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Charles Dickens erster Roman, mit dem er, erst dreiundzwanzigjährig, weltberühmt wurde, in neuer deutscher Rechtschreibung und Korrektur gelesen.

 

 

1. Kapitel

Die Pickwickier

 

Der erste Lichtstrahl, der das Dunkel erleuchtet und blendende Helligkeit anstelle jener Finsternis verbreitet, in welche die frühe Geschichte der öffentlichen Laufbahn des unsterblichen Pickwick bisher eingehüllt schien, ging von der sorgsamen Durchsicht folgender Eintragungen in den Sitzungsberichten des Pickwick-Klubs aus, die der Herausgeber dieser Papiere seinen Lesern mit lebhaftem Vergnügen als Beweis für die gründliche Aufmerksamkeit, den unermüdlichen Fleiß und das feine Unterscheidungsvermögen vorlegt, womit die Nachforschungen in der Fülle verschiedenartiger Dokumente, die ihm anvertraut waren, seinerseits durchgeführt worden sind.

12. Mai 1817. Präsidium: Joseph Smiggers, Hochwohlgeb. SVL. PKM. (Stellvertretender Vorsitzender auf Lebenszeit. – Pickwick-KIub-Mitglied) Folgende Resolutionen wurden einstimmig angenommen:

Erstens. „Dass die Sitzungsteilnehmer mit dem Gefühl ungetrübter Befriedigung sowie uneingeschränkter Zustimmung die Verlesung des von Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM. (Hauptvorsitzender. – Pickwick-Klub-Mitglied), beigebrachten Schriftstücks anhörten, welches den Titel trug: ,Spekulationen über die Quelle der Tümpel von Hampstead nebst einigen Bemerkungen zur Theorie der Stichlinge‘, und dass die Sitzungsteilnehmer hiermit dem besagten Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., ihren wärmsten Dank dafür aussprechen.“

Zweitens: „Dass die Sitzungsteilnehmer voll und ganz die Vorteile würdigen, welche der Wissenschaft gleichermaßen aus dem eben erwähnten Opus wie überhaupt aus den unermüdlichen Forschungen Samuel Pickwicks, Hochwohlgeb. HV. PKM., in Hornsey, Highgate, Brixton und Camberwell erwachsen müssen, und daher nicht umhin können, sich den unschätzbaren Gewinn lebhaft zu vergegenwärtigen, der sich aus einer Ausdehnung der Spekulationen dieses Gelehrten auf ein breiteres Feld, aus einer Erweiterung seiner Reisen und damit einer Vergrößerung seines Beobachtungsraumes zwangsläufig für den Fortschritt der Wissenschaft und die Verbreitung von Gelehrsamkeit ergeben würde.“

Drittens: „Dass die Sitzungsteilnehmer in der eben erwähnten Absicht einen Vorschlag ernstlich in Erwägung gezogen haben, der von besagtem Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., und drei anderen, nachstehend aufgeführten Pickwickiern ausging, nämlich, eine neue Unterabteilung der Vereinigten Pickwickier unter der Bezeichnung ,Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs‘ zu gründen.“

Viertens: „Dass der genannte Vorschlag die Unterstützung und Billigung der Sitzungsteilnehmer gefunden hat.“

Fünftens: „Dass daher die Korrespondierende Gesellschaft des Pickwick-Klubs hiermit konstituiert ist und dass Samuel Pickwick, Hochwohlgeb. HV. PKM., Tracy 554

Tupman, Hochwohlgeb. PKM., Augustus Snodgraß, Hochwohlgeb. PKM., und Nathanael Winkle, Hochwohlgeb. PKM., hiermit nach erfolgter Nominierung zu Mitgliedern derselben ernannt sowie ferner ersucht worden sind, von Fall zu Fall authentische Berichte über ihre Reisen und Untersuchungen, über ihre Beobachtungen der Sitten und Gebräuche wie auch über alle ihre Erlebnisse unter Beifügung sämtlicher Details und Belege, zu denen jeweils die örtliche Szenerie oder irgendwelche Ideenverbindungen Anlass geben sollten, an den in London residierenden Pickwick-Klub einzusenden.“

Sechstens: „Dass die Sitzungsteilnehmer aufrichtig den Grundsatz der Selbstfinanzierung der Korrespondierenden Gesellschaft hinsichtlich eigener Reisekosten anerkennen und nicht das Geringste dagegen einzuwenden haben, dass die Mitglieder der genannten Sektion unter dieser Bedingung ihre Forschungsreisen beliebig lange ausdehnen.“

Siebtens: „Dass den Mitgliedern der obenerwähnten Korrespondierenden Gesellschaft hiermit eröffnet wird und ist, dass ihr Vorschlag, die Postwertzeichen für ihre Briefe sowie die Portogebühren für ihre Pakete selbst zu bezahlen, von den Sitzungsteilnehmern reiflich erwogen worden ist und dass die Sitzungsteilnehmer zu dem Ergebnis kamen, dieser Vorschlag sei der großen Geister, die ihn aufbrachten, durchaus würdig, und dass sie sich hierdurch vorbehaltlos mit ihm einverstanden erklären.“

 

Ein nachlässiger Beobachter – so fügt der Schriftführer, dessen Aufzeichnungen wir den folgenden Bericht verdanken, hinzu –, ein nachlässiger Beobachter also hätte vielleicht nichts Außergewöhnliches an der Glatze gefunden, auch nicht an den kreisrunden Brillengläsern, die während der Verlesung obiger Resolutionen unverwandt auf sein (des Schriftführers) Gesicht gerichtet waren.

Für solche aber, die da wussten, dass Pickwicks gigantisches Hirn hinter dieser Stirn arbeitete und dass die strahlenden Augen Pickwicks hinter jenen Gläsern funkelten, war der Anblick wahrhaft fesselnd.

Da saß der Mann, der die gewaltigen Tümpel von Hampstead bis zu ihren Quellen erforscht und die wissenschaftliche Welt mit seiner Theorie der Stichlinge aufgewühlt hatte, da saß er so ruhig und unbewegt wie die tiefen Wasser der Erstgenannten an einem eiskalten Tag oder wie ein einsames Exemplar der Letzteren tief im Bauch eines irdenen Kruges.

Und um wie viel reizvoller wurde das Schauspiel noch, als seine Anhänger einstimmig in den Ruf „Pickwick“ ausbrachen, worauf Leben und Munterkeit in ihn fuhren und dieser erlauchte Mann gelassen den Lehnstuhl bestieg, auf dem er so lange gesessen hatte, und sich an den Klub wandte, der von ihm selbst gegründet worden war.

Welch eine Studie für einen Künstler bot diese erregende Szene dar! Pickwick in seiner Beredsamkeit, die eine Hand mit Grazie hinter seinem Rockschoß verbergend, die andere in der Luft schwenkend, um seinen begeisternden Vortrag noch lebendiger zu gestalten!

Seine exponierte Stellung enthüllte Röhrenhosen und Gamaschen, die wohl unbeachtet geblieben wären, wenn sie einen gewöhnlichen Menschen geziert hätten, die nun aber, da Pickwick seinerseits sie zierte (wenn wir uns des Ausdrucks bedienen dürfen), spontane Ehrfurcht und Hochachtung einflößten.

Rings um ihn die Männer, die sich freiwillig entschlossen hatten, die Gefahren seiner Reisen zu teilen, und daher auserwählt waren, auch den Ruhm seiner Entdeckungen mit ihm zu genießen.

Zu seiner Rechten saß Mr. Tracy Tupman; der allzu empfängliche Tupman, der stets die Weisheit und Erfahrung reiferer Jahre mit der Begeisterung und Glut des Jünglings verband, wenn es sich um die reizvollste und verzeihlichste aller menschlichen Schwächen handelte – um die Liebe. Die Jahre und das Wohlleben hatten seiner einst romantischen Gestalt einen größeren Umfang verliehen; die schwarzseidene Weste hatte sich immer mehr hervorgedrängt, Zoll für Zoll war die goldene Uhrkette dem Gesichtskreis Tupmans entrückt worden, nach und nach war das volle Kinn über die Grenzen der weißen Krawatte hinausgequollen, aber Tupmans Inneres hatte keine Veränderung erlitten: Bewunderung des schönen Geschlechts war immer noch seine Hauptleidenschaft.

Zur Linken seines großen Meisters saß der poetische Snodgraß und neben ihm Mr. Winkle, der Freund der Wälder und Jagden. Ersterer poetisch in einen Mantel gehüllt, dessen geheimnisvolles Blau von einem Kragen aus Kaninchenfell gekrönt wurde, während Letzterer in einem neuen grünen Jagdrock, einem gewürfelten schottischen Halstuch und enganliegenden Tuchbeinkleidern prangte.

Mr. Pickwicks Rede bei diesem Anlass sowie die darauffolgenden Debatten sind in den Protokollen des Klubs niedergelegt. Beide haben große Ähnlichkeit mit den Diskussionen anderer berühmter Körperschaften, und da es immer interessant ist, der Verwandtschaft zwischen den Äußerungen großer Männer nachzugehen, seien hier wenigstens die ersten Seiten erwähnt.

 

Mr. Pickwick bemerkte (so lautet die Darstellung des Schriftführers), dass der Ruhm jedermann besonders am Herzen läge. Seinem Freunde Snodgraß ginge es vor allem um dichterischen Ruhm; ebenso erstrebenswert wäre der Ruhm, Herzen zu erobern, für seinen Freund Tupman, und der Ehrgeiz, Ruhm zu ernten in den weidmännischen Bereichen zu Lande, zu Wasser und in der Luft wäre schier übermächtig in der Brust seines Freundes Winkle.

Er (Mr. Pickwick) wollte nicht ableugnen, dass auch auf ihn menschliche Leidenschaften und Gefühle gewissen Einfluss hätten (Beifall) – vielleicht sogar menschliche Schwächen (laute Zurufe: „Keinesfalls!“); aber er möchte doch annehmen, dass die Flamme der Selbstsucht, wenn sie je in seiner Brust aufloderte, mit Nachdruck von dem Wunsche erstickt würde, in erster Linie der Menschheit zu dienen. Lob und Preis dem Menschentum – das wäre der Fittich seines Geistes; Menschenliebe wäre für ihn die höchste Instanz. (Stürmischer Beifall.)

Er hätte einen gewissen Stolz empfunden – das gäbe er offen zu, und seine Feinde dürften nun darüber herfallen –, er hätte also einen gewissen Stolz empfunden, als er der Welt seine Stichlingstheorie eröffnet hätte; sie mochte nun anerkannt werden oder auch nicht. (Ein Ruf: „Das ist sie schon!“ und lauter Beifall.)

Er wollte der Versicherung des ehrenwerten Pickwickiers, dessen Stimme er soeben gehört hätte, Glauben schenken – also gut: Sie wäre anerkannt; aber wenn auch der Ruhm jener Abhandlung bis an die äußerste Grenze der Welt dringen sollte, so würde doch der Stolz, mit dem er auf die Autorschaft dieses Erzeugnisses blickte, nichts gegen das Gefühl des Stolzes sein, mit dem er in diesem, dem stolzesten Augenblick seines Daseins um sich blickte. (Beifall.)

Er wäre ja nur eine unscheinbare Person (Widerspruch); aber er könnte trotzdem nicht umhin, zu empfinden, dass man ihn zu einer sehr ehrenvollen und auch nicht ungefährlichen Sendung auserkoren hätte. Das Reisen wäre jetzt eine missliche Sache; zumal bei der notorischen Unzuverlässigkeit der Kutscher. Man brauchte sich nur umzublicken und die Vorfälle zu betrachten, die sich ringsumher ereigneten. Überall würden Wagen umgeworfen, Pferde gingen durch, Boote kippten um und Dampfkessel platzten. (Beifall – eine Stimme: „Nein!“)

Nein? (Beifall.) Das verehrliche Pickwick-Klub-Mitglied, das so laut „Nein!“ gerufen hätte, möchte doch vortreten und alles das leugnen, wenn es könnte! (Beifall.) Der da „Nein!“ gerufen hätte, sollte sich melden! (Enthusiastischer Beifall.)

Ob es womöglich ein erfolgloser und enttäuschter Mensch wäre, um den Ausdruck Kleinigkeitskrämer zu vermeiden (lauter Beifall), den die Eifersucht auf das – vielleicht unverdiente – Lob, das man seinen (Mr. Pickwicks) Untersuchungen gezollt hätte, und der Kummer über den Schimpf, den ihm seine eigenen läppischen Konkurrenzversuche eingebracht hätten, schließlich zu dieser ekelhaften und verleumderischen Art ...

Hier meldete sich Mr. Blotton (von Aldgate) unter Berufung auf die Geschäftsordnung zum Wort. Ob etwa der verehrliche Pickwickier auf ihn anspielen wollte? (Rufe: „Zur Geschäftsordnung!“ – „Hinsetzen!“ – „Ja!“ – „Nein!“ – „Weiter!“ – „Lass doch sein!“ und so weiter.)

Mr. Pickwick erklärte, er könnte es nicht über sich bringen, sich durch Geschrei unterkriegen zu lassen. Er hätte allerdings den ehrenwerten Herrn gemeint. (Große Aufregung.)

Mr. Blotton sagte, er hätte darauf weiter nichts zu erwidern, als dass er die unwahre und lächerliche Beschuldigung des ehrenwerten Vorredners mit tiefer Verachtung zurückweisen müsste. (Große Bewegung.) Der ehrenwerte Vorredner wäre ein Aufschneider. (Ungeheure Verwirrung und laute Rufe: „Zur Geschäftsordnung!“ und „Hinsetzen!“.)

Mr. A. Snodgraß meldete sich zum Wort. Er sähe sich genötigt, an den Vorsitzenden zu appellieren. („Hört!“) Er wünschte zu wissen, ob es geduldet werden könnte, dass dieser schmähliche Streit zwischen zwei Mitgliedern des Klubs fortgesetzt würde. („Hört, hört!“)

Der Vorsitzende gab hierauf seiner Überzeugung Ausdruck, dass der ehrenwerte Pickwickier den Ausdruck zurücknehmen würde, dessen er sich soeben bedient hätte.

Mr. Blotton erklärte, dies bei aller Achtung vor dem Vorsitzenden nicht tun zu wollen.

Der Vorsitzende hielt es darauf für seine Pflicht, den ehrenwerten Herrn direkt zu fragen, ob er sich des ihm entschlüpften Ausdrucks im landläufigen Sinne bedient hätte.

Mr. Blotton zögerte nicht im Geringsten, die Frage zu verneinen; er hätte das Wort lediglich in seiner pickwickischen Bedeutung gebraucht. („Hört, hört!“) Er fühlte sich verpflichtet, zu erklären, dass er persönlich die größte Hochachtung für den betroffenen ehrenwerten Herrn empfände. Als einen Aufschneider hätte er ihn lediglich in einer gewissen pickwickischen Perspektive betrachtet. („Hört, hört!“)

Mr. Pickwick fühlte sich durch die offene, aufrichtige und umfassende Erklärung seines verehrten Freundes vollkommen zufriedengestellt und erklärte gleichzeitig, dass auch seine eigenen Bemerkungen nur als Klubausdruck aufzufassen wären. (Beifall.)

Hier enden diese Eintragungen, und mit der Debatte geschah, nachdem sie zu einem so überaus befriedigenden und einleuchtenden Ergebnis geführt hatte, zweifellos das Gleiche.

Wir besitzen zwar keine offiziellen Berichte über die Tatsachen, welche der Leser im nächsten Kapitel verzeichnet finden wird, aber sie wurden sorgfältig aus Briefen und anderen handschriftlichen Dokumenten zusammengestellt, deren Echtheit genügend außer Zweifel steht, um ihre zusammenhängende Darstellung in erzählerischer Form zu rechtfertigen.

2. Kapitel

Die Reise des ersten Tages und die Abenteuer des ersten Abends nebst ihren Folgen

 

Eben war die pünktliche Helferin bei allem Tagewerk, die Sonne, aufgegangen und begann mit ihrem Schein den Morgen des dreizehnten Mai eintausendachthundertsiebenundzwanzig zu erhellen, als sich Mr. Samuel Pickwick gleich einer zweiten Sonne von seinem Lager erhob, das Fenster seines Schlafgemachs öffnete und auf die Welt zu seinen Füßen hinabblickte.

Goswellstreet lag unter ihm. Goswellstreet zu seiner Rechten, Goswellstreet zu seiner Linken – so weit das Auge reichte. Die andere Seite der Goswellstreet lag genau gegenüber.

„Beschränkt wie der Horizont jener Philosophen“, murmelte Mr. Pickwick, „die sich damit begnügen, die Dinge zu untersuchen, die vor ihnen liegen, ohne sich um die Wahrheiten zu kümmern, die dahinter liegen. Genauso gut könnte ich mich damit zufriedengeben, immer nur Goswellstreet zu begaffen, ohne mir die Mühe zu machen, die Gebiete zu ergründen, von denen sie rings umgeben ist.“

Nach dieser bewundernswerten Reflexion schlüpfte Mr. Pickwick in seine Kleider und packte zusätzliche Garderobe in seinen Mantelsack.

Große Männer sind hinsichtlich ihres Äußeren selten wählerisch. Die Tätigkeit des Rasierens, Ankleidens und Kaffeetrinkens war bald beendet, und eine Stunde später langte Mr. Pickwick, mit dem Mantelsack in der Hand, seinem Fernrohr in der Tasche des Überrocks und seinem Notizbuch in der Westentasche – also bereit zur Aufnahme aller merkwürdigen Entdeckungen –, bei Saint Martin le Grand an, wo die Droschken stehen.

„Fuhrwerk!“, rief Mr. Pickwick.

„Genau richtig, mein Herr!“, brüllte ein Prachtstück von Kerl in einer sackleinenen Jacke, mit einer gleichartigen Schürze und einem nummerierten Messingschild um den Hals ausgestattet, als wäre er einer Raritätensammlung entsprungen. Es war ein sogenannter Schlepper. „Genau richtig, mein Herr! Na los, erste Droschke ran!“

Gleich wurde die „erste Droschke“ aus dem Wirtshaus gezerrt, wo sie gerade ihre Morgenpfeife geraucht hatte, und Mr. Pickwick nebst Mantelsack im Wagen verstaut.

„Golden Croß“, befahl Mr. Pickwick.

„Wieder bloß ’n Schietkram, Tommy“, rief der Kutscher verdrießlich seinem Freund, dem Schlepper, zu, der ihm diesen Kunden zugewiesen hatte, und trieb sein Pferd an.

„Wie alt ist dieses Tier, mein Freund?“, fragte Mr. Pickwick und rieb sich mit dem Schilling, den er als Fahrgeld bereit hielt, die Nase.

„Zweiundvierzig“, entgegnete der Kutscher mit einem forschenden Blick auf seinen Passagier.

„Was?“, rief Mr. Pickwick und langte nach seinem Notizbuch.

Der Kutscher wiederholte seine Behauptung. Mr. Pickwick sah ihm scharf ins Gesicht, aber der Mann zuckte nicht mit der Wimper; daher notierte er unverzüglich das Faktum.

„Und wie lange halten Sie es eingespannt?“, forschte Mr. Pickwick weiter, um genauere Auskünfte zu erhalten.

„Zwei bis drei Wochen“, erwiderte der Mann.

„Wochen?“, sagte Mr. Pickwick erstaunt und griff wieder nah seinem Notizbuch.

„Es hat seinen Stall in Pentonwil“, bemerkte der Kutscher kaltblütig, „aber ich nehme es selten mit nach Hause, von wegen die Schwäche.“

„Wegen seiner Schwäche?“, wiederholte verblüfft Mr. Pickwick.

„Es fällt immer um, wenn’s aus dem Geschirr kommt“, fuhr der Kutscher fort, „aber wenn’s drin ist, so richtig festgewürgt, und ich halt die Zügel stramm, da kann’s ja nicht umkippen. Ich habe auch ’n paar mächtig breite Räder; sobald der Gaul sich rührt, laufen sie ihm nah, und vorwärts muss er, da hilft ihm alles nichts.“

Mr. Pickwick trug diese Äußerung wörtlich in sein Taschenbuch ein, in der Absicht, die Tatsache als ein einzigartiges Beispiel für die Zähigkeit der Pferde, selbst unter den kümmerlichsten Lebensverhältnissen, dem Klub mitzuteilen.

Die Eintragung war kaum beendet, da waren sie auch schon in Golden Croß. Der Kutscher sprang vom Bock und half Mr. Pickwick heraus; Mr. Tupman, Mr. Snodgraß und Mr. Winkle, die bereits sehnsüchtig auf ihren berühmten Meister gewartet hatten, umdrängten ihn bei der Begrüßung.

„Hier ist Ihr Fahrgeld“, sagte Mr. Pickwick und reichte dem Kutscher den Shilling; aber wie erstaunt war der Gelehrte, als dieser unberechenbare Mensch die Münze auf das Straßenpflaster warf und in blumigen Redewendungen um das Vergnügen bat, mit Mr. Pickwick um diesen Betrag boxen zu dürfen.

„Sie sind wohl toll?“, rief Mr. Snodgraß.

„Oder betrunken!“, meinte Mr. Winkle.

„Oder beides!“, sagte Mr. Tupman.

„Ran hier!“, rief der Droschkenkutscher und fuchtelte mit den Fäusten wie ein Uhrwerk. „Ran hier – alle vier Mann!“

„Das gibt ’n Fez!“, schrie ein halbes Dutzend Mietkutscher. „Nimm sie in die Mache, Sam!“ Und schon drängten sie sich vergnügt um die Gesellschaft.

„Was für ’n Skandal ist hier los, Sam?“, fragte ein Gentleman in schwarzen Kalikoärmeln.

„Skandal?“, wiederholte der Kutscher. „Zu was braucht er meine Nummer?“

„Ich habe Sie ja gar nicht nach Ihrer Nummer gefragt“, sagte Mr. Pickwick erstaunt.

„Na, zu was brauchen Sie sie denn?“, fragte der Kutscher.

„Aber ich weiß sie ja gar nicht“, antwortete Mr. Pickwick unwillig.

„Sollte man das glauben?“, sagte der Kutscher zu den Umstehenden. „Sollte man das glauben: Steigt doch da so ’n Spitzel in den Wagen und schreibt sich nicht bloß die Nummer auf, sondern obendrein noch jedes Wort, das man sagt – alles in seine Kladde.“ (Mr. Pickwick ging ein Licht auf: Das Notizbuch war gemeint.)

„Hat er tatsächlich?“, fragte ein anderer Kutscher.

„Klar, hat er“, antwortete der Erste, „und damit er mir noch fester am Kragen hat, besorgt er sich noch drei Zeugen, von wegen Beweise und so. Aber dem will ich’s geben, und wenn ich sechs Monate dafür kriege. Los, ran hier!“

Und schon warf der Kutscher, ohne die geringste Rücksicht auf sein Privateigentum, seinen Hut auf die Erde, schlug Mr. Pickwick die Brille aus dem Gesicht und ließ diesem Angriff sofort einen Schlag gegen Mr. Pickwicks Nase und einen weiteren gegen dessen Brust folgen. Ein dritter traf Mr. Snodgraß’ Auge und ein vierter zur Abwechslung Mr. Tupmans Weste. Dann tanzte der Kutscher auf der Straße herum, kam wieder auf den Bürgersteig zurück und beraubte Mr. Winkle durch einen harten Schlag gegen den Bauch völlig des Atems. All das geschah in kaum einem halben Dutzend Sekunden.

„Wo ist die Polizei?“ ,rief Mr. Snodgraß.

„Zerrt ihn unter die Pumpe!“, riet ein Pastetenverkäufer.

„Das sollen Sie mir büßen!“, keuchte Mr. Pickwick.

„Spitzel!“, brüllte die Menge.

„Ran hier!“, schrie der Droschkenkutscher, der während der ganzen Zeit ununterbrochen seine Boxübungen fortgesetzt hatte.

Die Menge hatte bisher untätig dagestanden und die Szene verfolgt; als sich aber die Kunde verbreitete, die Pickwickier sollten Spitzel sein, da begannen die Leute mit beachtlicher Lebhaftigkeit den Vorschlag des Pastetenverkäufers auf seine Zweckmäßigkeit zu erörtern, und man kann nicht ahnen, zu welchen Tätlichkeiten es noch gekommen wäre, wenn nicht ein neuer Ankömmling sich eingemischt und das Geplänkel überraschend beendet hätte.

„Was ist das hier für ’n Fez?“, fragte ein langer, schmächtiger junger Mann in einem grünen Rock, der ganz plötzlich aufgetaucht war.

„Spitzel!“, brüllte die Menge abermals.

„Wir sind keine“, ächzte Mr. Pickwick in einem Ton, der jeden Unbefangenen sofort überzeugen musste.

„Wirklich nicht? Tatsache? Wirklich nicht?“, fragte der junge Mann Mr. Pickwick, während er sich durch wohlgezielte Stöße mit den Ellenbogen in die Gesichter der Leute Bahn brach. Der Gelehrte legte in wenigen hastigen Worten den wahren Stand der Dinge dar.

„Na, dann kommen Sie“, sagte der Grünrock, der ununterbrochen redete, und zog Mr. Pickwick mit Gewalt hinter sich her. „Da, Nummer neunhundertvierundzwanzig, nimm dein Geld und pack dich – respektabler Herr – kenne ihn gut – ist ja Blödsinn, was du sagst – hierher, mein Herr! Und wo sind Ihre Freunde? – Alles nur Missverständnis, wie ich sehe – macht nichts – kommt schon mal vor – besten Familien – keine Lebensgefahr – Schwein muss der Mensch haben – ab dafür! – Starker Tobak – schätze die Sorte –verdammte Schurken.“

Mit solchen und ähnlichen abgebrochenen Sätzen, die er mit außerordentlicher Zungenfertigkeit heraussprudelte, führte der Fremde Mr. Pickwick und seine Jünger in die Gaststube eines Wirtshauses.

„He, Kellner!“, schrie der Fremde und läutete dabei heftig mit der Glocke, „Gläser her, Branntwein und Wasser, heiß, stark, süß, anständige Menge – Auge beschädigt, mein Herr? – Kellner! Rohes Rindfleisch für das Auge dieses Herrn! – Nichts besser als rohes Rindfleisch für eine Quetschung, mein Herr; kalter Laternenpfahl auch sehr gut, aber unbequem — verdammt unbequem, halbe Stunde auf offener Straße mit Auge am Laternenpfahl stehen – äh — aber sehr gut – hahaha!“

Und ohne auch nur Atem zu holen, schluckte der Fremde auf Anhieb einen Viertelliter der dampfenden Mischung und warf sich behaglich in einen Stuhl, als wäre nichts Unangenehmes vorgefallen.

Während sich die drei Jünger in Dankesbeteuerungen gegenüber ihrem neuen Bekannten ergingen, hatte Mr. Pickwick Muße, dessen Kleidung und äußere Erscheinung genauer in Augenschein zu nehmen.

Er war von mittlerer Statur, aber die Schmächtigkeit seines Körpers und die Länge seiner Beine ließen ihn viel größer erscheinen. Sein grüner Rock mochte zu jener Zeit, als die Schwalbenschwänze Mode waren, hübsch gewesen sein; er hatte aber augenscheinlich damals einem weit kleineren Manne gehört, da die verschmierten, fadenscheinigen Ärmel dem Fremden kaum bis zum Handgelenk reichten.

Er war bis ans Kinn zugeknöpft; dafür drohte jedoch sichtlich die Gefahr, dass die Rückennähte platzen könnten. Eine alte Krawatte zierte seinen Hals – aber keine Spur eines Hemdkragens war vorhanden.

Die knappen schwarzen Beinkleider zeigten da und dort glänzende Stellen und verrieten so, dass sie schon lange ihren Dienst leisteten. Sie waren straff über ein Paar geflickte Schuhe gezogen, um die schmutzigen weißen Strümpfe zu verbergen; aber ohne Erfolg.

Sein langes schwarzes Haar quoll in ungepflegten Locken zu beiden Seiten unter einem verdellten alten Hut hervor, und hin und wieder kam das nackte Handgelenk zwischen den Enden der Handschuhe und den Aufschlägen der Rockärmel zum Vorschein.

Das Gesicht war schmal und hager, aber ein unbeschreiblicher Ausdruck von zudringlicher Unverschämtheit und grenzenloser Selbstüberhebung sprach sich in der ganzen Erscheinung des Mannes aus.

So sah die Gestalt aus, die Mr. Pickwick durch seine Brille, die er glücklicherweise wiedergefunden hatte, musterte und der er sich jetzt – nachdem seine Freunde sich erschöpft hatten – mit den wärmsten und gewähltesten Dankesbeteuerungen für den soeben gewährten Beistand näherte.

„Gern geschehen“, schnitt ihm der Fremde kurz das Wort ab. „Kein Wort mehr – verdammter Kerl, der Droschkenkutscher. Nimmt’s mit fünfen auf – wäre ich Ihr Freund Grünrock gewesen – hol mich dieser und jener –hätte ihm den Kopf zerdroschen –ohne Umstände – Kellner, einen Schweinsrüssel – und den Pastetenmann dazu – nein, keinen Schinken.“

Diese zusammenhängende Rede wurde durch die Meldung des Rochester Postillions unterbrochen, dass der „Kommodore“ sogleich abfahren würde.

„Kommodore?“, rief der Fremde aufspringend. „Mein Wagen – eingeschrieben – Außensitz – zahlen Sie meinen Grog – kein Kleingeld – abgegriffenes Silber – die reinsten Hosenknöpfe – geht nicht – wie?“ Dabei schüttelte er pfiffig den Kopf.

Nun hatten zufällig Mr. Pickwick und seine Begleiter ebenfalls Rochester als erstes Reiseziel festgesetzt und kamen deshalb mit ihrem neuen Bekannten überein, dass sie die Rücksitze des Wagens nehmen wollten, wo sie alle nebeneinander Platz hätten.

„Rauf mit Ihnen“, sagte der Fremde und half Mr. Pickwick mit einer Hast auf die Kutsche, die der Würde des Gelehrten beträchtlich Abbruch tat.

„Kein Gepäck, Sir?“, fragte der Kutscher.

„Wer – ich? – Da, dieses Papierpaket – weiter nichts – das andere Gepäck ist zu Wasser fort – Kisten, zugenagelt und groß wie die Häuser – schwer, schwer, verdammt schwer“, erwiderte der Fremde und zwängte sein Paket, das verdächtig danach aussah, als enthielte es nur ein Hemd und ein Sacktuch, so gut es ging, in die Tasche.

„Achtung – Köpfe“, rief er gleich darauf, als sie unter einem niedrigen Torbogen durchfuhren. „Schauderhafter Durchlass – gefährliche Sache – vorgestern – fünf Kinder – Mutter – große Dame, aß Sandwiches – denkt nicht an den Bogen – Krach – Bumm – Kinder sehen sich um – Mutter ohne Kopf – Sandwich in der Hand – keinen Mund, um ihn hineinzustecken – Haupt der Familie tot – scheußliche Geschichte. Sehen Sie dort Whitehall, Sir? Schöner Ort – kleines Fenster – auch dort jemand Kopf verloren – Karl der Erste nämlich. – Nahm sich auch nicht genug in Acht – was meinten Sie, Sir?“

„Ich dachte soeben“, sagte Mr. Pickwick, „über die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge nach.“

„Ja, ja. Karl der Erste – heute zur Tür des Palastes hinein – morgen durchs Fenster hinaus, aufs Schafott. – Philosoph, Sir?“

„Hm, ja. Ein Beobachter der menschlichen Natur, Sir“, versetzte Mr. Pickwick.

„So? – Ich auch. – Die meisten Leute sind’s, wenn sie wenig zu tun und noch weniger zu leben haben. – Poet, Sir?“

„Mein Freund, Mr. Snodgraß, hat eine starke poetische Ader.“

„So? – Ich auch. – Episches Gedicht – zehntausend Verse – Julirevolution – an Ort und Stelle verfasst – Mars bei Tag, Apollo bei Nacht – Kanonendonner – Geistesblitze.“

„Sie waren bei jenem glorreichen Schauspiel anwesend, Sir?“, fragte Mr. Snodgraß.

„Anwesend?“, wiederholte der Grünrock. „Will’s meinen (ein beachtliches Beispiel für den prophetischen Gehalt der Imagination des Fremden: Diese Unterhaltung fand im Jahre 1827 statt, die Revolution erst 1830) – feuerte drauflos — Idee durch den Kopf geschossen – rasch in ein Weinhaus – schrieb sie nieder – wieder zurück – Schuss auf Schuss – eine andere Idee – abermals ins Weinhaus – Feder und Tinte – aufs Neue zurück – gestochen und gehauen – großartige Zeit, Sir. – Jagdliebhaber, Sir?“, wandte er sich plötzlich an Mr. Winkle.

„Ein wenig, Sir.“

„Feiner Sport, Sir, feiner Sport. Hunde, Sir?“

„Zur Zeit nicht“, entgegnete Mr. Winkle.

„Ah, Sie sollten Hunde halten – herrliche Tiere – schlaue Geschöpfe – hatte selbst einmal einen – Hühnerhund – merkwürdiger Instinkt – gehe eines Tages auf den Anstand – trete in eine Umzäunung – pfeife – Hund wie festgenagelt – pfeife wieder – ,Ponto!‘ Rührt sich nicht. – Rufe noch mal: – ,Ponto! Ponto!‘ – Rührt sich nicht – wie festgewurzelt – stiert auf ein Brett – sehe auf und lese die Inschrift: ,Der Wildhüter hat Befehl, alle Hunde, die er im Bereich dieser Umzäunung antrifft, totzuschießen.‘ – Wundervoller Hund, unschätzbarer Hund – kolossal.“

„In der Tat, einzig in seiner Art“, sagte Mr. Pickwick „Würden Sie gestatten, dass ich mir das notiere?“

„Gewiss, Sir, gewiss. Können noch hundert Geschichten von demselben Tier haben. – Schöne Mädchen, Sir!“

„Sehr schöne“, bestätigte Mr. Tupman, der soeben einer vorübergehenden jungen Dame einige nicht eben pickwickische Blicke zugeworfen hatte.

„Englische Mädchen nicht so schön wie spanische – edle Gestalten – pechschwarzes Haar – dunkle Augen – liebliche Formen – süße Geschöpfe – bezaubernd.“

„Sie sind in Spanien gewesen, Sir?“

„Hm – lebte dort – halbes Menschenalter.“

„Viele Eroberungen gemacht, Sir?“, fragte Mr. Tupman weiter.

„Eroberungen? – Tausende. – Don Bolaro Fizzgig – Grande – einzige Tochter – Donna Christina – prachtvolles Geschöpf – verliebt in mich bis zum Wahnsinn – eifersüchtiger Vater – hochherzige Tochter – schöner Engländer – Donna Christina in Verzweiflung – Blausäure – Magenpumpe im Mantelsack – Operation glücklich durchgeführt – der alte Bolaro außer sich vor Entzücken – willigte in unsere Verbindung – Händedrücke und Tränenströme – romantische Geschichte – kolossal.“

„Ist die Dame jetzt in England, Sir?“, fragte Mr. Tupman, auf den die Schilderung der Reize Donna Christinas einen mächtigen Eindruck gemacht hatte.

„Tot, Sir, tot“, sagte der Fremde und drückte den spärlichen Überrest eines uralten Baumwollschnupftuches an sein rechtes Auge. „Nie ganz genesen, trotz der Magenpumpe – untergrabene Konstitution – Opfer geworden.“

„Und ihr Vater?“, fragte der poetische Snodgraß.

„Elend und Gewissensbisse. – Plötzlich verschwunden – Stadtgespräch – Nachforschungen überall – erfolglos – öffentlicher Brunnen auf dem Hauptplatze hört auf zu springen – Wochen vergehen – immer noch kein Wasser – Arbeiter kommen – schöpfen aus – finden meinen Schwiegervater mit dem Kopf in der Hauptröhre stecken, mit einem ausführlichen Bekenntnis in seinem rechten Stiefel – ziehen ihn heraus. – Brunnen springt wieder – wie früher.“

„Würden Sie mir gestatten, Sir, diesen kleinen Roman niederzuschreiben?“, fragte Mr. Snodgraß, tief ergriffen.

„Gewiss, Sir, gewiss – noch fünfzig andre, wenn Sie sie hören wollen. – Ein seltsames Leben geführt – merkwürdige Geschichte – nicht ungewöhnlich, aber höchst interessant.“

An diesem Faden spann der Fremde –nur hin und wieder ein Glas Bier einschaltend, wenn die Pferde gewechselt wurden – so lange weiter, bis sie die Rochesterbrücke erreichten; und bereits zu diesem Zeitpunkt hatten Mr. Pickwick und Mr. Snodgraß ihre Notizbücher mit ausgewählten Partien seiner Abenteuer restlos vollgeschrieben.

„Großartige Ruine!“, rief Mr. Augustus Snodgraß mit der poetischen Glut, der er seinen Dichterruhm verdankte, als sie des schönen alten Schlosses ansichtig wurden.

„Welch herrliche Gelegenheit für einen Altertumsforscher!“, ließ sich Mr. Pickwick vernehmen, als er sein Fernrohr ans Auge gebracht hatte.

„Hm, schöner Platz“, sagte der Fremde. – „Glorioses Gebäude – zürnende Mauern –wankende Bogen – dunkle Nischen – krachende Stiegen – ehrwürdiger Dom – dumpfer Geruch – alte Stufen – ausgehöhlt von den Tritten der Pilgrime – kleine sächsische Türen – Beichtstühle wie Theaterkassenlogen – wunderliche Käuze, diese Mönche – Päpste, Lordschatzmeister und alle Arten alter Burschen mit großen roten Gesichtern und abgebrochnen Nasen – alle Tage zu sehen – auch Koller von Büffelhaut – Luntengewehre – Sarkophage – herrlicher Ort – alte Legenden – wunderliche Historien – kolossal.“

Der Fremde fuhr in diesem Selbstgespräch fort, bis sie das „Wirtshaus zum Ochsen“ in Highstreet erreichten und haltmachten.

„Bleiben Sie hier, Sir?“, fragte Mr. Nathanael Winkle.

„Hier? – Ich nicht – aber Sie werden gut daran tun – gutes Haus – famose Betten – Wrights Hotel nebenan teuer – sehr teuer – ’ne halbe Krone auf der Rechnung, wenn Sie den Kellner nur ansehen – fordern Ihnen noch mehr ab, wenn Sie zu einem Freunde essen gehen – verwünschte Kerle – toll.“

Mr. Winkle beugte sich zu Mr. Pickwick hinüber und flüsterte ihm einige Worte zu. Mr. Pickwick besprach sich leise

mit Mr. Snodgraß, und Mr. Snodgraß mit Mr. Tupman. Allgemeines Einverständnis und beifälliges Kopfnicken. Dann wandte sich Mr. Pickwick zu dem Fremden.

„Sie haben uns diesen Morgen einen sehr wesentlichen Dienst geleistet, Sir. Würden Sie uns vielleicht gestatten, Ihnen einen kleinen Beweis unsrer Dankbarkeit zu liefern, indem wir Sie um die Ehre Ihrer Gesellschaft bei Tisch bitten?“

„Mit größtem Vergnügen – will natürlich nichts vorschreiben, aber Geflügel und Champignons – kapitale Sache! – Welche Zeit?“

„Sagen wir einmal …“, Mr. Pickwick zog seine Uhr zu Rate, „es ist jetzt bald drei Uhr; passt Ihnen fünf Uhr?“

„Würde mir sehr passen“, entgegnete der Fremde. „Also präzis fünf Uhr – habe die Ehre bis dahin.“

Er lüftete seinen zerdrückten Hut einige Zoll, setzte ihn nachlässig wieder aufs Ohr und begab sich dann mit seinem Papierpaket eiligen Schrittes auf die Straße.

„Augenscheinlich ein weitgereister Mann und ein trefflicher Beobachter“, sagte Mr. Pickwick.

„Ich hätte gern sein Epos gelesen“, meinte Mr. Snodgraß.

„Und ich seinen Hund gesehen“, sagte Mr. Winkle.

Mr. Tupman sagte nichts, aber er dachte an Donna Christina, die Magenpumpe und den Springbrunnen, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

Die Herren ließen sich ein gemeinsames Wohnzimmer geben, prüften ihre Schlafzimmer, bestellten ein, Mittagessen und verließen sodann den Gasthof, um sich die Stadt und ihre Umgebung anzusehen.

Nach sorgfältiger Durchsicht der Notizen Mr. Pickwicks finden wir, dass seine Bemerkungen über die vier Städte Stroud, Rochester, Chatham und Brompton sich von denen andrer Reisenden, die gleichfalls diese Orte besucht haben, nicht wesentlich unterscheiden. Wir können daher eine allgemeine Übersicht seiner Schilderungen geben.

„Die Haupterzeugnisse dieser Städte“, sagte Mr. Pickwick, „scheinen Soldaten, Matrosen, Juden, Kreide, Garnelen, Polizeimänner und Dockarbeiter zu sein. Die Haupthandelsartikel, die man in den Straßen ausgestellt sieht, sind Seemannsartikel, Zwieback, Äpfel, Seezungen und Austern. Die Straßen bieten einen sehr belebten Anblick, besonders infolge der gehobenen Stimmung des Militärs. Es ist wahrhaft entzückend für das Herz eines Philanthropen, diese Braven begeistert umhertorkeln zu sehen, besonders wenn wir in Betracht ziehen, dass es den ihnen nachziehenden Gassenjungen eine wohlfeile, unschuldige Unterhaltung und Anlass zu Scherz und Fröhlichkeit bietet.

Nichts“, setzt Mr. Pickwick hinzu, „kommt der Gutmütigkeit eines Soldaten gleich. So wurde am Tage vor meiner Ankunft ein solcher in dem Hause eines Gastwirts gröblich beleidigt. Das Schenkmädchen weigerte sich nämlich entschieden, ihm noch weiter Branntwein zu geben, und er zog – natürlich nur im Scherze – das Bajonett und verwundete das Mädchen damit an der Schulter. Und doch war dieser brave Bursche der Erste, der am nächsten Morgen wieder im Hause erschien und dadurch bewies, dass er geneigt sei, den ihm zugefügten Schimpf zu übersehen und den Vorfall zu vergessen.

Der Verbrauch von Tabak“, fährt Mr. Pickwick fort, „muss in diesen Städten sehr groß sein, wie auch sein Geruch, der die Straßen erfüllt, allen denen, die das Rauchen lieben, ungemein angenehm sein muss. Ein oberflächlicher Beobachter würde sich vielleicht über den herrschenden Schmutz beschweren; wenn man jedoch ins Auge fasst, dass dieser nur ein Beweis für den lebhaften und blühenden Handelsverkehr ist, so kann man sich natürlich nur darüber freuen.“

 

Punkt fünf Uhr erschien der Fremde und bald darauf das Essen. Er hatte sich seines Papierpaketes entledigt, aber sein Anzug war unverändert; auch war er womöglich noch redseliger als am Morgen.

„Was ist das?“, fragte er, als der Kellner den Deckel von einer der Schüsseln entfernte.

„Seezungen, Sir.“

„Seezungen – ah! – Kapitale Fische – kommen alle von London – Postwageneigentümer geben politische Diners – Wagen voll Seezungen – Dutzende von Körben – pfiffige Burschen. Glas Wein, Sir?“

„Bitte sehr“, sagte Mr. Pickwick.

Zuerst trank der Unbekannte mit Mr. Pickwick, dann mit Mr. Snodgraß, dann mit Mr. Tupman, dann mit Mr. Winkle und schließlich auf die Gesundheit der ganzen Gesellschaft, alles fast ebenso schnell hintereinander, wie er sprach.

„Teufelslärm auf der Treppe, Kellner“, sagte er. „Bänke hinauf – Zimmerleute herunter – Lampen, Gläser, Harfen. – Was gibt’s denn?“

„Ball, Sir“, antwortete der Kellner.

„Assemblee – wie?“

„Nein, Sir, keine Assemblee; Ball für wohltätige Zwecke, Sir.“

„Wissen Sie nicht, Sir, ob hier in der Stadt viele schöne Frauen sind?“, fragte Mr. Tupman angelegentlich.

„Prächtig – fabelhaft. Kent, Sir, Kent ist weltberühmt; Äpfel, Kirschen, Hopfen und Frauen. – Glas Wein, Sir?“

„Bitte sehr.“

Der Fremde füllte und leerte sein Glas.

„Ich würde ganz gern mit dabeisein“, sagte Mr. Tupman, dem der Ball nicht aus dem Kopf ging.

„Eintrittskarten zu einer halben Guinee beim Wirt, Sir“, mischte sich der Kellner ein.

Mr. Tupman drückte wiederholt seinen Wunsch aus, der Festlichkeit beizuwohnen, machte sich aber, da er in dem umflorten Blick Mr. Snodgraß und in den in Gedanken verlorenen Mienen Mr. Pickwicks keinem Verständnis begegnete, mit großem Eifer über den Portwein und das Dessert her.

Der Kellner entfernte sich, und die Gesellschaft blieb allein, um die der Mahlzeit folgenden Stunden in traulicher Unterhaltung zu verbringen.

„Sie entschuldigen, Sir“, sagte der Fremde. „Flasche ruht – muss kreisen – der Sonne gleich – bis zum letzten Tropfen – keine Restchen.“

Wieder leerte er sein Glas, das er kaum zwei Minuten zuvor gefüllt hatte, und schenkte sich mit der Miene eines an Wein gewöhnten Mannes aufs Neue ein.

Die Flasche machte die Runde, und bald wurde eine neue bestellt. Der Fremde schwatzte, und die Pickwickier hörten zu. Mr. Tupman fühlte sich mit jedem Augenblick mehr geneigt, den Ball zu besuchen. Mr. Pickwicks Gesicht erglühte in einem Ausdruck alles umfassender Menschenliebe, und Mr. Winkle und Mr. Snodgraß sanken in festen Schlaf.

„Oben fangen sie bereits an“, sagte der Fremde. „Hören Sie? – Geigenklänge – jetzt die Harfe – es geht los.“ Musik tönte durch das Haus und verkündete den Beginn der ersten Quadrille.

„Ich ginge gar zu gerne“, begann Mr. Tupman abermals.

„Ich auch“, versetzte der Fremde. „Verdammtes Gepäck – langweiliges Gezottel – keinen passenden Anzug – ärgerlich, nicht wahr?“

Nun gehörte zu den Grundzügen der Pickwick-Theorie unter anderem auch allumfassendes Wohlwollen, und niemand erwies sich eifriger in der Befolgung dieses edlen Grundsatzes als Mr. Tracy Tupman. Die Zahl der in den Protokollen der Gesellschaft verzeichneten Fälle, in denen dieser vortreffliche Mann Hilfsbedürftige zu anderen Klubmitgliedern nach Geldunterstützung oder abgelegten Kleidern geschickt hat, ist fast unglaublich.

„Ich würde mich glücklich schätzen, Ihnen zu diesem Zwecke einen Anzug borgen zu können“, sagte er, „aber Sie sind ziemlich schlank und ich …“

„Bisschen fett – ein echter Bacchus – ohne Kranz – vom Fass gestiegen und in Tuchhosen geschlüpft. – Haha! – Geben Sie mal die Flasche rüber.“

Ob Mr. Tupman ein wenig indigniert über den befehlenden Ton war, oder ob er als eines der bedeutendsten Pickwick-Klub-Mitglieder sich durch den respektlosen Vergleich mit einem unberittenen Bacchus verletzt fühlte, ist ein Faktum, das sich heute nicht mehr mit Sicherheit ermitteln lässt. Jedenfalls reichte er die Flasche hinüber, hustete ein paar Mal und sah den Fremden einige Sekunden mit finsterem Gesichte an. Als er jedoch bemerkte, dass sich dieser durch seine Blicke nicht im Geringsten beirren ließ, gewannen seine Züge allmählich ihren milderen Ausdruck wieder, und er brachte aufs Neue den Ball zur Sprache.

„Ich wollte bemerken, Sir“, sagte er, „dass, wenn auch mein Anzug Ihnen zu weit ist, Ihnen doch vielleicht der meines Freundes Mr. Winkle besser passen würde.“

Der Fremde maß Mr. Winkle mit den Augen, und seine Züge erglänzten von Zufriedenheit.

„Wie angegossen.“

Mr. Tupman sah sich um. Der Wein, der bereits an Mr. Snodgraß und Mr. Winkle seine schlafbringende Wirkung geübt, hatte sich auch der Sinne Mr. Pickwicks bemächtigt. Allmählich hatte der würdige Gentleman die verschiedenen Stadien durchlaufen, die der durch eine reichliche Mahlzeit veranlassten Lethargie und ihren Folgen vorangehen, von dem Gipfelpunkt der Heiterkeit bis zu der Abgrundtiefe geistigen Elends, und wieder zurück. Wie eine Glaslampe im Freien, mit Luft in der Röhre, hatte er für einen Augenblick einen unnatürlichen Glanz verbreitet, dann war sein Licht zu einem kaum sichtbaren Flämmchen zusammengeschrumpft, das nach einer Weile für einen Moment wieder mit irrem und unsicherem Scheine aufflackerte, um schließlich ganz zu erlöschen. Sein Kopf war auf die Brust herabgesunken, und ein beständiges Schnarchen, gelegentlich durch einen Erstickungsanfall unterbrochen, war das einzig hörbare Anzeichen der Anwesenheit des großen Mannes.

Die Versuchung, den Ball zu besuchen und die ersten Eindrücke der Schönheit der Kenter Damen zu genießen, übte gewaltigen Einfluss auf Mr. Tupman aus, und nicht minder groß war die Versuchung, den Fremden mitzunehmen, zumal er Ort und Einwohner so gut zu kennen schien, als ob er von Kindheit auf daselbst gelebt hätte. Mr. Winkle schlief, und Mr. Tupman wusste aus Erfahrung, dass sein Freund beim Erwachen sofort schwer ins Bett sinken würde. Er schwankte noch.

„Schenken Sie sich ein und geben Sie die Flasche herüber“, mahnte der unermüdliche Gast.

„Winkle und ich schlafen zusammen. Wenn ich ihn jetzt weckte, könnte ich ihm nicht gut begreiflich machen, was ich von ihm will; aber er hat einen Abendanzug in seinem Gepäck“, begann Mr. Tupman nach einer Weile. „Ich denke, Sie könnten ihn ganz gut auf dem Ball tragen; ich brächte ihn nachher wieder an Ort und Stelle, ohne dass er überhaupt etwas von der Sache erführe.“

„Glänzend!“, meinte der Fremde. „Famose Idee – verdammt verdrießliche Lage – vierzehn Röcke in den Kisten – und jetzt fremde Kleider anziehen müssen – sehr guter Gedanke das – gewiss.“

„Wir müssen aber jetzt unsre Eintrittskarten lösen“, sagte Mr. Tupman.

„Nicht der Mühe wert, Guinee zu halbieren. – Wollen losen, wer für beide zahlt. – Ich rate – Sie werfen. Also: – Frauenzimmer – Frauenzimmer – holdes Frauenzimmer.“

Das Goldstück fiel nieder, und der Drache, aus Galanterie Frauenzimmer genannt, kam nach oben zu liegen.

Mr. Tupman klingelte, kaufte die Karten und ließ Kerzen bringen. In einer Viertelstunde war der Fremde mit Nathanael Winkles Kleidern ausstaffiert.

„Es ist ein neuer Frack“, erklärte Mr. Tupman, als sich der Fremde mit großer Selbstgefälligkeit in einem Ankleidespiegel betrachtete. „Der erste, der mit unsern Klubknöpfen gemacht wurde.“ Er zeigte auf die vergoldeten Knöpfe, die die Buchstaben P. K. und dazwischen Mr. Pickwicks Brustbild aufwiesen.

„P. K.?“, sagte der Fremde. – „Schnurriger Einfall – Bild des alten Knaben und P. K.? – Was bedeutet P. K.? – Seltsamer Frack – wie?“

Mr. Tupman erklärte mit steigendem Unwillen und großer Wichtigkeit die Bedeutung der geheimnisvollen Devise.

„Etwas kurz in der Taille – nicht?“, meinte der Fremde und verrenkte sich, um im Spiegel einen Blick auf die rückwärtigen Knöpfe zu erhaschen, die allerdings so ziemlich zwischen den Schulterblättern saßen. „Gerade wie eine Briefträgerjacke – wunderliche Fräcke das – statutenmäßig angefertigt – kein Maß genommen – geheimnisvolle Schickung der Vorsehung. – Alle kleinen Leute kriegen lange Röcke – alle großen kurze.“

So schwatzte der Fremde weiter, stutzte dabei seine – oder vielmehr Mr. Winkles – Garderobe zurecht und ging, von Mr. Tupman begleitet, die Treppe hinauf, die in den Ballsaal führte.

„Ihre Namen, meine Herren?“, fragte der Türsteher.

Mr. Tupman wollte vortreten, um seinen Namen und Titel anzugeben, aber der Fremde hinderte ihn daran.

„Nein. Keine Namen, ganz gute Namen – aber nicht bekannt – nicht berühmt genug – ganz famose Namen für eine kleine Reisegesellschaft, machen aber keinen Eindruck in öffentlichen Assemblees – inkognito besser – Herren aus London – distinguierte Fremde oder so.“

 

Die Tür wurde geöffnet: Mr. Tracy Tupman und der Fremde betraten den Ballsaal.

Es war ein langer Raum mit scharlachrot ausgeschlagnen Bänken, der durch Wachskerzen in gläsernen Wandleuchtern erhellt wurde. Für die Musik war eine erhöhte Tribüne aufgeschlagen, und die Quadrillen wurden von zwei oder drei Reihen von Tänzern gewissenhaft absolviert. Zwei Spieltische standen in einem anstoßenden Zimmer, und zweimal zwei alte Damen mit einer entsprechenden Anzahl Herren saßen beim Whist.

Die Tour war zu Ende; die Tänzer und Tänzerinnen promenierten im Saale, und Mr. Tupman pflanzte sich mit seinem Gefährten in einer Ecke auf, um die Gesellschaft zu beobachten.

„Entzückende Weiber“, meinte er.

„Warten Sie noch ein Weilchen“, sagte der Fremde. „Wird gleich lustiger. – Beste Gesellschaft fehlt noch – kurioses Nest – oberste Arsenalbeamten kennen nicht die untern – untere Arsenalbeamte nicht die niedern Patrizier – niedere Patrizier nicht die Kaufleute – Bezirkshauptmann kennt keinen Menschen.“

„Was ist das für ein junger Mensch, der dort, mit dem blonden Haar, den kleinen Augen und dem bunten Frack?“, fragte Mr. Tupman.

„Pst, bitte – kleine Augen? – Bunter Frack? – Junger Mensch? – Fähnrich im siebenundneunzigsten Regiment. Wilmot Snipe Wohlgeboren – vornehme Familie – die Snipes – sehr vornehm.“

„Sir Thomas Clubber, Lady Clubber und Fräulein Töchter!“, rief der Türsteher mit Stentorstimme.

Große Sensation: Ein hochgewachsener Gentleman in blauem Frack mit blanken Knöpfen, begleitet von einer großen Dame in blauem Atlaskleid und zwei jungen Damen in sehr modernen Roben in derselben Farbe, trat in den Saal.

„Bezirkshauptmann – großes Tier – höchst bedeutender Mann“, flüsterte der Fremde Mr. Tupman ins Ohr, als der Wohltätigkeitsausschuss Sir Thomas Clubber nebst Familie nach dem obern Teil des Saales führte.

Wilmot Snipe, Wohlgeboren, nebst, andern Gentlemen der besten Gesellschaft drängten sich an die Misses Clubber heran, um ihnen ihre Huldigungen darzubringen, und Sir Thomas Clubber stand bolzengerade da und betrachtete über sein schwarzes Halstuch hinweg die versammelte Gesellschaft.

„Mr. Smithie, Mrs. Smithie und Fräulein Töchter!“, lautete die nächste Meldung des Türstehers.

„Wer ist Mr. Smithie?“, fragte Mr. Tracy Tupman.

„Irgendein Arsenalbeamter“, antwortete der Fremde.

Mr. Smithie verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Sir Thomas Clubber, und Sir Thomas Clubber erwiderte den Gruß mit stolzer Herablassung. Lady Clubber belorgnettierte Mrs. Smithie nebst Familie, während Mrs. Smithie ihrerseits eine Mrs. Soundso anstarrte, deren Gatte nicht Arsenalbeamter war.

„Oberst Bulder nebst Frau Gemahlin und Fräulein Tochter“, waren die nächsten Ankömmlinge.

„Garnisonskommandant“, beantwortete der Fremde Mr. Tupmans fragenden Blick.

Miss Bulder wurde sehr warm von den Misses Clubber bewillkommnet, und auch zwischen der Frau Oberst und Lady Clubber fand eine über alle Beschreibung zärtliche Begrüßung statt. Oberst Bulder und Sir Thomas Clubber boten sich gegenseitig ihre Dosen an und sahen ganz wie ein Paar Robinson Crusoes aus – Alleinherrscher auf einer menschenleeren Insel.

Während die Aristokratie der Stadt – nämlich die Bulders, Clubbers und Snipes – in dieser Weise ihre Würde oben im Saal wahrte, ahmten die übrigen Klassen der Gesellschaft ihr Beispiel in den andern Teilen nach. Die weniger noblen Offiziere des Siebenundneunzigsten widmeten sich den Familien der untergeordneten Arsenalbeamten. Die Frauen der Anwälte und Weinhändler standen an der Spitze einer dritten Kaste (die Frau des Brauers machte den Bulders einen Besuch), und Mrs. Tomlinson, die Gattin des Posthalters, schien durch stillschweigende Übereinkunft das Haupt der Frauen aus dem Handelsstande zu repräsentieren.

Eine der populärsten Personen war ein kleiner dickbäuchiger Herr mit einem in die Höhe gestrichnen Kranz von schwarzen Haaren, der eine ungeheure Glatze umgab – Dr. Slammer, Regimentsarzt beim Siebenundneunzigsten. Der Doktor schnupfte mit jedermann, lachte, tanzte, machte Witze, spielte Whist, kurz, tat alles und war überall. Aber noch viel wichtiger als dies alles nahm der kleine Doktor seine unablässigen Huldigungsakte vor einer kleinen alten Witwe, deren kostbares, mit Schmuck überladenes Kleid sie als eine äußerst wünschenswerte Zugabe zu einem magern Einkommen kennzeichnete.

„Klotzig reich – heiratslustige Alte – windbeuteliger Doktor – kein übler Gedanke – Mordsspaß.“

Mr. Tupman sah den Fremden fragend an.

„Will mit der Witwe tanzen“, sagte der Fremde.

„Wer ist sie?“, fragte Mr. Tupman.

„Weiß nicht – in meinem Leben nie gesehen – den Doktor ausstechen. – Mal sehen.“

Der Fremde ging quer durch den Saal, lehnte sich an das Kaminsims und begann, der fetten, kleinen alten Dame Blicke ehrfurchtsvoller und melancholischer Bewunderung zuzuwerfen. Mr. Tupman sah in stummem Erstaunen zu.

Der Fremde machte, während der kleine Doktor mit einer andern Dame tanzte, reißende Fortschritte. Die Witwe ließ ihren Fächer fallen; der Fremde hob ihn auf, überreichte ihn. – Ein Lächeln – eine Verbeugung – ein Knicks – einige verbindliche Worte, dann ging er keck auf den Festordner los, kehrte mit ihm zurück – eine kleine einleitende Pantomime –, und schon trat er mit Mrs. Budger in die Quadrille ein.

So groß auch Mr. Tupmans Verwunderung über dieses summarische Verfahren war, so wurde sie doch durch die des Doktors bei Weitem übertroffen. Der Fremde war jung, und die Witwe fühlte sich geschmeichelt. Des Doktors Aufmerksamkeiten blieben fortan unbeachtet und seine entrüsteten Blicke machten auf seinen unerschütterlichen Nebenbuhler nicht den geringsten Eindruck.

Dr. Slammer war außer sich. Er, der Dr. Slammer, Regimentsarzt vom Siebenundneunzigsten, im Augenblick ausgelöscht von einem Menschen, den niemand zuvor gesehen und von dem man auch jetzt noch nicht wusste, wer er war! Dr. Slammer, Dr. Slammer vom Siebenundneunzigsten, verschmäht! Unmöglich! Es konnte nicht sein!

Und doch war es so. Da standen sie. Was, er stellte ihr sogar seinen Freund vor? Dr. Slammer wollte seinen Augen nicht trauen. Abermals sah er hin und fühlte die schmerzliche Notwendigkeit, sich einzugestehen, dass ihn seine Sehorgane nicht betrogen. Mrs. Budger tanzte mit Mr. Tracy Tupman, da war kein Irrtum mehr möglich.

Ja, es war leibhaftig die Witwe, die da mit ungewöhnlicher Leichtigkeit an ihm vorbeihüpfte, und Mr. Tracy mit der allerfeierlichsten Miene desgleichen, und sie tanzten, als sei eine Quadrille nichts Belustigendes, sondern eine Feuerprobe des Herzens, die größte Standhaftigkeit heischte.

Stumm und geduldig ertrug der Doktor all das, wie auch das darauf folgende Präsentieren von Glühwein und Konfekt nebst dem Kokettieren, das von solchen Aufmerksamkeiten untrennbar ist.

Als jedoch der Fremde verschwand, um Mrs. Budger zu ihrem Wagen zu geleiten, stürzte Dr. Slammer rasch aus dem Saal, und jedes Teilchen seines bisher eingestöpselten Grimmes brauste auf und trat ihm in großen Schweißtropfen auf die zornrote Glatze.

Der Fremde kehrte mit Mr. Tupman zurück. Er sprach leise und lachte. Der kleine Doktor dürstete nach seinem Blute. Offenbar fühlte sich sein Nebenbuhler als Sieger und frohlockte darüber!

„Sir!“, sagte der Doktor mit furchtbarer Stimme, trat in die Ecke zu seinem Gegner und zog eine Karte hervor. „Mein Name ist Slammer, Dr. Slammer – beim siebenundneunzigsten Regiment – Chathamkaserne. – Hier meine Karte, mein Herr.“

„Ah“, entgegnete der Fremde kaltblütig, „Slammer – sehr verbunden – ungemein aufmerksam – jetzt nicht krank. – Slammer – werde im Bedarfsfall nach Ihnen schicken.“

„Sie – Sie sind ein Intrigant, mein Herr“, keuchte der Doktor wütend. „Ein Hasenfuß – eine Memme – ein – Lügner – ein – ein … Werden Sie mir nicht endlich Ihre Karte geben, Sir?“

„Aha – starker Glühwein hier – gutmütiger Wirt – sehr töricht, sehr – Limonade viel besser – zu heiß im Saal – ältere Herren – haben dann morgen Katzenjammer – böse Sache“, sagte der Fremde und machte Miene, sich zu entfernen.

„Sie wohnen hier im Hause, Sir“, knirschte der zornige kleine Mann. „Sie sind jetzt betrunken, Sir. Sie werden morgen von mir hören, Sir. Ich werde Sie schon ausfindig machen, Sir.“

„Meinetwegen, wenn’s Ihnen Freude macht“, versetzte der unbeirrbare Fremde.

Dr. Slammer setzte mit einem Giftblick und einem zornigen Klaps seinen Hut auf, und der Fremde und Mr. Tupman gingen in das Schlafgemach, um das erborgte Gefieder wieder in den Handkoffer des nichtsahnenden Mr. Winkle zu stecken.

Der Gentleman lag in tiefem Schlaf, und so war denn die Rückerstattung bald vollzogen. Der Fremde benahm sich sehr drollig, und dem von Sherry, Glühwein, Lichtern und Damen verwirrten Mr. Tracy Tupman kam die ganze Sache als ein ausgezeichneter Spaß vor.

Der neue Freund entfernte sich, und Mr. Tupman half sich, nachdem er mit einiger Mühe die ursprünglich für den Kopf berechnete Öffnung seiner Nachtmütze gefunden und bei seinen Anstrengungen, dem Lichte einen passenden Platz anzuweisen, den Leuchter umgeworfen hatte, durch eine Reihe komplizierter Evolutionen in sein Bett, in dem er kurz darauf in tiefen Schlaf fiel.

Am nächsten Morgen hatte es kaum sieben ausgeschlagen, als Mr. Pickwicks reger Geist aus dem Zustand der Bewusstlosigkeit, in den der Schlummer ihn gewiegt, durch ein lautes Pochen an der Zimmertür geweckt wurde.

„Wer ist da?“, rief Mr. Pickwick, von seinem Kissen auffahrend.

„Der Hausknecht, Sir.“

„Was wollen Sie?“

„Bitte, können Sie mir nicht sagen, welcher Herr von Ihrer Gesellschaft einen blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen trägt, mit den Buchstaben P. K. drauf?“

Der Rock wird zum Ausbürsten hinausgehängt worden sein, überlegte sich Mr. Pickwick, und der Mann hat vergessen, wem er gehört. – „Mr. Winkle“, rief er laut. „Im dritten Zimmer rechts.“

„Danke, Sir“, versetzte der Hausknecht und entfernte sich.

„Was gibt’s?“ rief Mr. Tupman, als ein lautes Klopfen an seiner Tür ihn aus seiner tiefen Ruhe aufschreckte.

„Kann ich mit Mr. Winkle sprechen, Sir?“, entgegnete der Hausknecht von außen.

„Winkle! – Winkle!“, rief Mr. Tupman ins Nebenzimmer.

„Hallo?“, antwortete eine schwache Stimme unter der Bettdecke hervor.

„Jemand will Sie sprechen. An der Tür.“

Nachdem sich Mr. Tracy Tupman soweit angestrengt hatte, drehte er sich auf die andere Seite und fiel sofort wieder in tiefen Schlaf.

„Mich sprechen?“, brummte Mr. Winkle, sprang aus seinem Bett und zog in aller Eile ein paar Kleidungsstücke an. „Mich? Hier, so weit von London? Wer, um Himmels willen, kann hier etwas von mir wollen?“

„Ein Herr im Gastzimmer, Sir“, versetzte der Hausknecht, als Mr. Winkle die Tür öffnete. „Der Herr will Sie nicht lange aufhalten, doch er kann sich auf keinen Fall abweisen lassen, sagt er.“

„Höchst seltsam!“, sagte Mr. Winkle. „Nun, ich werde gleich hinunterkommen.“

Er hüllte sich rasch in einen Reiseschal, zog seinen Schlafrock an und ging die Stiege hinunter. Eine alte Frau und ein paar Kellner scheuerten das Gastzimmer. Ein Offizier in Halbuniform blickte aus dem Fenster, wandte sich dann mit einer steifen Verbeugung an den eintretenden Mr. Winkle, befahl dem Dienstpersonal, sich zu entfernen, und schloss sorgfältig die Tür.

„Mr. Winkle, wie ich vermute?“

„Das ist allerdings mein Name, Sir.“

„Es wird Sie wahrscheinlich nicht überraschen, Sir, wenn ich Ihnen mitteile, dass ich Sie in der Angelegenheit eines Freundes, des Dr. Slammer, von Siebenundneunzig, besuche.“

„Dr. Slammer?“, fragte Mr. Winkle erstaunt.

„Dr. Slammer. Er bat mich, Ihnen in seinem Namen zu sagen, dass Ihr Benehmen gestern Abend nicht der Art war, dass es sich ein Mann von Ehre gefallen lassen kann und wie es sich kein Mann von Ehre gegen einen andern erlauben würde.“

Mr. Winkles Erstaunen war zu echt und zu augenfällig, um Mr. Slammers Sekundanten zu entgehen.

„Mein Freund Dr. Slammer“, fuhr er daher fort, „ersuchte mich, hinzuzufügen, dass er fest überzeugt ist, Sie wären einen großen Teil des gestrigen Abends betrunken gewesen und wüssten daher vielleicht nichts mehr von dem Umfang der Beleidigung, die Sie sich zuschulden kommen ließen. Er trug mir deshalb auf, Ihnen zu sagen, dass er sich, wenn Sie diesen Umstand als eine Entschuldigung Ihres Benehmens geltend machen wollten, mit einer schriftlichen Abbitte, die ich Ihnen in die Feder zu diktieren hätte, begnügen will.“

„Eine schriftliche Abbitte?“, wiederholte Mr. Winkle im Tone grenzenlosen Staunens.

„Sie wissen natürlich, welche Wahl Ihnen übrigbleibt“, versetzte der Offizier kühl.

„Wurde Ihnen dieser Auftrag wirklich für mich übergeben?“, fragte Mr. Winkle, dessen Sinne sich während dieser seltsamen Unterhaltung hoffnungslos verwirrten.

„Ich war nicht anwesend“, entgegnete der Besuch, „und infolge Ihrer entschiedenen Weigerung, Dr. Slammer Ihre Karte zu geben, hat mich besagter Herr gebeten, mir über die Identität des Besitzers eines höchst ungewöhnlichen Rockes – eines blauen Fracks mit vergoldeten Knöpfen, auf denen sich ein Brustbild und die Buchstaben P. K. befinden – Gewissheit zu verschaffen.“

Mr. Winkle wäre vor Entsetzen beinahe umgesunken, als er seinen eignen Frack so genau beschreiben hörte.

Dr. Slammers Freund fuhr fort:

„Den hier im Gasthof soeben angestellten Recherchen zufolge gelangte ich zu der Überzeugung, dass der Eigentümer des fraglichen Kleidungsstückes gestern Nachmittag mit drei Herren hier angekommen ist. Ich sandte sogleich zu dem Herrn, der mir als mutmaßliche Hauptperson der Gesellschaft beschrieben wurde, und dieser selbst hat mich an Sie verwiesen.“

Wenn es dem Hauptturm von Rochester-Castle plötzlich eingefallen wäre, seinen Platz zu verlassen und sich gerade dem Gasthof gegenüber aufzupflanzen, so hätte Mr. Winkle nicht überraschter sein können. Sein erster Gedanke war, sein Frack sei ihm vielleicht gestohlen worden.

„Würden Sie mich einen Augenblick entschuldigen?“, fragte er.

„Bitte sehr.“

Hastig eilte er die Treppe hinauf und öffnete mit zitternden Händen seinen Reisesack. Der Frack lag an seinem gewohnten Platz; eine genauere Besichtigung zeigte jedoch deutliche Spuren, dass er in der letzten Nacht getragen worden war.

„Es muss doch seine Richtigkeit haben“, sagte sich Mr. Winkle, und der Rock entglitt seinen Händen. „Ich habe nach dem Essen zu viel Wein getrunken und entsinne mich dunkel, dass ich nachher auf der Straße spazierenging und eine Zigarre rauchte. Ja, ja, so muss es sein. Ich war sehr betrunken, muss mich umgekleidet – und jemand beleidigt haben. Es kann gar nicht anders sein. Und dieser Besuch ist die schreckliche Folge all dessen.“

Mit diesen Worten lenkte Mr. Winkle seine Schritte wieder zum Gastzimmer zurück.

Er war zu dem düsteren und schrecklichen Entschluss gekommen, die Forderung des kampflustigen Dr. Slammer anzunehmen und somit auch das Schlimmste über sich ergehen zu lassen.

Zu dieser Entscheidung war er durch die verschiedensten Rücksichten gezwungen, unter denen sein Ruf im Klub an erster Stelle stand. Stets hatte er als hohe Autorität gegolten, wenn es sich um offensive, defensive oder inoffensive sportliche Angelegenheiten gehandelt hatte, bei denen die Gewandtheit eine Rolle spielt; wenn er nun bei dieser ersten Gelegenheit, selbst Farbe zu bekennen, vor der Prüfung zurückbebte – dazu noch unter den Augen seines Meisters –, dann war es für immer um seinen Rang geschehen.

Zudem erinnerte er sich, von Leuten, die allerdings in solchen Dingen nicht recht Bescheid wussten, häufig die Vermutung gehört zu haben, dass auf Grund eines stillschweigenden Einverständnisses zwischen den Sekundanten die Pistolen nur selten mit Kugeln geladen würden, und überdies zog er noch in Erwägung, dass Mr. Snodgraß, wenn er ihn zum Sekundanten wählen und ihm die Gefahr in glühenden Farben schildern würde, sich vielleicht in dieser Angelegenheit an Mr. Pickwick wenden könnte, der dann zweifellos keinen Augenblick zögern würde, die Ortspolizeibehörde zu informieren, um auf diese Weise die Tötung oder Verstümmelung eines seiner Jünger zu verhindern.

Das waren so seine Gedanken, als er in das Gastzimmer zurückkehrte und daselbst seine Absicht kundgab, die Herausforderung des Doktors anzunehmen.

„Wollen Sie mir einen Vertreter namhaft machen, damit ich Ort und Stunde der Zusammenkunft festsetzen kann?“, fragte der Offizier.

„Ganz unnötig“, entgegnete Mr. Winkle. „Sie können beides mir namhaft machen. Für einen Sekundanten werde ich sodann schon Sorge tragen.“

„Passt es Ihnen heute Abend vor Sonnenuntergang?“, fragte der Offizier in gleichgültigem Ton.

„Sehr gut“, entgegnete Mr. Winkle – und dachte bei sich: Sehr schlimm.

„Kennen Sie das Fort Pitt?“

„Ja, ich habe es gestern gesehen.“

„Dann bitte ich Sie, sich auf dem Felde, das den Laufgraben abschließt, auf den Platz zu bemühen, wo die Schanze einen Winkel bildet, den Fußpfad linker Hand einzuschlagen und geradeaus zu gehen, bis Sie meiner ansichtig werden. Ich werde die Herren dann zu einer geschützten Stelle führen, wo die Angelegenheit abgemacht werden kann, ohne dass wir eine Störung zu befürchten haben.“

Störung zu befürchten!, dachte Mr. Winkle.

„Das wäre wohl alles, dächte ich“, sagte der Offizier.

„Ich wüsste auch nicht, was noch zu besprechen wäre“, entgegnete Mr. Winkle.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen.“

Der Offizier pfiff eine Arie und entfernte sich.

 

Beim Frühstück herrschte eine ziemlich trübselige Stimmung. Mr. Tupman war nach der durchschwärmten Nacht nicht in der Lage, aufzustehen, Mr. Snodgraß schien an einer poetischen Depression zu laborieren, und selbst Mr. Pickwick zeigte eine ungewöhnliche Vorliebe für Schweigen und Sodawasser.

Mr. Winkle wartete ängstlich auf eine günstige Gelegenheit. Sie ließ nicht lange auf sich warten. Mr. Snodgraß machte den Vorschlag, das Kastell zu besichtigen, und da Mr. Winkle der Einzige von der Gesellschaft war, der Lust zu einem Spaziergang bezeugte, gingen sie miteinander aus.

„Snodgraß“, begann Mr. Winkle, als sie die belebteren Straßen hinter sich hatten, „mein lieber Snodgraß, kann ich mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen?“ Im Innersten seines Herzens dachte er: Ach, wäre es doch nicht der Fall!

„Unbedingt“, beteuerte Mr. Snodgraß. „Ich schwöre es Ihnen bei allem …“

„Nein, nein“, unterbrach ihn Mr. Winkle, erschreckt durch den Gedanken, Mr. Snodgraß könnte sich unwillkürlich durch einen Eid die Zunge binden. „Schwören Sie nicht, schwören Sie nicht; es ist ganz und gar unnötig.“

Mr. Snodgraß ließ die Hand, die er in poetischem Schwünge zu den Wolken erhoben hatte, wieder sinken und nahm die Miene gespanntester Aufmerksamkeit an.

„Ich bedarf Ihres Beistandes in einer Ehrensache, lieber Freund!“

„Mit Freuden“, versetzte Mr. Snodgraß und drückte voll Wärme die Hand Mr. Winkles.

„Mit einem Doktor, Dr. Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment“, sagte Mr. Winkle, der die Sache so feierlich wie möglich machen wollte, „eine Ehrensache mit einem Offizier, dem ein Kamerad sekundiert, heute Abend vor Sonnenuntergang, auf einem abgelegnen Feld, in der Nähe des Forts Pitt!“

„Sie können auf mich rechnen“, versicherte Mr. Snodgraß. Er war zwar erstaunt, aber keineswegs fassungslos.

Es ist wirklich kaum zu glauben, wie kaltblütig alle – außer den Beteiligten – sich in so einer Angelegenheit benehmen. Mr. Winkle hatte das nicht bedacht und die Gefühle seines Freundes nach den eignen eingeschätzt.

„Die Folgen können schrecklich sein“, gab Mr. Winkle zu bedenken.

„Hoffentlich nicht“, meinte Mr. Snodgraß.

„Der Doktor ist, glaube ich ein sehr guter Schütze.“

„Das sind Offiziere meistens“, bemerkte Mr. Snodgraß ruhig. „Aber Sie sind’s doch auch, nicht wahr?“

Mr. Winkle bejahte und änderte, da er seinen Gefährten nicht hinreichend bestürzt sah, seine Taktik.

„Snodgraß“, sagte er, und seine Stimme bebte vor Erregung, „wenn ich falle, so werden Sie in einem Paket, das ich in Ihre Hände zu legen gedenke, einen Brief finden an – an meinen Vater.“

Auch diese Attacke schlug fehl. Mr. Snodgraß war zwar gerührt, übernahm aber die Besorgung des Schreibens so bereitwillig wie ein Briefträger.

„Wenn ich fallen sollte“, fuhr Mr. Winkle fort, „oder wenn der Doktor fällt, so werden Sie, als bei der Sache beteiligt, vor Gericht gestellt. Schrecklich der Gedanke, meinen Freund der Gefahr der Deportation, wenn nicht noch Schimmerem, auszusetzen!“

Mr. Snodgraß kratzte sich zwar ein wenig den Kopf, aber sein Heroismus war unerschütterlich. „Wenn es Freundespflicht gilt“, rief er begeistert, „biete ich allen Gefahren Trotz.“

Wie verwünschte Mr. Winkle in seinem Innern die aufopfernde Freundschaft seines Gefährten, als sie einige Minuten schweigend nebeneinander gingen, beide tief in Gedanken versunken.

Der Morgen entschwand, und Mr. Winkle geriet in Verzweiflung.

„Snodgraß“, sagte er, plötzlich haltmachend, „dass uns nur ja keine Störung dazwischenkommt! Sie dürfen durchaus nicht etwa eine Anzeige machen oder die Polizei anrufen, um durch meine oder die Verhaftung des Dr. Slammer vom siebenundneunzigsten Regiment, wohnhaft in der Chathamkaserne, diesem Duelle vorzubeugen. Ich sage Ihnen, tun Sie es nicht.

Mr. Snodgraß ergriff die Hand seines Freundes mit Wärme und beteuerte enthusiastisch: „Seien Sie unbesorgt!“

Ein Schauder überlief Mr. Winkle, als er die schreckliche Überzeugung gewann, dass er von der Ängstlichkeit seines Freundes nichts zu hoffen hatte und bestimmt war, das lebende Ziel einer Feuerwaffe zu werden.

Nachdem die Lage der Dinge mit allen Nebenumständen mit Mr. Snodgraß erörtert worden und in einem Kaufladen Pistolen, Pulver, Blei und Zündhütchen besorgt waren, kehrten die beiden Freunde in den Gasthof zurück; Mr. Winkle, um über das bevorstehende Duell nachzudenken, und Mr. Snodgraß, um die Waffen für den augenblicklichen Gebrauch gehörig instand zu setzen.

 

Es war ein trüber, unfreundlicher Abend, als sich beide auf den Weg machten. Mr. Winkle hatte sich, um der Beobachtung der Leute zu entgehen, in einen ungeheuren Mantel gehüllt, und Mr. Snodgraß trug unter dem seinen die Werkzeuge der Zerstörung.

„Haben Sie alles bei sich?“, fragte Mr. Winkle mit erstickter Stimme.

„Alles“, erwiderte Mr. Snodgraß. „Auch Munition die Fülle, wenn die ersten Schüsse resultatlos verlaufen sollten. Ein Viertelpfund Pulver in der Schachtel und zehn Zeitungen zu Pfropfen in der Tasche.“

Das waren Freundschaftsbeweise, für die sich jeder Mensch hätte ungemein verpflichtet fühlen müssen. Vermutlich waren aber Mr. Winkles Dankesgefühle zu übermächtig, um sich in Worten ausdrücken zu lassen, denn er sagte nichts und ging, wenn auch ziemlich langsam, weiter.

„Wir kommen ganz zur rechten Zeit“, bemerkte Mr. Snodgraß, als sie über die Hecke des ersten Feldes kletterten. „Die Sonne will eben untergehen.“

Mr. Winkle blickte auf den sinkenden Feuerball und dachte mit Schmerz an die Möglichkeit seines eigenen „Untergangs“, der ihm in so kurzer Frist bevorstehen konnte.

„Dort ist der Offizier!“, rief er, nachdem sie wieder einige Minuten gegangen waren.

„Wo?“

„Dort! Der Herr in dem blauen Mantel.“

Mr. Snodgraß blickte in die Richtung, die ihm der Finger seines Freundes wies, und gewahrte eine verhüllte Gestalt. Durch Winken mit der Hand gab der Offizier zu erkennen, dass er ihrer gleichfalls ansichtig geworden, und die Freunde folgten ihm in einiger Entfernung.

Der Himmel wurde mit jedem Augenblick trüber, und melancholisch heulte der Wind über die einsamen Felder, wie ein Riese, der seinem Hund pfeift.

Das Düstere der Szene stimmte Mr. Winkle todestraurig. Er schauerte zusammen, als er an dem Laufgraben vorbeikam – der sah aus wie ein kolossales Grab.

Der Offizier bog plötzlich von dem Fußpfad ab, klomm über ein Pfahlwerk, stieg über eine Hecke, und sie gelangten auf ein abgeschlossenes Feld. Zwei Herren warteten bereits dort; der eine ein kleiner wohlbeleibter Mann mit schwarzem Haar, der andre eine stattliche Erscheinung in einem militärischen Überrock – mit vollkommenem Gleichmut auf einem Feldstuhl sitzend.

„Die Gegenpartei und ein Wundarzt, vermutlich“, sagte Mr. Snodgraß. „Nehmen Sie ein Tröpfchen Branntwein.“

Mr. Winkle ergriff die Feldflasche, die ihm sein Freund hinreichte, und labte sich mit einem langen Schluck an der belebenden Flüssigkeit.

„Mein Freund Mr. Snodgraß, Sir“, stellte er vor, als der Offizier herantrat.

Dr. Slammers Sekundant verbeugte sich und brachte ein ähnliches Futteral, wie Mr. Snodgraß es bei sich führte, zum Vorschein.

„Ich denke, weitere Worte sind wohl überflüssig“, begann er kaltblütig, als er den Pistolenkasten öffnete, „da eine Abbitte entschieden abgelehnt wurde.“

„Ganz Ihrer Meinung, Sir“, versetzte Mr. Snodgraß, dem es langsam schwül zumute wurde.

„Wollen Sie vielleicht die Schritte abzählen!“

„Bitte sehr“, entgegnete Mr. Snodgraß.

Die Distanz wurde abgeschritten und die weiteren Vorbereitungen getroffen.

„Sie werden diese Waffen besser als Ihre eignen finden“, sagte der Sekundant der Gegenpartei und bot seine Pistolen an. „Sie haben doch beim Laden zugesehen? Oder haben Sie vielleicht etwas gegen deren Benützung einzuwenden?“

„Nicht das Mindeste“, versicherte Mr. Snodgraß. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, denn er hatte nur sehr schleierhafte Begriffe vom Laden einer Pistole.

„So können wir, denke ich, jetzt unsre Duellanten aufstellen“, bemerkte der Offizier mit einer Gleichgültigkeit, als wären die beiden Gegner Schachfiguren und die Sekundanten die Spieler.

„Ja, das können wir“, erwiderte Mr. Snodgraß, der in seiner Unerfahrenheit in solchen Dingen zu jedem Vorschlag ja gesagt haben würde.

Der Offizier verfügte sich zu Dr. Slammer, und Snodgraß trat an Mr. Winkles Seite.

„Es ist alles in Ordnung“, sagte er und händigte seinem Freunde die Pistole ein. „Geben Sie mir Ihren Mantel.“

„Sie haben doch den Brief an sich genommen, teurer Freund?“, fragte der arme Winkle.

„Alles in Ordnung. Zielen Sie ruhig und schießen Sie ihn durch die Schulter.“

Mr. Winkle kam dieser Rat sehr ähnlich vor wie ein anderer, den Zuschauer bei Straßenboxkämpfen stets und stur auch für den kleinsten Jungen übrig haben: Los, feste, hau ihn um! – Ein großartiger Rat; wenn man nur wüsste, wie man es machen soll. Dennoch legte er schweigend seinen Mantel ab – es verging eine geraume Weile, bis er damit zu Rande kam – und nahm die Pistole entgegen.

Die Sekundanten traten zurück, der Mann auf dem Feldstuhl tat ein Gleiches, und die Duellanten gingen aufeinander zu.

Mr. Winkle stand in dem Rufe außerordentlicher Menschenfreundlichkeit. Vermutlich war auch sein Wunsch, niemand absichtlich zu verletzen, die einzige Ursache, warum er, kaum an der verhängnisvollen Stelle angelangt, die Augen schloss und daher das seltsame und unerklärliche Benehmen des Dr. Slammer nicht gewahren konnte. Dieser stutzte nämlich, sah seinen Gegner an, trat zurück, rieb sich die Augen, sah wieder hin und rief endlich:

„Halt! Halt!“

„Was soll das heißen“, sagte er, als die beiden Sekundanten zu ihm eilten.

„Das ist nicht der Mann.“

„Nicht der Mann?“, sagte Dr. Slammers Freund.

„Nicht der Mann?“, wiederholte Mr. Snodgraß.

„Nicht der Mann?“, rief der Gentleman mit dem Feldstuhl in der Hand.

„Bestimmt nicht“, entgegnete der kleine Doktor. „Das ist nicht die Person, die mich gestern Nacht beleidigte.“

„Höchst sonderbar!“, rief der Offizier.

„Allerdings!“, sagte der Gentleman mit dem Feldstuhl mit Autoritätsmiene und nahm eine Prise. „Die Frage ist nur, ob dieser Herr, da er auf dem Kampfplatze erschien, nicht formell als das Individuum betrachtet werden muss, das gestern Nacht unsern Freund Dr. Slammer beleidigte, mag es nun dieselbe Person sein oder nicht.“

Mr. Winkle hatte die Augen geöffnet und die Ohren dazu, als er seinen Gegner von Einstellung der Feindseligkeiten sprechen hörte. Er begriff sofort, dass offenbar ein Missverständnis vorlag und sein Ansehen ungemein steigen musste, wenn er den wahren Grund seines Erscheinens auf dem Kampfplatz verschwieg. Er trat daher kühn vor und sprach: „Nein, ich bin’s nicht. Ich weiß es.“

„Dann ist es eine Verhöhnung Dr. Slammers“, sagte der Mann mit dem Feldstuhl. „Grund genug, in der Sache fortzufahren.“

„Ich bitte, einen Augenblick, Payne“, fiel ihm der Sekundant ins Wort. „Warum haben Sie mir das nicht heute Morgen mitgeteilt, Sir?“

„Ja, ja, warum nicht – warum nicht?“, wiederholte der Herr mit dem Feldstuhl unwillig.

„Ich bitte, lassen Sie mich machen, Payne“, mischte sich der Offizier ein. „Muss ich meine Frage wiederholen, Sir?“

„Weil Sie, mein Herr“, entgegnete Mr. Winkle, der inzwischen Zeit gehabt hatte, über eine passende Antwort nachzudenken, „weil Sie, mein Herr, eine betrunkene und allen Anstandes bare Person als den Träger eines Rockes bezeichneten, den ich nicht allein zu tragen, sondern sogar erfunden zu haben, die Ehre habe – der einstimmig angenommenen Uniform des Pickwick-Klubs in London, Sir. Ich fühlte mich verpflichtet, die Ehre dieser Uniform zu verfechten, und aus keinem andern Grande, Sir, habe ich die Forderung ohne weitere Nachforschung angenommen.“

„Mein werter Herr“, rief der gutmütige kleine Doktor und trat mit ausgestreckter Hand heran, „ich ehre Ihren ritterlichen Mut. Erlauben Sie mir, Sir, Ihnen zu sagen, dass ich Ihr Benehmen höchlich bewundere und außerordentlich bedauere, Sie für nichts und wieder nichts hierherbemüht zu haben.“

„Ich bitte, sprechen Sie nicht davon“, lehnte Mr. Winkle bescheiden ab.

„Ich bin stolz darauf, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Sir“, versicherte der kleine Doktor.

„Auch mir gewährt es das größte Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben“, entgegnete Mr. Winkle.

Der Doktor und Mr. Winkle reichten sich die Hände; ein Gleiches taten dann Mr. Winkle und Leutnant Tappleton, der Sekundant des Doktors, dann Mr. Winkle und der Herr mit dem Feldstuhl, und endlich Mr. Winkle und Mr. Snodgraß; Letzterer ganz hingerissen von Bewunderung über das ritterliche Benehmen seines heldenmütigen Freundes.

„Ich dächte, wir könnten jetzt nach Hause gehen“, meinte Leutnant Tappleton.

„Gewiss“, erklärte der Doktor.

„Wenn nicht etwa“, fügte der Herr mit dem Feldstuhl bei, „wenn nicht etwa Mr. Winkle sich durch die Forderung beleidigt fühlt, in welchem Falle er natürlich das Recht hat, Satisfaktion zu verlangen.“

Mr. Winkle erklärte mit großer Selbstverleugnung, dass die Genugtuung, die er bereits bekommen hatte, hinreichte.

„Vielleicht fühlt sich aber der Sekundant des Gentleman durch gewisse Bemerkungen, die ich anfänglich fallen ließ, verletzt“, fuhr der Herr mit dem Feldstuhl fort. „Wäre dies der Fall, so würde ich mich glücklich schätzen, ihm auf der Stelle Satisfaktion zu geben.“

Mr. Snodgraß äußerte sogleich, er wäre dem Herrn für sein liebenswürdiges Anerbieten sehr verbunden, sähe sich jedoch veranlasst, abzulehnen, da ihn der Verlauf der Sache ungemein befriedigte.

Die beiden Sekundanten schlossen ihre Waffenfutterale, und alle verließen den Kampfplatz fröhlicher, als sie gekommen waren.

„Bleiben Sie lange hier?“, fragte Dr. Slammer Mr. Winkle, als sie freundschaftlich nebeneinander gingen.

„Ich denke, wir werden übermorgen wieder abreisen.“

„Dann hoffe ich wenigstens das Vergnügen zu haben, Sie und Ihren Freund bei mir zu sehen, um gemeinsam nach diesem widerwärtigen Missverständnis noch einen heitern Abend zu verbringen. Sie sind doch nicht für heute vergeben?“

„Wir haben noch einige Freunde hier“, wendete Mr. Winkle ein, „von denen wir uns ungern trennen möchten. Aber vielleicht besuchen Sie und Ihre Kameraden uns im ,Ochsen‘?“

„Mit größtem Vergnügen“, entgegnete der kleine Doktor. „Würde zehn Uhr zu spät sein, um noch ein halbes Stündchen bei Ihnen zu plaudern?“

„Oh, gewiss nicht. Ich werde mich glücklich schätzen, Sie meinen Freunden Mr. Pickwick und Mr. Tupman vorzustellen.“

„Wird mir eine große Ehre sein“, meinte Dr. Slammer, der sich nicht träumen ließ, wer wohl Mr. Tupman wäre.

„Wir dürfen also auf Sie zählen?“, fragte Mr. Snodgraß.

„Gewiss.“

Sie hatten inzwischen die Landstraße wieder erreicht, nahmen herzlichen Abschied voneinander und trennten sich. Dr. Slammer begab sich mit seinen Freunden nach der Kaserne, und Mr. Winkle kehrte, von Mr. Snodgraß begleitet, in den Gasthof zurück.

3. Kapitel

Eine neue Bekanntschaft – Die Erzählung des wandernden Schauspielers – Eine unangenehme Störung und ein unerfreuliches Zusammentreffen

 

Mr. Pickwick war in Sorgen wegen des ungewöhnlich langen Ausbleibens seiner zwei Freunde, und ihr geheimnisvolles Benehmen während des ganzen Morgens trug keineswegs dazu bei, sie zu vermindern. Umso größer war seine Freude, als er sie wieder ins Zimmer treten sah; und nun ging es an ein Fragen, was ihn so lange ihrer Gesellschaft beraubt hatte.

Mr. Snodgraß schickte sich eben an, eine getreue, umständliche Erzählung der Begebnisse des Tages zu beginnen, als er plötzlich innehielt, weil er bemerkte, dass außer Mr. Tupman auch noch ihr Reisegefährte von gestern und ein zweiter Fremder von gleich wunderlichem Äußern zugegen waren – ein Mann, dessen fahles Gesicht und eingesunkene Augen von Leid und Kummer erzählten, während das straffe schwarze Haar, das ihm wirr über die Stirne herunterhing, die von Natur schon genug markierten Züge nur noch auffallender erscheinen ließen.

Seine stechenden Augen hatten einen fast unnatürlichen Glanz, seine Backenknochen traten stark hervor, und sein Unterkiefer war so lang und hager, dass man hätte glauben können, seine Wangen waren für einen Augenblick verkrampft und eingesaugt, wenn nicht der halb geöffnete Mund und der unbewegliche Ausdruck bewiesen hätten, dass der Mann sich nicht verstellte.

Um den Hals trug er einen grünen Schal geschlungen, dessen breite Enden über die Brust herunterhingen und sogar noch durch die Knopflöcher seiner alten Weste hervorsahen. Außerdem trug er einen langen schwarzen Überrock, weite braune Beinkleider und große schadhafte Stiefel.

Mr. Winkles Blick haftete noch auf dieser nicht sehr einladenden Erscheinung, als Mr. Pickwick mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging und ihm den Fremden mit den Worten „Ein Freund unsres Freundes hier“ vorstellte.

„Wir haben diesen Morgen in Erfahrung gebracht“, fuhr er fort, „dass unser Freund mit dem hiesigen Theater in Verbindung steht, obgleich er nicht wünscht, dass es allgemein bekannt werde, und gegenwärtiger Herr ist gleichfalls Schauspieler. Er war eben im Begriff, uns mit einer kleinen Erzählung zu erfreuen, als Sie eintraten.“

„Ein wahres Anekdotenbuch“, erklärte der Grünrock von gestern in leisem, vertraulichem Ton zu Mr. Winkle. „Possierlicher Bursche – bloß Statist – kein eigentlicher Schauspieler – wunderlicher Mensch – Unglück aller Art gehabt – allgemein unter dem Namen ,der Trübsal-Jemmy‘ bekannt.“

Mr. Winkle und Mr. Snodgraß bewillkommneten den ihnen als „Trübsal-Jemmy“ bezeichneten Herrn höflich, bestellten Brandy mit Wasser, um es der übrigen Gesellschaft gleichzutun, und setzten sich an den Tisch.

„Nun, Sir, würden Sie uns jetzt das Vergnügen machen, mit Ihrer Erzählung fortzufahren?“, fragte Mr. Pickwick.

Der Trübsinnige zog eine schmutzige Papierrolle aus der Tasche und wandte sich mit einer Grabesstimme, die mit seiner äußeren Erscheinung gut harmonierte, an Mr. Snodgraß, der eben sein Notizbuch zur Hand genommen hatte:

„Sind Sie Dichter?“

„Ich – ich versuche mich bisweilen in poetischen Leistungen“, antwortete Mr. Snodgraß, etwas verblüfft über diese plötzliche Frage.

„Ach, Poesie ist für das Leben, was Licht und Musik für die Bühne. Nimmt man dem einen seinen falschen Glanz und der andern ihre Illusionen – bleibt dann in Wirklichkeit noch etwas, was des Lebens und der Sorge wert wäre?“

„Sehr wahr, Sir“, seufzte Mr. Snodgraß.

„Vor den Lampen des Proszeniums sitzen“, fuhr der Trübsinnige fort, „heißt so viel, wie ein großartiges Hofgepränge schauen und die seidnen Gewänder der prachtliebenden Menge bewundern – hinter ihnen sein, bedeutet die Drähte all dieser Puppen ziehen, unbeachtet bleiben und unbekannt, wo niemand sich kümmert, ob die armen Unglücklichen schwimmen oder sinken, leben oder Hungers sterben, wie es gerade das Schicksal fügt.“

„Mag sein“, entgegnete Mr. Snodgraß, denn das eingesunkene Auge des Trübsinnigen ruhte auf ihm und er fühlte die Notwendigkeit, etwas zu sagen,

„Weiter, Jemmy!“, sagte der spanische Reisende. „Nicht alles ins Tragische – kein Gejammer – frisch – munter!“

„Wollen Sie sich nicht ein Glas einschenken, ehe Sie anfangen, Sir?“, fragte Mr. Pickwick.

Der Trübsinnige nahm die Einladung an, mischte sich ein Glas Brandy, schluckte langsam die Hälfte hinunter, öffnete dann seine Papierrolle und begann folgende Geschichte, die sich in den Klubakten mit der Aufschrift „Erzählung des wandernden Schauspielers“ vorfindet, halb lesend, halb aus dem Gedächtnis vorzutragen.

4. Kapitel

Die Erzählung des wandernden Schauspielers

 

„Es ist nichts Außerordentliches, ja, nicht einmal etwas Ungewöhnliches an dem, was ich jetzt erzählen will“, begann der Trübsinnige. „Entbehrungen und Krankheit sind in manchen Lebenslagen etwas zu Alltägliches, um mehr Aufmerksamkeit zu verdienen, als den gewöhnlichsten Wechselfällen des menschlichen Lebens zuteil wird.

Ich habe die folgenden kurzen Notizen gesammelt, weil ich den Mann, von dem ich rede, vor einigen Jahren sehr gut kannte. Ich war Augenzeuge, wie er immer tiefer und tiefer sank, bis er zuletzt jenen Abgrund von Elend erreichte, aus dem er sich nicht wieder erhob.

Der Mann, von dem ich erzähle, war ein kleiner Pantomimenschauspieler und, wie so viele seines Berufes, ein Gewohnheitstrinker. In seinen besseren Tagen, als er noch nicht durch Ausschweifungen herabgekommen und durch Krankheit geschwächt war, bezog er ein gutes Einkommen, das er bei einem geordneten Lebenswandel noch mehrere Jahre lang hätte beziehen können – wenn auch nicht viele –, denn solche Leute sterben entweder frühzeitig oder verlieren durch übermäßige Anstrengung die körperlichen Fähigkeiten bald, von denen allein ihr Erwerb abhängt.

Seine Leidenschaft beherrschte ihn in einem Grade, dass er in kurzer Zeit für die Rollen, in denen er etwas leisten konnte, unfähig wurde. Die Schenke übte einen Zauber auf ihn aus, dem er nicht widerstehen konnte. Vernachlässigte Krankheit und hoffnungslose Armut mussten so sicher sein Los werden wie der Tod, wenn er bei seinem Laster beharrte. Dennoch ließ er nicht davon, und die Folgen sind leicht zu erraten. Er konnte kein Engagement mehr finden und wurde brotlos.

Jeder, der nur einigermaßen mit dem Theaterleben bekannt ist, weiß, welche Menge armer Schlucker sich gewöhnlich im Trog einer größeren Bühne befindet – keine ordnungsgemäß angestellten Schauspieler, sondern Ballettvolk, Statisten, Hanswürste und so weiter, die für eine bestimmte Pantomime oder Lokalposse, die gerade im Schwange ist, angenommen und dann wieder entlassen werden, bis wieder irgendein Zugstück gegeben wird, bei dem man ihrer Dienste aufs Neue bedarf.

Zu solchem Leben musste der Mann seine Zuflucht nehmen. Er besorgte in kleinen Theatern das Stühlehinaustragen und erwarb sich dadurch einige Schillinge wöchentlich, die er seiner alten Leidenschaft opferte.

Aber auch diese Erwerbsquelle versiegte bald. Seine Ausschweifungen verschlangen zu viel von seinen Einnahmen, um auch nur für die geringsten Bedürfnisse etwas übrigzulassen, und er war nahe daran, zu verhungern. Er borgte bisweilen einem alten Bekannten eine Kleinigkeit ab oder trat auf irgendeinem Winkeltheater letzter Sorte auf; aber was er auch verdiente, wanderte denselben Weg.

So hatte er sich länger als ein Jahr herumgetrieben und durchgeschlagen, ohne dass man wusste, wie, als ich ihn auf einem der Theater an der Surreyseite des Flusses, wo ich gerade ein kurzes Engagement hatte, plötzlich wieder zu Gesicht bekam.

Ich hatte ihn für einige Zeit aus den Augen verloren, denn ich durchreiste das Land, während er sich in den Winkeln Londons herum trieb. Er klopfte mir eines Abends auf die Schulter, als ich eben im Begriff war, das Theater zu verlassen, und über die Bühne ging.

Nie werde ich den abschreckenden Anblick vergessen, der sich meinen Augen darbot, als ich mich umwandte. Er spielte eine kleine Rolle in einer Pantomime und stand in der ganzen Abgeschmacktheit eines Hanswurstanzuges vor mir. Die Gespenster im Totentanz, die grauenhaftesten Gestalten, die jemals der Pinsel des geschicktesten Malers auf die Leinwand zaubern könnte, waren nicht halb so entsetzlich anzusehen.

Sein aufgedunsener Leib und seine hageren Beine, deren Missgestalt durch die Narrenkleidung erst recht hervorgehoben wurde, die gläsernen Augen, die gegen das dick aufgetragene Weiß, womit sein Gesicht beschmiert war, fürchterlich abstachen, der grotesk aufgeputzte, paralytisch zitternde Kopf und die langen, mit Kreide bemalten, fleischlosen Hände – alles gab ihm ein grässliches, unnatürliches Aussehen, von dem man sich keine Vorstellung machen kann und an das ich mich bis auf diesen Tag nur mit Schaudern erinnere.

Seine Stimme war hohl und bebte, als er mich beiseite nahm, mir in abgerissnen Worten ein langes und breites von Krankheit und Entbehrungen vorschwatzte und dann, wie gewöhnlich, mit der flehentlichen Bitte schloss, ihm eine Kleinigkeit vorzustrecken.

Ich drückte ihm ein paar Schillinge in die Hand, und als ich mich umdrehte, hörte ich das schallende Gelächter, das sein Auftreten auf den Brettern hervorrief.

Wenige Tage später drückte mir abends ein Junge einen schmutzigen Papierfetzen in die Hand; darauf waren mit Bleistift einige Worte gekritzelt, aus denen hervorging, dass der Mann schwerkrank war und mich bat, ihn nach der Vorstellung in seiner Behausung aufzusuchen, die irgendwo in der Nähe des Theaters lag; mir fällt im Augenblick nicht der Straßenname ein. Jedenfalls versprach ich, sobald wie möglich zu kommen, und sobald der Vorhang unten war, trat ich meinen traurigen Weg an.

Es war spät, denn ich hatte im letzten Akt gespielt, und da es eine Benefiz gewesen, dauerte die Vorstellung ungewöhnlich lange. Es war eine finstere, traurige Nacht; ein nasskalter Wind trieb den Regen heftig gegen Fenster und Haustüren. Das Wasser hatte sich in den schmalen, wenig besuchten Gässchen zu Pfützen angesammelt, und da das Ungestüm des Windes die wenigen Lampen, die hin und wieder angebracht waren, ausgelöscht hatte, war der Weg nicht nur sehr mühsam, sondern auch höchst unsicher.

Doch hatte ich glücklicherweise die richtige Gasse gewählt und fand endlich nicht ohne Schwierigkeit das bezeichnete Haus – ein Kohlenmagazin, mit einem Stockwerk darüber, in dessen Hinterzimmer der Mann lag, dem mein Besuch galt.

Ein abgezehrt aussehendes Weib, die Frau des Unglücklichen, empfing mich auf der Treppe, führte mich mit den Worten, ihr Mann sei eben in eine Art Schlummer gefallen, leise in die Stube und stellte mir einen Stuhl vor das Bett. Der Kranke hatte das Gesicht gegen die Wand gekehrt, und da er meinen Eintritt nicht gewahr wurde, so blieb mir Muße, das Zimmer zu betrachten, in dem ich mich befand.

Er lag in einem alten Bettgestell, das den Tag über zusammengeklappt werden konnte. Die zerlumpten Überreste eines buntscheckigen Vorhanges umschlossen den oberen Teil des Bettes, um den Wind abzuhalten, der das unbehagliche Gemach frei durchstrich, indem er durch die zahlreichen Spalten der Tür eindrang und die Lappen fortwährend hin und her bewegte.

In einem rostigen, freistehenden Becken glomm ein mattes Kohlenfeuer, und davor stand ein alter, dreieckiger, schmieriger Tisch mit Arzneifläschchen, einem zerbrochenen Glas und einigen andern Gegenständen. In einem Bett auf dem Boden schlief ein kleines Kind, und neben ihm saß die Frau auf einem Stuhl. Auf zwei Simsbrettern an der Wand standen einige Schüsseln, Teller und Tassen, und darunter hingen ein Paar Bühnenschuhe und zwei Rapiere. Außer einigen Bündeln alter Lumpen, die unordentlich in den Winkeln lagen, war nichts im Zimmer zu erblicken.

Ich hatte Zeit gehabt, dies alles mit den Blicken zu überfliegen und die schweren Atemzüge und fieberischen Zuckungen des Kranken zu beobachten, ehe dieser meine Gegenwart gewahr wurde.

Bei den unaufhörlichen Versuchen, seinen Kopf in eine bessere Lage zu bringen, streckte er seine Hand aus dem Bett und bekam die meinige zu fassen. Er schrak empor und starrte mir ins Gesicht.

,Mr. Hutley, John‘, sagte sein Weib, ,Mr. Hutley, nach dem du diesen Abend geschickt hast – du weißt.‘

,Ah!‘, rief der Kranke und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. ,Hutley – Hutley – wart einmal.‘

Er schien seine Gedanken sammeln zu wollen, dann fasste er mich heftig beim Handgelenk und sagte: ,Verlass mich nicht, verlass mich nicht, alter Freund. Sie will mich ermorden, ich weiß, sie will mich umbringen.‘

,Liegt er schon lange so da?‘, fragte ich sein weinendes Weib.

,Seit gestern Abend‘, antwortete sie. ,John, John, kennst du mich denn nicht?‘

,Lass sie nicht zu mir‘, sagte der Mann mit einem Schauder, als sie sich über ihn beugte. ,Jag sie fort! Ich kann ihre Nähe nicht vertragen.‘

Er starrte sie wild und mit einem Blicke voll Todesangst an und flüsterte mir dann ins Ohr:

,Ich hab sie geschlagen, Jem, ja, ich hab sie geschlagen, gestern, und so manches Mal. Ich hab sie dem Hungertode preisgegeben, und das Kind auch, und jetzt, wo ich schwach und hilflos bin, will sie mich dafür ermorden; ich weiß es. Hättest du ihr Jammergeschrei gehört wie ich, du wüsstest es auch. Halte sie fern.‘ Er ließ meine Hand los und sank erschöpft auf das Kissen zurück.

Ich verstand nur zu gut, was das alles zu bedeuten hatte. Hätte ich einen Augenblick im Zweifel sein können, so würde mich ein Blick auf das blasse Gesicht und die abgezehrte Gestalt des Weibes hinlänglich von der Sachlage unterrichtet haben.

,Ziehen Sie sich lieber zurück‘, sagte ich zu der Ärmsten. ,Sie können doch nichts für ihn tun. Vielleicht wird er ruhiger werden, wenn er Sie nicht mehr sieht.‘

Sie ging ihrem Manne aus den Augen. Er öffnete nach wenigen Sekunden seine Lider und sah sich ängstlich um.

,Ist sie fort?‘

Ja, ja‘, antwortete ich. ,Sie wird dir nichts zuleide tun.‘

,Ich will dir was sagen, Jem‘, flüsterte er voll Furcht, ,sie trachtet mir nach dem Leben. Etwas in ihren Augen bringt eine so fürchterliche Angst in mir hervor, dass es mich wahnsinnig macht. Die ganze Nacht über habe ich ihre großen stieren Augen und ihr bleiches Gesicht dicht über mir gesehen. Wohin ich mich wandte, da waren sie, und sooft ich aus dem Schlafe auffuhr, stand sie neben meinem Bette und starrte mich an.‘

Er zog mich näher zu sich und flüsterte aufgeregt und bebend vor Todesangst:

,Jem, sie muss ein böser Geist sein, ein Teufel! Hu! Ich weiß es, sie ist’s. Wäre sie ein Weib, so müsste sie schon lange tot sein. Ein Weib kann nicht tragen, was sie getragen hat.‘

Idi schauderte bei dem Gedanken an die lange Reihe von Grausamkeiten und Misshandlungen, die dem allem vorhergegangen sein mussten, um bei einem Menschen wie er einen solchen Eindruck zu hinterlassen. Ich wusste nichts zu erwidern, denn wer konnte dem Verworfenen, den ich vor mir hatte, Hoffnung oder Trost geben?

Ich saß über zwei Stunden bei ihm, während er, vor Schmerzen und Ungeduld ächzend, ruhelos seine Arme hin und her warf und sich immer wieder von einer Seite auf die andre wälzte.

Endlich verfiel er in die Art bewusstlosen Halbschlummers, in dem der Geist unruhig von Vorstellung zu Vorstellung, von Ort zu Ort wandert, ohne die leitende Hand der Vernunft und ohne die Fähigkeit, sich von einem unbeschreiblichen Gefühle vorhandenen Leidens loszumachen.

Da ich aus seinen Delirien entnahm, dass dies bei ihm der Fall und alle Wahrscheinlichkeit vorhanden war, das Fieber werde sich vorderhand nicht mehr steigern, so entfernte ich mich und versprach dem bedauernswerten Weibe, am nächsten Abend meinen Besuch zu wiederholen und nötigenfalls die Nacht über bei dem Kranken zu wachen.

Ich hielt mein Versprechen. Die letzten vierundzwanzig Stunden hatten eine furchtbare Veränderung in dem Trunkenbold hervorgebracht. Seine Augen, obgleich tief eingefallen und schwer, leuchteten in einem schrecklichen Glanze. Die Lippen waren wie Pergament und an manchen Stellen aufgesprungen; die trockne, harte Flaut fühlte sich glühend heiß an, und in seinem Gesicht lag ein beinahe unirdischer Ausdruck wilder Angst, der die Verheerungen der Krankheit noch stärker hervorhob. Das Fieber hatte seinen höchsten Grad erreicht.

Ich setzte mich wie am verflossenen Abend an sein Bett, und hier vernahm ich stundenlang Töne, die das gefühlloseste Herz tief hätten ergreifen müssen – die furchtbaren Fantasien eines Sterbenden.

Wie ich vom Arzte vernommen, war keine Hoffnung mehr vorhanden. Ich saß an einem Sterbebette. Ich sah die abgezehrten Glieder, die er noch kurz zuvor zur Belustigung eines rohen Haufens verdreht, sich unter den Martern der Fieberglut krümmen – ich hörte das schrille Gelächter des Harlekins, gemischt mit dem leisen Röcheln des Sterbenden.

Es ist ergreifend, den Geist zu den gewöhnlichen Beschäftigungen der Tage der Gesundheit zurückwandern zu sehen, während der Körper schwach und hilflos daliegt; aber wenn diese Beschäftigungen der Art sind, dass sie Zuständen, die eine ernste und feierliche Stimmung in uns hervorrufen, geradezu entgegenlaufen, so geht dieser Eindruck noch unendlich tiefer.

Die Bühne und die Schenke waren die Hauptschauplätze, auf denen sich die Fantasie des irren Elenden erging. Es war gegen Abend, bildete er sich ein. Er musste auftreten. Es war spät, und er durfte keinen Augenblick mehr säumen.

Warum hielten sie ihn zurück und ließen ihn nicht gehen? – Seine Einnahme stand auf dem Spiel. – Er musste gehen.

Nein! Sie wollten ihn nicht fortlassen. Er barg sein Gesicht in seine glühenden Hände und beklagte seine Schwäche und die Grausamkeit seiner Widersacher. Eine kurze Pause. Dann keuchte er einige elende Reimereien hervor, die letzten, die er auswendig gelernt hatte.

Er richtete sich im Bett auf, streckte seine abgezehrten Hände in die Höhe und wand sich in seltsamen Krümmungen hin und her: Er spielte. – Er war auf der Bühne.

Ein minutenlanges Stillschweigen, und er murmelte den Schlussreim eines Trinkliedes.

Endlich war er wieder zu Hause: Wie heiß war es im Zimmer! Er war krank gewesen, sehr krank, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl und glücklich. – Einschenken! Einschenken! Wer schlägt ihm da das Glas vom Munde weg? Derselbe Feind, der ihn vorhin verfolgte. – Er fiel auf sein Kissen zurück und jammerte laut.

Eine kurze Pause der Vergessenheit, und er wanderte durch ein nimmer endendes Labyrinth niederer, gewölbter Zimmer – so nieder bisweilen, dass er auf allen vieren fortkriechen musste; es war eng und dunkel, und mit jeder Wendung des Weges stieß ihm ein neues Hindernis auf. Er sah Insekten, hässliches Gewürm, mit Augen, die ihn anstierten und den ganzen Raum anfüllten – fürchterlich schimmernd durch die dichte Finsternis. Wände und Decke wimmelten von Ungeziefer, das Gewölbe dehnte sich ins Ungeheure – fürchterliche Gestalten schwebten auf und nieder, und unter ihnen bekannte Gesichter, grässlich verzerrt. Sie brannten ihn mit glühenden Eisen und umschnürten seinen Kopf mit Stricken, bis das Blut herausspritzte.

Nach einem solchen Anfall, währenddessen ich ihn mit großer Mühe im Bett festhielt, sank er in eine Art von Schlummer. Von langem Wachen und von der Anstrengung überwältigt, waren mir für einige Minuten die Augen zugefallen, als ich durch einen heftigen Schlag auf meine Schulter erwachte.

Er hatte sich aufgerichtet und saß im Bett. – Eine fürchterliche Veränderung war auf seinem Gesicht vorgegangen, aber das Bewusstsein war zurückgekehrt, denn er kannte mich augenscheinlich.

Das Kind, das durch sein Irrereden lange Zeit eingeschüchtert gewesen, stand von seinem Bettchen auf und lief weinend zu seinem Vater. Die Mutter nahm es eilends auf den Arm, damit er ihm in der Raserei kein Leid zufüge, aber durch die Veränderung seiner Züge erschreckt, blieb sie regungslos stehen.

Er krallte sich krampfhaft in meine Schulter ein und machte einen verzweifelten Versuch zu sprechen, während er sich mit der andern Hand vor die Brust schlug. Es war vergeblich. Er streckte die Hände gegen die Seinen aus und machte einen zweiten gewaltsamen Versuch zu sprechen. Noch ein Röcheln in der Kehle, ein Blitzen im Auge, ein kurzes ersticktes Stöhnen – und tot sank der Unglückliche auf das Kissen zurück. Vorbei.“

 

Herr Pickwick hatte sein Glas niedergesetzt, das er während des letzten Abschnittes der Erzählung in der Hand gehalten, und war eben im Begriffe, zu sprechen – hatte bereits, wie Mr. Snodgraß’ Notizbuch besagt, den Mund geöffnet –, als der Kellner eintrat und „Einige Herren“ anmeldete.

Vermutlich stand Mr. Pickwick gerade im Begriff, einige Bemerkungen, die, wenn auch nicht das Themsegebiet, so doch die übrige Welt erleuchtet haben würden, zum besten zu geben, als er auf diese Art unterbrochen wurde. Er starrte dem Kellner ins Gesicht und ließ dann seine Blicke fragend die Runde in der Gesellschaft machen, als wünschte er nähere Aufklärung, was das zu bedeuten habe.

„Oh!“, sagte Mr. Winkle aufstehend. „Einige Freunde von mir. Führen. Sie die Herren herein. Sehr angenehme Leute“, fügte er hinzu, nachdem sich der Kellner entfernt hatte. „Offiziere, vom siebenundneunzigsten Regiment, deren Bekanntschaft ich diesen Morgen auf eine etwas seltsame Weise gemacht habe. Sie werden Ihnen sehr gefallen.“

Mr. Pickwicks Gleichmut war sofort wiederhergestellt. Der Kellner kehrte zurück und führte drei Herren ins Zimmer.

„Leutnant Tappleton“, stellte Mr. Winkle vor. „Leutnant Tappleton, Mr. Pickwick – Dr. Payne, Mr. Pickwick – Mr.Snodgraß, den Sie bereits kennen, mein Freund Mr.Tupman, Dr. Payne – Dr. Slammer, Mr. Pickwick – Mr. Tupman, Dr. Slam…“

Mr. Winkle hielt plötzlich inne, denn in den Mienen Mr. Tupmans und des Doktors malte sich eine seltsame Bewegung.

„Ich habe diesen Herrn schon einmal getroffen“, sagte der Doktor mit starker Betonung.

„Wirklich?“, versetzte Mr. Winkle.

„Und – und diesen Menschen auch, wenn ich mich nicht irre“, sagte der Doktor, einen prüfenden Blick auf den grüngekleideten Fremden werfend. „Ich glaube, ich ließ an ihn gestern Abend eine dringende Einladung ergehen, die er jedoch ablehnen zu müssen vermeinte.“

Bei diesen Worten warf der Doktor einen verächtlichen Blick auf den Fremden und flüsterte seinem Freund Leutnant Tappleton etwas ins Ohr.

„Wahrhaftig?“, fragte dieser, nachdem er das Geflüster endlich verstanden.

„Wahrhaftig“, versicherte Dr. Slammer.

„Sie müssen ihm auf der Stelle einen Fußtritt geben“, murmelte der Eigentümer des Feldstuhles mit großer Wichtigkeit.

„Seien Sie ruhig, Payne“, vermittelte der Leutnant. „Erlauben Sie mir gütigst die Frage, mein Herr“, sagte er, sich an Mr. Pickwick wendend, der ob dieses höchst unhöflichen Zwischenspiels äußerst indigniert dreinsah, „wollen Sie mir gütigst die Frage erlauben, mein Herr, ob dieser Mensch zu Ihrer Gesellschaft gehört?“

„Nein, Sir“, erwiderte Mr. Pickwick. „Er ist unser Gast.“

„Er ist ein Mitglied Ihres Klubs, oder irre ich mich?“

„Nein, gewiss nicht“, antwortete Mr. Pickwick.

„Und trägt er nie Ihre Klubknöpfe?“, fragte der Leutnant weiter.

„Nein – nie!“, entgegnete erstaunt Mr. Pickwick.

Leutnant Tappleton wandte sich zu Dr. Slammer mit einem kaum merklichen Achselzucken, als käme ihm die Erinnerungsfähigkeit seines Freundes bedenklich vor.

Der Doktor sah zornig, aber verwirrt aus, und Mr. Payne starrte wild in das staunende Gesicht des ahnungslosen Pickwick.

„Mein Herr“, begann der Doktor, sich plötzlich an Mr. Tupman wendend, in einem Tone, der diesen Gentleman ebenso sehr erschreckte, als hätte ihn plötzlich eine Natter in die Ferse gestochen. „Sie waren gestern Abend auf dem Ball?“

Mr. Tupman hauchte ein schwaches Ja, fortwährend auf Mr. Pickwick blickend.

„Dieser Mensch war Ihr Begleiter?“, fragte der Doktor weiter, auf den Fremden deutend, der keine Miene verzog.

Mr. Tupman gab es zu.

„Nun, mein Herr“, sagte der Doktor zu dem Fremden, „ich frage Sie noch einmal in Gegenwart aller Anwesenden, ob Sie mir Ihre Karte geben und als Mann von Ehre behandelt sein oder mich in die Notwendigkeit versetzen wollen, Sie auf der Stelle persönlich zu züchtigen?“

„Halten Sie ein, mein Herr“, rief Mr. Pickwick. „Ich kann wirklich nicht dulden, dass die Sache weitergetrieben wird, ehe ich nicht weiß, um was es sich handelt. Tupman, erzählen Sie den Vorfall!“

So feierlich aufgefordert, berichtete Mr. Tupman die Sache mit fliegenden Worten. Das Entlehnen des Frackes berührte er nur leicht. Großen Nachdruck legte er darauf, dass es „nach dem Diner“ stattgefunden hätte, ließ flüchtig ein gelindes Reuegefühl über sein eigenes Betragen durchblicken und überließ es dem Fremden, sich zu rechtfertigen, so gut er könne.

Dieser war eben im Begriff, es zu tun, als ihn Leutnant Tappleton, der ihn bis dahin mit Aufmerksamkeit betrachtet hatte, mit großer Geringschätzung fragte:

„Habe ich Sie nicht schon auf dem Theater gesehen, Sir?“

„Vermutlich“, erwiderte der Fremde unbefangen.

„Er ist ein wandernder Schauspieler“, sagte der Leutnant verächtlich und wandte sich an Dr. Slammer. „Er tritt in dem Stück auf, das morgen das Offizierskasino des zweiundfünfzigsten Regiments in Rochester aufführen lässt. Sie können in der Sache nicht weitergehen, Slammer, unmöglich!“

„Nein, unmöglich!“, bestätigte Payne pathetisch.

„Bedaure, Sie in diese unangenehme Lage versetzt zu haben“, fuhr Leutnant Tappleton fort, sich an Mr. Pickwick wendend. „Erlauben Sie mir übrigens, Ihnen zu bemerken, dass der sicherste Weg, in Zukunft dergleichen Auftritte zu vermeiden, größere Vorsicht in der Wahl Ihrer Gesellschaft sein wird. Guten Abend, mein Herr!“ Und rasch verließ er das Zimmer.

„Und mir erlauben Sie, Ihnen zu bemerken, mein Herr“, fügte der rauflustige Dr. Payne hinzu, „dass ich, wenn ich Tappleton oder Slammer gewesen wäre, Ihnen und den sämtlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft die Nase eingedroschen hätte. Ja, das hätte ich. Allen miteinander. Mein Name ist Payne, mein Herr, Dr. Payne vom Dreiundvierzigsten. Guten Abend, mein Herr.“

Die vier letzten Worte sprach er laut und mit großem Nachdruck und schritt sodann majestätisch aus dem Zimmer. Ihm folgte Dr. Slammer, schweigend und mit einem Blick voll Verachtung auf die ganze Gesellschaft.

Zorn und höchste Entrüstung über die Brüskierung hatten Mr. Pickwicks edle Brust beinahe bis zum Zerspringen seiner Weste geschwellt. Wie angewurzelt, ins Leere starrend, stand er da, und erst das Knarren der Türe brachte ihn wieder zu sich selbst. Mit wutentbrannten Blicken und funkelnden Augen wollte er dem Beleidiger nachstürzen. Seine Hand hatte die Türklinke gefasst, und im nächsten Augenblick würde sie den Dr. Payne, von Dreiundvierzig, an der Kehle gepackt haben, hätte ihn nicht Mr. Snodgraß am Rockschoße ergriffen und zurückgezogen.

„Haltet ihn“, rief Mr. Snodgraß. „Winkle, Tupman! – Er darf sein kostbares Leben nicht in einer solchen Angelegenheit aufs Spiel setzen.“

„Lassen Sie mich“, rief Mr. Pickwick.

„Haltet ihn fest“, schrie Mr. Snodgraß wieder. Und den vereinten Kräften der sämtlichen Anwesenden gelang es schließlich, Mr. Pickwick in einen Lehnstuhl zu drängen.

„Allein lassen“, riet der grüngekleidete Fremde. „Brandy und Wasser – feuriger alter Herr – einen Schluck – einmal kosten – ah! – Kapitalstoff!“

Nachdem der Fremde den Inhalt eines vollen, von dem Trübsinnigen gemischten Glases gekostet, führte er es an Mr. Pickwicks Lippen, der es im nächsten Augenblick bis auf die Neige leerte.

Es trat eine kurze Pause ein. Das Getränk hatte indessen seine Wirkung getan, und das freundliche Gesicht Mr. Pickwicks nahm schnell den gewohnten Ausdruck wieder an.

„Diese Menschen verdienen nicht, dass Sie Notiz von ihnen nehmen, Sir“, sagte der Trübsinn-Jemmy.

„Sie haben recht, Sir“, versetzte Mr. Pickwick. „Sie verdienen es nicht. Ich schäme mich, dass ich mich so habe hinreißen lassen. Ziehen Sie Ihren Stuhl näher heran, Sir.“

Der Trübsinnige tat es; der Kreis versammelte sich um den Tisch, und die frühere Eintracht war wiederhergestellt. In Mr. Winkles Brust schien noch eine Spur heimlichen Unmutes zurückgeblieben zu sein – in Bezug auf die temporäre Entwendung seines Frackes –, aber es ist kaum denkbar, dass ein so geringfügiger Umstand auch nur ein vorübergehendes Gefühl des Missbehagens in der Seele eines Pickwickiers sollte hervorgerufen haben.

Abgesehen davon war übrigens die Heiterkeit wieder völlig hergestellt, und der Abend endete auf dieselbe trauliche Weise, wie er begonnen hatte.

5. Kapitel

Ein Tag im Freien – Neue Freunde – Eine Einladung aufs Land

 

Viele Schriftsteller haben eine ebenso törichte wie unredliche Abneigung gegen die Angabe der Quellen, aus denen sie manch schätzbare Nachricht schöpfen.

Uns liegt das fern. Unser einziges Bestreben geht dahin, unsern Pflichten als Berichterstatter gewissenhaft nachzukommen, und wie verlockend es auch sein mag, auf das Verdienst der Erfindung dieser Begebenheiten Anspruch zu machen, so verbietet uns doch die Wahrheitsliebe, mehr als das Verdienst einer zweckmäßigen Zusammenstellung und unparteiischen Erzählung in Anspruch zu nehmen. Die Pickwick-Protokolle sind unsre Quellen, und wir, sozusagen, die Wasserleitungsaktiengesellschaft. Die Arbeiten andrer haben uns mit einer ungeheuren Menge Material versehen, und wir übergeben sie der nach der Bekanntschaft mit den Pickwickiern dürstenden Öffentlichkeit wahrheitsgetreu und unverfälscht.

In diesem Sinne, und uns streng an die Überlieferung haltend, gestehen wir offen, dass wir die Einzelheiten dieses und des folgenden Kapitels dem Tagebuch des Mr. Snodgraß verdanken – Einzelheiten, die wir nun, da unser Gewissen entlastet ist, der Welt ohne weiteren Kommentar vorlegen wollen.

 

Die ganze Bevölkerung von Rochester und den umliegenden Ortschaften erhob sich am folgenden Morgen bei Tagesgrauen in einem Zustande der höchsten Unruhe und Aufregung von ihren Betten. Eine große Truppenschau sollte stattfinden und das Falkenauge des Kommandeurs die Manöver von einem halben Dutzend Regimentern inspizieren: Festungswerke waren errichtet, die Zitadelle sollte angegriffen und genommen und eine Mine gesprengt werden.

Mr. Pickwick war, wie unsre Leser wohl bereits aus dem kurzen Auszug aus seiner Beschreibung von Chatham ersehen haben werden, ein enthusiastischer Bewunderer der Armee. Nichts konnte ihn mehr in Entzücken versetzen, nichts mit den besonderen Gefühlen eines jeden seiner Gefährten so sehr übereinstimmen als ein solcher Anblick. Bald waren sie auf den Beinen und wanderten dem Schauplatze der Handlung zu, nach dem bereits von allen Seiten her eine ungeheure Menschenmenge strömte.

Alles deutete darauf hin, dass etwas höchst Wichtiges und Bedeutungsvolles vor sich gehen sollte. Wachposten waren ausgestellt, um den Exerzierplatz für die Truppen frei zu halten, Offiziersburschen schafften auf den Batterien Platz für die Damen, Sergeanten rannten mit Pergamentbänden umher, und Oberst Bulder galoppierte in feldmarschmäßiger Adjustierung auf und nieder, ließ sein Pferd kurbettieren und steigen und schrie sich ohne besonderen Grund heiser und blau. Offiziere flogen hin und her, sprachen mit dem Oberst, erteilten ihren Sergeanten Befehle und eilten von hinnen; sogar die Gemeinen sahen hinter ihren blanken Gewehrläufen so wichtig und geheimnisvoll aus, dass man über die hohe Bedeutung der Vorgänge keinen Augenblick in Zweifel sein konnte.

Mr. Pickwick und seine drei Gefährten stellten sich in die vordersten Reihen und harrten geduldig der Dinge, die da kommen sollten.

Das Gedränge wuchs von Sekunde zu Sekunde, und die Anstrengungen, die sie machen mussten, um sich auf ihren Plätzen zu behaupten, nahmen in den zwei folgenden Stunden ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.

Bald drängte plötzlich alles von hinten nach vorn, wodurch Mr. Pickwick einige Ellen weit vorwärts geschleudert wurde und dabei eine Hast und Elastizität entwickelte, die mit dem würdevollen Ernst, den man an ihm gewohnt war, in grellem Widerspruch stand.

Bald ertönte ein gebieterisches „Zurück!“, und das Ende eines Gewehrkolbens fiel entweder auf Mr. Pickwicks Zehe nieder, um ihm den Wink verständlicher zu machen, oder stemmte sich gegen seine Brust, um dem Befehle größeren Nachdruck zu verleihen.

Dann wieder machten sich Spaßvögel das Vergnügen, mit Aufgebot ihrer ganzen Kraft gegen Mr. Snodgraß anzudrängen und ihn zu ersuchen, das Drücken doch gefälligst sein zu lassen, und einmal, als Mr. Winkle als Zeuge solcher Ungebührlichkeit seine höchste Entrüstung aussprach, schlug ihm ein Schalk von hinten den Hut über die Augen und forderte ihn auf, seinen Kopf in die Tasche zu stecken.

Diese und andre handgreifliche Witze, verbunden mit der unerklärlichen Abwesenheit Mr. Tupmans, der plötzlich spurlos verschwunden war, machten ihre Lage im Ganzen eher unbehaglich als angenehm und beneidenswert.

Endlich durchlief das Gemurmel die Menge, das in solchen Fällen gewöhnlich die höchste Spannung verrät. Alle Augen richteten sich nach dem Ausfalltor. Sekunden atemloser Erwartung; Fahnen flatterten lustig im Wind; Waffen glänzten in der Sonne und Kolonne um Kolonne rückte in die Ebene vor.

Die Truppen machten halt und formierten sich in Reih und Glied, Kommandoworte liefen durch die Reihen; allgemeines Präsentieren und Klirren von Gewehren, und der Kommandant, gefolgt von Oberst Bulder und zahlreichen Offizieren, galoppierte die Front auf und nieder. Die Trompeten schmetterten, die Pferde bäumten sich und wedelten mit den Schweifen; die Hunde heulten, die Menge schrie, die Truppen sammelten sich, und soweit das Auge reichte, sah man auf beiden Seiten nur eine endlose Reihe von roten Röcken und weißen Hosen, starr und regungslos.

Mr. Pickwick hatte so viel Mühe, in dem wogenden Gedränge seine Stellung zu behaupten und, wie durch ein Wunder, den Hufen der Pferde zu entgehen, dass er unmöglich Zeit fand, zu beobachten, was sich vor seinen Augen abspielte, bis die Evolutionen soweit gediehen waren. Als er aber schließlich wieder fest auf den Beinen stand, kannten seine Freude und sein Entzücken keine Grenzen.

„Kann es etwas Schöneres, etwas Herrlicheres geben?“, fragte er Mr. Winkle.

„Nein“, erwiderte der Angeredete, dem schon seit einer Viertelstunde ein untersetzter Mann auf den Zehen stand.

„In der Tat, ein großartiger, ein überwältigender Anblick“, rief Mr. Snodgraß, in dessen Brust plötzlich das Feuer der Dichtkunst aufloderte. „Die tapfern Verteidiger des Vaterlandes im Strahlenglanz vor den friedlichen Bürgern zu sehen, die Gesichter glühend – nicht von kriegerischer Wildheit, nein, von gesitteter Disziplin –, die Augen flammend, nicht von dem rohen Feuer der Raublust oder der Rachgier, nein, von dem sanften Lichte der Humanität und Intelligenz.“

Mr. Pickwick ging vollkommen in den Geist dieser Lobrede ein, konnte ihr jedoch nicht buchstäblich beipflichten, denn das sanfte Licht der Intelligenz brannte doch ziemlich schwach in den Augen der Krieger – als der Ruf ertönte: „Augen grrad aus!“, und die Zuschauer einige Tausend Sehorgane vor sich hatten, die ohne allen Ausdruck gerade vor sich hin starrten.

„Wir haben uns hier trefflich postiert“, sagte Mr. Pickwick, sich nach allen Seiten umschauend. Die Menge hatte sich nämlich nach und nach verlaufen und die Herren waren beinahe allein.

„Vortrefflich“, bestätigten Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Was geschieht jetzt?“, fragte Mr. Pickwick und setzte seine Brille auf.

„Ich – ich – glaube fast“, sagte Mr. Winkle und wurde blass, „ich glaube fast, sie wollen schießen.“

„Unsinn“, versetzte Mr. Pickwick hastig.

„Ich – ich – glaube wirklich, es ist so“, bestätigte Mr. Snodgraß etwas unruhig.

„Unmöglich“, widersprach Mr. Pickwick.

Aber kaum war das Wort seinem Munde entflohen, da legte das ganze halbe Dutzend Regimenter die Gewehre an, als hätten sie alle ein und dasselbe Ziel, nämlich die Pickwickier, und gaben die fürchterlichste Salve ab, die je die Erde erschütterte oder einen ältlichen Herrn aus der Fassung brachte.

In dieser schreckensvollen Lage, auf der einen Seite dem verderblichen Feuer blanker Gewehrläufe ausgesetzt und auf der andern von den anrückenden Truppen bedrängt, zeigte Mr. Pickwick die ganze Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung, die von einem großen Geiste unzertrennlich sind. Er fasste Mr. Winkles Arm, drängte sich zwischen ihn und Mr. Snodgraß und bat die Herren ernstlich, zu bedenken, dass, außer der Möglichkeit, durch den Lärm des Gehörs beraubt zu werden, vom Schießen unmittelbar keine Gefahr zu gewärtigen sei.

„Aber – aber – angenommen, einer von den Soldaten würde sich zufälligerweise vergreifen und scharf laden?“, stellte ihm Mr. Winkle vor, schon bei dem bloßen Gedanken erbleichend. „Ich habe ein Zischen gehört — ssswt – hart an meinen Ohren vorbei.“

„Sollten wir uns nicht lieber flach auf den Boden werfen?“, fragte Mr. Snodgraß.

„Nein, nein, es ist schon vorüber“, antwortete Mr. Pickwick. Seine Lippen bebten und seine Wangen erbleichten, aber kein Wort der Furcht oder Bestürzung entfloh den Lippen des unsterblichen Mannes.

Mr. Pickwick hatte recht; das Feuer wurde eingestellt, aber kaum blieb ihm Zeit, sich wegen der Richtigkeit seiner Meinung Glück zu wünschen, als Leben in die Reihen der Krieger kam. Der heisere Ruf des Kommandos lief die Front entlang, und ehe sich noch einer der Herren in Mutmaßungen über das neue Manöver ergehen konnte, rückte das ganze halbe Dutzend Regimenter mit gefälltem Bajonett im Sturmschritt auf die Stelle zu, die Mr. Pickwick und seine Freunde einnahmen.

Der Mensch ist sterblich, und es gibt einen gewissen Punkt, über den Mannesmut nicht hinaus kann. Einen Augenblick starrte Mr. Pickwick die anrückenden Truppen durch seine Brille an, drehte ihnen dann den Rücken – um den Ausdruck, er floh, erstens als ungebührlich zu vermeiden, und zweitens, weil die Figur des Gelehrten sich durchaus nicht zu dieser Art von Rückzug eignete – und trabte von dannen, immerhin jedoch so schnell, wie es die Beschaffenheit seiner Beine erlaubte.

Ja, er beeilte sich so sehr, dass er das Fürchterliche seiner Lage in seinem ganzen Umfange nicht eher erfasste, als bis es zu spät war.

Die Truppen, die Mr. Pickwick vor wenigen Sekunden durch ihren Anmarsch außer Fassung gebracht hatten, rückten vorwärts, um den Scheinangriff der Belagerer der Zitadelle zu erwidern, und die Folge davon war, dass der Meister und seine beiden Jünger sich plötzlich zwischen zwei Linien von unabsehbarer Ausdehnung eingeschlossen sahen. Die eine rückte im Sturmschritt vor und die andere erwartete mutig den Angriff.

„Hoi!“, schrien die Offiziere der Sturmkolonnen.

„Weg da!“, riefen die Offiziere der Verteidigungslinie.

„Wohin denn?“, kreischten die bestürzten Pickwickier.

„Hoi! Hoi! Hoi!“, war die ganze Antwort.

Es war ein Augenblick grauenvoller Verwirrung; die Erde bebte unter den Tritten der stürmenden Truppen. Ein ersticktes Gelächter; das halbe Dutzend Regimenter war nur noch ein halbes Tausend Meter entfernt, und die Sohlen von Mr. Pickwicks Stiefeln schwebten in den Lüften.

Mr. Snodgraß und Mr. Winkle hatten jeder mit bewunderungswürdiger Gewandtheit einen unfreiwilligen Purzelbaum geschlagen, und das Erste, was sie sahen, war ihr hochverehrter Meister, der in einiger Entfernung seinem in lustigen Sätzen dahinrollenden Hute nachlief.

Es gibt wenige Augenblicke im menschlichen Leben, in denen man mit seinem Missgeschick so wenig auf Verständnis oder Mitleid stößt, als wenn man seinem Hut nachläuft. Es gehört keine geringe Kaltblütigkeit und ein hoher Grad von Beurteilungskraft dazu, einen fortrollenden Hut wieder einzufangen. Eile ist unangebracht: Man überrennt ihn; verfällt man in das entgegengesetzte Extrem, verliert man ihn. Da heißt es, den Flüchtling genau im Auge behalten, behutsam und vorsichtig sein, die Gelegenheit scharf abpassen, ihm allmählich vorkommen, dann plötzlich die Hand ausstrecken, ihn bei der Krempe packen und fest auf das Haupt stülpen. Und dabei nur ja freundlich lächeln, als mache einem der Vorfall genauso viel Spaß wie dem lieben Zuschauer!

Eine zarte Brise wehte, und Mr. Pickwicks Hut rollte spielend dahin. Der Wind blies stärker und Mr. Pickwick desgleichen, und lustig schoss der Hut dahin, wie das Fischlein in der klaren Flut, und wäre wohl außer seines Herrn Bereich gerollt, hätte nicht in dem Augenblick, als Mr. Pickwick eben im Begriffe stand, ihn seinem Schicksale zu überlassen, eine höhere Hand eingegriffen.

Mr. Pickwick war nämlich völlig erschöpft und, wie gesagt, eben im Begriff, die Jagd aufzugeben, als der Hut mit einiger Heftigkeit an das Rad eines Wagens getrieben wurde, der neben einem halben Dutzend andrer Fuhrwerke stand, und zwar an der Stelle, auf die der Gelehrte zusteuerte. Seinen Vorteil wahrnehmend, sprang Mr. Pickwick rasch vor, versicherte sich seines Eigentums, stülpte es auf seinen Kopf und hielt inne, um Atem zu schöpfen.

Noch keine halbe Minute hatte er so dagestanden, da hörte er sich laut beim Namen rufen und erkannte mit einem Male die Stimme Mr. Tupmans. Er blickte auf und sah ein Bild, das ihn mit Verwunderung und Freude erfüllte.

In einer offnen Halbchaise, deren Pferde ausgespannt waren, um mehr Platz auf dem engen Raum zu schaffen, saß ein stattlicher alter Gentleman in einem blauen Rock mit blanken Knöpfen, Manchesterbeinkleidern und Stulpenstiefeln, zwei junge Damen mit Schleier und Federhüten, ein junger Herr, der in eine der beiden jungen Damen mit Schleier und Federhüten verliebt zu sein schien, eine Dame von schwer abzuschätzendem Alter – wahrscheinlich die Tante der Vorerwähnten – und Mr. Tupman, so behaglich und ungeniert, als ob er von jeher zur Familie gehört hätte.

Hinten auf der Chaise war ein Korb von ansehnlicher Größe aufgepackt – einer von jenen Körben, die in einem kontemplativen Geiste Vorstellungen von kaltem Geflügel, Zungen und Weinflaschen erwecken –, und auf dem Bock saß in einem Zustand von Schlaftrunkenheit ein fetter rotbackiger Junge, den kein spekulativer Beobachter einen Augenblick betrachten konnte, ohne in ihm nicht mit Sicherheit eine Person zu erkennen, die dazu berufen sein musste, den Inhalt des vorerwähnten Korbes zur geneigten Zeit zutage zu fördern.

Mr. Pickwick hatte kaum einen hastigen Blick auf diese anziehenden Gegenstände geworfen, als er abermals von seinem treuen Schüler begrüßt wurde.

„Pickwick, Pickwick“, rief Mr. Tupman, „geschwind, kommen Sie herauf.“

„Kommen Sie, mein Herr. Bitte, kommen Sie doch“, sagte auch der stattliche Gentleman. „Joe! – Der verdammte Junge, jetzt schläft er wieder – Joe, lass den Tritt hinunter.“

Der fette Junge schob sich langsam vom Bock, ließ den Tritt nieder und hielt einladend den Wagenschlag offen. In diesem Augenblicke erschienen Mr. Snodgraß und Mr. Winkle.

„Platz genug für alle, meine Herren. Zwei innen; einer außen. Joe, mach Platz auf dem Bock. Nun, Sir, kommen Sie!“

Der stattliche Gentleman streckte seinen Arm aus und half zuerst Mr. Pickwick und dann Mr. Snodgraß in den Wagen. Mr. Winkle stieg auf den Bock, der Junge setzte sich daneben und versank sofort in Schlummer.

„Meine Herren“, sagte der stattliche Gentleman, „außerordentliches Vergnügen. Kenne Sie sehr gut, meine Herren, wenn Sie sich auch vielleicht meiner nicht mehr erinnern. Brachte letzten Winter mehrere Abende in Ihrem Klub zu – traf diesen Morgen unvermutet meinen Freund Mr. Tupman und war sehr erfreut, ihn zu sehen. Nun, Sir, und wie befinden Sie sich? Sehen vortrefflich aus – auf Ehre!“

Mr. Pickwick dankte für das Kompliment und schüttelte dem freundlichen Herrn mit den Stulpenstiefeln herzlich die Hand.

„Nun, und wie geht es Ihnen, Sir?“, fragte der stattliche Gentleman und wandte sich mit väterlicher Teilnahme an Mr. Snodgraß. „Vortrefflich? – Nun, das ist schön – das ist schön. Und wie geht es Ihnen, Mr. Winkle. Gut? Freut mich zu hören. Freut mich wirklich ungemein. Meine Töchter, meine Herren – meine Deerns, und dies ist meine Schwester, Miss Rachel Wardle. Sie ist immer noch Fräulein, so leid es ihr auch tut. Fräulein! – Sie verstehen. Hä?“

Der stattliche Gentleman stieß Mr. Pickwick vertraulich mit dem Ellenbogen in die Rippen und lachte herzlich.

„Aber Bruder!“, flötete Miss Wardle mit einem bittenden Blick.

„Freilich, freilich“, erwiderte der stattliche Gentleman. „Stimmt doch, oder nicht? Pardon, meine Herren, hier mein Freund Mr. Trundle. So, und jetzt kennen sich die Herrschaften, und da können wir’s uns ja bequem machen und sehen, was da drüben alles vorgeht; dächte ich jedenfalls!“

Der stattliche Gentleman setzte seine Brille auf, Mr. Pickwick nahm sein Fernglas, und alles stand aufrecht im Wagen und sah über die Schulter des Vordermannes den Evolutionen der Truppen zu.

Das Manöver war in vollem Gang. Man sah eine Reihe Soldaten über die Köpfe einer andern wegfeuern und davonrennen, Karrees bilden und die Offiziere in die Mitte nehmen. Dann wurde an Strickleitern auf der einen Seite der Schanze hinab- und auf der andern wieder hinaufgeklettert, man riss Barrikaden von Schanzkörben nieder, kurz, benahm sich so tapfer wie nur irgend möglich.

Ungeheure Kanonen wurden mit Instrumenten, die wie riesige Schornsteinfegerwische aussahen, geladen, und die Vorbereitungen, bis sie losgeschossen wurden, und endlich gar das Abbrennen selbst waren mit einem so entsetzlichen Lärm verbunden, dass die Lüfte vom Angstgeschrei der Damen widerhallten.

Die jungen Misses Wardle waren so erschrocken, dass Mr. Trundle eine von ihnen stützen musste, während Mr. Snodgraß der andern seine Schulter lieh und Mr. Wardles Schwester einen solchen Nervenschock bekam, dass es Mr. Tupman für unumgänglich notwendig hielt, seinen Arm um ihre Taille zu legen, um sie aufrecht zu halten. Alles war in der größten Aufregung, nur der fette Junge nicht, der so sanft fortschlief, als wäre der Kanonendonner ein Wiegenlied.

,,Joe, Joe!“, rief der stattliche Gentleman, als die Zitadelle genommen war und Belagerer und Belagerte sich zum Essen lagerten. „Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Bitte, möchten Sie ihn nicht ein bisschen in die Waden zwicken, Sir, anders ist er nicht zu erwecken. So, besten Dank, Sir. Den Korb ausgepackt, Joe!“

Der fette Junge rutschte vom Bock herunter und begann den Korb auszuleeren, wobei er einen größeren Eifer entfaltete, als man bei seiner Trägheit von ihm hätte erwarten können.

„Jetzt müssten wir allerdings zusammenrücken“, sagte der stattliche Gentleman.

Darauf wurden zunächst viele Witze über die weiten Ärmel der Damen gemacht, die jetzt wohl sehr zerdrückt werden würden, und die Damen erröteten ausgiebig über die scherzhaften Einladungen, sie möchten sich doch den Herren auf den Schoß setzen, bis endlich die ganze Gesellschaft richtig Platz in dem Wagen gefunden hatte und der stattliche Gentleman den Inhalt des Korbes aus den Händen des fetten Jungen entgegennahm, der zu diesem Zweck hinten auf die Achse gestiegen war.

„Jetzt, Joe, Messer und Gabeln!“

Die Messer und Gabeln wurden übergeben und die Damen und Herren im Wagen und Mr. Winkle außen auf dem Bock mit diesen nützlichen Werkzeugen versehen.

„Teller, Joe, Teller!“

Die Teller wurden auf gleiche Weise verteilt.

„Jetzt, Joe, das Geflügel. Verdammter Junge, schläft er schon wieder. Joe, Joe!“ – Einige Winke mit einem Stock auf den Kopf, und der fette Junge erwachte langsam aus seiner Schlaftrunkenheit. – „Geschwind, gib die Esswaren her!“

Es lag etwas in dem Klange der letzten Worte, was den Schmalzjüngling lebendig machte. Er sprang auf und starrte mit schwerem Auge, aus den dicken Pausbacken hervorblinzelnd, heiß und gierig auf die Speisen, die er dem Korbe entnahm.

„Nun, mach fix!“, rief Mr. Wardle, denn der fette Junge warf äußerst verliebte Blicke auf einen Kapaun, von dem er sich kaum trennen zu können schien. Mit einem tiefen Seufzer und einem glühenden Blick auf den wohlgemästeten Vogel übergab er ihn endlich mit widerstrebender Hand seinem 1Ierrn.

„So ist’s recht – sieh genau nach. Jetzt die Zunge – die Taubenpastete. Den Kalbsbraten und den Schinken nicht vergessen – und die Hummern. Nimm den Salat aus dem Tuche, so, und die Servietten.“

Dies waren die hastigen Befehle, die Mr. Wardles Lippen entströmten, während er die genannten Gegenstände in Empfang nahm und jedem eine Menge Teller in die Hand gab oder auf die Knie setzte.

„Na, ist das nicht fein?“, fragte der heitere Mann, als das Werk der Zerstörung begonnen hatte.

„Fein!“, sagte Mr. Winkle und zerlegte sein Huhn auf dem Bock.

„Glas Wein gefällig?“

„Wenn ich bitten darf.“

„Ich will Ihnen lieber eine Flasche hinaufreichen, oder?“

„Sie sind sehr gütig.“

„Joe!“

„Ja, Sir?“ Joe schlief diesmal nicht, weil er soeben ein Kalbfleischpastetchen stibitzt hatte.

„Flasche Wein dem Herrn auf dem Bock. Wohl bekomm’s, Sir.“

„Danke.“

Mr. Winkle leerte sein Glas und stellte die Flasche neben sich.

„Darf ich mir gestatten, mein Herr?“, sagte Mr. Trundle zu Mr. Winkle.

„Prosit!“, antwortete Mr. Winkle. Die beiden Herren stießen miteinander an, und die ganze Gesellschaft beteiligte

„Wie die liebe Familie mit dem fremden Herrn kokettiert!“ flüsterte Miss Wardle, die Tante, mit echtem Altjungfernneid ihrem Bruder zu.

„Wüsste nicht“, sagte aufgeräumt der alte Herr. „Finde es ganz natürlich; sozusagen – nichts Außergewöhnliches. Mr. Pickwick, etwas Wein gefällig?“

Mr. Pickwick, inzwischen tief in den Bauch einer Taubenpastete eingedrungen, nahm dankend an.

„Liebe Emilie“, verwies die Jungfer Tante mit Gouvernantenmiene, „sprich doch nicht so laut, Kind.“

„Aber Tante!“

„Die Tante und der kleine alte Herr wollen, glaube ich, allein das Recht haben zu reden“, flüsterte Miss Isabella Wardle ihrer Schwester Emilie zu. Die jungen Damen lachten herzlich, und die alte bemühte sich, liebenswürdig auszusehen, konnte es aber nicht zuwege bringen.

„Junge Mädchen sind so lebhaft“, sagte sie zu Mr. Tupman mit einer Miene des Bedauerns, als ob Lebhaftigkeit Konterbande und, ohne höhere Erlaubnis, sündhaft und verbrecherisch wäre.

„Gewiss, wohl“, entgegnete Mr. Tupman in einem Ton, der der erwarteten Antwort nicht ganz entsprach. „Es ist entzückend.“

„Hm!“, erwiderte die jungfräuliche Tante etwas verstimmt.

„Darf ich mir erlauben?“, fragte Mr. Tupman säuselnd, berührte Tante Rachels reizendes Händchen und hielt die Flasche empor. „Darf ich mir erlauben?“

„Ach, mein Herr!“

Mr. Tupmans Augen leuchteten vielsagend, und Miss Rachel drückte Besorgnis aus, man könnte schon wieder Kanonen losschießen, in welchem Falle sie natürlich abermals auf den Beistand des Herrn rechnen würde.

„Halten Sie meine Nichten für hübsch?“, flüsterte sie zärtlich.

„Ausnehmend, wenn ihre Tante nicht hier wäre“, versetzte der gewandte Pickwickier mit einem Glutblick.

„Oh, Sie Schlimmer! – Aber wirklich, wenn ihr Teint ein wenig lebhafter wäre, glauben Sie nicht, sie würden nicht übel aussehen? – Bei künstlichem Licht, meine ich.“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Tupman zerstreut.

„Oh, Sie Spötter – ich weiß, worauf Sie anspielen.“

„Worauf denn?“, fragte Mr. Tupman, der sich einen Augenblick gar nichts gedacht hatte.

„Sie wollten sagen, Isabella hält sich schlecht – ihr Männer seid so scharfe Beobachter. Ja, ja, es ist so; man kann es nicht leugnen, und gewiss, wenn es etwas gibt, was ein Mädchen entstellt, so ist es eine schlechte Haltung. Wie oft habe ich ihr gesagt, wenn sie nur ein bisschen älter sein wird, wird es sie geradezu verunstalten. Ja, ja, Sie sind ein Spötter!“

Mr. Tupman hatte nichts dagegen, so wohlfeil zum Rufe eines Frauenkenners zu kommen. Er setzte eine schlaue Miene auf und lächelte geheimnisvoll.

„Welch ein sarkastisches Lächeln!“, sagte Miss Rachel im Tone der Bewunderung. „Ich versichere Ihnen, ich fürchte mich vor Ihnen.“

„Sie fürchten sich vor mir!?

„Oh, Sie können mir nichts verbergen; ich weiß, was dieses Lächeln zu bedeuten hat. – Oh, wie gut!“

„Was denn?“, fragte Mr. Tupman, der selbst nicht den mindesten Begriff davon hatte.

„Sie meinen“, flüsterte die liebenswürdige Tante, „Sie meinen, Isabellas schlechte Haltung ist ebenso schlimm wie Emiliens Dreistigkeit. Ja, ja, sie ist sehr vorlaut! Sie können sich nicht denken, was mir das zuweilen für Sorgen macht – ich weine oft stundenlang deswegen. – Mein lieber Bruder ist so gut, so arglos, dass er es gar nicht sieht. Ach, wenn er es gewahr würde, es müsste ihm sicher das Herz brechen. Ich wollte, ich könnte mir einreden, es wäre nur eine schlechte Angewohnheit. Ach, wenn es so wäre!“

Die zärtliche Verwandte stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte hoffnungslos den Kopf.

„Ich möchte wetten, die Tante spricht von uns“, flüsterte Miss Emilie Wardle ihrer Schwester zu. „Sie sieht so boshaft aus.“

„Glaubst du?“, fragte Isabella. „Hm! Tante, liebe Tante!“

„Was, mein Liebling?“

„Ich fürchte so, du wirst dich erkälten, Tante. Binde dir doch ein seidenes Tuch um dein liebes altes Gesicht. Du musst dich in Acht nehmen, denk an deine Jahre!“

So wohlverdient diese kleine Züchtigung auch sein mochte, so viel Rachsucht klang aus ihr. Auf welche Weise sich die Entrüstung der Tante wieder Luft gemacht haben würde, ist schwer zu erraten, aber zum Glück gab Mr. Wardle unabsichtlich der Aufmerksamkeit der Gesellschaft eine andre Richtung, indem er laut nach Joe rief.

„Verdammter Junge, schläft er schon wieder.“

„Ein höchst seltsamer Knabe das“, bemerkte Mr. Pickwick, „ist er immer so schläfrig?“

„Schläfrig?!“, sagte der alte Herr. „Er schläft den ganzen Tag. Er schläft beim Gehen ein und schnarcht, wenn er bei Tisch serviert.“

„Sehr seltsam“, bemerkte Mr. Pickwick.

„Ja, in der Tat, seltsam“, versetzte der alte Herr. „Ich bin stolz auf den Jungen – ich würde mich unter keiner Bedingung von ihm trennen, wahrhaftig; es ist ein Naturspiel! He, Joe – Joe, räum die Sachen ab und mach eine neue Flasche auf – hörst du?“

Der fette Junge erwachte, öffnete die Augen, würgte das ungeheure Stück Taubenpastete hinunter, an dem er gerade gekaut hatte, als ihn der Schlaf übermannt, und kam langsam dem Befehl seines Herrn, auf die Überbleibsel des Mahles schielend, nach und räumte das Geschirr in den Korb. Eine frische Flasche erschien und wurde alsbald geleert; der Korb kam wieder auf seinen alten Platz, der fette Junge stieg auf den Bock, die Brillen und Ferngläser wurden abermals hervorgenommen, und die Manöver der Armee begannen aufs Neue. Die Geschütze brüllten, die Damen kreischten, eine Mine flog zur allgemeinen Befriedigung auf, und Militär und Gesellschaft traten den Heimweg an.

„Ich hoffe“, sagte der alte Herr beim gemeinsamen Händeschütteln, als das Schauspiel zu Ende war, „ich hoffe, wir sehen uns also morgen.“

„Ganz bestimmt“, erwiderte Mr. Pickwick.

„Sie haben doch meine Adresse?“

„Manor Farm, Dingley Dell“, sagte Mr. Pickwick, sein Taschenbuch zu Rate ziehend.

„Stimmt“, versetzte der alte Herr, „und ich gedenke, Sie vor einer Woche nicht fortzulassen. Sie müssen alles besichtigen, was irgend sehenswert ist. Wenn Ihnen am Landleben etwas liegt, so kommen Sie nur zu mir, dort finden Sie es in Hülle und Fülle. Joe – verdammter Junge, schläft er schon wieder – Joe, hilf Tom einspannen.“

Die Pferde wurden eingespannt, der Kutscher bestieg seinen Bock, der fette Junge rutschte an seine Seite, man verabschiedete sich allerseits, und der Wagen rollte von dannen.

Als die Pickwickier sich umwandten, um einen letzten Blick auf die Scheidenden zu werfen, fielen die Strahlen der untergehenden Sonne eben auf deren Gesichter und beleuchteten die Gestalt des fetten Jungen. Sein Kopf war ihm auf die Brust gesunken, und er schlummerte fest.

6. Kapitel

Ein kurzes Kapitel, in dem unter anderem berichtet wird, wie Mr. Pickwick sich verleiten, ließ, zu kutschieren, und Mr. Winkle, zu reiten, und wie sie beide damit zurechtkamen

Hell und heiter war der Himmel, balsamisch war die Luft und alles ringsum lieblich anzuschauen, als Mr. Pickwick, in den Anblick der herrlichen Natur versunken, an dem Geländer der Brücke von Rochester lehnte und auf das Frühstück wartete. Die Landschaft bot in der Tat einen so reizenden Anblick, dass sie wohl auch auf ein weniger beschauliches Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht haben würde.

Dem Beschauer zur Linken lag eine verfallene Mauer, an manchen Stellen zusammengestürzt und an andern in schweren Massen über das schmale. Ufer vorhängend. Die ausgezackten und scharf umrissenen Uferfelsen bedeckten dichte Büschel von Seegras, die in jedem Lufthauch erzitterten, und der grüne Efeu rankte sich melancholisch um das düstere, verfallene Gemäuer.

Im Hintergrund erhob sich das alte Schloss mit seinen dachlosen Türmen, die massiven Mauern zerbröckelt, ebenso stolz von früherer Macht erzählend wie damals, als es vor siebenhundert Jahren von Waffenklang oder festlichen Gelagen widerhallte.

Auf beiden Seiten dehnten sich die Ufer der Medway, mit Saatfeldern und Wiesen bedeckt, hier und dort von einer Windmühle oder einer fernen Kirche unterbrochen; soweit das Auge reichte, eine volle und bunte Landschaft, deren Reiz die wechselnden Schatten noch erhöhten, die darüber hineilten, wie die leichten Wolken in dem Licht der Morgensonne fortzogen.

Der geräuschlos dahingleitende Fluss spiegelte das klare Himmelsblau, und die Ruder der Fischer tauchten mit hellem, plätscherndem Ton in das Wasser, wie die plumpen, aber pittoresken Boote langsam stromabwärts trieben.

Ein tiefer Seufzer und ein leichter Schlag auf die Schulter weckten Mr. Pickwick aus seinen angenehmen Träumen, in die ihn diese Szenerie eingewiegt hatte, und als er sich umwandte, stand der trübsinnige Jemmy vor ihm.

„Sie betrachten die Gegend, Sir?“

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick.

„Und freuen sich, dass Sie so früh aufgestanden sind?“

Mr. Pickwick nickte stumm.

„Ach, man sollte immer früh aufstehen, um die Sonne in ihrem vollen Glanze zu genießen, denn sie strahlt selten so hell tagsüber. Der Morgen des Tages und der Morgen des Lebens gleichen sich nur zu sehr.“

„Sehr richtig, Sir“, sagte Mr. Pickwick.

„Wie oft pflegt man zu sagen“, fuhr der Trübsinnige fort, „der Tag fängt zu schön an, um so zu bleiben, und wie gut lässt sich das auf unser tägliches Leben anwenden! O Gott, was würde ich darum geben, wenn ich die Tage meiner Kindheit zurückrufen oder sie für immer vergessen könnte!“

„Sie haben viel Trauriges erlebt?“, fragte Mr. Pickwick teilnehmend.

„Allerdings“, versetzte der Trübsinnige hastig, „mehr als jemand, der mich jetzt kennt, für möglich halten sollte.“

Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu: „Hat Sie wohl je an einem solchen Morgen schon der Gedanke beschlichen, dass im Ertrinken Friede und Seligkeit liegen könnte?“

„Gott steh mir bei, nein“, erwiderte Mr. Pickwick, einen Schritt von der Balustrade zurücktretend, weil ihn der Gedanke an die Möglichkeit erschreckte, der Trübsinnige könnte ihn hinunterschleudern, um ihn den Versuch machen zu lassen.

„Ich bin schon oft mit dem Gedanken umgegangen“, fuhr der Trübsinnige fort, ohne auf Mr. Pickwicks Bewegung zu achten. „Die stille kühle Flut scheint mir eine Einladung zur Ruhe und zum Frieden zu murmeln. – Ein Sprung – ein Plätschern – ein kurzer Kampf – ein Wasserwirbel, der allmählich abnimmt und immer kleinere Wellen wirft – die Gewässer schließen sich, und alles Erdenleid ist vorüber.“

Die eingesunkenen Augen des Trübsinnigen leuchteten auf, während er so sprach; doch seine momentane Erregung wich sogleich wieder seiner gewohnten Ruhe, und er fuhr gelassen fort:

„Genug davon! Ich möchte wegen etwas andern mit Ihnen sprechen. Sie baten mich vorgestern Abend, Ihnen vorzulesen, und hörten aufmerksam zu …“

„Allerdings“, versetzte Mr. Pickwick, „und ich meinte wirklich …“

„Ich habe nicht gefragt, um Ihr Urteil zu hören, und ich bedarf dessen nicht“, unterbrach ihn der Trübsinnige. „Sie reisen zum Vergnügen und zur Belehrung. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen ein interessantes Manuskript mitteilte? – Doch merken Sie wohl, interessant, nicht etwa wegen seines schauerlichen und unwahrscheinlichen Inhalts, sondern als ein Blatt aus der Romantik des wirklichen Lebens. Würden Sie es wohl dem Klub mitteilen, den Sie so häufig erwähnten?“

„Sicherlich“, erwiderte Mr. Pickwick, „wenn Sie es wünschen. Es würde sodann den Klubakten einverleibt werden.“

„Also gut“, sagte der Trübsinnige und fragte nach Mr. Pickwicks Adresse.

Mr. Pickwick nannte seine und seiner Freunde wahrscheinliche Reiseroute, der Trübsinnige notierte sie sorgfältig in einem schmutzigen Taschenbuch, lehnte Mr. Pickwicks Einladung zum Frühstück ab, begleitete ihn bis zum Gasthof und ging dann langsam seines Weges.

Mr. Pickwick wurde bereits von seinen drei Reisegefährten beim Frühstück erwartet, das ihrer, trefflich serviert, im Speisesaal harrte. Sie nahmen Platz, und gekochter Schinken, Eier, Tee und Kaffee begannen mit einer Schnelligkeit zu verschwinden, die sowohl von der Vorzüglichkeit der Speisen wie von dem guten Appetit der Reisenden Zeugnis ablegte.

„Aber jetzt müssen wir an Manor Farm denken“, sagte Mr. Pickwick. „Wie wollen wir die Reise dorthin machen?“

„Es wäre vielleicht das Beste, wenn wir den Kellner darüber fragten“, meinte Mr. Tupman, und so wurde denn der Kellner gerufen.

„Dingley Dell – fünfzehn Meilen, meine Herren – Feldwege –. Postpferde, meine Herren?“

„In einer Postchaise würden nur zwei von uns Platz haben“, gab Mr. Pickwick zu bedenken.

„Allerdings, Sir – bitte um Entschuldigung, Sir – sehr hübscher vierrädriger Wagen hier, Sir – Sitze innen für zwei Herren – einer zum Kutschieren – oh, ich bitte um Vergebung, Sir – das würde ja auch nur für drei genügen.“

„Was ist da zu tun?“, fragte Mr. Snodgraß.

„Vielleicht beliebt es einem von den Herren, zu reiten?“, versetzte der Kellner mit einem Blick auf Mr. Winkle. „Sehr gute Reitpferde, Sir. Wenn einer von Mr. Wardles Leuten nach Rochester kommt, kann er die Pferde und den Wagen zurückbringen, Sir.“

„Das lässt sich hören“, meinte Mr. Pickwick. „Winkle, wollen Sie reiten?“

In den verborgensten Tiefen von Mr. Winkles Herzen stiegen große Bedenken auf, aber da er sich um keinen Preis etwas vergeben wollte, erwiderte er sogleich mit der größten Zuversicht:

„Mit Vergnügen. Ich ziehe diese Art zu reisen sogar jeder andern vor.“

Mr. Winkle hatte sein Schicksal herausgefordert und jetzt gab es natürlich kein Zurück mehr.

„Also lassen Sie alles für elf Uhr vorbereiten“, befahl Mr. Pickwick.

„Sehr wohl, Sir“, versetzte der Kellner und entfernte sich.

 

Nach dem Frühstück verfügten sich die Reisenden auf ihre Zimmer, um die Kleider zu wechseln und ihre Effekten einzupacken. Mr. Pickwick hatte seine Vorbereitungen beendigt und betrachtete eben vom Fenster des Gastzimmers aus die Vorübergehenden auf der Straße, da trat der Kellner ein und meldete, der Wagen stünde bereit; wie zur Bestätigung dieser Meldung wurde im gleichen Augenblick der Wagen vor dem Hotel sichtbar.

Es war ein seltsamer, kleiner grüner Kastenwagen auf vier Rädern mit einem Sitz für zwei Personen, so eng und niedrig wie eine Schublade, und einem hohen Bock, der freilich nur einen Sitzplatz aufwies. Er wurde von einem Braunen gezogen, dessen Knochenbau zwar riesenhaft, aber sonst durchaus ebenmäßig war. Daneben stand ein Stallknecht mit einem anderen Riesengaul – offenbar einem nahen Verwandten des Ersten –, den man für Mr. Winkle gesattelt hatte.

„Lieber Gott“, rief Mr. Pickwick aus, als er mit seinen Freunden vor die Tür trat, „lieber Gott, wer soll denn kutschieren? Daran habe ich ja gar nicht gedacht.“

„Natürlich Sie“, sagte Mr. Tupman.

„Ich?“

„Bloß keine Angst nicht, Sir“, warf der Stallknecht ein. „Garantiert lammfromm; mit dem würde ja ein Kind fertig werden.“

„Er ist also nicht scheu?“, fragte Mr. Pickwick.

„Scheu, Sir? – Der scheut nicht, und wenn er an einem ganzen Wagen voll Affen mit verbrannten Schwänzen vorbei müsste.“

Diese Versicherung zerstreute die letzten Bedenken; Mr. Tupman und Mr. Snodgraß stiegen ein, und Mr. Pickwick erklomm den Bock.

„Nun, Glanz-Willem“, sagte der Stallknecht zu seinem Adjunkten, „gib dem Herrn die Zügel.“

Der Glanz-Willem, wahrscheinlich wegen seines angepappten Haares und seines fettschimmernden Gesichtes so genannt, legte die Zügel in Mr. Pickwicks linke Hand, und der Stallknecht drückte ihm die Peitsche in die rechte.

„Brrr!“, rief Mr. Pickwick, als der gigantische Vierfüßler eine entschiedene Neigung an den Tag legte, den Wagen nach rückwärts in die Fenster des Gastzimmers zu drängen.

„Brrr!“, wiederholten Mr. Snodgraß und Mr. Tupman aus dem Wagen.

„’s is bloß Stallfeuer, Sir“, sagte der Oberstallknecht ermutigend. „Halt ihn fest, Willem!“

Der Adjunkt tat der Lebhaftigkeit des Tieres Einhalt und der Stallknecht trat zu Mr. Winkle, um ihm beim Aufsteigen behilflich zu sein.

„Auf der andern Seite, Sir, wenn’s gefällig ist“, sagte er.

„Mir scheint gar, der Herr steigt rechts auf“, murmelte grinsend ein Postknecht zur unendlichen Erheiterung des Kellners.

So belehrt, kletterte Mr. Winkle in den Sattel, ungefähr mit der Leichtigkeit, mit der er seitlich an einem Linienschiff aufgeentert wäre.

„Alles in Ordnung?“, fragte Mr. Pickwick mit einem dunkeln Vorgefühl, dass die Verwirrung jetzt erst recht losgehen würde.

„Alles in Ordnung!“, antwortete Mr. Winkle mit beklommener Stimme.

„Also fertig!“, sagte der Stallknecht. „Nur die Zügel nicht loslassen, Sir.“

Und fort rollte der Wagen, und fort sprengte Mr. Winkle, zum größten Gaudium des ganzen dienenden Gasthofpersonals.

„Warum geht er denn immer seitwärts?“, rief Mr. Snodgraß im Wagen Mr. Winkle im Sattel zu.

„Es ist mir unerklärlich“, erwiderte Mr. Winkle, dessen Pferd in der seltsamsten Weise, den Kopf nach der einen und den Schweif nach der andern Seite der Straße gekehrt, einhertraversierte.

Mr. Pickwick hatte keine Zeit, dies oder sonst irgendetwas zu beachten, da seine gesamten körperlichen und geistigen Fähigkeiten auf die Zügelung seines eignen Pferdes konzentriert waren, das die sonderbarsten Eigenschaften entfaltete, die zwar für jeden Zuschauer äußerst interessant, für die Insassen des Wagens aber nicht im gleichen Maße unterhaltend waren.

Abgesehen davon, dass es auf eine höchst lästige und für Mr. Pickwick sehr peinliche Weise den Kopf beständig in die Höhe warf und sich so stark in die Zügel legte, dass der Gelehrte sie kaum festzuhalten vermochte, zeigte es auch eine sonderbare Neigung, bald plötzlich einen Seitensprung zu machen, bald ebenso plötzlich wieder stillzustehen und dann wieder etliche Minuten hindurch so rasch davonzurasen, dass an ein Halten nicht zu denken war.

„Was will es denn eigentlich nur?“, sagte Mr. Snodgraß, als das Pferd dieses Manöver zum zwanzigsten Male wiederholte.

„Das weiß der Himmel!“, versetzte Mr. Tupman. „Es hat ganz den Anschein, als ob es scheute. Meinen sie nicht auch?“

Mr. Snodgraß hatte eine Antwort auf der Zunge, als er durch den Ausruf Mr. Pickwicks: „O Gott, ich habe die Peitsche verloren!“ unterbrochen wurde.

„Heda!“, rief Mr. Snodgraß, als Mr. Winkle auf seinem hohen Ross herantrabte, den Hut über die Ohren gezogen und von der heftigen Bewegung ganz zusammengeschüttelt. „Ach, lieber Winkle, bitte, heben Sie doch die Peitsche auf!“

Mr. Winkle ruderte mit den Zügeln, bis er ganz blau im Gesicht war, und als es ihm endlich gelang, das Schlachtross zum Stehen zu bringen, stieg er ab, reichte Mr. Pickwick die Peitsche und schickte sich an, wieder aufzusteigen.

Ob nun das Riesentier bei seinem Übermaß an Temperament ein Verlangen fühlte, sich mit Mr. Winkle einen kleinen unschuldigen Scherz zu erlauben, oder ob es ihm plötzlich einfiel, dass es die Reise zu seinem Vergnügen ebenso gut ohne Reiter vollenden könnte – sind Fragen, die wir natürlich nicht mit Bestimmtheit zu beantworten imstande sind. So viel ist jedenfalls gewiss, dass, welche Beweggründe auch in seiner Seele wirkten, Mr. Winkle kaum den Fuß in den Steigbügel gesetzt hatte, als es durch eine rasche Bewegung die Zügel über den Kopf schnellte und um ihre volle Länge zurückwich.

„Ruhig, ruhig, mein gutes Tier“, rief Mr. Winkle besänftigend, „komm, gutes altes Pferd!“

Allein „das gute Tier“ war taub gegen Schmeichelei. Je mehr sich Mr. Winkle bemühte, sich ihm zu nähern, desto mehr wich es zurück, allen Kosenamen zum Trotz.

Wohl zehn Minuten drehten sich Mr. Winkle und das Pferd im Kreise herum und waren nach dieser Zeit noch ebenso weit voneinander entfernt wie bei Beginn – eine höchst peinliche Sache in Anbetracht des Umstandes, dass auf der einsamen Landstraße auf Beistand nicht zu rechnen war.

„Was soll ich nur tun?“, rief Mr. Winkle, nachdem er seine Experimente noch eine geraume Zeit vergeblich fortgesetzt hatte. „Ich kann dem Luder nicht beikommen.“

„Sie werden wohl am besten tun, es zu führen, bis wir zu einem Schlagbaum kommen“, riet ihm Mr. Pickwick.

„Aber wenn es nicht geht!“, rief Mr. Winkle zurück. „Kommen Sie doch und halten Sie es.“

Mr. Pickwick, immer die Güte und Gefälligkeit selbst, warf seinem Gaul die Zügel über den Rücken, stieg vom Bocke und eilte, Mr. Snodgraß und Mr. Tupman im Wagen zurücklassend, seinem unglücklichen Gefährten zu Hilfe.

Kaum sah jedoch das Reitpferd Mr. Pickwick mit der Peitsche in der Hand herankommen, als es seine vorher kreisende Bewegung in eine so entschieden retrograde verwandelte, dass es Mr. Winkle, der immer noch das Ende der Zügel festhielt, fast im Trabe mit sich fortriss.

Mr. Pickwick wollte ihm zu Hilfe eilen, doch je schneller er vorwärts lief, desto schneller ging das Pferd rückwärts. Es scharrte dabei mit den Hufen, wühlte den Staub auf, und endlich musste Mr. Winkle, dem die Arme fast ausgerissen wurden, die Zügel fahrenlassen.

Das Pferd stutzte, schüttelte den Kopf, machte kehrt, trabte ruhig nach Rochester zurück und überließ es Mr. Winkle und Mr. Pickwick, sich gegenseitig in stummer Bestürzung anzustarren.

Ein rasselndes Geräusch in einer kleinen Entfernung erregte jetzt ihre Aufmerksamkeit. Sie blickten auf.

„Gott steh mir bei!“, rief Mr. Pickwick, außer sich vor Entsetzen. „Jetzt geht auch das andre durch.“

Es war nur zu wahr. Das sich selbst überlassene Tier, durch den Lärm erschreckt, jagte mit dem Wagen davon. Mr. Tupman sprang in die Hecke, Mr. Snodgraß folgte seinem Beispiel, und das Pferd schmetterte den Wagen an ein Brückengeländer, dass die Räder von den Achsen fielen und der Kutschkasten von dem Bock getrennt wurde. Dann blieb es stehen und betrachtete mit Seelenruhe die Verheerung, die es angerichtet hatte.

Die erste Sorge Mr. Pickwicks und Mr. Winkles war natürlich, ihren unglücklichen Freunden beizuspringen, wobei sie sich zu ihrer großen Beruhigung davon überzeugten, dass es nur ein paar Risse an den Kleidern und Hautabschürfungen gesetzt hatte. Dann war das Pferd aus seinem Geschirr zu entwirren.

Nach Beendigung dieses komplizierten Geschäftes gingen sie langsam weiter, das Ross am Zaum mit sich führend, und überließen den Wagen seinem Schicksal.

Nach Verlauf einer Stunde erreichten sie ein kleines Wirtshaus, vor dem zwei Ulmen, eine Krippe und ein Pfahl mit einem Schilde standen, dahinter ein kleiner zusammengestürzter Heuschober und daneben ein Küchengarten. Baufällige Scheunen und Nebenbauten zierten die Aussicht. Im Garten arbeitete ein rothaariger Mann.

„He, Sie da! Hallo!“, rief Mr. Pickwick.

Der Rotkopf richtete sich auf, hielt die Hand über die Augen und starrte Mr. Pickwick und seine Gefährten eine geraume Weile gleichgültig an.

„Hallo!“, wiederholte Mr. Pickwick.

„Hallo!“, war die Antwort des Rotkopfs.

„Wie weit ist es bis nach Dingley Dell?“

„So um sieben Meilen rum.“

„Ist der Weg gut?“

„Nein.“

Nach dieser kurzen Antwort fing der rotköpfige Mann gleichgültig wieder an zu arbeiten.

„Wir möchten gern dieses Pferd hier einstellen; das geht doch hoffentlich – wie?“, fragte Mr. Pickwick.

„Das Pferd einstellen möchten Sie, ja?“, wiederholte der Rotkopf, wobei er sich auf seinen Spaten lehnte.

„Ja, natürlich“, erwiderte Mr. Pickwick, der sich unterdessen, das Tier am Zaum, der Gartentür genähert hatte.

„Frau!“, brüllte der Rotkopf, aus dem Garten tretend und das Pferd scharf ins Auge fassend. „Frau!“

Ein großes knochiges Frauenzimmer in einer groben blauen Kittelschürze, deren Taille nur ein paar Zoll unter den Achseln saß, trat aus dem Haus.

„Könnten wir wohl dieses Pferd hier einstellen, gute Frau?“, fragte Mr. Tupman und näherte sich ihr mit verführerischem Lächeln.

Die Frau betrachtete unfreundlich die ganze Gruppe, und der Rotkopf flüsterte ihr etwas ins Ohr.

„Nein“, antwortete sie nach einiger Überlegung, „da hab ich Angst vor.“

„Angst?“, rief Mr. Pickwick aus. „Wovor hat die Frau Angst?“

„Letztes Mal haben wir Ärger davon gehabt“, sagte die Frau und ging wieder in das Haus zurück. „Ich will damit nichts zu kriegen haben.“

„So etwas ist mir doch in meinem Leben noch nicht vorgekommen!“, sagte Mr. Pickwick höchst verwundert.

„Ich – ich glaube wirklich“, flüsterte Mr. Winkle seinen Freunden zu, „die Leute denken am Ende gar, wir sind auf unehrliche Weise zu dem Pferd gekommen.“

„Wie?“, rief Mr. Pickwick höchlichst entrüstet aus.

Mr. Winkle wiederholte bescheiden seine Vermutung.

„Heda, Sie, Bursche“, sagte Mr. Pickwick zornig, „glauben Sie vielleicht, wir hätten das Pferd gestohlen?“

„Na, was denn sonst“, erwiderte der Rotkopf mit einem Grinsen von einem Ohr bis zum andern. Dann begab er sich gleichfalls ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.

„Es ist wie ein Traum, wie ein abscheulicher Traum!“, stöhnte Mr. Pickwick. „Sich den ganzen Tag mit dem widerwärtigen Gaul abschleppen zu müssen und ihn nicht einmal los werden zu können!“

Deprimiert setzten die Pickwickier ihre Wanderung fort, das gewaltige Schlachtross hasserfüllt immer am Halfter hinter sich herziehend.

Es war bereits spät am Nachmittag, als die vier Freunde mit ihrem vierfüßigen Gefährten in den nach Manor Farm führenden Seitenweg einbogen; aber das Vergnügen, endlich in der Nähe ihres Bestimmungsortes zu sein, das sie sonst wohl empfunden hätten, wurde ihnen durch den Gedanken an ihren lächerlichen Aufzug arg verleidet. Zerfetzte Kleider, zerkratzte Gesichter, bestaubte Schuhe, erschöpftes Aussehen, und dazu noch das verdammte Pferd.

O wie Mr. Pickwick das Tier zu allen Teufeln wünschte! Schon lange hatte er das edle Ross von Zeit zu Zeit mit. Blicken des Hasses und der Rachsucht angesehen und mehr als einmal im Geiste überschlagen, wie viel es ihm kosten könnte, wenn er ihm den Hals abschnitte, und mit zehnfach stärkerer Gewalt kam jetzt die Versuchung über ihn, es entweder umzubringen oder in die weite Welt laufen zu lassen.

Das plötzliche Erscheinen zweier Gestalten in einer Biegung des Weges weckte ihn aus seinem unheilschwangeren Brüten. Es waren Mr. Wardle und sein treuer Gefährte, der fette Junge.

„Ach Gott, wo haben Sie so lange gesteckt?“, rief der gastfreundliche alte Herr. „Den ganzen Tag haben wir auf Sie gewartet. Und wie strapaziert Sie aussehen! – Was? Schrammen im Gesicht? Doch nicht verletzt, will ich hoffen? Nein? Freue mich sehr, das zu hören. Umgeworfen? – Machen Sie sich nichts draus! – Kommt oft in unsrer Gegend vor. – Joe! – Schläft er schon wieder! – Joe, nimm dem Herrn das Pferd ab und bring es in den Stall!“

Der fette Junge zottelte langsam mit dem Gaul hinterher, und Mr. Wardle bedauerte in schlichten Worten seine Gäste wegen ihrer Abenteuer – das heißt wegen dessen, was sie ihm darüber erzählten. Sodann führte er sie in die Küche.

„Hier wollen wir Sie zunächst mal ein wenig in Ordnung bringen“, sagte der alte Herr, „und Sie dann zu der Gesellschaft in das Wohnzimmer führen. Emma, den Kirschgeist! Jane, Nähnadel und Zwirn! Marie, Waschwasser und Handtücher! Flink, Mädels, rasch, rasch!“

Drei oder vier handfeste Mägde eilten sogleich, um die verschiedenen Requisiten herbeizuschaffen, während zwei männliche Dienstboten mit dicken Köpfen und kreisrunden Gesichtern von ihren Sitzen in der Kaminecke – wo sie, obgleich es Mai war, verfroren am Feuer hockten, wie zu Weihnachten – aufstanden und in dunkeln Winkeln verschwanden, ans denen sie bald nachher mit einem halben Dutzend Bürsten und Schuhwichse wieder auftauchten.

„Tummelt euch!“, sagte der alte Herr nochmals.

Es bedurfte jedoch dieser Mahnung nicht, denn die eine Magd schenkte bereits Kirschgeist ein, eine andre brachte Handtücher, und einer der Diener packte Mr. Pickwick am Bein, auf die Gefahr hin, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und fing an, ihm dermaßen die Stiefel zu bürsten, dass dem Gelehrten die Hühneraugen glühten, während der andre Mr. Winkle mit einer mächtigen Kleiderbürste bearbeitete und bei dieser Operation den zischenden Ton von sich gab, den Stallknechte gewöhnlich hören lassen, wenn sie ein Pferd abreiben.

Nachdem Mr. Snodgraß seine Waschungen beendet hatte, stellte er sich mit dem Rücken an das Feuer und überschaute, behaglich seinen Kirschgeist schlürfend, die Küche.

Er beschreibt sie als einen großen, mit Backsteinen gepflasterten und mit einem breiten Kamin versehenen Raum, die Decke verziert mit Girlanden von Schinken, Speckseiten und Zwiebelzöpfen, die Wände mit Hetzpeitschen, Riemen, Bügeln, einem Sattel und einer alten verrosteten Donnerbüchse mit der Anschrift: „Geladen!“

In der einen Ecke tickte eine ehrwürdige alte Wanduhr, und eine silberne von gleichem Alter hing an einem der vielen Haken über dem Anrichttische.

„Fertig?“, fragte der alte Herr, als seine Gäste gewaschen, geflickt, gebürstet und mit Branntwein erquickt waren.

„Stehen zu Diensten“, versetzte Mr. Pickwick.

„Dann bitte ich Sie, mit mir zu kommen“, fuhr Mr. Wardle fort und führte seine Gäste durch mehrere dunkle Gänge in das Wohnzimmer, gefolgt von Mr. Tupman, der einige Augenblicke gezögert hatte, um von Emma einen Kuss zu erhaschen, wofür er gebührend durch heftiges Zurückstoßen und Kratzen gezüchtigt worden war.

„Willkommen“, rief der gastfreundliche alte Herr, die Tür öffnend und eintretend, um die Herren anzumelden. „Willkommen, Gentlemen, in Manor Farm!“

7. Kapitel

Eine altmodische SpielpartieDie Erzählung von der Rückkehr des Sträflings

 

Die in dem alten Wohnzimmer versammelten Gäste standen auf, um Mr. Pickwick und seine Freunde bei ihrem Eintreten zu begrüßen, und während der Zeremonie des Vorstellens, die ungemein formell vonstatten ging, hatte Mr. Pickwick Muße, aus der äußeren Erscheinung der Anwesenden Schlüsse auf ihren Stand und Charakter zu ziehen – eine Gewohnheit, der er, gleich vielen anderen großen Männern, gern zu huldigen pflegte.

Eine uralte Dame in einer hohen Haube und einem verblichenen Seidenkleid – niemand Geringeres als Mr. Wardles Mutter – hatte den Ehrenplatz im rechten Kaminwinkel inne, wo verschiedene Hinweise, dass sie ihrem Jugendgeschmack auch im Alter treu geblieben, in Gestalt alter Stickmuster, gewirkter Landschaften von gleichem Alter und rotseidener Teekesselwärmer einer späteren Epoche, die Wände zierten.

Die Tante, die zwei jungen Damen und Mr. Wardle umdrängten den Lehnstuhl der alten Frau und wetteiferten miteinander, ihr unablässig ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen. Die eine hielt ihr das Hörrohr, die andere eine Pomeranze, die dritte ein Riechfläschchen, während Mr. Wardle selbst sich emsig abmühte, ihr die Kopfkissen zu ordnen.

Gegenüber saß ein kahlköpfiger alter Herr mit einem Gesicht voll Wohlwollen und fröhlicher Laune – der Geistliche von Dingley Dell – und neben ihm seine Ehehälfte, eine blühende, stattliche alte Dame, die ganz so aussah, als ob sie nicht allein die Kunst, Herzstärkungen zu andrer Leute Zufriedenheit zu bereiten, von Grund aus verstünde, sondern selbst auch gern gelegentlich einen Schluck nähme.

In einem Winkel des Zimmers sprachen ein kleiner Mann mit einem Gesicht wie ein Borsdorfer Apfel und ein dicker alter Herr miteinander, und noch zwei oder drei alte Herren und noch zwei oder drei alte Damen saßen kerzengerade und regungslos auf ihren Stühlen und blickten mit strenger Miene Mr. Pickwick und seine Reisegefährten an.

„Mr. Pickwick, Mutter!“, schrie Mr. Wardle der alten Dame ins Ohr.

„Ah“, sagte sie, den Kopf schüttelnd, „ich verstehe kein Wort.“

„Mr. Pickwick, Großmama!“, schrien die beiden jungen Damen zugleich.

„Ah“, rief die alte Dame. „Schadet nichts. Er wird sich wohl um eine alte Frau, wie ich bin, wenig kümmern.“

„Ich versichere Ihnen, Ma’am“, entgegnete Mr. Pickwick, erfasste die Hand der alten Dame und sprach so laut, dass sein menschenfreundliches Antlitz von der Anstrengung blaurot wurde, „ich versichere Ihnen, Ma’am, dass mich nichts so sehr entfernt wie der Anblick einer Dame in Ihren Jahren mitten im Kreise ihrer Familie, zumal wenn sie dabei noch so jugendlich und wohl aussieht.“

„Ah“, erwiderte die alte Dame nach einer kleinen Pause, „das ist gewiss alles sehr schön, aber ich verstehe kein Wort.“

„Großmama ist augenblicklich nicht in guter Laune“, erklärte Miss Isabella Wardle mit leiser Stimme, „aber sie wird gleich mit Ihnen sprechen.“

Mr. Pickwick gab durch Nicken seine Bereitwilligkeit zu erkennen, den Schwächen des Alters gegenüber ein Auge zuzudrücken, und knüpfte mit der übrigen Gesellschaft ein allgemeines Gespräch an.

„Eine entzückende Lage hat dieser Landsitz, Mr. Wardle.“

„Entzückende Lage!“, wiederholten die Herren Snodgraß, Winkle und Tupman.

„O ja. Allerdings“, sagte Mr. Wardle.

„Es gibt keinen hübscheren Punkt in ganz Kent, Sir“, bemerkte der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht. „Nein, Sir, Sie können sich drauf verlassen, Sir.“

Und triumphierend blickte er umher, als ob ihm jemand hartnäckig widersprochen, jedoch den Kürzeren gezogen hätte.

„Keinen hübscheren Punkt in ganz Kent“, wiederholte er nach einer Pause.

„Ausgenommen Mullins Meadows“, bemerkte der dicke Mann in feierlichem Ton.

„Mullins Meadows?“, rief der Borsdorfer mit tiefer Verachtung.

„Allerdings, Mullins Meadows!“, wiederholte der dicke Mann.

„Sehr schöner Ort das“, fiel ein zweiter dicker Mann ein.

„Ja, in der Tat“, fügte ein dritter dicker Mann hinzu.

Wie jedermann weiß“, bestätigte der korpulente Herr des Hauses.

Der kleine Mann mit dem Borsdorfer Gesicht blickte zweifelnd umher; doch als er sah, dass er die Minorität bildete, nahm er eine mitleidige Miene an und sagte nichts weiter.

„Wovon spricht man?“, fragte die alte Dame eine ihrer Enkelinnen mit sehr lauter Stimme – denn, wie die meisten schwerhörigen Leute, war sie der Meinung, sich nur so verständlich machen zu können.

„Vom Lande, Großmama.“

„Vom Lande? Was denn? – Ist etwas los?“

„Nein, nein; Mr. Miller sagte nur, unser Landsitz sei schöner als Mullins Meadows.“

„Was versteht er denn davon“, erwiderte die alte Dame ärgerlich. „Mr. Miller weiß überhaupt immer alles besser. Sag ihm das.“

Ohne zu ahnen, dass sie ganz laut gesprochen hatte, richtete sie sich in ihrem Lehnstuhl auf und warf dem Delinquenten mit dem Borsdorfer Gesicht giftige Blicke zu.

„Kommen Sie, meine Herren, kommen Sie“, sagte verlegen der Herr des Hauses, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. „Wie wäre es mit einer Partie Whist? Was meinen Sie dazu, Mr. Pickwick?“

„Oh, mit Freuden“, erwiderte Mr. Pickwick, „aber, bitte, nicht etwa meinetwegen.“

„Oh, ich versichere Ihnen, meine Mutter spielt es gleichfalls sehr gern“, sagte Mr. Wardle. „Nicht wahr, Mutter?“

Die alte Dame hörte plötzlich viel besser und bejahte.

„Joe, Joe! – Verdammter Junge! Ah, da ist er ja! – Joe, die Spieltische!“

Der lethargische Jüngling stellte wortlos zwei Spieltische auf, den einen für „Pope Joan“, den andern für Whist.

Die Whistspieler waren Mr. Pickwick, die alte Dame, Mr. Miller und der dicke Gentleman; die Übrigen setzten sich zum Gesellschaftsspiel nieder.

Am Whisttische herrschte der Ernst und die Stille, die der edlen Beschäftigung, der von Rechts wegen die Bezeichnung „Spiel“ gar nicht beigelegt werden sollte, zukommt.

Bei dem Gesellschaftsspiel am andern Tische dagegen ging es so laut und lustig zu, dass Mr. Miller in seinen Kombinationen abgelenkt würde und mehrere Fehler machte, die in hohem Grade den Zorn des dicken Herrn erregten und die gute Laune der alten Dame entsprechend hoben.

„Da!“, sagte Mr. Miller mit triumphierendem Blick, als er eben einen Stich machte. „Das hätte überhaupt nicht besser gespielt werden können – es war unmöglich, noch einen Stich mehr zu machen.“

„Miller hätte den Buben stechen sollen, nicht wahr, Sir?“, sagte die alte Dame.

Mr. Pickwick nickte bejahend.

„Hätte ich sollen?“, fragte der Unglückliche mit einem triumphierenden Blick auf seinen Mitspieler.

„Allerdings hätten Sie sollen, Sir!“, sagte der dicke Gentleman in zurechtweisendem Tone.

„Schade“, erwiderte gedemütigt Mr. Miller.

„Bin es bei Ihnen schon gewohnt“, brummte der dicke Gentleman.

„Zwei Honneurs – macht acht für uns –“, sagte Mr. Pickwick.

„Können Sie?“, fragte die alte Dame.

„Jawohl“, versetzte Mr. Pickwick. „Double, simple – und den Rubber!“

„So ein Glück ist mir noch nicht vorgekommen!“, rief Mr. Miller.

„Bei den Karten!“, meinte der dicke Gentleman.

Es folgte ein feierliches Schweigen; Mr. Pickwick war fröhlich aufgelegt, die alte Dame ernst, der dicke Gentleman verdrießlich und Mr. Miller verlegen.

„Ein zweiter Double“, rief die alte Dame aus und markierte diesen Umstand dadurch, dass sie einen Sixpence und einen abgenutzten halben Penny unter den Leuchter schob.

„Ein Double, Sir“, meldete Mr. Pickwick.

„Hab es schon gesehen, Sir“, erwiderte der dicke Gentleman in scharfem Ton.

Ein zweites Spiel nahm denselben ungünstigen Verlauf durch ein Versehen Mr. Millers, über das der dicke Gentleman ganz außer sich geriet, sodass er seine Wut über das ganze Spiel kaum mehr zu unterdrücken vermochte. Nach Schluss der Partie zog er sich für genau eine Stunde und siebenundzwanzig Minuten in einen Winkel zurück, wo er seinen Ärger sich stumm austoben ließ.

Endlich kam er wieder hervor und bot Mr. Pickwick eine Prise an, mit der Miene eines Mannes, der sich bezwungen hat und erlittenes Unrecht mit dem Mantel der christlichen Liebe bedeckt.

Das Gehör der alten Dame hatte sich in der Zwischenzeit auch erheblich gebessert, und der unglückliche Mr. Miller fühlte sich so unbehaglich wie ein Delfin in einem Schilderhaus.

Mittlerweile nahm das Gesellschaftsspiel am andern Tische desto munterer seinen Fortgang. Miss Isabella Wardle und Mr. Trundle bekamen „Ehestand“, desgleichen Emilie und Mr. Snodgraß, und selbst Mr. Tupman und die alte Tante fanden sich zusammen.

Mr. Wardle war die gute Laune selbst und handhabte „die Tafel“ so spaßhaft, und die Damen strichen ihren Gewinn so eilig ein, dass an dem Tische fortwährend schallendes Gelächter herrschte.

Eine alte Dame hatte stets ein halbes Dutzend Karten zu bezahlen, worüber jedes Mal alles lachte, und sah sie dabei verdrießlich aus, so wurde nur noch lauter gewiehert. Als sie es schließlich bemerkte, heiterte sich ihre Miene allmählich auf, und sie lachte noch lauter als alle Übrigen.

Bekam die Tante „Ehestand“, so kicherten die jungen Damen von Neuem, und sie schien dann empfindlich werden zu wollen, bis sie Mr. Tupmans Händedruck unter dem Tische fühlte und ein heiteres Gesicht machte, als ob sie sagen wollte, dass sie wohl nicht gar so ferne vom Ehestand war, wie vielleicht gewisse Leute glauben mochten, worüber alle,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Jürgen Müller
Lektorat: Abenteuerverlag Pockau Jürgen Müller
Übersetzung: Gustav Meyrink
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2014
ISBN: 978-3-7368-4399-8

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