses Zuges zum Opfer fallen, und verpflichtete sich feierlich, das Abenteuer zu bestehen.

Die berühmtesten Helden Griechenlands wurden zu dem kühnen Unternehmen aufgefordert. Am Fuße des Berges Pelion wurde unter Athenes Leitung aus einer Holzart, die im Meere nicht fault, von dem geschicktesten Baumeister Griechenlands ein herrliches Schiff mit fünfzig Rudern erbaut und nach seinem Erbauer Argos, dem Sohne des Arestor, Argo genannt. Es war das erste lange Schiff, auf welchem sich Griechen in die offene See wagten.

Die Göttin Athene hatte dazu das weissagende Brett von einer redenden Eiche des Orakels zu Dodona gestiftet, das eine Stelle in dem Takelwerk fand.

Das Schiff war außen mit vielen geschnittenen Arbeiten geziert und gleichzeitig so leicht, dass die Helden es zwölf Tagesreisen weit auf der Achsel tragen konnten.

Als das Fahrzeug fertig und die Helden versammelt waren, wurden die Plätze der Argoschiffer (Argonauten) verlost. Iason war Befehlshaber des ganzen Zuges, Tiphys war der Steuermann; Lynkeus, der scharfblickende, machte den Lotsen des Schiffs.

Im Vorderteil des Schiffs saß der herrliche Held Herakles, im Achterteile Peleus, der Vater des Achilleus, und Telamon, der Vater des Ajax.

Im innern Raume befanden sich unter andern Kastor und Polydeukes, die Zeussöhne, Neleus, der Vater Nestors, Admetos, der Gemahl der frommen Alkestis, Meleagros, der Besieger des kalydonischen Ebers, Orpheus, der wundervolle Sänger, Menötius, der Vater des Patroklos, Theseus, nachher König von Athen, und sein Freund Pirithoos, Hylas, der junge Gefährte des Herakles, Poseidons Sohn Euphemos und Oileus, der Vater des kleineren Ajax.

Iason hatte sein Schiff dem Poseidon gewidmet, und vor der Abfahrt wurde ihm und allen Meeresgöttern ein feierliches Opfer mit Gebeten dargebracht.

Als alle im Schiff Platz genommen, wurden die Anker gelichtet, die fünfzig Ruder begannen ihren regelmäßigen Taktschlag, ein günstiger Wind schwellte die Segel und bald hatte das Schiff den Hafen von Iolkos hinter sich.

Orpheus belebte mit lieblichen Harfentönen und begeisterndem Gesang den Mut der Argoschiffer: lustig fuhren sie an Vorgebirgen und Inseln vorbei: Erst am zweiten Tage erhob sich ein Sturm und trieb sie in den Hafen der Insel Lemnos.

 

 

Die Argonauten auf Lemnos

 

Auf dieser Insel hatten das Jahr zuvor die Weiber alle ihre Männer, ja das ganze männliche Geschlecht ausgerottet, vom Zorn der Aphrodite verfolgt und von Eifersucht getrieben, weil jene sich Nebenweiber aus Thrazien geholt hatten. Nur Hypsipyle hatte ihren Vater, den König Thoas, verschont und in einer Kiste dem Meere zur Rettung übergeben. Seitdem fürchteten sie unaufhörlich einen Angriff von Seiten der Thrazier, der Verwandten ihrer Nebenbuhlerinnen, und blickten oft mit ängstlichen Augen nach der hohen See hinaus.

Auch jetzt, wo sie das Schiff Argo heranrudern sahen, stürzten sie alle miteinander aufgeschreckt aus den Toren und stürmten, mit Waffen angetan, wie Amazonen aus Ufer.

Die Helden wunderten sich sehr, als sie das ganze Gestade voll von bewaffneten Weibern und keinen Mann erblickten. Sie fertigten in einem Nachen einen Herold mit dem Friedensstabe an die seltsame Versammlung ab, der von den Frauen vor die unvermählte Königin Hypsipyle gebracht wurde und in bescheidenen Worten die Bitte der Argoschiffer um gastliche Rast vorbrachte.

Die Königin versammelte ihr Frauenvolk auf dem Marktplatz der Stadt; sie selbst setzte sich auf den steinernen Thron ihres Vaters; ihr zunächst lagerte sich, auf einen Stab gestützt, die greise Amme, dieser zur Rechten und zur Linken saßen je zwei blondhaarige zarte Jungfrauen.

Nachdem sie der Versammlung das friedliche Ansinnen der Argonauten vorgelegt, sprach sie aufgerichtet:

„Liebe Schwestern, wir haben eine große Freveltat begangen und uns in der Torheit männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde, wenn sie sich uns darbieten, nicht zurückstoßen.

Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass sie nichts von unserer Untat erfahren. Darum ist mein Rat, den Fremden Speise, Wein und sonstige Vorräte in ihr Schiff tragen zu lassen und sie durch diese Bereitwilligkeit ferne von unsern Mauern zu halten.“

Die Königin hatte sich wieder niedergesetzt, dagegen hatte sich die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete sie den Kopf aus den Schultern auf und sprach:

„Sendet immerhin den Fremdlingen Geschenke, dies ist wohlgetan. Denkt aber auch daran, was euch bevorsteht, wenn die Thrazier kommen. Und wenn ein gnädiger Gott diese fernhält, seid ihr darum vor allem Übel sicher?

Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig sein, wir werden sterben, ehe die Not dringend wird, ehe alle unsere Vorräte zu Ende sind. Ihr Jüngeren aber, wie wollt ihr dann leben? Werden sich die Ochsen von selbst für euch ins Joch spannen und den Pflug durchs Ackerfeld ziehen? Werden sie an eurer Statt, wenn das Jahr herum ist, die reifen Ähren abschneiden? Denn ihr selbst werdet diese und andere harte Arbeiten nicht allein verrichten wollen.

Ich rate euch, weist den erwünschten Schutz nicht ab, der sich euch darbietet; vertraut Gut und Habe den edlen Fremdlingen an und lasst sie eure schöne Stadt verwalten!“

Dieser Rat gefiel allen Weibern von Lemnos. Die Königin schickte eine der beisitzenden Jungfrauen mit dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den günstigen Beschluss der Frauenversammlung kundzutun.

Die Helden waren über die Nachricht hocherfreut, sie glaubten nicht anders, als Hypsipyle sei ihrem Vater nach dessen Tode in friedlicher Übernahme der Herrschaft gefolgt.

Iason warf den purpurnen Mantel, ein Geschenk der Athene, über seine Schultern und begab sich zur Stadt, einem schimmernden Sterne ähnlich.

Als er in die Tore einzog, strömten ihm die Frauen mit lautem Gruß nach und freuten sich über den Gast. Er aber heftete mit sittsamer Scheu die Augen auf den Boden und eilte dem Palaste der Königin zu.

Dienende Mägde taten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier nahm er, dieser gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhle Platz.

Hypsipyle schlug die Augen nieder, und ihre jungfräulichen Wangen röteten sich. Verschämt wandte sie sich an ihn mit den schmeichelnden Worten:

„Fremdlinge, warum bleibt ihr so scheu außerhalb unserer Tore? Diese Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, dass ihr euch zu fürchten hättet. Unsere Gatten haben uns treulos verlassen und sind mit thrazischen Weibern, die sie im Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen. Sie haben ihre Söhne und männlichen Diener mitgenommen, wir aber sind hilflos zurückgeblieben.

Darum, kehrt hier bei unserm Volke ein, wenn es euch gefällt, und wenn du willst, kannst du an meines Vaters Thoas Statt die Deinigen und uns beherrschen.

Du wirst über das Land nicht zu klagen haben, es ist bei Weitem die fruchtbarste Insel im Meere. Geh daher, guter Führer, melde deinen Genossen den Vorschlag und bleibt nicht länger außerhalb der Stadt.“ So sprach sie und verhehlte nur die Ermordung der Männer.

Ihr erwiderte Iason:

„Königin, die Hilfe, die du uns Hilfsbedürftigen anbietest, nehmen wir mit dankbarem Herzen an; wenn ich meinen Genossen die Nachricht überbracht habe, will ich in eure Stadt zurückkehren, aber das Zepter und die Insel behalte du selbst! Nicht als ob ich sie verachtete, aber mich erwarten schwere Kämpfe im fernen Lande.“

Iason reichte der königlichen Jungfrau die Hand zum Abschiedsgruße, dann eilte er zurück ans Ufer. Bald kamen auch die Frauen auf schnellen Wagen mit vielen Gastgeschenken nach. Ohne Mühe überredeten sie die Helden, die ihres Führers Botschaft schon vernommen hatten, die Stadt zu betreten und in ihren Häusern einzukehren.

Iason nahm seine Wohnung in der Königsburg selbst, die andern da und dort; nur Herakles, der Feind weibischen Lebens, blieb mit wenigen auserlesenen Genossen auf dem Schiff zurück.

Jetzt füllten fröhliche Mahlzeiten und Tänze die Stadt; duftiger Opferdampf stieg zum Himmel; Einwohnerinnen und Gäste ehrten den Schutzgott der Insel, Hephästos, und Aphrodite, seine Gemahlin.

Von Tag zu Tag wurde die Abfahrt verschoben, und noch lange wären die Helden bei den freundlichen Wirtinnen geblieben, wenn nicht Herakles vom Schiffe herbeigekommen wäre und die Genossen, ohne Wissen der Weiber, um sich versammelt hätte.

„Ihr Elenden“, schalt er, „hattet ihr nicht genug Frauen im eigenen Lande? Seid ihr hierher gekommen, um Hochzeiten zu feiern, wollt ihr als Bauern auf Lemnos das Feld pflügen? Glaubt ihr, ein Gott wird für uns das Vlies holen und es uns zu Füßen legen? Lieber wollen wir alle in unsere Heimat zurückkehren; Iason mag sich mit Hypsipyle vermählen, die Insel Lemnos mit seinen Söhnen bevölkern und von fremden Heldentaten hören!“

Keiner wagte gegen den Helden, der so sprach, die Augen aufzuheben oder ihm zu widersprechen. Von der Versammlung weg rüsteten sie sich zur Abfahrt.

Aber die Lemnierinnen, ihre Absicht erratend, umschwärmten sie wie summende Bienen mit Klagen und Bitten. Doch ergaben sie sich zuletzt in den Entschluss der Helden. Hypsipyle trat mit tränenden Augen aus der Schar hervor, nahm Iason bei der Hand und sprach:

„Geh, und mögen dir die Götter samt deinen Genossen, wie du es wünschest, das Goldene Vlies verleihen! Wenn du je zu uns zurückkehren willst, so erwartet dich diese Insel und das Zepter meines Vaters. Aber ich weiß es wohl, du hast diese Absicht nicht. So gedenke denn wenigstens meiner in der Ferne!“

Iason schied mit Bewunderung von der edlen Königin und bestieg als Erster das Schiff, nach ihm all die anderen Helden. Sie lösten die Taue, mit welchen das Fahrzeug ans Land gebunden war, die Ruderer setzten sich in Bewegung, und in kurzer Zeit hatten sie den Hellespont hinter sich.

 

 

Die Argonauten im Land der Dolionen

 

Thrazische Winde trieben das Schilf in die Nähe der phrygischen Küste, wo auf dem Eilande Kyzikos’ erdgeborene Riesen in unbezähmter Wildheit und die friedlichen Dolionen nebeneinander wohnten.

Die Riesen hatten sechs Arme, zwei an den mächtigen Schultern und vier an den beiden Seiten; die Dolionen stammten vom Meeresgotte ab, der sie auch gegen jene Ungeheuer beschützte. Ihr König war der fromme Kyzikos.

Als dieser und sein ganzes Volk von der Ankunft des Schiffes und dem Geschlechte der Männer gehört, gingen sie den Argonauten höflich entgegen, empfingen sie gastfreundlich und überredeten sie, noch weiter zu rudern und das Schiff im Hafen der Stadt vor Anker zu legen.

Der König hatte vorzeiten einen Orakelspruch erhalten: Wenn die göttliche Schar der Heroen käme, solle er sie freundlich aufnehmen und ja nicht bekriegen. Er versah sie deswegen reichlich mit Wein und Schlachtvieh.

Er selbst war noch ganz jung, kaum sprosste der Bart ihm am Kinn. Im Königspalast lag seine Frau in schwerer Krankheit danieder; dennoch verließ er sie, um, dem Götterspruche folgend, das Mahl mit den Fremden zu teilen. Hier erzählten sie ihm von dem Ziel und Zweck ihrer Fahrt, und er unterrichtete sie über den Weg, den sie zu nehmen hätten. Am andern Morgen bestiegen sie einen hohen Berg, um selbst die Lage der Insel und das Meer zu überschauen.

Inzwischen waren von der andern Seite des Eilandes die Riesen hervorgebrochen und hatten den Hafen mit Felsblöcken gesperrt. In diesem lag das Schiff Argo, von Herakles bewacht, der auch diesmal nicht ans Land gestiegen war.

Als dieser die Ungeheuer das boshafte Werk unternehmen sah, schoss er ihrer viele mit seinen Pfeilen tot. Zu gleicher Zeit kamen auch die übrigen Helden zurück und richteten mit Pfeilen und Speeren unter den Riesen eine furchtbare Niederlage an, sodass sie in dem engen Hafen wie ein umgehauener Wald dalagen, die einen mit Kopf und Brust im Wasser, mit den Füßen auf dem Ufersande, die andern mit den Füßen im Meer, mit Kopf und Brust am Ufer, beide Fischen und Vögeln zur Beute bestimmt.

Nachdem die Helden diesen Kampf siegreich bestanden, lösten sie bei günstigem Winde die Ankertaue und segelten hinaus in die offene See.

In der Nacht legte sich der Wind; bald aber erhob sich ein Sturm von der entgegengesetzten Seite, und so wurden sie genötigt, noch einmal am gastlichen Lande der Dolionen vor Anker zu gehen, ohne dass sie es wussten, denn sie glaubten sich an der phrygischen Küste.

Ebenso wenig erkannten die Dolionen, die bei dem Geräusche der Landung sich aus ihrer nächtlichen Ruhe erhoben hatten, die Freunde wieder, mit denen sie gestern so fröhlich gezecht hatten. Sie griffen zu den Waffen, und eine unglückselige Schlacht entspann sich zwischen Gastfreunden. Iason selbst stieß dem gütigen Könige Kyzikos den Speer mitten in die Brust, ohne ihn zu erkennen und von ihm gekannt zu sein.

Die Dolionen wurden endlich in die Flucht geschlagen und schlossen sich in die Mauern ihrer Stadt ein. Am andern Morgen, als die aufgehende Sonne den Himmel rötete, wurde den beiden der furchtbare Irrtum offenbar.

Bittrer Schmerz ergriff den Argonautenführer Iason mit allen seinen Helden, als sie den guten Dolionenkönig in seinem Blute liegen sahen. Drei Tage lang trauerten die Helden und die Dolionen gemeinsam und stellten den Gefallenen zu Ehren gemeinschaftlich Trauerkampfspiele an; dann segelten die fremden Helden weiter. Klite, die Gemahlin des gefallenen Dolionenkönigs, starb aus seelischem Leid.

 

 

Herakles wird zurückgelassen

 

Nach einer stürmischen Fahrt landeten die Helden in einem Meerbusen Bithyniens bei der Stadt Kios. Die Mysier, die hier wohnten, empfingen sie gar freundlich, türmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf, machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weiche Streu und setzten ihnen noch in der Abenddämmerung Wein und Speise zur Genüge vor.

Herakles, der alle Bequemlichkeiten der Reise verschmähte, ließ seine Genossen beim Mahle sitzen und machte einen Streifzug in den Wald, um sich aus einem Tannenbaum ein besseres Ruder für den kommenden Morgen zu schnitzen.

Bald fand er eine Tanne, die ihm geeignet schien, nicht zu sehr mit Ästen beladen, in der Größe und im Umfang wie der Ast einer schlanken Pappel.

Sogleich legte er Köcher und Bogen auf die Erde, tat sein Löwenfell ab, warf seine eherne Keule auf den Boden und zog den Stamm, den er mit beiden Händen gefasst, mitsamt den Wurzeln und der daranhängenden Erde heraus, sodass die Tanne dalag, nicht anders, als hätte sie ein Sturm entwurzelt.

Inzwischen hatte sich sein junger Gefährte Hylas auch vom Tische der Genossen entfernt. Er war mit dem ehernen Kruge aufgestanden, um Wasser für seinen Herrn und Freund zum Mahle zu schöpfen und auch alles andere für seine Rückkehr vorzubereiten.

Herakles hatte auf seinem Zuge gegen die Dryopen dessen Vater im Wortwechsel erschlagen, den Knaben aber aus dem Hause des Vaters mitgenommen und sich zum Diener und Freunde erzogen.

Als der schöne Jüngling an der Quelle Wasser schöpfte, leuchtete der Vollmond. Wie er sich nun eben mit dem Kruge nach dem Wasserspiegel neigte, erblickte ihn die Nymphe des Quells. Von seiner Schönheit betört, schlang sie den linken Arm um ihn, mit der Rechten ergriff sie seinen Ellenbogen und zog ihn so hinunter in die Tiefe.

Einer der Helden, Polyphemos mit Namen, der die Rückkehr des Herakles nicht ferne von jenem Quell erwartete, hörte den Hilfeschrei des Knaben. Aber er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Herakles, der aus dem Walde zurückkam.

„Unglücklicher“, rief er ihm entgegen, „muss ich der Erste sein, der dir die Trauerbotschaft meldet! Dein Hylas ist zur Quelle gegangen und nicht wieder zurückgekehrt! Räuber führen ihn gefangen davon, oder wilde Tiere zerreißen ihn; ich selbst habe seinen Angstruf gehört.“

Dem Herakles floss der Schweiß vom Haupte, als er dies hörte, und das Blut wallte in seinen Adern auf. Zornig warf er die Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der Bremse gestochener Stier Hirten und Herde verlässt, mit durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.

Jetzt stand der Morgenstern über dem Berggipfel; günstiger Wind erhob sich. Der Steuermann ermahnte die Helden, ihn zu benützen und das Schiff zu besteigen.

Schon fuhren sie im Morgenlichte fröhlich dahin, als ihnen zu spät einfiel, dass zwei ihrer Genossen, Polyplicmos und Herakles, am Ufer zurückgeblieben seien. Ein stürmischer Streit erhob sich unter den Helden, ob sie ohne die tapfersten Begleiter weitersegeln sollten.

Iason sprach kein Wort, still saß er da, und der Kummer fraß ihm am Herzen; den Telamon aber übermannte der Zorn.

„Wie kannst du so ruhig sitzen?“, rief er dem Führer zu. „Gewiss fürchtest du, Herakles könnte deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte? Und wenn alle Genossen mit dir einverstanden wären, so will ich allein zu dem verlassenen Helden umkehren.“

Mit diesen Worten fasste er den Steuermann Tiphys an der Brust, seine Augen funkelten wie Feuerflammen, und gewiss hätte er sie gezwungen, nach dem Gestade der Mysier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des Boreas, Kalais und Zetes, ihm in den Arm gefallen wären und ihn mit scheltenden Worten zurückgehalten hätten.

Zugleich stieg aus der schäumenden Flut Glaukos, der Meeresgott, hervor, fasste mit starker Hand das Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu:

„Ihr Helden, was streitet ihr? Warum wollt ihr wider den Willen des Zeus den mutigen Herakles mit euch in das Land des Äetes führen? Ihm sind ganz andere Arbeiten vom Schicksal bestimmt. Den Hylas hat eine liebende Nymphe geraubt, und aus Sehnsucht nach ihm ist er zurückgeblieben.“

Nachdem Glaukos ihnen das kundgetan hat, tauchte er wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle Wasser schäumte in Wirbeln um ihn.

Telamon war beschämt, er ging auf Iason zu, legte seine Hand in des Helden Hand und sprach:

„Zürne mir nicht, Iason! Der Schmerz hat mich verführt, unvernünftige Worte zu reden! Übergib meinen Fehler den Winden und lass

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Kozyreva Elena / Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 27.10.2014
ISBN: 978-3-7368-5122-1

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