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1. Im Saale der Ungeborenen

Die wahre Freude gewinnt nur, wer sie im Kampf mit dem Schweren erringt. Man kann aber nicht kämpfen, wenn man dem Gegner nicht fest ins Auge sieht; man kann auch nur siegen, wenn man ihn in seinem ganzen Wesen begreifen lernt. (Heinrich Lhotzky)

 

»Warum bist du so ernst«, fragten die wartenden Geister den Engel der Geburt, als er ihnen das Tor öffnete, hinter dem sie sich zum Leben auf diesem Planeten sammeln sollten.

»Ich habe alle Ursache, ernst zu sein«, antwortete der Engel, »denn ich bin's, der euch das Tor der Ewigkeit zuschließen muss. Sobald ihr in diesen Saal eingetreten seid, beginnt für euch die Zeit, und die Ewigkeit wird verschlossen. Aber ich habe einen freundlichen Bruder, der öffnet den Geistern einmal wieder das verschlossene Tor und nimmt die Wegmüden alle auf in die Ewigkeit. Auch seine Arbeit ist ernst genug, aber die meine ist doch noch schwerer. Ihn nennen sie auf Erden den bleichen Tod, aber er ist mein freundlicher, lieber Bruder, der die beglückende Aufgabe hat, das Tor der Ewigkeit zu öffnen.«

»Aber wir sind ja alle voll freudigen Muts, auch das Schwerste auf uns zu nehmen. Wir freuen uns auf die Zeit«, riefen die Geister.

»Weil ihr sie nicht kennt. Aber ich weiß, dass euch der Mut bald erlahmen wird, und dann werdet ihr klagen und keinen Ausweg wisse. Das ist mir schwer.«

»Aber wir sind ja gar nicht lange in der Zeit, dann kommt der freundliche Engel, der uns in die Ewigkeit führt.«

»Nicht lange? Lange genug, um die Ewigkeit zu vergessen und zu verzweifeln unter den Plagen des Lebens.«

»Dennoch wollen wir's freudig wagen. Wir wollen doch lernen, zunehmen auf der trüben Erde, damit der Glanz der Ewigkeit umso größer werde für uns. Wir wollen viel, viel arbeiten.«

»Nehmt euch nur nicht zu viel vor! Schon mancher Erdenbürger ist unter seiner Last zusammengebrochen. Also hier in diesem Saale findet ihr alles, was die Erde angeht, und jeder darf seine Lebensverhältnisse selbst aussuchen, wie er's für sein geistiges Wachstum am passendsten hält. Wer mit seinen Überlegungen fertig ist, der kommt zu mir und geht dann erdwärts.«

Damit schloss der Engel das große Tor der Ewigkeit, indem er eine Träne von der Wange wischte, die den armen Seelen geweiht war.

Zwölfstundensaal hieß der Raum, in dem die Geister versammelt waren, denn alle zwölf Stunden bekam er neue Gäste, die hier ihr Erdenschicksal wählen durften. Es waren viele, die immer eintraten und erdwärts gingen. Sechzig Seelen in der Stunde ungefähr, für zwölf Stunden sechs- bis achthundert.

Die vier Ecken waren in vier Farben gezeichnet, schwarz, weiß, gelb, braun, und jeder Geist wählte seine Farbe, die er auf der Erde tragen wollte, und betrat seine Saalecke, um das Nähere zu erkunden und mit Freunden zu beraten.

Die schwersten Schicksale erschienen den Wählenden als die begehrenswertesten; denn die schwerere Arbeit musste größere Vollendung erzeugen in dem Geiste, der sie auf sich nahm.

Am begehrtesten war die Armut. Die Schwarzen und Braunen erwählten sie fast alle für sich, von den Weißen und Gelben die meisten. Erdschwere hieß der Reichtum im Zwölfstundensaal, und einige beugten sich auch unter ihn, aber als unter eine Last. Sie meinten, er werde für sie noch schwerer sein als die Armut. Darum erwählten sie ihn.

Andere wählten körperliche Leiden und Krüppelhaftigkeit aller Art. Ganz schauerliche Formen der Verartung sah man vom Saale aus als Erdenschicksal, und sie wurden begierig aufgegriffen von vorwärtsstrebenden Geistern. Auch begehrten mehr Seelen Frauen zu sein als Männer, weil es ihnen schwerer däuchte.

Andere zogen statt Leiden mühselige Arbeit vor und griffen nach der Gesundheit, um arbeiten zu können. Die allerschwierigsten und verwickeltsten Verhältnisse wurden zusammengelegt. Am meisten war wieder die geringe Arbeit, die langdauernde und schlecht besoldete gesucht. Doch wählten einige wenige auch geistige Arbeit. Auch Ehrenstellen waren das Ziel einiger, weil sie den Grundsatz vertraten: Last fördert. Die sie aber suchten, wählten dazu immer die schwierigsten, unangenehmsten Vorgesetzten, unter deren beständigem Nörgeln sie langsam aufwärts krochen, wie man schwere Gipfel ersteigt – Karriere nennt man im Deutschen, was langsam geht.

Besonders Dummheit und Schwerfälligkeit bis zu völliger Verblödung und Irrsinn herab, überhaupt geistige Beschränktheit jeglicher Art schien sehr begehrt zu sein für die Erdenbürger. Denn die Geister sind ja alle voll durchdringenden Verstandes. Sie haben's auch leicht, weil sie keine Hüllen zu durchdringen haben und die Dinge ohne Weiteres in vollendeter Wirklichkeit sehen. Da erschien ihnen freiwillige Beschränkung als Erhöhung ihrer Last und Arbeitsgelegenheit.

Am beliebtesten waren schwierige Familienverhältnisse. Leichtfertige Mütter wurden unter allen am meisten vorgezogen, aber auch rohe Väter, unglückliche Ehen, Widerwilligkeit oder vollendete Unfähigkeit für Kinder erschien als Empfehlung bei den Geistern, die das Schwere suchten. Daher kam's, dass rechtschaffene Leute, vortreffliche Eltern, liebevolle Frauen oft gar nicht gewählt wurden und kinderlos bleiben mussten. Besonders die höher entwickelten Menschenordnungen blieben ungewählt von den werdenden Erdenbürgern.

Alles in allem wurde das Niedere, Beschwerliche, Unansehnliche, Mühselige und Belastete von den Ewigkeitsbürgern für ihr zeitliches Dasein bevorzugt, das Hohe und Angenehme gering veranschlagt. Am wenigsten begehrt waren Herrscherstellungen, und wer sie erwählte, nahm sie der Last wegen.

Wer über sein Schicksal im Klaren war, trat vor den Engel und teilte ihm seine Pläne mit. Der half mit freundlichem Rat über Unklarheiten hinweg. Meistens hatte er zu mildern.

Da kam einer, der hatte gewählt Krankheit, Armut, Dummheit und eine leichtfertige Mutter ohne Vater. Der Engel milderte sein Vorhaben und empfahl ihm wenigstens rechtschaffene Eltern. Oft nötigte er wackere Freunde auf oder ein tüchtiges Ehegemahl. Es schien überhaupt sein Bestreben, den Untüchtigen einen gegenteiligen Ehegatten zuzuweisen und immer das Ungleiche für die Erde zu verbinden.

Solchem erfahrenen Rate waren die Geister zugänglich. Sie vertrauten der bewährten Weisheit der Ewigkeit.

Selten hatte der Engel die Bedingungen zu verschärfen nötig. Aber es kam doch vor. Ein Dickerchen kam daher und hatte gewählt Gesundheit, ererbten Reichtum, brave Eltern, glückliche Ehe, wohlgeratene Kinder und langes Leben. Dem riet der Engel wenigstens zu einer unglücklichen Ehe. Sein Erdenleben sei sonst gar zu bequem und verspreche ihm wenig Fortschritte für die Ewigkeit. Willig nahm das Geistchen an, was der Engel riet.

So wussten sie, dass sie wenigstens nicht ungeleitet die schwere Reise anzutreten und zu vollenden hätten. Die schwerst Belasteten hatten in der Regel keine allzu lange Laufbahn vor sich. Manche wählten überhaupt nur wenige Erdentage als Lebensdauer. Ebenso war den zu leicht Geladenen keine lange Anwesenheit beschieden. Aber manche schwere Leidträger brachten es doch recht hoch hinauf in den Jahren. Andere überließen die Lebensdauer dem Zufall und erklärten, sie wollten heimkehren, wenn der freundliche Ewigkeitspförtner sie riefe oder sie unter der Last zusammenbrächen. Aber allen war deutlich, dass ihr Erdenwallen nur kurz währe und dass sie bald heimkehren dürften in die Geistheimat. Ihre Erdenlasten würden dort ihre Schätze sein. Als Schatzgräber zogen sie erwartungsvoll aus.

Sobald einer dem Engel sein Schicksal gemeldet hatte, wurde er von diesem erdwärts entlassen. In jeder Minute etwa einer. Aber ehe er ging, bekam er aus des Engels Hand einen Erdentrank. Gewöhnliches Wasser. Das war gleichsam seine erste Nahrung, und wer einmal Erdenstoffe in sich aufgenommen hatte, der war dem Stoff verfallen und allen seinen Gesetzen.

Darum wirkte der Trank Vergessenheit. Wer irdisch geworden war, konnte sich sein Ewigkeitswesen nicht mehr vorstellen. Es war da als Empfindung, aber nicht als Bewusstsein. Auch die Empfindung war bei vielen schwach, im Maße als sie sich von irdischer Nahrung ernährten.

Viele suchten sogar den Empfindungsrest zu ertöten, indem sie alles Ewigkeitswesen bekämpften und bewiesen und gedankenmäßig für alle feststellten, dass nur der Stoff ewig sei, sie selbst aber nur ein zeitliches Stoffgebilde.

Das kam nur daher, weil sie das Ewige in sich trugen, aber nicht mehr recht verstehen konnten, und das Bedürfnis nach völliger Klarheit hatten, und es war eine Last und Qual in ihnen und um sie her. Heimlich wuchsen sie doch auch unter dieser Last.

Natürlich erschien ihnen alles andere auch umgekehrt. Ihr Erdensein schien ihre Ewigkeit geworden. Ihre erwählten Lasten als grausames Schicksal, mit dem sie beständig haderten. Ehern gefügt war das Mein und Dein, ein freiwilliger Austausch schien unmöglich. Wer das Niedere erwählt hatte, den dünkte es verächtlich, und wer die Last des Hohen ergriffen, glaubte an seine unendlichen Verdienste. Der Dumme hielt sich für klug und der Kluge für den, der sein Dasein verfehlt. Das wirkte die Erdenspeise und die stoffliche Gebundenheit, und das musste so sein, damit vor den Geistern selbst ihr wahrer Wert offenbar würde und jeder der ewigen Gerechtigkeit recht gäbe.

Als der letzte den Saal verlassen hatte, schaute der Engel ihnen wehmütig nach: Es sind doch wackere Genossen. Auf dem schwierigsten Planeten haben sie das Schwere erwählt. Das wird seine guten Früchte für sie tragen. Wenn wir uns wiedersehen, werden sie alle gewachsen sein.

Dann öffnete er das Tor der Zeit für andere Hunderte, denen in den nächsten zwölf Stunden die Ewigkeit verschlossen werden sollte. Auf der Erde aber blieb alles in seinem gewohnten Gang.

2. Leben

Was ist eigentlich das Leben? Wenn man doch das wüsste! Es erfüllt und umflutet uns, und wir wissen nichts davon. Wahrscheinlich kommt das daher, dass wir mitten drin sind. Die Fische im Weltmeer würden, wenn sie denken könnten, wahrscheinlich auch nicht wissen, was das Meer ist. Es hat ja auch sehr lange gedauert, bis die Menschen die Luft erkannten, die sie umgibt. Erst seit man luftleere Räume kennt, macht die Erforschung des Luftmeeres entscheidende Fortschritte. Vielleicht müsste man auch erst einmal tot gewesen sein, um das Leben recht zu kennen. Nur können wir mit der Lebensleere nicht wohl arbeiten. Vielleicht werden wir niemals sagen können, was das Leben ist.

Es ist zugleich das gewaltigste und zarteste, das dunkelste und liebenswürdigste Geheimnis, das es gibt. Es ist nicht quälend, sondern nur erquickend. Wir sehen seine Erscheinungen, aber können sie nicht voll deuten, wir wissen, gerade wie die Alten von der Luft, weder woher es kommt noch wohin es geht.

Irgendwo und irgendwie entsteht ein Bläschen im Stoff. Man nennt es eine Zelle. Sie hat nur geringen Umfang und Inhalt, aber er ist im wesentlichen Geheimnis. So fängt das Leben an. Die kleine Zelle lebt, und auf einmal sind aus der einen Zelle aus unerforschten Ursachen zwei geworden und viele. Ist das Leben auch so entstanden? Nun, wenigstens in die Erscheinung getreten ist's so. So tritt es fort und fort in die Erscheinung. Man glaubt heute in wissenschaftlichen Kreisen allgemein, dass alles Leben in seiner unermesslichen Verschiedenheit aus solchen Anfängen erwachsen sei. Die Forschung wird den Beweis für diese Anschauung erbringen. Die Mannigfaltigkeit der ganzen Natur ruht auf den einfachsten Grundlagen. Die unendliche Vielheit auf der Einheit.

Die eigentlichen Lebensursachen liegen jedenfalls tiefer als die Lebenserscheinungen, und am Ende überragt das Leben selbst seine Erscheinungen sowohl am Anfang als am scheinbaren Ende. Vielleicht sehen wir, wie bei den Farben, nur ein kurzes Lebensband. Das Farbenband selbst ist weit länger, als unser Auge es wahrzunehmen vermag. Man kann viel mehr Strahlen vor seinem scheinbaren Anfang und nach seinem Ende nachweisen. Aber das Auge sieht sie nicht. So das Leben.

Was mag's wohl selbst sein? Es gibt ja mancherlei Antworten. Leben ist Bewegung. Ganz eigenartige Bewegung. Sie bekundet Selbstständigkeit, eine mehr oder minder klare Absichtlichkeit und, was das Merkwürdigste ist, ein Durchdrungensein von Bewegung bis in die kleinste Faser. Wie wenn ein Gewaltiger auftritt und alles bis ins Tiefste erbebt, so erzittert der Stoff, wenn das Leben ihn berührt. Darum unterliegt auch alles Lebendige steter Veränderung; denn die Bewegung dringt bis ins letzte Sein und verleiht ihm eine Anpassungsfähigkeit und Möglichkeitsfülle, die aller Berechnung spottet. Auch ein Mensch, je mehr er vom Leben erfüllt ist, desto weniger lässt er sich berechnen und irgendwie festhalten. Der Lebendige ist beweglich wie das Wasser. Geleisanlagen bei Menschen sind immer Todesspuren. Es sind Bahnen, auf denen das ehemalige Volleben sich allenfalls noch fortwickeln kann. Aber die eigenständige Bewegung ist sicher erstarrt. Hüte dich vor Totem! Durch Totes wird nichts lebendig. Es sucht im Gegenteil das Leben in seinen Stillstand und Verfall zu ziehen.

Leben ist Bewegung, aber damit ist's nicht erklärt; denn umgekehrt ist Bewegung kein Leben. Also sind wir wieder im Ungewissen. Bewegung ist nur die Begleiterscheinung, nicht das Wesen des Lebens.

Mechanisch angesehen ist das Leben eine gesetzmäßig angepasste Auswirkung von Kräften. Ihrer viele wirken zusammen, aber eine ganz geheime scheint sie zusammenzuhalten und zu regeln. Viele leugnen sie zwar heute mit schwerwiegenden Gründen, aber ihr Leugnen befriedigt auch nicht ganz. Der unbekannte Leiter aller Kräfte ist wieder das Leben selbst. Wer mag's erkennen?

Chemisch kommt man der Sache ein wenig näher, wird aber nicht klarer. Chemisch betrachtet ist das Leben ein Oxydationsvorgang, das heißt ein beständiges, langsames Brennen. Stoffe werden aufgenommen, das ist die Heizung, Sauerstoff wird zugeführt durch Atmung und verbrennt alles. Die Asche wird ausgestoßen. So brennt alles Lebendige ohne Flamme, aber doch unter allen Erscheinungen der Verbrennung – bis es selbst verbrennt. So wie die Bewegung der Erde und aller Welten ein ununterbrochenes Fallen ist von unheimlicher Geschwindigkeit und alles, was wir tun, nur im schnellsten Fluge geschieht, so ist das Leben ein unausgesetztes Brennen. Kein Wunder, dass so viele von uns beständig übersieden. Aber diese Erkenntnis macht das Rätsel nicht kleiner, nur größer. Der Vorgang des Lebens ist offenbar ein sehr verwickelter.

Einiges vom Leben wissen wir auch nach langen, schweren Forschungen. Wir wissen, wie es sich fortpflanzt, und kennen einige Bedingungen, wie es erhalten wird. Wenn's aber entfliehen will, vermögen wir's nicht aufzuhalten, und wo es nicht ist, können wir's nicht hervorbringen. Auch kennen wir nur die allerwenigsten Bedingungen seiner Erhaltung. Wenn man in Lebensnot ist, frage man nie verschiedene Menschen um Rat. Man bekommt oft die widersprechendsten Ratschläge. Man wende sich an Einen Vertrauensmenschen. Ob aber sein Rat hilft, kann man nicht versprechen.

Das Leben ist die unbekannte Größe, in die unser Sein eingewoben ist. Wir werden es niemals befriedigend erklären oder erforschen können. Vielleicht ist das gar nicht die Absicht. Es gibt in der Welt unendlich viele Fragen, die nur deshalb keine befriedigende Lösung finden, weil sie falsch gestellt sind. Auch die richtigste Antwort ist nutzlos, wenn die Frage falsch gestellt war.

Fragen wir einmal nicht nach dem Wesen des Lebens, dem unergründlichen, sondern nach dem Zweck des Lebens. Wozu ist das Leben da? Gewiss gibt's hier unzählige Antworten, und die letzte, eigentliche hat schon viele gequält. Aber wir brauchen ja vorläufig nicht die letzte Antwort zu wissen. Wir brauchen nur die erste und nächstliegende. Zweifellos ist in erster Linie das Leben dazu da, um gelebt zu werden. Je voller, klarer, bewusster, umso besser.

Die Pflanze lebt auch und empfindet auch, aber es ist ein dämmerndes Traumleben im Unbewusstsein. Fast ohne Eigenbewegung erleidet sie mehr das Leben, als dass sie es leben und erfassen könnte. Sie ahnt nicht, ob es lang ist oder kurz, ob es da ist oder schon aufgehört hat. Sie kann es hoch bringen, auf Jahrhunderte in immer neuem Antreiben und Fortwachsen. Aber die Jahrhunderte haben keinen Inhalt. Wenn ein Sturm sie zerbricht, vermag sie ihr eigenes Schicksal nicht zu beklagen.

Das Tier ist schon besser gestellt. Es empfindet sich selbst und seine Umgebung. Es kann wollen und Eigenbewegungen machen. Aber es vermag nur sehr kurze Eindrücke zu verbinden und in Zusammenhang zu bringen, hat wenig Sinn für die Vergangenheit und gar keinen für die Zukunft. Es kennt beinahe nur eine Zeit, und diese kann es nicht übersehen. Wo es zweckvolle Werke vollbringt, entstammen sie der dunkeln Empfindung, nicht der bewussten, klaren Überlegung. Auch die klügsten und geschicktesten Tiere kennen nicht die Möglichkeit des Andersseins. Kein Vogel kann sein kunstvolles Nest, keine Spinne ihr zielsicheres Netz anders herstellen als nur so. Zum Anderssein gehört schon eine andere Art. Das ist gebundenes Leben.

Wir finden auch unter den Menschen noch unendlich viel gebundenes Leben. Viele Bauern zum Beispiel kennen nicht die Möglichkeit des Andersseins. Ihre Bauart, Kleidung, Küchenzettel, Wirtschaftsbetrieb, Geräte usw. sind in jeder Gegend genau gleich. Das Gleichförmige ist das wahrhaft Schöne. Die Gleichförmigkeit einer anderen Gegend erscheint unbequem und wirkt fast komisch. Was nicht jahrhundertealter Brauch geheiligt, hat kein Recht. Warum? Die bewusste Überlegung fehlt. Es wird empfunden, aber nicht gedacht. Das Leben wird erlitten, nicht gelebt. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass dem Naturmenschen die Bildsamkeit abginge. Man findet in jedem Menschengebiet gleich viel gescheite, sogar sehr gescheite und unbegabte Menschen. Es ist nur das Leben noch nicht überall voll aufgewacht.

Wer lebt eigentlich? Es lebt der Mensch, so lange er denkt. Das Denken ist unsere hervorragendste und eigentümlich menschliche Lebensäußerung. Ohne Denken würden wir auf eine niedere Ebene des Seins hinabsinken, im Denken liegen eigenartige Lebenskräfte, die sich geistig und sogar leiblich zu äußern vermögen. Das gebundene Leben denkt wenig und lebt darum wenig. Ein Massendenken und ein Leben als Masse. Es fehlt noch die besondere menschliche Bildung.

Zweifellos kommt für alle noch in diesem Zustande stehenden Menschengruppen der Augenblick des Erwachens und der Beginn des Volllebens. Es scheint aber, als könnte dieses Bildungsleben auch überschritten werden. Wir treffen große Gruppen, die nicht mehr denken und darum auch nicht mehr leben. Als hätten sie einen Höhepunkt überschritten und müssten nun wieder hinabsinken ins Untermenschliche und mit ihrem Sterben nur Nährboden für neu aufstrebende Gruppen werden.

Wir begegnen unendlich viel einzelnen Menschen dieser Art, aber auch großen Gruppen, ganzen Völkern. Sie haben kein Eigenleben mehr. Das Denken ist schon zu Ende gedacht und die Lebenskraft verbraucht, ehe ihre jetzigen Träger ins Leben eintraten. Ja es scheint, als müsse jedes Volk und jeder Einzelne diesen Weg gehen, und dann ist's ja gleichgültig, ob gerade wir im Aufwärts oder im Abwärts stehen. Wenn es unvermeidlich ist, mag's schließlich auch uns treffen, dass wir die Verartungsspuren an uns tragen.

Offenbar ist Bildung und Denken zum Leben nicht ausreichend. Im Eigendenken äußert und erhält sich das Leben, aber es geht nicht darin auf. Mindestens muss noch, wenn es Bestand haben soll, ein klares Wollen dazutreten. Im Wollen bekommt das Leben erst Kraft. Es ist ungeheuer, was der Mensch alles erreichen kann mit seinem Willen. Es scheint, als gäbe es für ihn nichts Unmögliches. Dinge, die ein früheres Geschlecht sich nicht hätte träumen lassen, sind heute allgemein übliche Lebensäußerungen. Früchte des Denkens und Wollens.

Alle Lebensfortschritte, die der Einzelne oder die Gesamtheit macht, werden im Unsichtbaren, im Geiste, lebendig und stehen als Bilder vor uns, die wir erschauen. Ein fester Wille hilft ihnen in die Erscheinung, indem er heraustreten lässt, was in uns fertig war, ehe ein Auge es gesehen.

Bewusstes Denken und Wollen sind die eigentlich menschlichen Lebensäußerungen. Empfindungen haben auch niedere Lebensstufen. Es gibt freilich Menschen, in denen die Empfindung die eigentliche Lebensäußerung ist. Das ist eine Entartungserscheinung. Gleichsam ein Rückfall auf eine frühere Lebensstufe. Es kann aber auch das Denken falsch ausgebildet sein und der Fähigkeit ermangeln, etwas aus sich heraus in die Erscheinung treten zu lassen. Wer bloß denkt, ohne klaren Willen dazu, bringt keine volle Lebensäußerung zuwege.

Dieser Zustand ist eine Qual, unter der viele leiden. Sie sind voll von Möglichkeiten, aber keiner vermögen sie ins Dasein zu verhelfen. Ich kannte Menschen, die alle Tage neue Pläne schmiedeten und vor geistiger Überfülle sich kaum zu lassen wussten. Eine Erfindung ihres beweglichen Geistes immer interessanter als die andere, aber nirgends war Willenskraft, nur einen Gedanken zur Erscheinung zu bringen.

Das Denken allein ist eine Art Überernährung eines Lebensträgers auf Kosten des anderen, des Wollens. Aber auch dieses kann zu sehr entwickelt sein und schädlich wirken. Wenn man bedenkt, dass alles, was Menschen gewirkt haben, zuerst im Geiste fertig wurde und dann durch das Wollen ins Dasein trat, so kann man sehen, was für ungeheure Kräfte im Wollen der Menschen in Bewegung sind. Sobald diese in einem Menschen stärker zur Entwicklung gekommen sind, müssen sie seiner ganzen Umgebung fühlbar werden, ohne dass er irgendwelche Anstrengungen macht, sich durchzusetzen. Unwillkürlich herrscht überall der stärkste Wille, in jedem Hause, in jeder Gesellschaft, jedem Staate, auch jedem Geschlecht. Diese Willensäußerungen sind natürlich ganz unabhängig von der Stellung, die seine Träger einnehmen. Oft herrschen gerade untergeordnetere Persönlichkeiten, weil sie gleichsam zur höchsten Anspannung ihrer Kräfte veranlasst sind, um zur Geltung zu kommen. Diese Kräfte entströmen uns beständig und werden in dem Maße ihrer Stärke unserer näheren oder weiteren Umgebung oft vielleicht dunkel, aber jedenfalls deutlich fühlbar. Starke Geister vermögen sich ohne irgendwelche äußeren Mittel maßgebend zur Geltung zu bringen. Wollte man einmal die Namen der eigentlich leitenden Persönlichkeiten nennen, würde man erstaunt sein, wo die geheimen Fäden des Geschehens zusammenlaufen.

Aber hier scheiden sich die Geister. Von jedem Menschen, der Willen hat, gehen unbewusst Kraftströme aus. Die Stärksten bestimmen den Lauf der Übrigen, die sich zu ihnen wie Nebenströme zu Hauptströmen verhalten. Dadurch kommen Menschen in Abhängigkeit. Die Schwächeren verlieren ihr Eigensein und werden nur Verstärkung der ohnehin zu Starken. Das ist auch eine Lebensunterbindung.

Die weitaus meisten Menschen wirken bindend und knechtend. Wer wirklich im Dienste des Lebens steht, muss befreiend wirken, das heißt es müssen solche Wirkungen und Kraftströme von ihm ausgehen, dass jeder andere an ihm erstarken und sich selbst finden kann. Der Mensch als freier Geist ist nicht dazu bestimmt, bloß Nebenfluss zu sein. Jeder sollte seine eigene Bahn zum Ozean verfolgen, mancher breiter und tiefer, mancher vielleicht kürzer und flacher, aber jeder frei und sich selbst treu.

Ich würde jedem Menschen aus dem Wege gehen, der mich nicht frei sein lässt und die Eigenart, die gerade ich habe, nicht aufkommen lassen will. Was hilft's, wenn uns jemand auch zum Guten knechtet! Es gibt kein Gutes, das nicht unwillkürliche Lebensäußerung ist. Alles Aufgenötigte wird Verzerrung. Nichts unangenehmer als die Verrenkung ins Tugendhafte.

Es mag ja besonders krankhafte Zustände geben, in denen zeitweilig, wie bei jeder Einsperrung in eine Trinkerheilstätte, die Unterordnung unter fremdes Wollen für den Menschen notwendig erachtet werden mag. Das dürfte aber doch nur als Heilverfahren auf Zeit in Aussicht genommen werden und ist auch als solches nicht unbedenklich. Ziel müsste immer sein, die Befreiung der Eigenart eines jeden, dass er sich selbst findet. Wer sich findet, findet auch das Gute. Kein Gesetz und keine Gewalt vermag das Leben zu erzeugen. Das Leben wächst und hat sein eigenes Gesetz in sich selbst. Äußere Gewalten können ihm zuweilen Richtung geben, aber wesentlich sind sie belanglos, im schlimmen Falle sogar lebensschädigend.

Unzählige Menschen sind heute dahin gekommen, dass sie sich nicht mehr getrauen, sie selbst zu sein, ihre eigenen Gedanken zu denken und ihr eigenes Leben zu leben. Man hat ihnen eingeredet, dass ihr eigenes Sein grundschlecht sei, und während sie darüber erschrocken und verzagt unsicher werden, wird ihre Kraft von anderen aufgesogen, die sich außerordentlich brav und nachahmungswert und durchaus nicht in Grund und Boden verderbt vorkommen.

Würden befreiende Geister den Menschen begegnen, so würden diese armen Gefangenen den Mut gewinnen, eigene Wege zu gehen, und die wundervolle Mannigfaltigkeit des Seins würde sich auch in ihnen spiegeln voll Leben und Freude. Natürlich würde bei solcher Befreiung zunächst manches Störende unterlaufen. Wer lange eingesperrt war, mag wohl die verwegensten Sprünge machen vor fröhlichem Übermut, ehe er seinen rechten Gang findet. Aber das sind Begleiterscheinungen, die sich von selbst verlieren, sobald jemand die Pflichten des Eigenseins klar erkennt und übernommen hat. Wenn ein frischer Lufthauch kommt, fürchten auch viele, sie könnten sich erkälten und erkälten sich auch; schließlich wird aber doch der frische Hauch als lebensrettende Wohltat empfunden.

Solche Leute, von denen Lösungen auf weitere Kreise ausgehen, sind die wahren Lebensquellen. An ihnen können Menschen werden, weil die Erquickung des Lebens von ihnen ausgeht. Sie haben nicht das Bedürfnis, allem ihren eigenen Stempel aufzudrücken, sondern jedes in seinem Sondersein aufleben zu sehen, ganz anders vielleicht, als man gemeint, aber doch verbunden in der Einheit des Lebens. Von ihrem ganzen Sein gehen Ströme lebendigen Wassers aus.

Das führt auf den tiefsten, uns erkennbaren Lebenszweck. Man kann ihn nicht einfacher und zugleich tiefer ausdrücken als mit den Worten des Mannes, der ihn am klarsten erkannte und am meisten für die Förderung des Lebens getan hat: Ich bin gekommen, dass sie das Leben und volle Genüge haben.

Das Leben haben kann nichts anderes bedeuten, als es selbst besitzen und des Lebens mächtig sein. Das Leben soll nicht uns haben und eine Zeitlang in seinem Strome schwimmen lassen, bis es uns irgendwo und -wie strandet, sondern wir sollen des Lebens Herr sein und es immer aufs Neue in uns aufquellen lassen. Dann heißt's erst voll leben, wenn man seines Lebens mächtig ist. Wie es dann gestaltet ist und in was für Formen es sich abspielt, ist nicht so wichtig. Äußerlichkeiten, die mit dem Wesen der Sache und dem Glück des Seins nichts zu tun haben. Dann erst ist das Leben Freude. Solange es uns hat, ist es Plage. Wir sind einmal so angelegt, dass wir keine Fesseln vertragen können, nicht einmal die goldenen Lebensfesseln.

Diese Lebensmächtigkeit ist auch das, was die Bibel nennt das ewige Leben. Wenn wir unseres Lebens Herren sind, hört's gewiss nicht auf. Regieren wir das Leben, so noch vielmehr den Tod.

Man kann's auch anders sagen, ohne den Sinn zu ändern: Das ist das ewige Leben, dass sie den Vater erkennen. Wer seiner Wahrheit inne wird, der wird auch Gottes inne, der hat das Leben, und es gibt keine Gewalt, die es ihm entreißen könnte. Die Form mag wechseln – was liegt an Formen! – aber das Wesen des lebendig kraftvollen Seins muss bleiben, weil es immer neu aufquillt, auch in immer neuer Form. Die ganze Natur zeigt den ungeheuren Reichtum der Lebensformen, und man gewinnt den Eindruck, dass es mit den vorhandenen längst nicht erschöpft ist. Nur das Leben selbst muss man haben, dann findet sich auch die Form.

Ewiges Leben hat mit dem Tode und Sterben natürlich nichts zu tun. Wie soll man glauben, dass ein ewiges Leben in dem Augenblicke beginnt, wo einem das bisschen Sein so brutal weggerissen und zerstört wird! Nein! Ewiges Leben ist eine höhere Stufe des Seins, die neue Ebene, die wir durchaus erklimmen müssen. Hat man sie erreicht, so ist das Sterben belanglos. Es nimmt nicht, was man ewig besitzt. Aber es gibt auch nicht, was man nicht hat. Aus Gott quillt das ewige Leben und hat weder zeitlich noch wesentlich mit dem Tode irgendeine Beziehung.

Überall nun, wo man aus dem Kreise dieser inneren Lebenseinheit mit der Wahrheit des Menschen und Gottes heraustritt, ist Tod. Auch der Tod liegt im Geiste des Menschen. Es laufen ihrer viele herum, die den Tod in sich herumtragen. Er ist noch nicht ausgestaltet zu seinen schrecklichsten Formen, aber da ist er, und sie fühlen's auch, wenn sie's auch nicht klar erkennen. Sie fühlen, wie sie alles Unglücks Quelle

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Jürgen Müller
Lektorat: Abenteuerverlag Pockau
Tag der Veröffentlichung: 26.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8670-7

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