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Zum Buch + 1. Der Kommerzienrat

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Friedrich Gerstäcker

Herrn Mahlhubers Reiseabenteuer

Coverbild: © Jolliolly / Shutterstock.com

 

1. Der Kommerzienrat

In einem gemütlichen Städtchen Bayerns – und alle Städte und Städtchen Deutschlands sollten eigentlich den Gesetzen nach gemütlich sein – lebte still und zurückgezogen der Held unserer Geschichte.

Herr Hieronymus Mahlhuber war ein anspruchloser Mann, der sich schon seit länger als fünfzehn Jahren mit dem Titel eines Kommerzienrats und im Besitze eines Ludwigskreuzes nach Gidelsbach zurückgezogen hatte und hier mit einer alten Haushälterin still und ruhig seine Tage verlebte.

Was er einmal früher getan, den Titel wie den Orden zu bekommen, hat man nie erfahren. Manche, und besonders die äußerste Linke in Gidelsbach (der Müller und der Bader), wollten behaupten, er hätte beides bekommen, weil er nichts getan, aber da sich das nicht denken ließ, so fand es auch keinen Eingang bei dem denkenden Teile der Bürgerschaft.

Die Einwohner von Gidelsbach sahen den kleinen wohlbeleibten ältlichen Herrn sogar mit einer so viel größern Ehrfurcht und Achtung an, weil eben über seinen Verdiensten ein gewisses geheimnisvolles Dunkel lag, und zu diesen gehörte jedenfalls und unbestritten, dass er nur selten davon sprach.

Von etwas sprach er aber, das übrigens auch ein besonderes Interesse für ihn haben mochte, da es ihm am nächsten stand, und das war seine Leber, die er, ob gegründet oder ungegründet, in den Verdacht gebracht hatte, dass sie drei Zoll zu groß sei und in ihrer Anschwellung darauf hinarbeite ihm den Magen abzustoßen.

Die beiden Ärzte im Städtchen waren darüber, wie sich das auch nicht anders erwarten ließ, durchaus entgegengesetzter Meinung, wodurch der eine, der eine derartige Krankheit vollkommen ableugnete und das Leiden zuerst als eine Indigestion und nachher für alberne Einbildung erklärte, einen sehr guten Kunden verlor, und der andere, der durch Klopfen und Horchen an Brusthöhle, Rippen, Schultern und allen andern Körperteilen des Kommerzienrats allerdings einige jedenfalls zu berücksichtigende und bedenkliche Symptome einer möglichen roten oder gelben Hypertrophie oder einer speckartigen Entartung der Leber gefunden haben wollte, ihn gewann.

Herr Kommerzienrat Mahlhuber war sehr besorgt um sein Leben im Allgemeinen wie um seine Leber im Besondern, und das muss ihn entschuldigen, wenn er mit dieser angeblichen unnatürlichen Vergrößerung derselben auch eine früher gehabte, leicht und glücklich operierte Balggeschwulst oben auf dem Kopfe in Verbindung brachte.

Er hatte eine natürliche Scheu vor allen derartigen Dingen, und die sonst ganz unschuldige Geschwulst war ihm als das Entsetzlichste erschienen, was sich an dem menschlichen Körper nur überhaupt bilden konnte, da es, in unmittelbarer Nähe mit dem Gehirn, in seinen Folgen unberechenbar sein musste.

Bei weiter gar keiner Beschäftigung als eben nur der, sein ihm äußerst kostbares Leben zu erhalten, malte er sich die Entwickelung solcher Leiden mit den lebendigsten Farben aus, und war endlich zu dem Resultat gekommen, dass eine Vereinigung der Balggeschwulst-Nerven mit der Leber keineswegs zu den Unmöglichkeiten gehöre, ja dass oben sogar auf dem Kopfe, trotz der vollkommen geheilten Narbe, ein ähnlicher Schaden wieder ausbrechen und krebsartige Folgen mit sich führen könne.

Doktor Mittelweile tat sein Möglichstes, ihm derartige Ideen auszureden und ihm zu beweisen, dass er ebenso leicht einen Krebs an der äußersten Nasenspitze wie an der vernarbten und vollkommen geheilten und von ihm selbst operierten Geschwulst erwarten dürfe; Doktor Märzhammer aber, sein früherer Arzt, machte sich ein Vergnügen daraus unter der Hand, wo er wusste, dass es dem Kommerzienrat zu Ohren kommen musste, zu verbreiten, »die Naht könnte im Innern noch einmal eitern«.

Doktor Mittelweile, der vergebens gegen solchen Unsinn ankämpfte und täglich die alten Geschichten und Klagen mit dem vollkommen gesunden Manne durchzuarbeiten hatte, wusste endlich keinen andern Rat als ihn auf Reisen zu schicken, weniger in ein bestimmtes Bad zu gehen, als nur einmal einen Monat in der Welt umherzufahren. Sein Patient brauchte Zerstreuung, und die konnte er in dem mit der Welt in fast gar keiner Verbindung stehenden Gidelsbach nimmermehr finden. Er war hier versauert und eingetrocknet und musste hinaus an die frische Luft. Auch für die Leber prophezeite er ihm dabei die segensreichsten Folgen, da nichts ein unnatürliches Wachsen der Leber, wie man das ja auch an den Gänsen sehe, so befördere, wie Untätigkeit und gehemmte Bewegung.

Doktor Mittelweile hatte nun aber mit einer andern Schwierigkeit zu kämpfen, mit dem vor allem die Ruhe liebenden Temperament des Patienten.

»Nur keine Aufregung! – Nur keine Übereilung!« wurden seine Wahlsprüche, und wenn er irgendetwas auf der Welt, außer Demokraten, hasste, so waren es Abenteuer, zu denen er selbst die unschuldigsten Fälle rechnete, sobald sie ihn nur aus dem gewöhnlichen Gleise seines stillen behaglichen Lebens hinausbrachten. Musste er da nicht eine Reise als eine Kette von Abenteuern betrachten, und hätte er sich je selber freiwillig dazu entschließen können? – Nimmermehr.

Es gab nur einen Gegenstand – wie Doktor Mittelweile recht gut wusste – in der weiten Gotteswelt, der ihn endlich wirklich zu einem solchen verzweifelten Entschlusse treiben konnte, und der war – eben die Leber. Hinter diese steckte sich der Doktor, und die Symptome wurden denn auch bald so bedenklicher Art, dass der Kommerzienrat in seinem »baumfesten« Entschlusse, wie er ihn nannte, wirklich wankend gemacht wurde und die Möglichkeit zuzugeben anfing, dass er doch am Ende reisen könne.

»Es gibt nur zwei Wege für Sie«, hatte der Doktor, dem die Geschichte nachgerade anfing langweilig zu werden, am Ende einer langen Rede einmal zu ihm gesagt. »Sie müssen sich in einen Wagen setzen, oder Sie werden in einen gesetzt, oder vielmehr gelegt nach unsern jetzigen christlichen Begriffen. Außerdem weiß ich noch nicht einmal ob das allein für Sie hinreichend sein wird, denn das dumme Zeug, was Sie sich von der ›umwundenen Naht‹ haben in den Kopf setzen lassen (und ich kann mir recht gut denken, woher es kommt), wird auch die Reise nicht ganz mit der Wurzel ausrotten, dazu gehört schon eine Radikalkur.«

»Noch etwas Schlimmeres als eine Reise?«

»Schlimmeres? – Ja und nein, wie Sie wollen.«

»Und das wäre?«

»Sie müssen heiraten.«

»Heiraten?«, rief der Kommerzienrat, mit einem Satze aus seinem Lehnstuhl hinausspringend und einen scheuen Blick nach der Tür werfend. Wenn Dorothee das Wort gehört hätte!

»Heiraten«, bestätigte aber der Doktor, der selbst zum ersten Male an einen solchen Ausweg gedacht und nun tat, als ob er sich das Für und Wider schon monatelang mit allen Gründen und Hindernissen überlegt und die Eröffnung nicht länger auf dem Herzen hätte behalten können.

»Heiraten«, wiederholte er noch einmal, und nahm eine langsame bedächtige Prise. »Und je eher Sie sich dazu entschließen, desto besser für Sie. Viel Zeit haben sie überhaupt nicht mehr damit.«

»Unsinn!«, sagte der Kommerzienrat, der sich von dem ersten Schreck erholt hatte und wieder in seinen Stuhl sank. »Heiraten? Fragen Sie einmal meine Dorothee, was die dazu sagen würde.«

»Dorothee?«, rief der Doktor unwillig und verächtlich mit dem Kopfe schüttelnd. »Dorothee! – Was geht uns Ihre Dorothee an, wenn es sich um Ihre lebenslängliche Behaglichkeit und Gesundheit handelt?«

»Behaglichkeit? – Ja das kann ich mir denken«, sagte der Kommerzienrat. »Dass ich die Hölle im Hause hätte? – Nein, Doktor, meine Leber will ich Ihnen anvertrauen, aber meinen Hausfrieden nicht. Wenn es denn nun einmal nicht anders sein kann, so will ich reisen – meinetwegen; ich gehe so und so zugrunde; aber wie? – Wohin? – Womit? – Wie weit?«

»Sie müssen vor allen Dingen fahren«, sagte der Doktor rasch, und klug genug, sein zweites Mittel für den Augenblick nicht mit Gewalt erpressen zu wollen: »Zeit bricht Rosen, und wenn Sie sich hier morgen Früh auf die Post setzen, können Sie übermorgen mit dem Sechs-Uhr-Zuge die Wahl zwischen den Weltgegenden haben, die Sie besuchen wollen.«

»Eisenbahnen!«, seufzte der Kommerzienrat. »Ich kenne kein unbehaglicheres Gefühl auf der Welt, eine Operation ausgenommen, als sich auf eine Eisenbahn zu setzen. Die unerwarteten Fälle, die da vorkommen: Zusammenrennen der Lokomotiven, Platzen der Kessel, Einschneien der Züge –«

»Wir sind ja mitten im Sommer.«

»Nun ja, aber alle derartigen Aufregungen, die junge leichtsinnige Menschenbilder Abenteuer nennen, sind mir in innerster Seele verhasst, und wenn Sie sich dadurch eine Heilung meiner Krankheit versprechen, haben Sie vorbeigeschossen. Ich fürchte diese werden meinen Zustand eher, wenn das überhaupt möglich ist, verschlimmern.«

»Lieber Kommerzienrat«, beruhigte ihn der Doktor, »Sie haben in unserer Zeit auf einer Eisenbahn nicht mehr Abenteuer zu fürchten wie oben auf dem Kanzleigericht; es geht alles seine trockene, eingefahrene, pedantische Bahn. Wenn Sie den Zug nicht versäumen, brauchen Sie nicht zu glauben, dass Ihnen irgendetwas Außergewöhnliches passiert.«

»Also morgen!«, stöhnte der Kommerzienrat; und »Gott sei Dank!«, sagte Doktor Mittelweile mit einem tiefen Seufzer, als er die Treppe hinabstieg; »haben wir ihn doch erst einmal so weit.«

2. Die Vorbereitungen zur Reise

Der Tag war ein geschäftsreicher im Mahlhuber'schen Hause, denn es galt einen Menschen zur Reise herzurichten, der die Welt, wie diese von ihm nichts wusste, fast ganz vergessen hatte und von seinen Bequemlichkeiten, die er alle hinter sich lassen sollte, so unzertrennlich zu sein schien, dass sie ihm ebenso viele notwendige und fast unerlässliche Bedürfnisse geworden waren.

Frau Dorothee, die sechsundfünfzigjährige Haushälterin, wollte sich aber fast noch weniger hineinfinden als ihr Herr; sie schimpfte auf den Doktor, der, wenn er Ferien haben wollte, selber verreisen und nicht ihren armen Herrn »in Wind und Wetter« hinausschicken sollte, und weigerte sich im Anfange hartnäckig, auch nur einen Finger zu rühren, ihn »in sein Unglück« selber mit hineinstoßen zu helfen.

Erst als sie sah, dass all ihr Protestieren erfolglos blieb, erklärte sie plötzlich »in dem Falle sei es ihre Pflicht« selber mitzufahren, den armen Herrn nicht ohne eine zuverlässige Stütze den Weltstürmen preiszugeben, und als auch das nicht angenommen wurde, wollte sie wenigstens einen Bedienten durchsetzen, den sie als unausweichbare Bedingung ihrer Einwilligung zu einem so tollkühnen, ungerechtfertigten Unternehmen stellte.

Dieser Bediente war ein Vetter von ihr, den sie auch ohne Weiteres bestellte, um gleich beim Packen hilfreiche Hand zu leisten.

Aber selbst der Vetter fand keine Gnade vor des Kommerzienrats Augen. Herr Mahlhuber war nun einmal fest entschlossen allein zu reisen, und – hatte dabei auch seine ganz besondern Gründe. Sollte er sich einen Menschen aufhängen, der nachher jede Bewegung, die er da draußen gemacht, jede Ungeschicklichkeit in den fremden Sitten (und er war klug genug solche zu fürchten) genau und ausführlich mit nach Gidelsbach zurückbrachte und den Leuten in der Schenke Stoff zum Lachen und Maulaufreißen gab?

Nein, er wollte sich still in einen Postwagen setzen und fahren; wohin, blieb sich gleich, ja, wenn es unbemerkt geschehen konnte, vielleicht eine Zeitlang herüber und hinüber, von Station zu Station, um nur nicht zu weit fortzukommen; doch das fand sich alles später und er konnte darüber schalten und walten wie es ihm gut dünkte – wenn er nur allein war.

Auch inkognito wollte er reisen. – Mahlhuber! Der Name ging schon, es gab verschiedene Mahlhuber, in Gidelsbach sowohl wie in der Umgegend, aber den Kommerzienrat musste er verheimlichen. Schlechtweg Mahlhuber, mit dem Ludwigskreuz jedoch, denn das durfte er nicht aus dem Knopfloch lassen, es hätte das als eine Missachtung angesehen werden können; aber er trug es am Frack und den Oberrock darüberhin, sodass es wenigstens nicht unnötig auffiel.

Eine Schwierigkeit zeigte sich aber doch noch. Der Kommerzienrat hatte Dorothees wie ihres Vetters Begleitung pariert, wie überhaupt in der ganzen Verhandlung eine sonst nicht so stark an ihm hervortretende Willensfestigkeit gezeigt.

Eins aber trug die wackere und um ihren Herrn wirklich besorgte Wirtschafterin noch auf dem Herzen, auf dem sie bestand und gegen das Herr Mahlhuber vergebens ankämpfte. Dieser sollte nämlich, seiner größern Sicherheit wegen, ein paar alte Pistolen, die bis jetzt friedlich, jeden Sonnabend sauber abgescheuert, über seinem Bette gehangen hatten, mit auf die Reise nehmen, etwaigen Gefahren und Abenteuern, die gar nicht ausbleiben könnten, zu begegnen, und all sein Sträuben dagegen und Ärgerlichwerden half ihm nichts.

Vergebens erklärte er Dorothee, dass er keinen Fuß vor die Tür setzen würde, sobald er die geringste Ahnung von einem in jetziger Art zu reisen ganz unmöglichen Abenteuer habe, und Räuber gäbe es nicht mehr, dank der wohltuenden Menge von Gendarmen und Polizeidienern überall, wohin ein ruhiger Staatsbürger seine Bahn lenken möge; wozu also sich mit einer höchst unbequemen Waffe schleppen, die, wenn nicht geladen, vollkommen nutzlos und beschwerlich, wenn aber geladen, sogar für den Träger selber gefährlich werden könnte?

Dorothee gab nicht nach; sie hatte erst kürzlich eine furchtbare Geschichte gelesen, dass ein Reisender durch einen rechtzeitigen Pistolenschuss sein eigenes Leben wie das seiner Reisegefährtin, eines jungen unschuldigen Mädchens, gerettet habe, und versicherte sich alles gefallen lassen zu wollen, wenn der Herr Kommerzienrat nur eben in der einen Sache nachgeben würde.

Beide kamen zuletzt zu einem Kompromiss, wonach sich der Kommerzienrat Mahlhuber erbot und verpflichtete, eine Pistole – die andere sollte unangefochten an der Wand hängen bleiben – ungeladen in die Tasche zu stecken und mitzunehmen. Er wollte sie erst in den Koffer tun, und Dorothee wollte sie geladen haben; zuletzt vereinigten sie sich zu der angegebenen Art, und die Sache schien abgemacht.

Wenn aber der Kommerzienrat die Sache solcherart für erledigt hielt, hatte Dorothee doch eine andere Ansicht davon und nicht umsonst ihren Vetter bei der Hand, den geliebten Herrn, selbst gegen seinen Willen, mit jeder nötigen Vorsicht zu schützen und zu bewahren. Balthasar bekam, mit zwei und einem halben Silbergroschen eine ordentliche Ladung Pulver und Blei zu besorgen, die Pistole überliefert und kehrte nach einer Viertelstunde etwa völlig befriedigt damit zurück.

»Und hast du sie wirklich ordentlich geladen, dass sie auch losgeht, wenn das schlechte Gesindel den Wagen anhalten sollte?«, sagte Dorothee und besah misstrauisch den Lauf der kleinen blankpolierten Waffe.

»'s ist eine kleine Handvoll Pulver drin«, versicherte der Bursche, »und eine kleine Untertasse voll Schrot – wer das auf den Pelz kriegt, kann sich gratulieren.«

»Aber da oben ging immer noch etwas hinein«, sagte die Alte, misstrauisch den kurzen, nicht ganz gefüllten Lauf betrachtend, halb und halb mit dem Verdacht, dass der Vetter die zwei und einen halben Silbergroschen nicht ganz verwandt haben könnte für die Ladung.

»Wenn's zu weit nach vorn käme, sähe er's«, sagte der Vetter, und Dorothee begriff dass er Recht hätte.

Die Pistole, ein altes Familienstück und noch mit Feuerschloss, wurde dann vorsichtig wieder an ihre Stelle neben den Regenschirm, den Stock und das Sitzkissen gelegt, und die würdige Frau fühlte sich jetzt wohl und beruhigt in dem Gedanken, alles getan zu haben, was in ihren Kräften stand, sich später keine Vorwürfe und Gewissensbisse machen zu dürfen.

Da übrigens der Herr Kommerzienrat nur höchstens vierzehn Tage auszubleiben gedachte, hielt man auch drei Koffer mit Hutschachtel und Reisesack für völlig genügend, alle die notwendigsten Gegenstände wenigstens mitzuführen, die nun einmal unbedingt zu Leben und anständiger Kleidung gehörten.

Um 10 Uhr abends, bis zu welcher Zeit er jedes Mal zu Bette ging, mochte er sich befinden, wo er wollte, war alles beendet, am nächsten Morgen 11 Uhr mit der königlichen Eilpost für so und so viel Taler Fahrgebühren und etwa das Dreifache an Überfracht nach Burgkundstadt befördert zu werden, von wo er sich entschlossen hatte die Eisenbahn zu benutzen, um nach München zu gelangen.

Nun war die Post dazu bestimmt, sich am nächsten Morgen dem ersten Zuge nach der Hauptstadt des Landes anzuschließen, aber Herr Mahlhuber hätte dann die Nacht durch fahren müssen, etwas was ihm nicht im Traume einfiel; er wollte seine Gesundheit nicht mutwillig zum Fenster hinauswerfen.

So sich genau erkundigend, welche Station der Postwagen etwa um 9 Uhr abends erreichen würde, dort ein gehöriges Abendbrot zu bekommen und zu übernachten, nahm er bis dorthin Passage.

Und als der Eilwagen von X kommend, zehn Minuten vor elf etwa unter dem schmetternden »Ei du lieber Augustin« des Postillons durch Gidelsbach rasselte, die Pferde zu wechseln und etwaigen Passagieren Gelegenheit zu geben eine Tasse sehr dünne Bouillon zu trinken, ging Herr Kommerzienrat Mahlhuber, von seinem ganzen Gesinde wie der nächsten Nachbarschaft und einigen Neugierigen begleitet, auf die Post, wo er schon seinen Schein gelöst, sein Gepäck abgeliefert hatte, und setzte sich auf seine Nummer, die linke Ecke des Rücksitzes, Nr. 2, neben eine etwas stattliche und wohleingepackte Dame mit grünseidenem Hute und schwarzem Schleier.

Gleich darauf nahm noch ein anderer, trotz des warmen Wetters in einen großen wollenen Shawl eingepackter Herr den dritten Platz in der rückwärtsfahrenden Ecke ein, den übrigen Teil mit Nr. 4 und 6 für die diversen Hutschachteln, Kästchen, Bündel und Necessaires der Dame freilassend, die hier alles aufgehäuft und in Besitz genommen hatte.

3. Erstes Abenteuer

Der Abschied war genommen, der Kommerzienrat hatte sich aber schon vorher ernstlich von Dorothee sowohl als von seinen ihn begleitenden Bekannten den Titel verbeten, und Herr Mahlhuber, wie er jetzt schlechtweg hieß, war eben noch einmal im Wagen aufgestanden, sein Rücken- oder Sitzkissen anders zu ordnen, als die Peitsche des Postillons mit kräftigem Schwunge die eingespannten Pferde traf und diese so rasch und plötzlich anzogen, dass sich der darauf ganz Unvorbereitete mit einem Schwung und Wurf auf den Schoß des Fremden setzte.

»Bitte tausend mal um Entschuldigung!«, rief er, so rasch ihm das möglich war wiederaufschnellend den eigenen Sitz einzunehmen und eine verbindliche Verbeugung gegen den Fremden machend, die beinahe für die Dame verderblich geworden wäre, »ich dachte gar nicht, dass wir so schnell abfahren würden; es kann kaum 11 Uhr sein.«

Der Fremde erwiderte kein Wort; er hatte erst die Brauen finster zusammengezogen, aber ein Blick auf den Mann selber mochte ihm wohl sagen, mit wem er es hier eigentlich zu tun habe. So sein Gesicht nun wieder in die frühern ruhigen Falten legend, sah er still und ernst gerade auf die ihm gegenüberbefindliche Nr. 2, als ob der Herr Kommerzienrat gar nicht in der Welt gewesen wäre.

»Setzen Sie sich nur um Gotteswillen erst einmal hin«, sagte die Dame, die indessen die Hand schützend vorgehalten hatte und jeden Augenblick einen ähnlichen Überfall wie auf den Fremden erwartet zu haben schien, »meine Nerven sind so schon so aufgeregt und angegriffen.«

Herr Mahlhuber drehte sich rasch nach der schönen Sprecherin um, und diesmal brachte ihn das Straßenpflaster mit einem plötzlichen Ruck gerade und glücklicherweise in seinen eigenen Sitz; das furchtbare Rasseln und Schütteln des Wagens unterbrach oder verhinderte dabei vielmehr auch jede nur mögliche Unterhaltung. Es ließ sich kein Wort verstehen und die Passagiere drückten sich schweigend in ihre verschiedenen Ecken und sahen die niedern Häuser von Gidelsbach, der Kommerzienrat mit einem eigenen Gefühle stiller Wehmut, die andern beiden vollkommen gleichgültig, an sich vorübergleiten.

»Ach dürfte ich Sie wohl bitten, das Fenster dort an Ihrer Seite aufzuziehen«, brach die Dame endlich das Stillschweigen, als sie die letzten Häuser von Gidelsbach hinter sich gelassen und die Luft frei und frisch über die blühenden Saatfelder herüberstrich, »ich leide so sehr an Zähnen und fürchte, dass mir der Luftzug schaden könnte.«

Der Fremde gegenüber rührte und regte sich nicht, und der Kommerzienrat sah erst die Dame und dann sein vis-à-vis etwas bestürzt an; er hatte die stille Hoffnung gehegt die Erlaubnis zu bekommen, eine Gidelsbacher Zigarre anzuzünden, und wenn das Fenster, die wundervolle warme Luft draußen gar nicht in Betracht gezogen, geschlossen wurde, war daran nicht mehr zu denken.

»Wollen Sie nicht so gut sein und das Fenster da bei sich zumachen«, sagte die Dame wieder, ohne ihm lange Zeit zum Überlegen zu gestatten, mit etwas lauterer Stimme, als ob sie fürchte, dass er am Ende schwer höre, »ich kann die Luft nicht vertragen.«

»Aber, Madame, bei diesem wundervollen Wetter«, wagte der Kommerzienrat eine oberflächliche Bemerkung, die ihm jedoch nichts half, denn die Dame, von etwas resolutem Charakter und wahrscheinlich schon mehrfach auf Reisen gewesen, stand einfach auf, bog sich über ihren etwas scheu zurückweichenden Nachbar hinweg, stützte sich mit der linken Hand gegen den Fensterrahmen und zog die Scheibe selber in die Höhe. Es war Herrn Mahlhuber dabei fast so als ob sie etwas vor sich hingemurmelt hatte, was gerade nicht wie ein Segen klang, er konnte es aber nicht genau verstehen und war auch wirklich durch die entschiedene Bewegung viel zu sehr überrascht, recht darauf zu achten.

Jede möglich gewesene Unterhaltung schien dadurch wieder ins Stocken zu geraten, und während der Mann ihm gegenüber – mutmaßlicherweise ein Engländer – stumm zu sein schien, zog die Dame aus einem großen, inwendig mit grünem Wachstaffet gefütterten Kober eine Anzahl Viktualien, gestrichene Semmeln, Wurst, Käse und gebratenes Huhn, heraus und begann ihre Mittagsmahlzeit, auf der nächsten Station wahrscheinlich die Table d'Hôte, wozu der Kondukteur gewöhnlich zehn Minuten Zeit gestattete, zu ersparen.

Der Kommerzienrat fügte sich in sein Schicksal, rückte sich zurecht, lehnte den Kopf hinten an, entschuldigte sich bei seinem Vis-á-vis, von dem er wieder keine Antwort bekam, wenn ihn vielleicht seine Füße genieren sollten, faltete die Hände im Schoß, schloss die Augen und versuchte einzuschlafen, was er auch glücklich in demselben Augenblick zustande brachte, als der Postillon blies, der Wagen anhielt, der Kondukteur den Schlag aufmachte und hereinrief, dass hier Mittag gemacht würde und die Passagiere »gefälligst aussteigen möchten«.

Der Fremde stand ohne Weiteres auf, dem Rufe Folge zu leisten – es konnte doch am Ende kein Engländer sein, denn er schien das Deutsche vollkommen gut verstanden zu haben – trat dem Kommerzienrat auf die Hühneraugen ohne sich zu entschuldigen – es war doch am Ende einer – und verließ den Wagen, sein Mittagsmahl einzunehmen, während sich die Dame, als der Kommerzienrat noch unentschlossen stand, was zu tun, den Wagenschlag wieder zumachen ließ, der gefürchteten Zahnschmerzen wegen.

Bis er sich besonnen hatte vergingen mehre Minuten, und wie er zuletzt doch noch einmal öffnen ließ und hineinging, behielt er dort eben noch Zeit seine Table d'Hôte mit einem halben Taler zu bezahlen und zu finden, dass die Suppe zu heiß zum Essen sei, als der Postillon auch schon wieder zum Aufbruch blies und der Kondukteur mit einem »Es ist die höchste Zeit, meine Herren« die Tür aufriss.

»Nach Tisch«, wie es Herr Mahlhuber jetzt nannte, war er gewohnt sein Schläfchen zu halten, und wenn er auch um das Essen selber gekommen, erschien ihm das nicht als genügender Grund sich auch um den Schlaf zu bringen.

So alle seine frühern Vorbereitungen wiederholend, gelang es ihm diesmal wirklich seine Wagenecke zu behaupten, und erst die Sonne, die schräg durch das Wagenfenster herein und ihm gerade auf die Augen schien, weckte ihn wieder aus seinem süßen Schlummer, dem er sich wohl zwei volle Stunden

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

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Tag der Veröffentlichung: 05.03.2014
ISBN: 978-3-7309-8952-4

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