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René, ein junger Franzose, hat die Nase voll vom üblen Leben auf dem Walfischfänger »Delaware« und desertiert. Seine Liebe zu einer Insulanerin wird allerdings zum Problem ...

 

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1. Der Walfischfänger

Von einem leichten Ostpassat getrieben, dazu die Obersegel fest, ja sogar noch mit einem Reff im Kreuzsegel, das vor einigen Abenden hineingenommen und bislang nicht entfernt wurde, kam ein schwerfälliges, schmutzig aussehendes Schiff langsam mit dem Wind nach Süden herunter. Es näherte sich einer in der Ferne eben sichtbar werdenden kleinen, hohen Insel der Cook-Gruppe.

Schon die großen, fettigen Stellen in den Segeln, auf denen die Leute nach dem Tran-Auskochen beim Reffen allabendlich gelegen hatten, verrieten den Walfischfänger, hätten ihn nicht auch die an besonderen Kranen längsseits hängenden Boote, die zudem noch auf Querstützen an Bord besonders gehalten wurden, gekennzeichnet.

Andere Fahrzeuge besuchten auch selten diese Gewässer, und selbst die Walfischfänger nur in den Monaten Januar und Februar, ehe sie wieder mit anbrechendem Frühling nach Norden gingen, um die einträglichere, zumindest ergiebigere Jagd der »rechten Walfische« der auf Sperm-Wale vorzuziehen.

Es war diesmal aber noch ziemlich früh in der Jahreszeit, und der »Delaware«, wie der Walfischfänger getauft worden war, hatte zunächst beabsichtigt, Tahiti anzulaufen. Durch den starken Ostpassat aber und die klein geführten Segel in der starken Äquatorialströmung gegen sich zu viel nach Westen versetzt, musste er erst wieder nach Süden hinunter, um etwas mehr in die Region der veränderlichen Winde zu kommen oder um auch vielleicht einen der dann und wann einsetzenden Westwinde zu nutzen.

Jetzt hatte man beschlossen, die erste in Sicht kommende Insel anzulaufen, um einige Erfrischungen und vielleicht etwas Holz einzunehmen.

Das Wasser zwischen diesen Inseln ist übrigens aufgrund der häufigen Riffe den Schiffen oft gefährlich, und die mit den Örtlichkeiten nicht sehr gut vertrauten Fahrzeuge machen, wenn sie in solchen Inselgruppen nichts zu tun haben, lieber einen bedeutenden Umweg, um sie zu umgehen, ehe sie sich leichtsinnig hineinwagen

Mit einem Walfischfänger ist das aber etwas ganz anderes. Er versäumt, sobald er sich erst einmal in seinem Jagdgebiet befindet, keine Zeit mehr, denn wenn er segelt, hat er die Möglichkeit, dass er von den Fischen weg – oder aber ihnen gerade entgegenläuft.

Wenn er still liegt, kann er ebenso gut eine ganze »Walschule« versäumen, die dort vielleicht vorüberzieht, wo er hätte sein können. Das Ganze ist Glückssache und der Pirsch auf Rotwild in einem fremden Walde nicht unähnlich.

Kommen diese Walfischfänger also an solche Stellen, so versuchen sie, ehe es dunkel wird, hinter irgendeine kleinere Insel oder Riffbank zu laufen, wo sie entweder Ankergrund oder Raum zum Kreuzen haben, und treiben dort die Nacht, bis ihnen die aufsteigende Sonne wieder ihre Bahn beleuchtet.

Gerade mit Sonnenuntergang war denn auch der »Delaware« bis westlich von Atiu, einer nicht ganz unbedeutenden Insel, gekommen.

Der Kapitän wäre gern die Nacht vor Anker gegangen. Die Stellen aber, die er untersuchte, waren überall bis fast an die schäumenden Riffbänke so tief, dass er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, so nahe dem gefährlichen Ufer von einem der hier oft sehr rasch eintretenden Weststürme überrascht zu werden.

Er ließ also die Segel dicht reffen und kreuzte in Lee (der windabgewandten Seite) der Insel hin und her. Das trug nicht gerade zum Vergnügen der Mannschaft bei, die sechs- oder achtmal mit dem Schiff in der Nacht wenden musste.

Kapitän Lewis kümmerte sich aber den Henker darum, ob er seinen Leuten damit einen Gefallen tat oder nicht. Er und sie standen, wie man es an Land sagen würde, »auf Hofton« miteinander. Das bedeutete, dass er seit einigen Auftritten, die er mit ihnen auf den Sandwichinseln gehabt hatte, nur sehr höflich sprach und sie, wenn er sie zu einer Arbeit einzeln aufforderte, gewöhnlich mit »Mister« ansprach und dabei hat: »If you please« – mit starker Betonung des letzten Wortes, aber mit einem Blick dabei, der deutlich genug sagte: »Wenn du nicht springst, Kanaille, so lass ich dich bei den Beinen aufhängen!«

Er hieß zum Dank dafür bei seinen Leuten nicht, wie sonst gewöhnlich »der Alte« (the old man), sondern »the old devil« (der alte Teufel) und wusste das auch recht gut.

Ja, es schien ihm ordentlich Spaß zu machen, dass er so genannt wurde, und er hatte seiner Mannschaft schon mehrmals versichert, dass er sich bemühen wolle, seinem Namen keine Schande zu machen.

Dieses Versprechen hatte er auch bis jetzt redlich gehalten.

Die Mannschaft eines Schiffes ist in solchen Fällen übel dran. Widersetzt sie sich, so ist es Meuterei, und sie wird entsprechend bestraft – mögen die Leute recht haben oder nicht.

Halten sie aber aus bis zum Schluss und verklagen dann den Kapitän, so kann man zehn gegen eins wetten, dass der trotzdem Recht bekommt.

In sehr vielen Fällen hat er es aber auch. Es gibt wohl auf keinen Schiffen der Welt – Kriegsschiffe vielleicht ausgenommen – ein toller zusammengewürfeltes Volk als auf diesen Walfischfängern.

Ein ordentlicher Matrose geht selten oder nie an Bord eines Walfängers. Es ist meistens aufgelesenes »Ufervolk«, das faul genug ist, die eigene Arbeit beiseite zu werfen, und romantisch genug, sich von einem »Walfischzug« ein ganz besonderes Vergnügen und außerdem einen bedeutenden Nutzen zu versprechen.

Die guten Leute sehen dann gewöhnlich immer etwas zu spät ein, dass sie sich in ihren Erwartungen getäuscht haben, und sie sind dann eben einmal und nie wieder Walfischfänger gewesen.

Fast jedes neu ausgehende Schiff hat deshalb, mit Ausnahme der Offiziere, auch eine völlig neue Besatzung.

Schuster und besonders Schneider sieht man sehr häufig dabei, Tischler und Maurer, Schmiede und Böttcher, Gerber und Zigarrenmacher – alles wird Walfischfänger.

Der Kapitän eines solchen Schiffes hat dann unleugbar eine furchtbare Zeit vor sich, dieses Volk wenigstens soweit anzulernen, dass es erst einmal versteht, was sie nur überhaupt zu tun haben. Dabei muss er ständig damit rechnen, dass sie ihm bei passender Gelegenheit an den nächsten Anlegeplätzen davonlaufen.

Kommen ordentliche, ruhige Menschen einmal zwischen eine solche Mannschaft, so fühlen sie sich höchst unglücklich und verwünschen den Augenblick, wo sie sich von der Romantik der Sache betören ließen – aber leider zu spät, und die viereinhalb Jahre, die eine solche Fahrt sehr häufig dauert, werden ihnen zur Hölle. Die Offiziere, vom Bootsteuerer aufwärts, bilden dabei ein ganz besonderes, abgeschlossenes Korps.

Doch zurück an Bord unseres Fahrzeuges. Zum Ausschauen vorn auf der Back stand ein junger Mann, dessen edle, fast schöne Gesichtszüge wie auch der schlanke, schmächtig gebaute Körper wohl passender für einen Salon als das Vorschiff eines Walfischfängers schienen. Das volle, braune Haar quoll ihm in dichter Menge unter der breiten schottischen, dunkelblauen Mütze hervor. Seine saubere Kleidung unterschied ihn auffällig von der übrigen Schar. Es war ein junger Franzose aus sehr guter Familie, der sich in Boston aus einer Laune heraus hatte verleiten lassen, an Bord des »Delaware« eine Reise in die Südsee mitzumachen.

Still und vor sich hinbrütend sah er jetzt nach dem nahen Land hinüber, das mit dem dunklen Schatten seiner Palmen in träumerischer Ruhe vor ihm lag.

»Nun, René, so in Gedanken?«, sagte plötzlich neben ihm eine freundliche Stimme, und eine Hand berührte sacht seine Schulter. »An was denkst du?«

Der Angeredete fuhr erschrocken aus seinen Gedanken empor und schaute sich um. Als er den Sprecher erkannte, sagte er rasch und fast erfreut:

»Es ist mir lieb, Adolphe, dass du gerade in diesem Augenblick zu mir kommst, ich bin eben mit meinem Entschluss fertig geworden. Ich verlasse das Schiff.«

»Unsinn«, sagte Adolphe kopfschüttelnd. »Du kennst die Verhältnisse hier nicht, René. Selbst wenn du wirklich glücklich das Land erreichst, so braucht der Kapitän nur eine unbedeutende Belohnung auf deine Ergreifung auszusetzen, und du wärst rettungslos verloren. Ich bin schon früher hier gewesen und habe das schon zweimal erlebt. Die Eingeborenen sind herzensgut, aber wie die Kinder. Ein Spielzeug könnte sie zu irgendetwas verführen, sei es nun zum Guten oder zum Bösen.«

»Habe ich erst festen Boden unter den Füßen, so könnten sie mich nur als Leiche wieder zurückschaffen«, murmelte René mit düsterem Blick und zusammengebissenen Zähnen.

»Das wäre wirklich Unsinn«, sagte aber sein älterer Freund. Adolphe war ein Landsmann von ihm und jetzt dritter Harpunier auf dem »Delaware«. Er hatte mit René schon in Algier gefochten und in Kanada gejagt. Damals hatte er auch alles versucht, um ihm seinen Entschluss, als einfacher Matrose das Leben eines Walfischfängers zu führen, auszureden – aber vergeblich.

»Du bist noch jung, René, und das Leben steht dir weit und freudig offen! Bring dich deshalb nicht gleich um alles, bloß weil es dir in den Sinn kommt, die Suppe, die du dir selber eingebrockt hast, nicht ausessen zu wollen. Ein, höchstens zwei Jahre, und du bist wieder frei wie der Vogel in der Luft. Selbst diese Zeit wird dir dann, so entsetzlich sie dir jetzt auch erscheint, eine freudige Erinnerung sein, vielleicht schöner als manche andere ruhige Stunde!«

»Ich halte es nicht aus, Adolphe, ich halte es bei Gott nicht aus!«, sagte René kopfschüttelnd. »Hier unter diesem rohen Volk noch jahrelang leben und dabei geistig und körperlich zugrunde gehen – ich kann es nicht. Du weißt außerdem, dass ich schon zweimal nahe daran war, mit dem Kapitän selber aneinanderzugeraten, denn er ist der Schlimmste von allen. Lieber will ich deshalb mein Leben hier wagen, wo mir noch die Möglichkeit des Entkommens bleibt, als zuletzt gezwungen zu werden, dem Kapitän ein Messer in den Leib zu rennen und über Bord zu springen.

Nein, Adolphe, ich bin fest entschlossen!«, setzte er mit leiser, aber ruhiger und überzeugter Stimme, hinzu. »Die erste Gelegenheit, die sich mir bietet, an Land zu kommen, benutze ich. Ich weiß und fühle, dass mir nichts Schlimmeres begegnen kann, als was ich jetzt schon zu leiden habe.«

»Hol's der Henker«, sagte Adolphe nach kurzem Überlegen. »Wer weiß, ob ich's an deiner Stelle und mit deinem jungen Blut in den Adern nicht doch auch täte. Aber wie willst du es ausführen? Es ist noch ganz ungewiss, ob der alte Teufel ein Boot abschickt, um Erfrischungen einzunehmen. Er traut uns allen nicht!«

»Doch, ich habe vorhin zufällig gehört, dass unser Boot mit dem ersten Harpunier morgen mit Tagesanbruch hinüber soll, um Brotfrüchte und Kokosnüsse zu holen«, entgegnete René. »Die Gelegenheit will ich nutzen, noch dazu, wo es einen Vorwand gibt, reichlich Kleidung mitzunehmen. Die Leute haben ja sonst nichts, um sich Kleinigkeiten von den Eingeborenen einzutauschen.«

»Wenn du dann im Wald bist, hetzt der alte Seehund von Harpunier dir die ganze Einwohnerschaft hinterher. Wie willst du ihnen entgehen? René, René, das Land liegt verlockend vor uns, und selbst mir zuckt es in den Knochen, einmal frei darauf herumzuspazieren und von diesem verdammten Marterkasten loszukommen. Aber – ich weiß nicht – bist du einmal davongelaufen und wirst wieder eingefangen, so kommst du wirklich in eine Hölle, wenn du vorher in keiner gewesen bist. Ich glaube nicht, dass es länger als zwei Tage dauert, bis sie dich wieder haben, und die zwei Tage verlebst du wie ein gehetzter Wolf.«

»Es hilft alles nichts«, lächelte René trübe. »Ich hab's mir einmal in den Kopf gesetzt, und ich führe es auch aus, mag daraus werden, was will. Schlimmer kann es nicht werden.«

»O doch, es kann noch viel, viel schlimmer werden. Du hast es noch nicht gesehen, wenn es an Bord eines Schiffes wirklich schlimm ist«, sagte Adolphe und schauderte dabei zusammen. »Ich möchte es auch nie wieder erleben. Außerdem verstehst du die Sprache dort gar nicht, wie willst du dich verständigen? René, in der Welt sieht doch jeder auf seinen eigenen Vorteil, und die Eingeborenen hier wissen ganz gut, dass sie von einem entlaufenen Matrosen nicht viel zu erwarten haben, der Kapitän ihnen aber eine Menge Sachen geben kann, die für sie und ihr einfaches Leben wirklich Schätze sind!«

»Ich habe Geld bei mir«, antwortete René rasch. »Peste, ich brauche nicht das Blutgeld des alten Schurken und kann mir meine Freiheit auch im schlimmsten Fall erkaufen, wenn es denn nicht anders sein kann.«

»Das ist schon ein großer Vorteil«, erwiderte Adolphe und lächelte. »Es werden wenig Matrosen von Walfischfängern weglaufen, die wirklich einen Franc in der Tasche haben. Aber ein Kapitän bleibt immer im Vorteil. Äxte, Beile, Kattunstoffe und Schmuck und besonders Alkohol sind ihnen viel lieber als Geld, und über diese Sachen kannst du nicht verfügen.«

»Gut, so muss ich dir zustimmen, Adolphe«, antwortete René auf diese Argumente. »Ich glaube ja auch selbst, dass es ein verzweifelter Schritt ist, auf einer so kleinen Insel zu entlaufen. Die Möglichkeit ist immer eher da, dass man wieder eingefangen wird.«

»Sag lieber, die Wahrscheinlichkeit.«

»Meinetwegen auch die Wahrscheinlichkeit«, murmelte René zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Ich habe mir aber noch nie etwas so fest vorgenommen, und ich will den Versuch machen oder zugrunde gehen!«

»Gut, wenn du so unerschütterlich in deinem Entschluss bist, ist es nicht nötig, weiter darüber zu sprechen. Meine Wünsche für das Gelingen begleiten dich, ich wollte nur, ich könnte dir dabei irgendwie nützlich sein, wenn ich nur wüsste, wie!«

»Wer weiß, wie sich das noch ergibt. Aber auf dem Quarterdeck werfen sie schon wieder die Fallen los. In der Mitternachtswache möchte ich dir noch etwas sagen.«

»Ship about!«, unterbrach ihn hier der eintönige Ruf.

Die Leute traten alle auf ihre Posten, und das Schiff wurde über den anderen Bug gelegt, jetzt wieder vom Lande abhaltend.

Mit der nächsten Morgendämmerung hatten sie die Küste gerade vor sich. Es war eine kleine Bai, die von zwei auslaufenden Korallenriffen gebildet wurde.

Der Ruf des ersten Harpuniers sammelte die Leute in sein Boot. Mehrere dort schon aufgeschichtete Sachen, Handels- und Tauschartikel für die Eingeborenen, wurden hineingelegt. Das Boot schwang frei und auf das Wasser hernieder, die Mannschaft legte sich in die Ruder.

»Was sind das für Pakete da vorn?«, erkundigte sich der Harpunier, als sie vom Bord abgestoßen waren. »Wer hat die hineingeworfen?«

»Ein paar Hemden und andere Kleinigkeiten, Mr. Rowsey«, erwiderte einer der Leute. »Wir wollten uns auch etwas von den Früchten eintauschen.«

»Und das andere daneben?«

»Genauso«, antwortete René, an den die Frage gerichtet war.

Der Harpunier sagte nichts weiter, und René warf noch einen verstohlenen Blick an Bord zurück, wo Adolphe stand und ihm zuwinkte. Er war ihm behilflich gewesen, die Sachen rasch und unbemerkt ins Boot zu schaffen. Der Kapitän hätte es sonst nicht zugelassen, obwohl es an Bord eines Walfängers nichts Ungewöhnliches war.

Kanus sahen sie nicht. Erst als sie die Korallenbank erreichten, erschienen oben zwischen den Büschen eine Anzahl Männer und Frauen mit geflochtenen Körben aus Kokosblättern, in denen sie Früchte und Muscheln trugen. Sie schienen ein Zeichen der Fremden abzuwarten, ehe sie sich näherten.

Der Harpunier, der sich seit seiner Jugend in dieser Meeresgegend aufgehalten hatte, sprach ihre Sprache ziemlich geläufig. Ein paar freundliche Worte von ihm wirkten Wunder.

Die zunächst furchtsamen Eingeborenen riefen sich erstaunt zu, dass die Fremden Freunde seien und ihre Sprache sprächen. Aus allen Büschen und Dickichten brachen sie jetzt heraus und mischten sich so sorglos und vertrauend wie Kinder zwischen die Matrosen. Sie befühlten das Zeug ihrer Kleider, lachten über ihre Bärte und Schuhe, sprangen und sangen, als ob sie sie schon lange kannten.

Der Tauschhandel begann, Messer und Tabak, Kattun und Glasperlen wurden gegen große Mengen der herrlichsten Früchte getauscht. Besonders gute Orangen und Brotfrüchte waren mit dabei.

Während der Harpunier unter einem mächtigen Pandanus, einem breitfächerigen Baum, saß und bestimmte, was er für die Waren geben wollte, blieb nur ein Mann bei dem Boot. Die übrige Mannschaft mischte sich unter die Eingeborenen, um ihre Kleinigkeiten gegen Früchte und Muscheln einzutauschen.

Diesen Zeitpunkt nutzte René, nahm sein kleines Bündel und verschwand im Dickicht. Von den Eingeborenen sahen ihn einige, aber sie achteten nicht weiter auf ihn. Die Leute vom Schiff waren viel zu sehr mit sich selber und ihrer Umgebung beschäftigt, als sich um irgendetwas anderes kümmern zu können.

Etwa zwei Stunden später hatte der Harpunier alle Waren eingetauscht, und das Boot war völlig mit den neuen Waren gefüllt. Sein Befehl rief die Männer wieder zusammen, er stieg ins Boot, um an Bord zurückzukehren.

»Wo ist René?«, erkundigte er sich mit einem Blick über die Mannschaft.

»René! René!«, riefen die Matrosen, aber keiner wusste, was aus ihm geworden war. Einige bezweifelten überhaupt, dass er mit an Land gekommen sei, so sehr waren sie durch das Erlebte in Anspruch genommen. Jedenfalls fehlte aber ein Mann, und der Offizier wusste auch, dass er bei der Herfahrt seine volle Besatzung gehabt hatte.

»Damn it!«, rief der Harpunier und sprang von seinem Sitz wieder auf. »Er ist fort, die Pest über den Halunken! Aber den wollen wir bald wieder haben. – Bleibt hier im Boot, bis ich zurückkomme!«, rief er seinen Leuten zu und sprang über die Sitze hinweg, eilte wieder an Land und wandte sich dort an einen der Eingeborenen, der eine Art Oberherrschaft über die anderen auszuüben schien.

»Halle, Freund! Einer von meinen Leuten ist mir weggelaufen. Könnt ihr ihn wieder einfangen, und was wollt ihr dafür haben?«

»Hat er Gewehr mit?«, fragte der alte Mann vorsichtig, denn er schien danach den Fangpreis bestimmen zu wollen.

»Nein, kein Gewehr, vielleicht nicht einmal ein Messer«, lautete die ermutigende Antwort.

Die Eingeborenen begannen jetzt eifrig, miteinander zu reden. Sie sprachen dabei so rasch in ihrer eigentümlichen Sprache, dass der Amerikaner selbst nicht verstehen konnte, was sie beratschlagten.

Dann gingen zwei von ihnen zu einem besonderen Punkt am Waldrand und untersuchten hier die Fährten. Aus ihren Zeichen wurde deutlich, dass sich der Flüchtling dort in die Büsche geschlagen hatte.

Der alte Eingeborene erklärte dann auch, dass man den Matrosen wieder einfangen würde, und stellte eine ziemlich hohe Forderung. Er wollte Kattun und Messer sowie etwas Tabak. Als der Harpunier einwilligte, hatte er ein Beil in die Hand genommen und noch ein Hemd und andere Kleinigkeiten vergessen.

Der Harpunier wusste, dass sich sein Kapitän hier nicht lange aufhalten wollte, und willigte deshalb in alle Forderungen ein. Der Handel sollte perfekt werden, wenn der Gefangene am Strand stand und sie ihn an Bord holen konnten.

Nach dieser Abmachung stieß das Boot ab, während die Eingeborenen wie Spürhunde der einmal angenommenen Fährte des Flüchtlings nachliefen.

2. Die Flucht, und welchen Dolmetscher René fand

René war einem der nächsten Hügel zugeeilt. Aber selbst das schien schon kein leichtes Unternehmen zu werden. Der Proviant, den er für ein Hemd eingetauscht hatte, wurde ihm beim Lauf durch das Dickicht hinderlich. Er wusste aber, was ihm bevorstand, wenn er von den Leuten des »Delaware« wieder eingefangen wurde.

Als er hügeligen Boden erreichte, wurde seine Flucht dadurch erleichtert. Das Land war hier bearbeitet, und er musste sich nicht mehr durch dichte Büsche seine Bahn brechen.

Blieb er in der Nähe des bebauten Landes, so brauchte er auch keinen Hunger zu fürchten, denn überall wuchsen genügend Früchte. Nur die Kokospalmen reichten nicht mehr so weit hinauf. Aber er entdeckte auf den Feldern eine Menge Wassermelonen, die ihn reichlich dafür entschädigen konnten. Aber jetzt durfte er sich nicht weiter beladen, denn er trug bereits, was er mitnehmen konnte, und die Hitze war groß.

Durch die Felder ging seine Flucht ganz gut, dann aber wurde das Dickicht wieder so schlimm wie vorher, und die Guavenbüsche schienen hier eine undurchdringliche Hecke zu bilden.

Als sie aufhörten, und damit auch jede Form von Fruchtpflanzen, begannen hohe, dunkle Kasuarinen, die einen leichteren Durchgang ermöglicht hätten, wenn nicht so viele trockene Äste zwischen ihnen gelegen hätten. Aber, er musste hindurch, und mit diesem Willen überwand er alle Schwierigkeiten.

Jetzt wurde der Boden steinig, und als er den höchsten Punkt endlich erreicht hatte, fand er zu seiner Freude einen kleinen, felsigen Platz. Diese Stelle ließ sich leicht zu einem Kastell ausbauen. Zehn Fuß war er dort oben von allen Seiten frei, und das brüchige Gestein, das den auflaufenden Gipfel bildete, konnte ihm als Versteck dienen. Außerdem ließen sich die losen Steine als Waffe verwenden, falls er doch entdeckt wurde.

Mit einem Triumphruf nahm er von dieser kleinen Festung Besitz. Als er seine Last abgeworfen und sich die nassen Haare aus der Stirn strich, sagte er lächelnd:

»Beim Himmel, mit Adolphe und zwei guten Gewehren wollte ich mir hier die ganze Besatzung des ›Delaware‹ vom Leibe halten!

Ha – der ›Delaware‹!«, unterbrach er sich überrascht. Als er einen Blick über den kleinen Wall warf, bemerkte er, dass er frei über das Meer schauen konnte. Dort oben lag sein altes Schiff so klar und nah vor ihm, dass er die einzelnen Leute an Bord sehen konnte.

Mit dem Fernglas musste es möglich sein, ihn auf dem Hügel zu erkennen, wenn er sich frei zeigen würde. Eben kletterten die Landgänger an Bord. Er wusste, dass man ihn längst vermisste und dass die Eingeborenen ihn jetzt suchen würden. Mit seiner schweren Ladung hatte er an vielen Stellen eine ziemlich breite Fährte zurückgelassen.

Die kurze Zeit, die ihm bis zur Entdeckung blieb, wollte er benutzen, um seine Stellung so gut wie möglich zu befestigen. Alles andere würde das Schicksal entscheiden. Er war jung und ein Franzose – also weit davon entfernt, sich vorzeitig Sorgen zu machen.

Mit Ausnahme von zwei kleinen Terzerolen trug er keine Schusswaffen. Ein langes, zweischneidiges, schweres Messer steckte in einer Lederscheide. Als er die beiden kleinen Pistolen aus der Tasche nahm und vor sich auf die Steine legte, überflog ein trotziges, fast mutwilliges Lächeln seine schönen Züge.

»Es sind zwar keine Zweiunddreißigpfünder, und ich weiß noch nicht einmal, ob sie wirklich losgehen, aber sie haben doch Mündungen. Wenn die Eingeborenen hier überhaupt schon einmal eine solche Waffe gesehen haben, so müsste ich mich sehr irren, wenn ich mir nicht damit die ganze Insel vom Leibe halten kann. Kurze Zeit werden sie mir aber jetzt noch Ruhe lassen, und die will ich wenigstens nutzen, um mich etwas zu stärken.«

Damit schnürte er sein Bündel auf, in dem er auch etwas Schiffszwieback und ein Stück Salzfleisch verborgen hatte. Mit einem Teil davon, einigen Bananen und einer Kokosnuss hielt er eine so vortreffliche Mahlzeit, als ob er sich in völliger Sicherheit befände.

Die Feinde waren ihm jetzt viel näher, als er selbst vermutete. Kaum hatte er sein Essen beendet und nahm noch einen Schluck Milch aus der Kokosnuss, als er nicht weit entfernt ein Geräusch hörte.

Er hielt horchend inne – da krachten wieder die Büsche. Trotzdem trank er erst in aller Ruhe, stellte dann die Nuss vorsichtig zur Seite, damit sie nicht umfiel, und griff seine beiden Pistolen auf. Aufmerksam beobachtete er jetzt zwischen den Steinen hindurch die Stelle, von der er die Geräusche gehört hatte.

Es dauerte nicht lange, und er konnte schon die bunten Kattunüberwürfe mehrerer Eingeborener erkennen, die langsam und aufmerksam den Boden betrachtend seinen Spuren folgten.

Wie viele es waren, ließ sich noch nicht erkennen, aber das war jetzt auch gleich. War er erst einmal aufgefunden, konnten sie schnell Verstärkung holen. Er musste deshalb jetzt sehen, ob er sich auf friedliche Weise mit ihnen verständigen konnte.

Der Erste der Eingeborenen, der ihr Anführer zu sein schien, sandte jetzt jeweils zwei Mann rechts und links um die Steingruppe, um zu sehen, wohin die Spuren weiter führten. Er selbst kam gerade auf den Felsen zu.

René wusste, dass er von diesen Leuten noch weiter keine Gefahr zu befürchten hatte. Aber sein Aufenthalt war nicht länger zu verheimlichen. Er richtete sich auf und stützte sich mit den Ellbogen auf den vor ihm liegenden Felsblock. Erst sah er dem Mann unten eine Weile lächelnd zu und sagte dann plötzlich mit lauter Stimme den schon mehrfach gehörten Gruß:

»Joranna boy!«

Wäre dem Eingeborenen plötzlich ein grimmiger Tausendfüßler über den Nacken gelaufen, hätte er nicht rascher und erschrockener in die Höhe und dann zur Seite springen können. Erst das laute Lachen Renés brachte ihn wieder zu sich. In seiner Überraschung hatte er einen Schrei ausgestoßen, und gleich darauf standen seine Begleiter neben ihm. Sie schienen etwas verlegen zu sein, als sie den Gesuchten so plötzlich friedlich lachend vor sich hatten.

Erst sahen sie schweigend zu ihm empor, sie misstrauten ihm offensichtlich. Obwohl sie wussten, dass der Weiße unbewaffnet war, wussten sie doch nicht, welche außerordentlichen Mittel er sonst noch hatte, um ihnen zu schaden. Sie wollten zwar gern die ausgesetzte Belohnung verdienen, dabei aber keineswegs ihr Leben einsetzen.

René blieb unverändert in seiner Haltung, und langsam verlor sich die Furcht der Eingeborenen. Der Anführer sah seine Gefährten erst ganz ernsthaft an, dann verzog ein breites Grinsen seine sonst gutmütigen Züge.

Die anderen wussten noch immer nicht, wie sie sich verhalten sollten, dann wurde ihnen das Komische ihrer Lage bewusst. Erst lächelte der eine und war gleich darauf so finster wie vorher. Dann sah er den Häuptling und dessen ausbrechende Fröhlichkeit und glaubte wahrscheinlich, nun endlich auch herausplatzen zu können. Die anderen drehten sich erschrocken zu ihm um.

»Joranna, Joranna!«, rief jetzt der Erste hinauf, dem offensichtlich ein Stein vom Herzen gefallen war. Es stellte sich heraus, dass er etwas gebrochen Englisch sprach. Auf diesen Inseln gab es immer wieder Eingeborene, die sich Worte und Redensarten beim Handel mit den Weißen aufgeschnappt und behalten hatten.

»Joranna boy! Wie gebt es? Wie geht's, Freund? Komm herunter, komm herunter, weißer Mann Kapitän sagt, soll herunterkommen!«

»So? Weißer Mann Kapitän sagt also, ich soll herunterkommen?«, sagte René und lachte dabei.

Der Eingeborene nickte, erfreut, dass er so gut verstanden wurde. Dann versicherte er seinen Begleitern, dass er die Sache jetzt gleich in Ordnung bringen würde.

»Und wenn ich weißer Mann kein Kapitän nun nicht will?«, erkundigte sich René, noch immer lachend.

»Nicht will?«, rief der Führer der Eingeborenen erstaunt aus und sah den Fremden an. Aber er konnte in dessen Gesicht noch immer keinen Ernst entdecken. So hielt er die Antwort für einen guten Spaß, schaute sich um, lachte laut auf und erzählte seinen Begleitern mit der größten Heiterkeit, was der Weiße da oben eben so Lustiges gesagt hatte.

Die übrigen Eingeborenen, die gleich von Anfang an nichts anderes erwartet hatten, konnten darin aber keinen Spaß entdecken.

Ein paar Worte an den Alten machten ihn ebenfalls rasch wieder ernst. Jetzt glaubte auch er an die Möglichkeit, dass der Fremde möglicherweise wirklich nicht selber herunterkommen wollte. Ihn da herunterzuholen war jedenfalls eine unangenehme Sache.

»Ach, bah!«, sagte dann aber der Alte kopfschüttelnd. Dabei machte er ein Gesicht, als ob er mit einem ungezogenen Kind schimpfte. »Närrisch! Weißer Mann Kapitän guter Mann, verlangen weiter nichts als herunterkommen.«

»Was bekommt ihr dafür, mich zu holen?«, erkundigte sich René jetzt plötzlich und brachte den Redner damit völlig aus der Fassung. Er sah erst den Weißen erstaunt an, dann seine Begleiter und war unschlüssig, ob er diese etwas indiskrete Frage so geradezu und wahrheitsgemäß beantworten sollte. Er hielt es auch für besser, erst einmal mit seinen Begleitern darüber zu beraten.

Die hatten aber keine Bedenken, und jetzt erzählte der Anführer völlig ernst und sachlich von den Artikeln, die sie bekommen würden. Dabei zeigte er einen Eifer und eine Genauigkeit, als ob das noch ein besonderer Grund für den Weißen sein müsse, nun schnell herunterzukommen und ihnen die zustehenden Dinge nicht weiter widerrechtlich vorzuenthalten.

Zu ihrem Erstaunen ließ sich aber der Fremde selbst nicht durch die Erwähnung des Handbeils und der fünf Yards roten Kattuns bestechen, sondern blieb ruhig und unbeweglich in seiner Stellung.

Natürlich war René diese Aufzählung nicht angenehm. Er konnte daraus sehen, wie sehr dem Harpunier daran lag, ihn wieder zu fangen. Die Habgier dieser einfachen und gutmütigen Leute war jedenfalls erregt, und sie würden alles tun, um den versprochenen Lohn so rasch wie möglich zu verdienen.

Überredung half hier nichts, das sah er sofort. Selbst, wenn er ihre Sprache beherrscht hätte, wäre das unmöglich geworden. Er konnte jetzt nur versuchen, ihnen Geld und vielleicht Kleider in gleicher Menge anzubieten. Das hätte noch den Vorteil, dass die Eingeborenen keine Gefahr für sich bei einer Auseinandersetzung fürchten mussten.

Als sie mit der Aufzählung fertig waren und zu ihm aufsahen, als könne er nun nicht länger widerstehen, entgegnete er:

»So? Das also hat euch weißer Mann Kapitän alles geboten, um mich allein wieder unten abzuliefern?«

»Ja, Freund, bloß unten abliefern!«, lautete die Antwort.

»Tot oder lebendig?«, fragte der junge Mann kaltblütig und erschrak damit den alten Mann heftig.

Jetzt begann der Anführer erst zu ahnen, dass der Fremde möglicherweise doch nicht so gutwillig mit ihnen gehen würde.

»Tot oder lebendig?«, wiederholte er erstaunt und versuchte zu lachen, was ihm aber missglückte. »Tot? Wir wollen doch weißen Mann nicht tot abliefern, lebendig natürlich!«

»Wenn sich nun aber der weiße Mann zur Wehr setzt?«

»Zur Wehr setzen?«, wiederholte der Anführer, der das Wort nicht richtig zu verstehen schien.

»Ich meine, wenn weißer Mann unter keiner Bedingung gutwillig mitgehen will und sich verteidigt?«, erklärte es ihm der Fremde deutlich genug.

»Aber fünf Yards roten Kattun! Ein Handbeil! Zwei Messer!«, begann der erstaunte Eingeborene alle Herrlichkeiten wieder aufzuzählen.

René lag aber nicht daran, sie nur hinzuhalten. Mitten in der erneuten Aufzählung unterbrach er ihn deshalb und sagte freundlich, während er eine ganze Handvoll Silbergeld aus seiner Tasche nahm und sie ihnen zeigte:

»Was wollt ihr denn tun, wenn ich euch so viel bares Geld gebe, wie euch weißer Mann Kapitän für mich versprochen hat, und ich dann bei euch bleibe und bei euch lebe?«

Das war jedenfalls ein Vorschlag zur Güte, und die Eingeborenen berieten sich lange. Dann erkundigte sich der Alte, wie viel Geld er da eigentlich in der Hand halte.

René zählte es rasch. Es waren sechs Fünffrancstücke und vielleicht zehn Franc in kleiner Münze, Geld, wie sie es hier durch den Handel mit Tahiti gut kannten. Für eine solche Summe konnten sie natürlich die gleiche Menge Ware bekommen, wie sie ihnen geboten war.

Aber der nächste Handelsplatz, Papeete, war weit und die Sachen noch nicht hier. An Bord des Walfängers dagegen würden sie sie sofort erhalten. Die Unterhandlung fiel deshalb für den Matrosen ungünstig aus.

Der Alte versuchte nun, gewissermaßen als Entschuldigung, ihm zu erklären, dass niemand auf der Insel ohne Zustimmung ihres Königs leben dürfte. Selbst wenn sie wollten, könnten sie nicht allein darüber entscheiden. Aufrichtig setzte der Anführer noch hinzu:

»Selbst wenn wir jetzt dein Geld nehmen und dich in Ruhe lassen, könnten wir dich nicht schützen. Der König würde bald andere schicken, um dich trotzdem zu fangen.«

René sah das ein und beschloss, mit Seiner Majestät direkt zu verhandeln.

Aber wie sollte das geschehen? Stieg er herunter, so gab er sich freiwillig in die Gewalt seiner Feinde. Überfielen die ihn dann, so konnten sie ihm ohne Mühe abnehmen, was er bei sich hatte, und er würde keinen Centime mehr davon sehen.

Dem König konnte er aber auch nicht zumuten, hier zu ihm hinaufzuklettern, um mit ihm zu verhandeln. Trotzdem beschloss er, wenigstens den Versuch zu unternehmen. Er bat also den Anführer der Gruppe, dass er dem König Nachricht zukommen ließ, dass er mit ihm verhandeln wolle. Er bäte um die Erlaubnis für einen längeren Aufenthalt auf dieser Insel, bis sich das fremde Schiff entfernt hätte. Dafür würde er dem König, wenn der ihm für seine Sicherheit garantiere, zwanzig Fünffrancstücke auszahlen. Das war ein enormer Betrag für die Eingeborenen.

»Ja, sehr gut das!«, sagte der alte Mann nach einer kurzen Pause, in der er ernst überlegte. »Sehr gut das, weißer Mann nicht Kapitän kann mit König sprechen, aber muss hinuntergehen. König nicht heraufkommen hier oben auf Berg. König sehr faul, nicht viel Berge steigen.«

»Ja, da kann ich ihm nicht helfen. Wenn er die zwanzig großen Silberstücke verdienen will, muss er dafür mehr tun, als nur mit dem Zepter zu winken. Also marsch, gute Freunde, bringt Seiner Majestät meinen freundlichen Gruß und Handschlag und meldet ihm, was ich ihm hiermit anbiete. Er soll einen guten Vasallen an mir haben und wird sicherlich von mir noch Nutzen haben. Ich bin gelehrig, und wer weiß, ob ich mich nicht selbst ganz gut zum Schwiegersohn und Nachfolger eignen würde!«, sagte René und lachte wieder.

Der Alte verstand sicher nicht die Hälfte von dem, was ihm der Fremde da gerade übermütig erzählte. Aber er begriff doch, dass er dem König eine bedeutende Summe für seine Freiheit anbot und sonst nicht die Absicht hatte, von seinem Punkt herunterzukommen. Ging nun der König auf diese Bedingung ein, so verlor er selber seinen Anteil an dem ausgesetzten Lohn. Ging er aber nicht darauf ein, so war der ganze Weg doch umsonst gewesen. So erschien es ihm weitaus besser, den jungen, freundlichen Burschen gleich mitzunehmen. Er würde sich dabei sicher nicht gegen sie wehren, alles andere könnten sie später ausmachen.

Schnell wechselte er mit seinen Begleitern einige Worte und wandte sich dann wieder an den Matrosen, der ihn aufmerksam beobachtet hatte. Mit bedächtiger Stimme sprach er jetzt und wickelte dabei das Lendentuch etwas fester um sich.

»Ja, weißer Mann, alles gut, weißer Mann Kapitän hat aber gesagt, müssen unten sein, bis Boot mit Kattun und Tabak und Messer und Beil und Hacke und anderen Sachen zurückkommt. So komm nur jetzt solange herunter, wollen unten erst zu König gehen, und nachher zu weiße Mann Kapitän.«

»Ich habe dir schwerhörigem Burschen doch schon gesagt, dass ich nicht eher herunterkommen will, als bis ich euren König gesprochen habe!«, rief René jetzt schon ungeduldiger. »Also sieh zu, dass du zu ihm kommst! Je eher er hier ist, desto schneller können wir unseren Handel beenden!«

Ob der Alte ihn nicht richtig verstanden hatte oder aber jetzt handeln wollte, konnte René nicht unterscheiden. Jedenfalls begann er entschlossen mit dem Aufstieg.

René hätte ihm ohne Mühe einen der schweren Steine auf den Kopf rollen können, aber er wollte in seinem eigenen Interesse Feindseligkeiten so lange wie möglich hinauszögern. Deshalb behinderte er den Alten auch nicht auf seinem Marsch, und gleich darauf stand er auf der kleinen Plattform, während seine vier Begleiter bemüht waren, ihm langsam nachzufolgen.

»So«, sagte der Eingeborene mit freundlichem Kopfnicken, als er neben René stand und die Hand ausstreckte, um ihm auf die Schulter zu klopfen. »So Freund, weißer Mann, nun wollen wir ...«

Er brachte kein weiteres Wort heraus. Sein Blick war auf die Pistole gefallen, die der Weiße ruhig in der Hand hielt. Mit einem einzigen raschen Satz sprang er von der kleinen Steinfestung herab nach der Wurzel eines tiefer liegenden Baumes, von dort auf die Erde herunter.

Auch da blieb er nicht eher stehen, bis er den schützenden Stamm einer Kasuarine erreicht hatte. Von dort aus begann er mit den Händen lebhaft zu gestikulieren und schrie und tobte dabei, als ob ihm etwas Furchtbares zugestoßen wäre.

Die anderen warteten natürlich, als sie die Flucht ihres Anführers sahen, nicht weiter ab, sondern folgten so schnell wie möglich dem gegebenen Beispiel. Dabei richtete sich aber ihr Zorn nicht auf den jungen Mann, sondern nur auf den »weißen Mann Kapitän«, der sie unter falscher Vorspiegelung auf eine Verfolgungsjagd geschickt hatte, die sie leicht das Leben kosten konnte.

»Das sind zwei Handbeile!«, rief der alte Mann. »Und zehn Ellen Kattun, zwei fünf!« Dabei streckte er die gespreizte Hand zweimal vor sich. »Und vier Messer und zwei zehn Stangen Tabak!« Dabei zeigte er die Menge jeweils mit seiner Hand an. »Und zwei Hacken, und zwei Handvoll Nägel und eine Handvoll Knöpfe! Weißer Mann Kapitän sagt, was nicht wahr ist! Keine Waffen, und was ist das? Kleine, blanke Dinger da! Peng, macht Loch in armen Mann!«

»Keine Angst, tapferer Krieger!«, rief ihm René zu. Über diesen verblüffenden Erfolg musste er schon wieder lachen. »Ich will euch nichts antun. Im Gegenteil! Euer König soll eine von diesen Handkanonen bekommen, falls er auf meine Bedingungen eingeht. Wir werden später sicher in Frieden und Freundschaft zusammenleben. Vielleicht unterwerfen wir uns gemeinsam einige der Nachbarinseln! Aber jetzt mach, dass du dem König meine Vorschläge erzählst! Ich sehe, dass vom Schiff aus wieder ein Boot abgeht, und möchte vorher noch deine trostbringenden Nachrichten hören!«

Der alte Mann sah ein, dass er mit Gewalt und seinen wenigen Begleitern nichts ausrichten konnte. Auch schien ihm jetzt der ausgesetzte Preis viel zu niedrig. Er hoffte, von dem Harpunier, dem »weißen Mann Kapitän«, noch mehr aushandeln zu können. Da der Weiße keine feindlichen Absichten weiter zeigte und ganz friedlich wie vorher dasaß, kam er auch wieder hinter seinem Baum hervor. Er besprach sich mit seinen Leuten, dann wandte er sich wieder an den Flüchtling.

»Gut, gut. Raiteo will gehen, mit König sprechen. Weißer Mann nicht Kapitän bleibt hier so lange. Raiteo kommt wieder, wenn Sonne dort!« Er zeigte dabei mit der Hand die Himmelsgegend an, in der sich die Sonne befinden würde, wenn er zurückkäme.

Dann zog er sich in die Büsche zurück, ohne eine weitere Antwort abzuwarten, und seine Leute folgten ihm. Kaum waren sie außer Sicht, da gab er ihnen den Befehl, den Platz auf vier Seiten zu umstellen. Dadurch wollte er nicht die Flucht des Weißen verhindern, was ihm wohl auch kaum gelungen wäre. Aber er wollte seine Fluchtrichtung erfahren, für alle Fälle.

Raiteo, wie er sich genannt hatte, dachte gar nicht daran, seinem König den ganzen Nutzen dieses Fanges allein zu lassen. Er beschloss, zunächst einmal zu sehen, wie viel Belohnung mehr er von dem fremden Schiff herauslocken könnte. So rasch er konnte, eilte er dem Strand zu, auf den das Boot jetzt wieder zuhielt. Er traf fast gleichzeitig mit ihm ein.

Der Harpunier fluchte kräftig, als er hörte, dass die Eingeborenen den Entlaufenen zwar gefunden hatten, ihn aber noch nicht zum Strand bringen konnten. Noch mehr fluchte er allerdings, als er die neue Forderung hörte. Gern hätte er ihnen jetzt das Sechsfache gegeben, wenn er dadurch den entlaufenen Matrosen wirklich fest in seiner Gewalt gehabt hätte. Der Kapitän des »Delaware« war furchtbar wütend geworden, als er von der Flucht erfahren hatte.

Aber Raiteo sollte die Sache jetzt nicht mehr allein aushandeln können. Der König, der von dem reichen Lohn erfahren hatte, kam jetzt selbst zu Verhandlungen an den Strand. Er wollte von Raiteo zu dem Unterschlupf geführt werden.

Der Harpunier hatte schon Raiteo eine Belohnung angeboten, wenn er ihn selbst zu dem Platz führen würde. Aber dann kamen ihm doch Bedenken. Denn dabei hätte er entweder die Mannschaft mitnehmen müssen oder aber bei dem Boot postieren müssen. Wie leicht konnte da noch einer der Kerle entlaufen!

Nach kurzer Überlegung bat er deshalb die Eingeborenen, so schnell wie möglich zurückzugehen und den Weißen zu holen. Die Versprechungen, die er ihnen dabei machte, und noch mehr die Waren, die er ihnen zeigte, stachelten sie an. Der König erhielt außerdem schon einige Geschenke, um seine Habgier noch weiter anzustacheln.

Die Eingeborenen waren diesmal in größerer Schar aufgebrochen, und sogar eine Menge neugieriger Frauen befanden sich unter ihnen. Der Harpunier erwartete sie jeden Moment zurück, als er plötzlich zu seinem großen Erstaunen ein Zeichen von seinem Schiff erhielt, so schnell wie möglich an Bord zu kommen.

»Was, zum Teufel, kann nur los sein?«, brummte er, als ihn einer der Leute auf die eben aufsteigende Flagge aufmerksam machte.

»Fische, bei Gott!«, rief er dann aus, als das verabredete Signal dreimal auf- und niedergezogen wurde. »Die hätten auch noch ein paar Stunden warten können! An Bord, Boys, an Bord, rasch an eure Riemen!«

Die Matrosen folgten seinem Befehl schnell. Er selbst blieb noch ein paar Momente unschlüssig am Ufer stehen, während sich die zurückgebliebenen Eingeborenen um ihn versammelten. So viel hatten sie schon von den Schiffen gesehen, um zu verstehen, dass eine aufgezogene Flagge etwas bedeutete. Jetzt waren sie neugierig, was die Weißen unternehmen würden.

Der Harpunier wusste das zunächst selbst nicht. Mussten sie jetzt hinter den Walen her, wie es den Anschein hatte? Dann konnten Tage vergehen, ehe sie wieder hierher zurückkamen. Sollte er in der Zwischenzeit die ausgesetzten Waren in der Hand des Königs zurücklassen? Wenn er es nicht tat, bestand die Gefahr, dass sich die Eingeborenen nicht mehr um den Entlaufenen kümmerten, wenn sie das Schiff absegeln sahen. Ließ er die Sachen da, so hieß das, ein wenig viel der Ehrlichkeit dieser Leute zu vertrauen. Nach seiner langen Erfahrung hatten sie in dieser Hinsicht keine besondere Vorstellung.

Aber er entschloss sich denn doch dazu, denn einerseits hatten die Waren keinen wirklichen großen Wert, und andererseits würden die Eingeborenen so sicherlich ihr Bestes versuchen, um den Matrosen wieder einzufangen und das Vertrauen zu rechtfertigen.

Er wandte sich deshalb an den König und erklärte ihm mit kurzen Worten, dass er jetzt auf sein Schiff gehen müsse. Er wolle aber den Lohn für das Einfangen des Entlaufenen bei ihm niederlegen. Dafür verlange er von ihm, dass sie den Mann, wenn sie ihn bringen würden und das Schiff noch da wäre, augenblicklich mit einem Kanu hinüberschaffen sollten. Sollte es bereits unter Segeln sein, so sollte der König den Mann so lange sicher verwahren, bis er selber zurückkäme.

Der König versprach ihm dafür, die Sachen in sein eigenes Haus zu bringen, und versicherte dem Harpunier, dass nichts davon wegkäme. Sie seien alle Christen und zwei »Mitonares« hier auf der Insel.

Der alte Harpunier wollte noch etwas darauf erwidern und sah ihn einen Augenblick zweifelnd an. Dann aber brummte er sich nur leise ein paar Worte in den Bart, sprang in sein Boot und schoss gleich darauf davon, so schnell die Leute mit äußerster Kraft die Riemen führen konnten. Von dem zwei englische Meilen entfernten Schiff wehte noch immer die Flagge von der Gaffel und wurde dann und wann gezogen – ein Zeichen zu größter Eile.

3. Das Mädchen von Atiu

Nachdem ihn die Eingeborenen verlassen hatten, saß René eine ganze Weile nachdenklich auf den Steinen seines kleinen Forts und überlegte, was er am besten täte. Sollte er an dieser Stelle bleiben und die Rückkehr der Männer erwarten, oder sollte er sich lieber ein neues Versteck suchen? Dort konnte er wenigstens bis zum Dunkelwerden unentdeckt bleiben und hatte dann die ganze Nacht für sich, um eine bessere Stelle zu finden.

Er wusste recht gut, dass der Kapitän des »Delaware« bald ungeduldig werden würde, wenn er ihn nicht wieder rasch zurückbekäme. Es war auch möglich, dass er in der Nacht ein Kanu fand, mit dem er in See stechen konnte. Im Nordwesten lagen noch mehrere Inseln, und lieber wollte er sich der Gefahr aussetzen, von einem Sturm bedroht zu werden, als wieder zurück an Bord zu gehen.

Endlich hatte er einen Entschluss gefasst. Er wollte von dieser Kuppe zu einer anderen Hügelspitze gehen, die er von hier aus gut erkennen konnte. Das nahm seinen Feinden einige Zeit, bis sie ihn wieder fanden, und die Nacht verbarg dann seine Spuren vor den Verfolgern.

Diesen Versuch musste er aber bald aufgeben, denn kaum hatte er hundert Schritte den Berg hinunter getan, als sein scharfer Blick die Gestalt des dort stationierten Insulaners entdeckte. Der hatte sich zwar rasch in das üppige Kraut geduckt, das überall den Boden bedeckte, aber René wusste, dass er umstellt war. Es half ihm nichts, wenn er seinen Schlupfwinkel änderte. Diese Wachen würden ihm natürlich auf den Fersen bleiben. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass sich seine Feinde in größerer Zahl hier versammelt hatten, als er selbst ahnte, und ihm einen Hinterhalt gelegt hatten.

Bei diesem Gedanken sah er sich scheu um und hatte die gespannte Pistole in der Hand. Hinter jedem Baum glaubte er einen Eingeborenen, der schon sprungbereit lauerte. Rasch zog er sich deshalb wieder zu dem verlassenen Versteck zurück.

»Nun gut, dann sollen sie auch die Folgen tragen«, murmelte er zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen hindurch, während er den Hügel hinaufschritt. »Wenn sie mich mit Gewalt zum Äußersten treiben wollen, gut. Aber lebendig bringen sie mich nicht von diesen Steinen herunter, das schwöre ich bei Gott!«

Bei diesen Worten untersuchte er sorgfältig seine kleinen Terzerole, schraubte die Pistons heraus und schüttete frisches Pulver auf, dann erneuerte er die Zündhütchen.

Als er auch nach seinem Messer gefühlt hatte, ob es locker und zum Griff bereit an der Seite hing, wusste er, dass er im Moment nichts weiter tun konnte, und warf sich auf die Steine nieder, um seine Kräfte jetzt zu sammeln.

Etwa eine halbe Stunde mochte er so gesessen haben, als der Lärm der zu ihm heraufsteigenden Menge an sein Ohr drang.

Er horchte einen Augenblick, blieb aber noch ruhig in seiner Stellung. Er wusste, dass sie ihn nicht überraschen wollten, wenn sie so laut daherkamen. Aber der entscheidende Augenblick nahte auch. Er hatte das Boot wieder zurückkommen sehen und erwartete nun, dass der Harpunier selbst mit seinen Leuten sich den Eingeborenen angeschlossen hatte.

Die Menge kam jetzt mit lautem Reden und Lachen näher. René musste sich aufrichten, aber der Blick über den Wall überzeugte ihn bereits, dass nur die Insulaner kamen. Damit zog auch wieder Hoffnung in seine Seele. Er nahm seine alte Stellung auf dem Stein ein. Als er die Männer und Frauen in bunter Menge um sich versammelt sah, konnte er erneut ein Lächeln nicht zurückhalten.

»Was für eine herrliche Situation wäre das jetzt für einen der frommen Missionare«, sagte er leise vor sich hin. »Kanzel und Auditorium sind fix und fertig, und was für eine zahlreiche, bunte Versammlung, sogar mit Frauen. Die lieben Dinger müssen doch überall dabei sein – selbst wenn es darum geht, einen armen Teufel von Matrosen wieder an seine Henker auszuliefern. Aber noch habt ihr ihn nicht, und so billig sind die zehn Ellen Kattun und was weiß ich noch nicht zu verdienen, ehe ihr ihn bekommt!«

Die Schar versammelte sich jetzt um den Felsen. Bei ihnen befand sich der Sohn des Königs, aber Raiteo musste wieder als Dolmetscher dienen. Doch der schien seine gute Laune verloren zu haben und forderte den Matrosen kurz und barsch auf, herunterzukommen und mit ihnen zu gehen, weil sie sonst Gewalt gebrauchen müssten. Ihr König erlaube ihm nicht länger, sich hier auf der Insel aufzuhalten, weiterer Widerstand würde ihm nicht helfen.

René hatte sich bei seinen Worten hoch aufgerichtet. Die jetzt frisch von der See herüberwehende Brise schlug ihm das dunkle, lange Haar wild um die Schläfe. Von der Anstrengung war sein Gesicht bleich, aber seine Augen funkelten, und ein trotziges Lächeln umspielte seine Lippen, als er mit lauter, herausfordernder Stimme hinunterrief:

»So kommt doch her, wenn ihr den Mut habt, mich zu holen! Kommt und seht, wessen Blut diese Steine zuerst färben soll! Kommt und liefert einen Mann, der euch nie etwas getan hat, seinen Feinden aus! Ihr seid ja Christen und wollt nach Gottes Geboten handeln, kommt! Aber ehe ich das Schiff wieder lebendig betrete ...«

Er schwieg plötzlich, denn sein Blick war unwillkürlich auf das Schiff gefallen. Dabei sah er jetzt zum ersten Mal das flatternde Zeichen an der Gaffel und gleichzeitig das zurückkehrende Boot. Ein zweiter Blick überzeugte ihn, dass nach Westen hin die drei anderen Boote ebenfalls unter Segel standen, und die Bedeutung dieser Tatsache durchzuckte ihn.

Als die Eingeborenen sahen, dass er plötzlich seine Blicke zu der Richtung lenkte, wo das Schiff lag, versuchten sie ebenfalls, einen freien Ausblick zum Meer zu erhalten.

Zwei junge Leute, die rasch eine der Kasuarinen erstiegen hatten, riefen gleich darauf etwas in ihrer Sprache herunter.

Jetzt verteilten sich einige der Männer auf andere Punkte, von wo aus sie die See überblicken konnten. Sie erkannten ebenfalls, dass etwas an Bord des Schiffes vorgehen musste, und beobachteten gespannt das Treiben.

René selber dachte kaum mehr an die Eingeborenen. Er sah, wie das Boot, das ihn abholen sollte, an Bord des »Delaware« zurückkehrte. Gleich darauf wurden die Rahen umgebrasst, und mit geblähten Segeln folgte das Schiff den vorangeeilten Booten.

Sie mussten dort eine große Anzahl von Fischen bemerkt haben. Wenn die Jagd nur bis zum Abend dauerte und das Schiff dadurch eine größere Strecke nach Westen abkam, so war es fraglich, ob der Kapitän seinetwegen hier wieder gegen den Passat ankreuzen würde.

Jedenfalls behielt er einen, vielleicht mehrere Tage Zeit, an eine Flucht von der Insel zu denken. Die Gefahr war wenigstens für den Moment von ihm abgewandt. Dass er die Insulaner jetzt sich leicht fernhalten konnte, daran zweifelte er keinen Augenblick.

Der Erfolg zeigte denn auch, dass er vollkommen recht gehabt hatte. Die Insulaner wussten nicht, woran sie waren, und mussten erst wieder einen Boten ausschicken, um neue Verhaltensbefehle einzuholen. Dem begegnete unterwegs schon ein anderer, der den Befehl brachte, den jungen Fremden einstweilen einzufangen und mit herunterzunehmen. Das war aber leichter gesagt als getan. Wenn er gutwillig kam, gut. Aber sollten sie ihr Leben wagen, ohne sicher zu wissen, ob das Schiff hierher zurückkam?

Die Frauen und Mädchen waren dem Zug aus Neugierde gefolgt und hielten sich zunächst scheu zurück. Da aber alles friedlich abzulaufen schien, so kamen sie weiter vor und versuchten Plätze zu bekommen, von denen sie den jungen Fremden genau beobachten konnten.

Nur ein junges Mädchen war schon früher so weit vorgedrungen, dass sie sich dem Umstellten auf einer anderen kleinen Erderhöhung fast gegenüber befand. Sie hatte die ganze Zeit keinen Blick von ihm gewandt.

Es war ein junges, bildschönes Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren, schlank gewachsen wie die Palme ihrer Wälder, aber mit vollem, rundem Gliederbau. Ihre rabenschwarzen, mit wohlriechendem Kokosöl getränkten Locken flatterten wild um die braune Stirn, und die schönen großen, dunklen Augen hatte sie halb ängstlich, halb mitleidig auf den jungen Mann geheftet.

Sie war nach Art der übrigen Mädchen gekleidet. Ein Lendentuch aus farbigem Kattun schloss sich ihr dicht um die Hüften und reichte bis auf die feingeformten Knie. Ein anderes Tuch hing nur lose über die linke Schulter und war auf der rechten mit einem Knoten locker zusammengehalten. Der rechte Arm war vollkommen nackt und frei.

In den kräftigen Locken trug sie einen dünnen Kranz weißer und roter Blüten, von den Fasern der Kokosblätter zusammengebunden. In den Ohren befanden sich zwei der großen weißen, duftenden Sternblumen.

Wie sie dort stand auf dem brüchigen Stein, um das sich dicht hinter ihr die dunklen Büsche schmiegten, den linken Arm um die dünne Kasuarine geschlungen, glich sie eher einer aus dem Dickicht getretenen Waldnymphe als einem Kind dieser Inseln.

René war zunächst zu sehr mit seiner gefährlichen Lage beschäftigt gewesen, um einzelne Gestalten näher betrachten zu kennen. Besonders die Männer hatte er bei ihrer Beschäftigung beobachtet, um einem plötzlichen Angriff vorzubeugen.

Jetzt aber überwog sein Leichtsinn über der geringer erscheinenden Gefahr. Er fühlte das Eigentümliche, Interessante seiner Lage. Während das Blut in seine Wangen zurückkehrte und ein leichtes Lächeln über sein Gesicht flog, sah er sich nach den einzelnen Gruppen um. Da begegnete sein Blick zum ersten Mal dem dunklen Augen des Mädchens.

Sie sah verschämt zu Boden. René konnte auf ihrer lichtbraunen, zarten Haut deutlich das dunkle Erröten erkennen. Gerade jetzt wurde aber seine Aufmerksamkeit wieder auf die Männer gelenkt, die sich ihm näherten und sich noch einmal erkundigten, ob er gutwillig zu ihnen heruntersteigen wolle oder nicht.

»Gewiss!«, rief René jetzt freudig. War es schon früher seine Absicht gewesen, so hatte ihn die Gestalt des bezaubernden Mädchens nur noch darin bestärkt. »Gewiss will ich herunterkommen und bei euch bleiben. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr mich nicht festhalten und gefangen nehmen wollt. Freiwillig komme ich zu euch, und freiwillig werde ich bei euch bleiben. Das Schiff, das mich zurückforderte, hat die Insel verlassen, um nicht wieder zurückzukehren. Wenn ihr mir also fest und aufrichtig Sicherheit für mich versprecht, so komme ich sofort zu euch herunter, und ich hoffe, wir werden gute Freunde. Seid ihr einverstanden?«

Raiteo hatte die Worte des jungen Matrosen übersetzt, und jetzt besprachen sich die Insulaner kurze Zeit laut und lärmend. Dann wandte sich Raiteo wieder zu ihm und sagte, freundlich mit der Hand winkend:

»Gut, weißer Mann – a haere mai – sei willkommen und bleib bei uns, bis dein Schiff zurückkommt oder so lange du willst!«

»Sehr schön, das ist ein Vorschlag zur Güte, und die Sache löst sich freundlicher, als ich erwarten konnte!«, rief der junge Franzose. Dabei schob er seine Pistolen in die Tasche, drückte sich die Mütze wieder in die Stirn und wollte sich eben über die kleine Steinmauer schwingen, als ihn ein Ausruf in englischer Sprache zurückhielt. Überrascht und verwundert sah er auf.

Es war das junge Mädchen, das ihm mit ausgestrecktem Arm zurief:

»Halt, Fremder, halt! Sie sind falsch! Sie wollen dich binden und festhalten! Du sollst dem Schiff ausgeliefert werden, das schon Lösegeld für dich zurückgelassen hat! Traue ihnen nicht und bleib, wo du bist, bis dich der König selbst unter seinen Schutz nimmt!« Dann wandte sie sich zu den anderen.

Raiteo war bestürzt, denn er hatte als Einziger verstanden, was sie dem Fremden zugerufen hatte. Jetzt rief sie ihm mit zürnender, fast drohender Stimme in der schönen, klangvollen und melodischen Sprache ihres Stammes zu:

»Schäme dich, ahina! Schämt euch alle, den armen hutupanutai verräterisch herunterzulocken und überfallen zu wollen! Wo sind seine Verwandten, seine Eltern, seine Geschwister? Weit, weit weg von hier, und nur wegen der Fangprämie wollt ihr ihn seinen Feinden ausliefern! Ihr nennt euch Christen? Ihr prahlt damit in den öffentlichen Versammlungen, dass ihr euren Nächsten lieben wollt wie euch selbst und anderen nicht das zufügen wollt, was euch nicht selbst geschehen soll! Schämt euch in eure Seele hinein, dass euch ein junges Mädchen zurechtweisen und eure Ehre vor einem Fremden retten muss!«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen und bemerkt, wie alle Blicke an ihr hingen, überkam sie wieder ihre Scheu. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, und mit niedergeschlagenen Augen glitt sie in die Büsche zurück, als wäre sie im Unrecht gewesen. Im nächsten Moment war sie auch schon hinter dem Felsenhang verschwunden.

René, der bei dieser Warnung rasch seine Stellung wieder eingenommen hatte, betrachtete mit gezogenen Waffen und finsterem Blick die verlegen stehende Schar. Ihr Verhalten zeigte ihm deutlich, dass die Anschuldigung zu Recht bestanden hatte. Besonders Raiteo, der bei den sonntäglichen religiösen Veranstaltungen eine Hauptrolle spielte, schien sich am stärksten über den verletzenden Vorwurf zu ärgern.

Die Mädchen und Frauen flüsterten lebhaft untereinander, und aus den freundlich nach oben gerichteten Blicken konnte René erkennen, dass er den schönen Teil seiner Feinde bereits für sich gewonnen hatte. Die Frauen der Insel waren mit dem Verhalten des jungen Mädchens vollkommen einverstanden.

Die Männer berieten sich eine ganze Zeitlang miteinander, sahen dann wieder nach dem Schiff aus, das allmählich im Westen verschwand, und schienen völlig ratlos zu sein. So verging der Nachmittag.

René beschloss, nichts zu unternehmen, bis das Schiff völlig aus der Sicht war. Zeigten sich die Insulaner dann immer noch so hartnäckig, dann wollte er versuchen, ein Kanu zu erreichen und von der Insel zu fliehen. Es war ihm nach den Worten des Mädchens klargeworden, dass der »Delaware« auf jeden Fall zurückkommen würde. Das hing zwar von dem Verlauf des Fangzuges ab, denn solange er den Wal längsseits hatte, konnte er nicht segeln und trieb immer weiter nach Westen ab. Aber zurückkehren würde er wohl schließlich doch.

Inzwischen stellten sich Hunger und Durst ein, und um den Insulanern zu zeigen, dass er keine Furcht hatte und noch einen ganz guten Appetit besaß, setzte er sich oben auf sein Befestigungswerk und begann die hinausgeschobene Mahlzeit nachzuholen.

Erst als es Abend wurde, verließen ihn die Insulaner, und zwar ohne weiter mit ihm zu verhandeln. Niemand blieb zurück, und René hatte nur die Sorge, dass sie zurückgeschlichen kämen, wenn er eingeschlafen war.

Einen derartigen Versuch würde der Feind aber erst in der Nacht machen, und um seine Kräfte nicht unnötig zu überanstrengen, beschloss er, nach Einbruch der Dunkelheit eine Stunde zu schlafen. Sein Bündel schob er sich als Kopfkissen zurecht. An der leicht zu ersteigenden Seite hatte er vorher einen lockeren Stein so platziert, dass er bei der leichtesten Berührung herabfallen musste. Dann warf er sich mit sorgloser Ruhe auf den harten Boden und schlief bald darauf ein.

Hätten die Insulaner vorgehabt, ihn in der Nacht zu überwältigen, wäre ihnen das leichtgefallen. Lange nach Mitternacht berührte eine leichte Hand seine Schulter, ohne dass er erwacht war.

»Fremder«, sagte eine sanfte, weiche Stimme, und das junge schöne Mädchen legte ihre kalten Finger an seine heiße Stirn.

»Ja«, sagte René, schlug die Augen auf und sah sich erstaunt um. »Ja, schon acht Glasen?« Die kalte Nachtluft strich über ihn, das Laub des Waldes rauschte, und die hellen, funkelnden Sterne blickten klar auf ihn herab.

In dem Moment schoss ihm auch die ganze Gefahr seiner Lage durch den Kopf, und rasch emporspringend riss er die Pistolen heraus und erwartete einen Angriff.

»Du bist eine gute Wache!«, lachte das junge Mädchen, das ruhig neben ihm stehen geblieben war. »Wenn du so über die Dinge anderer Leute wachst wie über deine eigene Sicherheit, würde ich dir noch nicht einmal eine Banane anvertrauen!«

René fasste sich an die Stirn. Er wusste im ersten Augenblick nicht, ob er wachte oder träumte. Das Fremdartige seiner Umgebung, das schöne, lachende Mädchen dicht vor ihm, das Bewusstsein drohender Gefahr und seine noch schlaftrunkenen Sinne musste er erst einmal sammeln, bis er seine Lage richtig begriff.

Das Mädchen stand mit untergeschlagenen Armen und fest zusammengepressten Lippen vor ihm. Jetzt sagte sie, halb lachend, halb erstaunt:

»Bist du nicht ein merkwürdiger Mensch, Fremder? Schläfst hier mitten zwischen deinen Feinden, als ob du im sicheren Haus unter deinen Freunden bist und kein Preis auf deine Gefangenschaft ausgesetzt ist!«

»Konnte ich nicht ruhig schlafen, wenn ein solcher Schutzgeist über mich wacht?«, erkundigte sich René lächelnd und streckte ihr die Hand entgegen.

Sie aber trat einen Schritt zurück und deutete mit ernstem Blick nach oben.

»Du hattest einen Schutzgeist, der über dich wacht. Aber es ist das Auge Gottes, das jedes deiner Haare gezählt hat und ohne dessen Willen nicht eins davon zu Boden fällt. Ihm danke für deine bisherige Sicherheit, nicht mir!«

Dann setzte sie freundlicher hinzu:

»Aber komm, Fremder, nimm deine Sachen auf und folge mir, ich will dich, bevor böse Menschen im Tal neue Pläne schmieden können, an die andere Seite der Insel bringen. Dort steht das Haus eines frommen Mannes, das dich schützen wird, bis dein Schiff die Gegend verlassen hat. Später kannst du nach Tahiti gehen, wo viele deiner Landsleute leben, und dort bist du in Sicherheit.«

René wurde bei diesen Worten völlig munter und erkundigte sich, ob er auch den Proviant mitnehmen sollte.

»Wir finden genug auf unserem Weg, iss und trink, was du jetzt magst, den Rest lass hier zurück.«

»Dann wird sich mein Dolmetscher die Reste als kleines Andenken mitnehmen können. Der alte Bursche wird sich schön ärgern, wenn das Nest leer ist!«

»Sprich nicht so leichtsinnig über die Gefahr, der du noch lange nicht entgangen bist!«, antwortete das Mädchen. »Ich kann nichts für deine Sicherheit tun, sondern dich nur zu jemand führen und ihn bitten, dir zu helfen. Er ist selbst ein Weißer und ein Diener des Herrn und wird sicher alles für dich tun, was er kann. Er ist aber doch auch nur ein Mensch und kann dir eben nur seinen Schutz anbieten.«

»Ein Weißer? Und ein Diener des Herrn?«, sagte René rasch und nachdenklich. »Also ein Missionar?«

»Ja, ein Missionar!«, bestätigte das Mädchen. »Er hat mich erzogen und mir seine Sprache und seine Religion beigebracht. Er ist ein stiller, friedlicher und guter Mann.«

René blieb nachdenklich stehen. Alles, was er in seinem katholischen Heimatland über die protestantischen Missionare dieser Inseln gehört hatte, ging ihm im Kopf herum. Durfte er noch freundliche Aufnahme erwarten, wo er Katholik war und ein entlaufener Matrose? Aber er war nicht der Mensch, sich voreilig unnötige Sorgen zu machen, und so rief er fröhlich aus:

»Nun gut, wohin du mich führst, will ich dir folgen, und sei es in den Tod. Hier kann ich doch nicht bleiben, die Bequemlichkeiten sind nicht besonders, und sonst stöbert mich vielleicht der alte Bursche von Dolmetscher wieder auf. Also vorwärts, du liebe Retterin. Welchen Namen hast du eigentlich, wie soll ich dich nennen?«

»Meine Landsleute nennen mich Sadie, nach einem der freundlichen Sterne dort oben. Aber mein Pflegevater fand den Namen heidnisch, und deshalb heiße ich jetzt Prudentia. Nur die Insulaner können das nicht gut aussprechen und nennen mich deshalb lieber mit meinem alten Namen.«

»Oh, ich möchte dich auch Sadie nennen, denn du bist mir auch ein freundlicher Stern geworden, dem ich gerne folgen will. Prudentia – lieber Gott –, der Name passt zu einer würdigen Ehefrau oder Mutter, aber deinen Namen zu verändern, heißt die Saiten einer Harfe zu zerreißen und dafür Bindfäden zu spannen. Nein, Sadie, leuchte mir, und ich will dir wie einem Stern folgen.«

Das junge Mädchen hörte wohl insgeheim den alten Namen ebenfalls lieber und erwiderte jetzt nichts weiter. Wie eine Gämse kletterte sie den ziemlich steilen Hang hinunter. Dabei wich sie René aus, der sie bei der Klettertour unterstützen wollte. Bald darauf hatte er Mühe, ihr zu folgen.

4. Der Mi-to-na-re

Es war ein ziemlich langer Marsch durch eine wilde Gegend und oft durch Dickichte, durch die der Flüchtling allein nie einen Weg gefunden hätte. An den Sternen sah er, wie viele Umwege sie machten. Das geschah entweder, um undurchdringliche Stellen zu umgehen, oder auch, um etwaige Verfolger irrezuführen. Endlich erreichten sie wieder eingezäunte Gärten mit Bananen, Brotfrucht, Orangen, Wassermelonen und süßen Kartoffeln.

Als die Sonne eben über dem vor ihnen liegenden Wasserspiegel aufstieg, betraten sie eine freundliche Ansiedlung mit Bambushütten, zwischen denen sich sogar einige weißgetünchte Häuser befanden. Sie waren dicht in den Schatten hoher Kokospalmen und breitästiger Brotfruchtbäume geschmiegt und von einer hohen, festen Umzäunung eingeschlossen.

René zögerte, den Ort zu betreten. Er blieb stehen und betrachtete den freundlichen Platz, der wie ein in sich abgeschlossenes Paradies stillen Friedens vor ihm lag. Sadie schaute sich nach ihm um und erkundigte sich, ob er sich fürchte, näher zu kommen.

»Fürchten? Wenn ich mich vor irgendetwas fürchten würde, hätte ich denn diese Insel betreten?«

»Fürchtest du wirklich nichts? Auch nicht Gott?«, sagte das Mädchen erstaunt.

Der junge Mann erkannte, dass er ein Feld berührte, das er vermeiden musste. So wenig er sich aus irgendeinem Religionsbekenntnis machte, besaß er doch genügend Sinn, die Religion anderer zu achten. Außerdem mochte er dem Mädchen auch nicht mit einer rauen Antwort weh tun und antwortete deshalb ausweichend:

»Ich sprach nicht von Gott, Sadie. Ich meinte die Menschen. Hier wohnt also der weiße Missionar?«

»Hier wohnt er, wenn er auf der Insel ist«, erwiderte das Mädchen. »Gerade jetzt besucht er aber mehrere andere Inseln in Missionsgeschäften. Doch wir erwarten ihn schon seit drei Tagen zurück, und er kann jede Stunde hier wieder eintreffen.«

»Dann wohnt also im Moment kein Missionar auf dieser Insel?«, erkundigte sich René fast erfreut.

»Jedenfalls kein weißer Missionar«, antwortete Sadie. »Aber du scheinst dich darüber zu freuen. Ich hatte geglaubt, es würde dich beruhigen, wenn du einen Landsmann in der Nähe weißt.«

»Ihr habt also auch eingeborene Missionare hier?«, umging er die Frage durch eine andere. »Sind sie auch auf den anderen Inseln?«

»Nicht auf allen, aber auf vielen. Hier aber wirst du Schutz finden, bis dein Schiff zurückkehrt. Von den Bewohnern der Insel wird es keiner wagen, Hand an dich zu legen, solange du dich in den Mauern dieses Wohnortes befindest.

Was deine eigenen Landsleute tun, wenn sie wiederkommen, weiß ich nicht. Ich fürchte aber, sie werden kaum die Heiligkeit dieses Ortes anerkennen, obwohl sie doch dem Namen nach auch Christen sind. Mein Pflegevater hat mir erzählt, dass es auf den Schiffen viele böse, gottlose Menschen gibt und wir Insulaner manchmal viel bessere Christen sind. Aber du gehörst doch nicht zu denen?«

»Oh, dein Pflegevater mag da schon recht haben, denn viel Christentum darf man auf einem Walfänger nicht erwarten. Es sind aber auch viele gute, brave Menschen dazwischen. Ich bin vielleicht leichtsinnig, aber schlecht wohl doch nicht. Das musst du mir allerdings auf mein Gesicht hin glauben, denn andere Bürgen für mich habe ich nicht.«

Das Mädchen lächelte zufriedengestellt. Jetzt ergriff sie zum ersten Mal seine Hand und führte ihn durch eine kleine Gartenpforte. Ein breiter Gang führte sie durch eine dichte Allee regelmäßig gepflanzter Bananen zum Haus. Unter dem vorstehenden Schutzdach konnte René die kleine, etwas wohlbeleibte Gestalt eines Insulaners erkennen.

Als er die Gestalt mit einem flüchtigen, forschenden Blick musterte, konnte er ein leichtes Lächeln kaum verbergen. Unwillkürlich drängte sich ihm der Gedanke auf, dass der Mann, wenn der Geist und die Zivilisation zu ihm von oben gekommen seien, mit den Beinen noch im Heidentum stecke.

Der kleine, gelbbraune Missionar sah auch in seiner halb frommen, halb wilden Tracht eigentümlich genug aus. Er war ohne Hut, seine Haare im Gegensatz zu den Insulanern kurz abgeschnitten. Dann trug er ein weißes, baumwollenes Hemd und eine weite Halsbinde aus Leinen sowie eine hellgelbe Weste mit blanken Knöpfen. Darüber, und keineswegs passend zum Klima, einen schwarzen Frack.

So weit war also der Geist gekommen, darunter aber fing wieder der Heide an. Der Mann konnte sich zwar an die fremde Religion, aber nicht an Hosen gewöhnen. So hatte er um seine Lenden ein Stück rot und gelb gefärbten Kattun gewickelt, der freundlich gegen den schwarzen Rock abstach. Die Beine trug er vollkommen nackt. Unter dem Kattun sah man noch die alten, heidnischen Tätowierungen früherer Zeiten. Sie wirkten auf René wie scheu, von dem christlichen Kleidungsstück bedroht.

Der kleine Mann schien über den Besuch erstaunt und auch nicht besonders erfreut. Sadie erzählte ihm in seiner Sprache mit kurzen Worten die Ereignisse und bat ihn dann um seinen Schutz für den Verfolgten. René kam es vor, als hätte er zunächst einige Einwände, und dabei kam das Wort »Mitonare« sehr häufig vor.

Sadie oder Pu-de-ni-a, wie sie der kleine Missionar in seinem merkwürdigen Kauderwelsch nannte, konnte allen Ausflüchten begegnen. Da er selbst gutmütig und auch gastfrei war, schien er sich endlich zu fügen. Er streckte dem jungen Mann mit einem halb freundlichen, halb salbungsvollen Blick die dicke, fette Hand entgegen. Dabei entdeckte René auch dort noch Tätowierungen. In einer Sprache, die wohl Englisch sein sollte, aber meistens in Tahitisch auslief, sprach er René an.

»Gu day bodder – gu day – a heare mai – gu fend here – ehoa ino – very gu fend –«

Dann folgte noch eine längere Auseinandersetzung, jetzt auf einmal in reinem Tahitisch, als ob er annahm, dass der Fremde durch die einleitenden Worte in seiner eigenen Sprache nun gut vorbereitet war in der einheimischen.

Sadie, die ihr Lächeln kaum verbergen konnte, sah, wie der Fremde verlegen vor ihm stand und nicht richtig wusste, wie er sich verhalten sollte, übersetzte schnell und bat ihn, in das Haus zu treten, um sich mit Speise und Trank zu stärken und von den überstandenen Strapazen auszuruhen.

»Wie kann ich erfahren, was aus dem Schiff geworden ist, das vielleicht gerade jetzt von der anderer Seite wieder auf die Insel zusegelt?«

»Kümmere dich nicht darum. Ich habe eben einen Jungen zu der nächsten Bergspitze ausgesandt, von wo aus er das Meer überblicken kann. Er bringt uns Nachricht, ob das fremde Segel noch in der Nähe ist. Jetzt ins Haus. Wie ich schon gesagt habe, bist du hier sicher, bis das Schiff zurückkehrt. Selbst dann finden wir vielleicht noch Mittel, um dich zu verbergen.«

Der kleine Mann hatte sich René gegenüber als »Mi mitonare – mi mitonare!« vorgestellt. Er eilte ihnen jetzt geschäftig voran. Obwohl heute wirklich ihr Sonntag war, brachte er eigenhändig Teller und Bestecke. Sie ruhten wenig benutzt in einer tiefen Schrankecke. Dann folgten kaltes Fleisch, Früchte und Kokosmilch. Nochmals lud er den jungen Mann freundlich ein, sich niederzusetzen und nach Herzenslust zuzulangen.

René sah erst Sadie an und dann das Essen. Er schämte sich, sie neben sich zu bitten, und hätte es trotzdem gern getan. Das schöne Mädchen erriet, was er wollte, schüttelte lachend den Kopf und war im nächsten Augenblick durch die offene Tür verschwunden.

Der kleine Missionar begann eine Unterhaltung, die René zu jeder anderen Zeit amüsiert hätte. Jetzt aber hatte er wirklich großen Hunger, und die ständigen Fragen des Kleinen und das Kauderwelsch forderten seine ganze Aufmerksamkeit, die er viel lieber ungestört dem kalten Schweinebraten und den saftigen Früchten gewidmet hätte.

Der Missionar ließ aber nicht nach und erkundigte sich nach allen Dingen, die den Fremden betrafen. Zunächst wollte er natürlich seinen Namen erfahren, der kurz und einfach genug für ihn war. Dann wollte er den Namen des Schiffes wissen, wohin es gesegelt sei und was sie gesehen hätten. Durch den weißen Missionar hatte er etwas Geografie gelernt und kannte die Hafenstädte der englischen und amerikanischen Küste. Er schien sich ungemein zu freuen, als René einen ihm bekannten Namen, Boston, erwähnte. Er nannte den Hafen hartnäckig bo-son.

Wichtigstes Anliegen des kleinen, unermüdlichen Mannes war aber herauszubekommen, welches Land sein Heimatland und was für eine Religion der Flüchtling hatte. Aber René tat sich keinen Gefallen, als er sich kurz und knapp als Franzose bezeichnete.

»Ein Wi-wi?«, sagte der kleine Mann etwas erstaunt, zog die Augenbrauen in die Höhe und spitzte den Mund. »Wi-wi? Hmmh!«

»Wi-wi?«, entgegnete René, der diesen Ausdruck nicht erkannte. »Was Wi-wi? Frenchman, Français, ferani!«

Er überlegte, was der Missionar wohl mit der merkwürdigen Bezeichnung meinte. Vielleicht ein Eigenname der Franzosen?

»Viele Wi-wis in Tahiti! Keine Christen, Wi-wis!«, sagte der Missionar.

»Keine Christen? Na, ich weiß ja nicht! Einige sind wohl schon darunter, die sich so nennen!«, antwortete René und lachte.

»Es, Christen, aber keine guten, aita maitai!«, nickte der unverwüstliche Kleine.

Jetzt erst begriff René, worauf der protestantische Missionar hinauswollte. Er musste natürlich glauben, was ihm die protestantischen Geistlichen über die Religion der anderen Weißen, die sich ebenfalls Christen nannten, erzählt hatten. Er hütete sich aber, auf irgendeinen religiösen Streit einzugehen, und beschränkte sich darauf, ihm zu erklären, dass er nicht wisse, was es für Christen auf Tahiti gäbe. Er sei noch nie dort gewesen, in seinem Vaterland gäbe es aber sehr gute, fromme Christen. Zum Ergötzen des kleinen Mannes nannte er dabei Frankreich jetzt selbst »Wi-wi«.

René hätte vielleicht noch zahlreiche andere Fragen beantworten müssen, wenn nicht gerade jetzt vor der Tür eine kleine Glocke geläutet hätte. Gleichzeitig erschien Sadie wieder, und René sprang mit einem Freudenruf auf.

Das junge Mädchen bot in seiner Sonntagskleidung einen besonders hübschen Anblick. Sie bestand aus einem langen, faltigen Gewand, das ihr von den Schultern bis auf die Knöchel niederfiel. Von einer rotseidenen Schärpe wurde es zusammengehalten.

Die Haare hatte sie wieder frisch mit wohlriechendem Öl getränkt und die langen, vollen Locken gekämmt, sodass sie ihr bis auf die Schultern herabfielen.

Keine Blume schmückte sie jetzt, sondern nur eine dünne Schnur, aus den Erhöhungen einer reifen Ananas geschnitten, zog sich um ihr Haar und die Stirn, um die wilden Locken etwas zu bändigen.

In der Hand hielt sie ein kleines Buch mit goldenem Schnitt, ein englisches Neues Testament. Sie sah jetzt so mädchenhaft fromm und schüchtern aus, dass René sie kaum wiedererkannt hätte. Und doch war sie jetzt noch schöner als in dem Augenblick, als sie mit ausgestrecktem Arm ihre Landsleute beschimpft hatte.

»Wie schön du bist, Sadie!«, rief René fast unwillkürlich aus und streckte ihr seine Hand entgegen.

»Nicht Sadie jetzt«, sagte das junge Mädchen und schüttelte den Kopf. »Prudentia heiße ich, denn ich gehe jetzt zu meinem Gott, durch dessen heiliges Wasser ich den Namen bekommen habe. Aber hier, mein Freund, nimm das hier und lese darin, während wir in der Kirche für dich und dein Wohl beten wollen. Es ist ein gutes Buch und wird dich trösten.«

Es lag etwas Rührendes in ihrem Ton, und René nahm das Buch an. »Ich danke dir, Sadie, du musst mir schon erlauben, dich so zu nennen. Das andere Wort will mir nicht über die Lippen. Du bleibst doch nicht zu lange?«

»Vielleicht nur zu kurze Zeit für so schwere Sünder, wie wir es sind!«, antwortete das Mädchen ernst und traurig. »Aber keine Sorge. Von der anderen Seite der Insel sind eben Männer zur Kirche gekommen. Sie haben berichtet, dass dein Schiff nirgends zu sehen ist. Es ist weit nach Westen gegangen und braucht lange Zeit, wenn es gegen den Wind wieder hierher will. Bleibe aber im Haus und zeige dich nicht den Leuten draußen. Wir sprechen später darüber, jetzt darf ich nicht an weltliche Dinge denken. Ich dachte aber nur deinetwegen daran«, setzte sie hinzu und errötete dabei wieder.

Auf den kleinen Mitonare hatte der Glockenton ebenfalls eine fast zauberhafte Wirkung. Noch lachte er über den Fremden, als der erste Glockenton erklang. Wie ein Schüler, den der strenge Blick seines Lehrers traf, zog sich, nein, zuckte sein Gesicht förmlich in ehrbare Falten, die ihm fast noch komischer standen als vorher das Lachen. Er erhob sich hastig, ergriff seine Bücher – alle in die tahitische Sprache durch die Missionare übersetzt – und sagte zu Sadie einige Worte. Dann verließ er mit langsamen Schritten das Haus.

René blieb allein zurück. Sadie hatte ihn heute absichtlich nicht aufgefordert, sie in die Kirche zu begleiten. Sie hätte sonst nicht darauf verzichtet, aber heute waren zu viele Insulaner anwesend, die bei seiner Verfolgung dabei waren. Sadie wollte nicht schon heute beide Parteien wieder in Berührung bringen. Der Aufenthalt des Fremden konnte allerdings kaum lange Zeit geheim bleiben, wie sie recht gut wusste. Es war sogar fraglich, ob er es jetzt noch war. Den Frieden des Missionsgebäudes störten aber selbst die Verhärtetsten ihres Stammes nicht so leicht, und sie glaubte den von allen verlassenen Fremden wenigstens hier sicher.

René warf sich auf eine der überall in dem hohen, luftigen Gebäude ausgebreiteten Matten und lag lange in tiefem Brüten über die letzten, für ihn so verhängnisvoll verlaufenen Stunden. Er war einer unmittelbaren Gefahr entgangen. Aber kam das Schiff zurück – und er zweifelte kaum daran, dass der Kapitän wenigstens noch einen Versuch machen würde, um ihn wieder zu bekommen –, wie sollte er sich dann retten? Er konnte auch kaum hoffen, von einem englischen und protestantischen Missionar beschützt zu werden. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er weder Schiff noch Missionar abwartete und so rasch wie möglich die Insel wieder verließ. Und Sadie? Ob sie ihn begleiten würde? Er erschrak vor dem Gedanken, sie zurückzulassen. Dabei mochte er sich kaum eingestehen, wie sehr dieses schöne Mädchen schon sein Herz gefesselt hatte.

»Das ist Unsinn, ja Wahnsinn, jetzt an Liebe zu denken, wo du noch nicht einmal eine Heimat hast. Sei vernünftig, René! Hier an die Inseln geworfen, hat das erste hübsche Gesicht, das dir in den Weg kam, dein leicht entzündbares Herz in lichterlohe Flammen versetzt! Das ist ein Strohfeuer und brennt in der ersten Woche ab.«

Er stützte den Kopf auf und schlug das Buch auf, das noch immer vor ihm lag. Aber die Buchstaben tanzten ihm vor den Augen. Zwischen jeder Zeile sah er wieder ihr Gesicht vor sich, und weder Lukas noch die Korinther konnten den Zauber lösen, der seine Seele mit der wilden Glut plötzlicher, gewaltig erwachter Liebe entzündet hatte.

Der Tag verging ihm langsam. Sadie kehrte mit dem kleinen Missionar gegen Mittag zurück. Aber es war Sonntag. Kein Lächeln stahl sich über ihre Züge. Selten oder kaum einmal begegnete ihr Blick seinem, und die Stunden flossen für ihn träge unter Gebeten und Hymnen dahin.

Schon vor Tagesanbruch war er am nächsten Morgen auf, badete in dem kristallklaren Wasser der Korallenbänke, und wartete dann sehnsüchtig auf die Rückkehr Sadies, die aber heute sehr lange fortblieb. Vergeblich erkundigte er sich bei dem Mitonare.

»Pu-de-ni-a?«, sagte der kopfschüttelnd und in seinem rätselhaften Englisch. »Der Herr weiß, wo man das Mädchen suchen soll, wenn man sie haben will. Pu-de-ni-a ataetai, wie kleine Eidechse, hier im Laub und da im Laub, kann sie nicht fassen, ist weg unter den Augen.«

Der Kleine schien heute besonders zu einer Unterhaltung aufgelegt. Er lehnte sich auf seine Matte zurück, faltete die kurzen, dicken Finger auf dem runden Magen und begann wieder in herablassender Weise Fragen an den jungen Mann zu stellen. Dabei blieb René oft kaum Zeit, den Sinn zu verstehen, da kam schon die nächste, ohne die Antwort erst abzuwarten. Er trug aber heute weder den schwarzen Rock noch die hellgelbe Weste mit den blanken Knöpfen. Selbst das weiße Halstuch lag auf einem kleinen Bücherbrett, sorgfältig in ein Stück gelbes englisches Packpapier gewickelt. Seine Bewegungen wirkten dadurch freier, und er schien mit dem Frack auch den ganzen »Mitonare« ausgezogen zu haben.

Er erzählte jetzt René, dass er noch vor zehn Jahren ein entsetzlicher Heide war, der glaubte, dass das höchste Wesen Taaroa und nicht Gott hieß, seinen Götzen Früchte und Schweinefleisch zum Opfer brachte und Gefallen an den sündhaften Tänzen der eingeborenen Mädchen fand. Mitonare O-no-so-no hatte ihn aber gerettet. Sein Vater und sein Großvater waren alle in der Hölle, konnten aber nichts dafür, denn sie waren aus Versehen dorthin gekommen. Er hatte sich sogar tätowieren lassen.

Als er sah, dass René bei der Erzählung unbewusst ein erstauntes Gesicht machte, lüftete er mit einer kurzen Bewegung den Kattun. Gleich darauf fiel er aber erschrocken in seine alte Stellung zurück, denn René war bei dieser plötzlichen Enthüllung in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Der Missionar wollte böse werden, und René hatte Mühe, ihn wieder zu beruhigen. Von da an begnügte er sich damit, ihm seine Lebensgeschichte ohne Illustrationen zu erzählen.

Ein »Mitonare« hatte es nach seiner Meinung schwer. Nicht der Predigten wegen, sondern mehr wegen des Fracks. Dazu der viele Ärger mit den Mädchen, die junges, leichtsinniges Volk waren. Sie würden immer denken, dass sie in den Himmel kommen, auch wenn sie lustig sind. Aber sie wissen es eben nicht besser. Da in dem Buch stehe alles drin. Ein sehr gutes Buch sei es, ein bisschen dick, aber sehr gutes Buch, und viele schwere Worte darin. Jetzt kam aber bald eine böse Zeit. Weiße Mitonares, vier, fünf, sechs, kamen hier herüber. Sahen zu, ob Mitonare roter Mann viel weiß und kleine Kanakas iti-iti gut unterrichtet hat. Viele schwere Worte auswendig lernen und viel Ärger mit iti-iti. Pu-de-ni-a gutes Kind.

So schloss der Mitonare seine Rede und setzte hinzu, sie sei ein wenig wild, ein »bisschen sehr wild für waihini. Mitonare O-no-so-no Tochter. Aber nicht Tochter. Nur so Tochter.« Dabei bemühte er sich in langer Rede und mit großer Anstrengung, René verständlich zu machen, dass sie seine Pflegetochter sei.

Das war etwa der Inhalt seiner Unterhaltung, bei der er fast allein das Wort führte und René nur notdürftig den Sinn verstand, denn der Alte benutzte mehr tahitische Worte als englische, und die waren noch verstümmelt. So wurde für René die Unterhaltung zu einer Folter, und er nutzte die erste passende Gelegenheit, um in den Garten zu gehen. Aber Sadie war nirgends, weder zu hören noch zu sehen.

Die Sonne stieg schon ziemlich hoch, und er warf sich ermüdet in den Schatten eines Zitronen- und Orangendickichts. Von dem erhöhten Platz aus konnte er das ruhige Binnenwasser, das die Insel umgab, und die weit draußen von der Brandung hoch umschäumten Riffe übersehen. Dicht hinter dem kleinen Orangenhain lief die Einfassung des Gartens entlang. Gleich von dort stiegen ziemlich steil die nächsten, mit Guaven- und Zitronenbüschen bedeckten Hügel auf.

Etwa eine halbe Stunde hatte er so gelegen und wilde Luftschlösser gebaut. In reizenden Bildern malte er sich seine künftige Heimat unter wehenden Palmen und duftigen Orangenblüten aus. Sein Kanu schaukelte still und friedlich auf der klaren Flut. Wenn er abends vom Fischfang heimkehrte, winkte ihm ein hübsches Mädchen freundlich von der Bambushütte her ein »Joranna« zu.

Doch halt! Das waren Schritte hinter den Orangenbäumen vom Hügel herunter! Ein leichter Sprung über den Zaun, und er fuhr empor. Direkt an ihm vorbei lief die Wirklichkeit seiner schönsten Träume.

»Sadie!«, rief er leise.

Mit einem kleinen Schreckensruf warf das Mädchen den Kopf herum, und ihre wilden Locken flatterten. Als sie aber ihren Schützling entdeckte, überzog wieder dunkles Rot ihr hübsches Gesicht. Schnell trat sie zu ihm und reichte ihm die Hand. Er ließ sie nicht los und sah ihr dabei tief in die Augen.

Heute war sie wieder ganz das wilde Mädchen, wie er es zum ersten Mal erlebt hatte, als sie wie ein zürnender Geist zwischen Verfolger und Verfolgten getreten war. Das lange Gewand von gestern hatte sie abgeworfen, und das Schultertuch verriet mehr von den üppigen Formen des schönen Mädchens, als es verdeckte. Auch durch die Locken wand sich wieder ein dichter Kranz duftender Blumen, mit einem gefärbten Farn durchflochten. Zwei große weiße Sternblumen staken über ihren Ohren und hoben die Bronzefarbe der Haut noch mehr hervor.

»Wo bist du nur so lange geblieben, Sadie?«, erkundigte sich René mit leisem, fast zärtlichem Vorwurf.

»Lange geblieben? Hab ich denn überhaupt kommen wollen? Komischer Mann, woher willst du wissen, wo ich heute schon überall war, und nur deinetwegen?«

Zuerst hatte sie bei ihrer Antwort gelacht, aber bei dem letzten Satz errötete sie wieder. Als sie merkte, dass er etwas darauf erwidern wollte, fuhr sie rasch fort:

»Komm, ich habe gute Nachrichten für dich, und wir wollen dabei zu meinem Lieblingsplatz auf dem Hügel gehen.«

»Aber ich habe meine Waffen im Haus gelassen«, sagte der junge Mann.

»Du brauchst sie nicht mehr, jedenfalls jetzt nicht. Unser Häuptling hat mir selbst sein Wort gegeben, dass du unbelästigt auf der Insel bleiben sollst, bis das Schiff wiederkommt und dich zurückfordert. Aber selbst dann will er nicht streng gegen dich sein, wenn sie ihn nicht dazu treiben. Er ist ein guter Mann. Erst seit ihr Weißen uns so viele Sachen herübergebracht habt, ist seine Habgier geweckt und er tut vieles, was er sonst nicht getan hätte. Jeder glaubt, dass er ohne eure Dinge nicht mehr leben könnte.«

»Du bist meinetwegen schon heute Morgen auf der anderen Seite der Insel gewesen? Da musst du ja um Mitternacht aufgebrochen und die ganze Zeit gewandert sein, und das durch diese Wildnis!«

»Ach was!«, lachte das Mädchen und warf sich mit rascher Kopfbewegung die Locken um die Schläfe, sodass die losgeschüttelten Blüten auf ihre Schultern fielen. »Ist das der Rede wert? Schon als kleines Mädchen von vier Jahren habe ich den Weg allein gemacht, und jetzt bin ich fünfzehn. Aber gestern durfte ich nicht gehen, da war Sabbat, und ich wollte doch auch nicht, dass du wie ein Gefangener im Haus sitzen musst. Aber wir wollen hier nicht stehen bleiben. Ich bin müde und will mich dort ausruhen, komm!« Dabei zog sie ihn zur Gartenpforte und links davon einen kleinen Hügel empor. Sie erreichten einen kleinen, ausgebauten Pfad.

Es ließ sich kaum ein lieblicheres Plätzchen denken als das, wohin das schöne Mädchen jetzt den jungen Mann führte. Drei niedrige Palmen mit fast gleich großen Kronen überhingen die kleine Stelle so, dass die schattigen Blätter, weit nach vorn überneigend, die Sonne auffingen. Der Boden war mit einem feinen, wohlriechenden Farn bedeckt. Der duftende Anei und reich mit Blumen geschmückte Büsche bildeten die Rückwand. Mehrere mit Blüten übersäte und zugleich von goldenen Früchten fast niedergedrückte Orangenbüsche bildeten die Seiten, während ein breiter, niedriger Sitz aus feingeflochtenen Matten die freie Aussicht auf das blaue Meer und die schäumende Brandung der Riffe gewährte. Die Matten lagen mehrfach weich übereinander und hatten eine aus Bambus gebogene Rückenlehne.

René stand lange schweigend vor der reizenden Szene. Sadie betrachtete ihn lächelnd von der Seite.

»Ist das nicht ein schöner Platz hier auf der kleinen freundlichen Insel?«, fragte sie leise, als ob sie fürchte, seine Gefühle zu stören.

»Herrlich, einfach wunderschön!«, rief René begeistert aus. Er griff ihre Hand und fuhr fort: »Ein Paradies, dem selbst die Engel nicht fehlen!«

»Pfui, Fremder!«, antwortete das Mädchen ernst und fast traurig. »Du darfst nicht lästern, wenn der liebe Gott das Licht seiner Sonne zu dir schickt und die Wunder seiner Welt um dich ausgebreitet hat. Du tust mir weh damit, denn ich habe dir doch nichts getan!«

»Sadie!«, bat der junge Mann, tief ergriffen von der einfachen, rührenden Natürlichkeit des jungen Mädchens.

»Lass nur, und setze dich hier hin, nein, nicht so nahe zu mir – da in die Ecke, so, und nun sollst du mir eine Frage beantworten.« Ihre Stimme war schon wieder freundlicher geworden. Sie sah ihm mit treuherzigem Blick in die Augen. Ihre Hand hielt René erneut in seiner.

»Was willst du mich fragen, du Schöne?«

»Ich heiße Prudentia, oder höchstens noch Sadie, aber nicht anders. Wie heißt du eigentlich?«

»René!«

»René! Das ist ein hübscher, kurzer Name und klingt nicht so schwerfällig wie die anderen englischen Namen und Worte. René – das könnte auch der Mitonare im Haus behalten«, setzte sie dann hinzu. Ein schelmisches Lächeln blitzte ihr durch die Augen und war im nächsten Moment wieder verschwunden.

»Was wolltest du mich fragen, Sadie?«

In diesem Augenblick wurde das junge Mädchen still und ernst. Forschend sah sie ihm in die Augen, als ob sie dort lesen wollte, wie es in seinem Herzen aussah. Dann schüttelte sie den Kopf. Hatte sie nicht gefunden, was sie suchte, oder war sie über sich selbst böse? Noch immer keinen Blick von ihm abwendend, erkundigte sie sich:

»Ist es wahr, René, dass du ein Ferani bist?«

»Wenn du damit einen Franzosen meinst, ja!«, erwiderte René erstaunt über den tiefen Ernst bei einer so belanglosen Frage.

»Bist du ein Christ?«, fragte das Mädchen ängstlich.

René konnte ein Lächeln kaum verbergen. Er erinnerte sich zugleich an die Fragen des kleinen Mitonare und sagte kopfschüttelnd:

»Wer hat euch bloß diese tollen Grillen in den Kopf gesetzt, dass die Franzosen keine Christen wären? Gewiss sind wir Christen, wenn dich das beruhigen kann.«

»Aber habt ihr nicht heidnische Gebräuche bei eurer Religion?«, erkundigte sich das Mädchen noch eindringlicher.

»Sadie, jetzt sag mir nur ...«

»Bitte, beantworte meine Frage treu und wahr!«, unterbrach ihn in fast ängstlicher Hast das Mädchen. »Ich will dann auch gern jede

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: CraftCloud / Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9046-9

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