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Inhalt:

 

1. Die Ehe heute

2. Vor der Ehe (Das Du / Das Ungleiche / Die Werbung / Wer soll heiraten? / Der Elternsegen / Kirche oder Standesamt? / Die Verlobungszeit)

3. In der Ehe (Das Wagnis des Lebens / Die Hochzeit / Der eigene Herd / Der Kampf ums Dasein / Die Hilfe im Dasein / Dritte Menschen / Die Einsamkeit zu Zweien)

4. Die Familie (Vom Naturboden der Ehe / Das Kind / Die Ehe als Arbeit / Das Verzeihen / Die Religion in der Ehe / Das Familiensein / Kinderlose Ehen

5. Ohne Ehe (Ehelosigkeit des Mannes / Ehelosigkeit des Weibes / Die Ehescheidung / Der Ehescheidungsgrund / Freie Liebe)

6. Silber Gold Diamanten

 

(Der Autor war Theologe und Publizist und lebte von 1859-1930.)

 

Coverbild: PROKOPEVA IRINA/Shutterstock.com

 

 

1. Die Ehe heute

Was die Ehe heute ist, war sie nicht immer und wird sie nicht immer sein. Sie ändert Form und Wesen mit der Gesittung, und wir stehen in Übergangszeiten, wie alle Zeiten, die etwas werden wollen. Aber wir mehr als andere.

Die Ehe ist heute nicht immer das, was sie sein will. Es hat Zeiten gegeben, in denen waren die Menschen, wenn sie auch in ihrer Ehe gelegentlich nicht glücklich waren, doch mit ihren Anschauungen über die Ehe zufrieden. Unsere Empfindung von Glück hat sich vertieft, unsere Vorstellung von Ehe erst recht.

Dem jungen Geschlecht, das Ehen schließt und schließen will, soll diese Schrift gewidmet sein. Es ist berufen, an der weiteren Vertiefung ebenso wie an der Höhergestaltung der Ehe mitzuarbeiten. Und es wird daran arbeiten. Im Weltkrieg hat es seine herrliche Kraft und sein festes Wollen bewiesen. Es wird das Große im Innern fortsetzen, auf heiligem Boden.

Die Ehe ist ein heiliges Land. Alles Heilige erkennt man an seiner großen Einfachheit und daran, dass man es nicht durch Gedanken, sondern nur durch Erleben erfasst.

Aus dem Erleben ist auch dieses Buch geschrieben, ausschließlich für Erlebende, denen es Fingerzeige für weiteres Erleben geben möchte. Nicht für Vorstellungsreihen.

Indem wir unsere schlichten Erlebnisse machen, fördern wir die Sache, wenn auch ganz unbewusst. Blicken wir später auf unseren Weg zurück, werden wir des Fortschritts gewahr.

Unsere germanischen Urväter haben für das Ehreverhältnis ein tiefes Wort gemünzt. Ehe heißt eigentlich êwe und ist mit ewig verwandt. Aber inzwischen ist das Wort Ewigkeit so vertieft worden, dass es nicht mehr für Ehe passt. Denn Ehe ist eine Beziehung, die in der Zeit für die Zeit eingegangen wird. Unendlich darüber steht die Ewigkeit.

Ewige Geister freien nicht und lassen sich nicht freien. Sie haben kein Geschlecht, sie kennen nicht das Mein und das Dein, und ihre gesellschaftlichen Beziehungen ruhen ausschließlich auf ihrem innern Wahrheitsgehalt. Aber gerade die drei Dinge, die dort fehlen, sind bestimmend für die Ehe: Sie ist geschlechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gemeinschaft. Sie ist aber berufen, weit mehr zu sein: eine innere Gemeinschaft freier gleichgestellter Geister, ein täglich erneutes Geschenk bewusster freier Liebe, die um ihrer selbst willen gibt und empfängt und keinen anderen Zwang anerkennt, als den sie sich selbst auferlegt.

Diese zarten Keime, die in der Ehe verborgen liegen, mit entwickeln zu helfen, ist die Aufgabe des heutigen Menschen. Wir wollen keinen Augenblick den Boden unserer heutigen Wirklichkeit unter den Füßen verlieren und die Sachen sehen, wie sie sind. Das soll uns aber nicht hindern, alle Ausblicke mit zu genießen, die unser heutiges Sein, unsere Ehe bietet.

Wer Berge besteigt, sorgt nicht nur für seine Lungen und die Bewegung seines Blutes. Er schätzt eigentlich mehr den weiten Ausblick für sein schönheitstrunkenes Auge. Auch die Ehe ist eine Höhenwanderung, eine steile und beschwerliche. Darum soll sie wenigstens der frohen Ausblicke nicht entbehren.

Vorwärts! lautet die Losung unserer heutigen Tage. Ohne Zweifel wird die Menschheit auch Schritte vorwärts tun. Noch hat sie einen weiten Weg vor sich. Das bezeugt nicht am wenigsten die Ehe heute.

2. Vor der Ehe

Das Du

Viele Welten durchwandelt der Mensch zu seiner Läuterung und Vorwärtsbildung. Es ist gar nicht undenkbar, dass er nach dieser Welt der groben Sinnlichkeit noch eine andere der feineren Sinnlichkeit durchlaufen müsste, denn schon hier liegen Welten an seinem Pfad.

Eine große unübersehbare Welt ist die Welt des Ich. Drei Jahre bedarf der Neugeborene, in sie einzutreten. So lange beschäftigt ihn unausgesetzt die sinnliche Erscheinung so gewaltig, dass er seines Ichs nicht bewusst wird, obgleich es immer da ist.

Zehn Jahre und mehr beherrscht ihn das Ich ausschließlich. Dann kommt ein Tag, an dem leuchtet blitzartig das Vorhandensein einer neuen, weit umfassenderen Welt auf. Das ist die unbeschreiblich große und herrliche Welt des Du.

Manchem offenbart sich nur ein Spältchen, das sich schnell wieder schließt. Er bleibt lebenslang in der Welt des Ich. Aber dem andern geht sie weit auf, eine neue Welt von unbeschreiblichem Glanze, von der er sich nimmer trennen kann.

Er darf das Du schauen, wie es Gott schaut, von der liebenswerten Seite. Ein anderes, ein schöneres Ich tritt ihm entgegen, und staunend betrachtet er das neue Wunder.

Bisher kannte er das Du nur als Nicht-Ich. Es kam als Mutter, als Vater, Bruder, Schwester oder sonst wer. Aber nun naht es ihm als etwas ganz Neues, unaussprechlich Großes.

Wer das Du gesehen hat, der hat endgültig die Schwelle der Kindheit überschritten. Ihm dämmert ein Wert, der dem Ich gleich ist, der wertvoller und liebenswerter ist als das Ich, dem das Ich dienen möchte und alle Kraft zu eigen geben.

Es ist ein Gottesblick, der dem Menschen aufgeht, den wir Liebe nennen. Wer überall in der Welt das Du sehen könnte, der würde ihm alle Kraft zu Füßen legen und ihm dienen, auch unter äußersten Schmerzen. Der wäre ein Gott. Mensch sein heißt, das Du beschränkt sehen, Gott sein, das Du unbeschränkt sehen. Sie sind beide wesensgleich, nur unterschieden in Größe.

Es hat sehr lange Zeit bedurft, bis in der Menschheit der Liebesblick für das Du aufging. Der junge Mensch muss auch diese Entwicklungsstufen der Menschheit für seine Person durchlaufen und in seinem Sein nachbilden. Er braucht rund anderthalb Jahrzehnte dazu. Wie lange mag die Menschheit dazu bedurft haben!

Noch sehen wir als Menschheit das Du nicht richtig, wenigstens nicht in seinem vollen Umfange. Aber unser Blick hat sich im Laufe der Jahrtausende erweitert und erweitert sich immer noch. Dass der Andere als Mensch liebenswert ist und dass wir erst richtig Menschen werden, wenn wir lieben lernen, das wissen heute noch längst nicht alle. Aber kein Zweifel ist, dass wir dieser Wahrheit entgegenreifen und dass sich mit ihrem Besitz ungeahnte Herrlichkeit ausbreiten wird überall, wo Menschen sind.

Aber so viel ist heute erreicht, dass die Menschheit eine Ahnung hat von dem, was Liebe ist, und dass sie als Ganzes eingetreten ist in die Welt des Du.

Demnach muss jedes einzelne ihrer Glieder diesen Weg nachgehen, wir können heute nicht mehr von Ehe sprechen, wenn wir nicht ausgehen von der Liebe.

Lange hat die Ehe bestanden ohne Liebe, denn das Erleben der Liebe ist erst spät gekommen. Schon die Ehe selbst war ein großer Fortschritt. Zur Fortpflanzung bedarf die Menschheit der Ehe nicht. Es gibt heute noch Völker auf Erden, die die Ehe nicht kennen, ungezählte Millionen, die die Liebe nicht kennen. Aber dem Menschen, der unter uns die Schwelle der Kindheit überschritten hat, darf man von Ehe nicht sprechen ohne einzugehen auf die Welt des Du, der Liebe.

Das Du kommt zum ersten Male durchaus nicht jedem im andern Geschlecht entgegen. Vielleicht ist die Regel, dass es zuerst in Form der Freundschaft naht. Aber wem es aufgeht, dem ist's, als sähe er auf einmal etwas, was er vorher nie bemerkt hatte, etwas unbeschreiblich Reizvolles, ein anderes Ich, das ebenso wichtig und jedenfalls wertvoller ist als das eigene Ich, um das sich bisher alles Denken gesammelt hatte. Bei dem Schmelzen edlen Metalls kündet der sogenannte Silberblick das Ziel des Vorganges, bei dem jungen Menschen bekundet dieser Gottesblick auf das erste andere Ich die Reife zum Vollmenschen, der auf die Höhe der Zeit zu kommen hoffen darf.

Das Gute, Liebenswerte, Schätzenswerte im andern sehen, ist der Eintritt in die unendliche Gotteswelt des Du. Je weiter jemand darin fortschreitet, desto herrlicher wird sein Leben, desto größere Fortschritte macht sein Ich. Unser Lebensglück, unsere Freude hängt ausschließlich davon ab, wie viel wir von der Welt des Du sahen.

Diese neue Welt ist nicht leichter als die erste. Sie bringt die schwersten Enttäuschungen auf Schritt und Tritt mit sich. Viele werden dadurch so verschüchtert, dass sie ihren Eintritt verwünschen möchten und gehen an Verbitterung zugrunde. Aber wer sich nicht irre machen lässt durch das Bittre und Unzulängliche und immer weiter in die Welt des Du hineinschreitet, der kommt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Die Liebe trägt in sich selbst ihren Gotteslohn.

Es ist gut, dass erst eine gewisse Reife dazu gehört, ehe der Mensch des Du gewahr werden darf, denn alle Herrlichkeit ist nur erträglich für den, der Schweres auf sich nehmen kann. Aber wenn wir von der Ehe heute reden wollen, dürfen wir von beidem nicht schweigen, weder von der Herrlichkeit noch von der Enttäuschung.

Unsere heutige Ehe ist als eine Frucht herausgewachsen aus der Erkenntnis des Du. Sie führt tief hinein in alle Herrlichkeit und alle Bitterkeit dieser Welt. Sie wird folglich alle diejenigen schwer unglücklich machen, die Enttäuschungen nicht zu tragen vermögen, und alle die unendlich beglücken, die den Gottesblick festhalten, der auf das Gute gerichtet ist und den Menschen daran erkennt, dass er seiner besten Seite inne wird.

Wer den Menschen zu kennen meint, wenn er seine Fehler erkannt, wird weder den Menschen noch die Ehe heute begreifen, aber wer das Gute sieht und das Böse übersieht, der ist fähig, das Du zu beurteilen und der Ehe heute gerecht zu werden.

Es ist ein sehr großer Augenblick, wenn der Mensch zum ersten Male den hohen Wert des andern Geistes liebend erfasst. Mit solchen soll die Ehe heute besprochen werden, gleichviel ob sie in ihr oder vor ihr oder noch sehr fern von ihr stehen. Schon unsere heranwachsende Jugend hat Anspruch darauf, dass ihr kein Geheimnis unserer Zeit vorenthalten wird. Sie ist berufen, die Zeit einmal leitend vorwärts zu führen.

 

Das Ungleiche

Sehr oft habe ich aus Frauenmunde gehört, dass sie sich nicht genug wundern können, wie die Männer im Allgemeinen ungeschickt seien in der Wahl ihrer Gattinnen. Sie haben recht. Wer richtig gewählt hat, verdankt das nicht seinem Scharfsinn und seiner Menschenkenntnis, sondern gewöhnlich einem wohlwollenden Zufall, der ihn freundlich leitete.

Wir sehen gerade, dass die wählerischsten Männer in der Regel die unglücklichste Wahl treffen. Würde es aber umgekehrt sein, wie manche Leute es auch wünschen, würden die Frauen wählen, so würden sie dieselben unbegreiflichen Fehler begehen.

Das hat seine tiefen Gründe. In der ganzen Natur zieht sich nicht das Gleiche, sondern das Ungleiche an. Es walten auch da bestimmte, wenn auch nicht fest geformte Gesetze. Nicht das Ungleiche an sich – denn es gibt Ungleichheiten, die sich in Ewigkeit nicht anziehen – sondern das Ungleiche, das im andern seine Ergänzung ahnt.

Alle Stoffe, bis ins kleinste Ur-Teilchen hinein, erscheinen wie auseinander getrieben durch eine Kraft und müssen sich nun anscheinend so lange suchen, bis sie einander wiedergefunden haben.

Den Gesetzen des Stoffes kann sich auch der Mensch nicht entziehen, denn er ist der königliche Vertreter des Stoffs auf diesem Stern. Daher sehen wir, wie Gegensätze gern zu ehelicher Gemeinschaft zusammentreten. Die allergrößte Ungleichheit aber ist Mann und Weib an sich.

Der Unterschied von Mann und Weib ist weit entfernt, nur ein geschlechtlicher zu sein. Bis in das letzte Denken hinein macht er sich bemerkbar. Je höher entwickelt die Geister sind, umso tiefgreifender wird der Unterschied zwischen männlich und weiblich.

Das Ungleiche strebt zu einander. Das ist ein wahrhaft göttliches Gesetz. Warum strebt es zu einander? Durch seine Vereinigung wird die Mannigfaltigkeit größer und wirkungsvoller. Denkbar größte Mannigfaltigkeit ist aber ein Grundgesetz der Natur. Darauf ruht die Vielheit der Erscheinung.

Andererseits bekunden die einander zustrebenden Gegensätze in geheimnisvoller Weisheit die innere Einheit des Ganzen. Die Einheit besteht darin, dass sich alle Gegensätze zum Zusammenklang vereinigen können und werden.

Die Ehe ist also in jeder Beziehung Auswirkung eines Naturgesetzes. Das Zusammenklingen zweier Gegensätze ist zugleich die unterste Stufe der Vereinheitlichung aller, des Alls.

Darum sollen wir wissen, dass die Ehe im Allgemeinen kein Ausruhen sein wird und keine Behaglichkeit schlechthin. Bequemer lebt man ohne Ehe, und ohne sich viel um die Umwelt zu kümmern. Bequemer, aber auch unnützer. Nur wer mitarbeitet, kann sich auch mitfreuen.

Also wer in der goldenen Jugend steht, der soll nicht zur Ehe drängen. Sie bringt eine schwere Kette von Enttäuschungen. Enttäuschungen sind seelische Arbeitsleistungen. Sie müssen sein. Aber man sollte sie erst auf sich nehmen, wenn man ihnen voll gewachsen ist und seine größte körperliche Kraft gefunden hat. Dann aber auch mutig. Wer später nicht hindurchkommt, geht der Menschheit und oft genug sich selbst verloren.

Die Ehe bereitet sich vor in der jugendlichen Freundschaft innerhalb und außerhalb des gleichen Geschlechts. Fast alle Freundschaften verlaufen in Enttäuschungen, oft recht schwerer Art. Auch die Freundschaften unterliegen dem Gesetz, dass die Gegensätze zu einander streben, die wenigsten sind nur stark genug, sie zu überwinden. Daher zerbrechen die Freundschaften mit Durchschnittsmenschen.

Das schadet nichts. Wer sich durch Enttäuschungen entmutigen lassen wollte und mit Verbitterung auf die Menschheit blicken lernte, der würde unfähig, ein nützliches Glied der Menschenwelt zu sein. Sie sollen gerade anreizen, dem Rätsel Menschheit auf immer neue Weise zu begegnen, immer mehr die Fehler in der Annäherung zu vermeiden und sich immer aufs Neue hineinzulieben in das große Ganze, das nur einen einzigen Weg der Rettung, der Erlösung, der Befreiung, des Vorwärts – nennt's wie ihr wollt – kennt, den Weg der selbstlosen Hingabe.

Man muss aus vielen verkrachten Freundschaften gelernt haben, eine Ehe ins Auge zu fassen und eine Ehe zu führen. Das schwere Lebenswerk geratet dann leichter.

Eine rechte Ehe ist das Schwerste, was im Leben gelingt. Alle anderen Arbeiten sind nicht so schwierig.

Wir sehen viele Menschen Großes vollbringen und Erstaunliches leisten, nur rechte Ehen bringen wenige zustande. Sie bleiben meist in den Gegensätzen stecken.

Wenn es aber gelingt, so ist etwas unberechenbar Großes gelungen, ein größerer Menschheitsfortschritt erreicht, als die meisten sich nur vorzustellen vermögen.

Eine rechte Ehe ist ein wahrer Lebenshort und Lebensquell, der weithin seine Segensströme ausgießt. Sie ist eine Ahnung von der Erfüllung des rätselhaften Wortes: Friede auf Erden, ein Anfang von dem großen Lebensfrühling, auf den das All bewusst oder unbewusst wartet, ein Anfang der Lösung der schmerzlichen Spannung, in der alle Gegensätze auf Erden ihrer endlichen Befreiung entgegenharren.

 

Die Werbung

Einer der kühnsten Gedanken unserer Zeit ist, die Gleichstellung der Geschlechter in jeder Beziehung anzustreben. An sich gibt es keine größere Ungleichheit als Mann und Weib. Diese Ungleichheit hat die Natur gepflanzt. Nicht wir, nicht die Geschichte.

Wenn wir den Geschlechtern genau die gleiche Stellung, Berechtigung und Entwicklungsmöglichkeit einräumen, so wird die Wirkung sein, dass ihre Verschiedenheit umso größer wird. Unter gleichen Bedingungen die größte Mannigfaltigkeit zu erzeugen, ist das Bestreben der Natur, in der wir leben.

Wir können auch überall im Leben und in der Geschichte beobachten, dass die Ungleichheit der Geschlechter mit der steigenden Kultur immer größer wird. Niedrig stehende Völker gleichen sich innerhalb der Geschlechter weit mehr als höher stehende. Die Körperformen, die Kraftleistungen, die Geschmacksrichtung, alles steht sich nahe. Mit der steigenden Entwicklung werden die Geschlechter in jeder Beziehung schärfer unterschieden.

Das zeigt schon die Entstehung des Körpers. Das Letzte, was am ungeborenen Körper gebildet wird, ist der Geschlechtsunterschied. Ebenso sehen wir in den niedersten Naturformen noch Geschlechtslosigkeit, höhere Formen zeigen oft eine Doppelgeschlechtigkeit, noch höhere die scharfe Unterscheidung zwischen nur männlich und nur weiblich. Daraus folgt, dass mit der Weiterbildung der Unterschied immer größer werden muss.

Es ist auch sonst einzusehen. Je höher Geister stehen, desto stärker ist ihre Sonderheit ausgeprägt, je niederer, desto mehr Gleichheiten haben sie. Man denke sich beispielsweise die fünf Geister seines Volkes, die man für die größten hält, und stelle daneben fünf Papuas. Letztere wird man kaum voneinander unterscheiden, Erstere nie miteinander verwechseln. Das ist naturgemäß. Sollte die Natur jemals den einmal gebildeten und immer weiter unterschiedenen Geschlechtsunterschied beseitigen wollen?

Gleiche Rechte bedingen noch lange nicht gleiche Pflichten. Man wird nie einem Manne die Pflicht des Gebärens, noch einem Weibe die Pflicht des Zeugens zumuten können. Wenn wir also den Geschlechtern gleiche Rechte zubilligen, so werden sie einen ganz ungleichen Gebrauch davon machen. Es mag sein, dass sie anfangs miteinander in allerlei wirtschaftlichen Wettbewerb treten, der vielleicht recht lästig empfunden wird, aber im Laufe der Zeit wird eine freiwillige scharfe Arbeitsteilung eintreten in dem Sinne, dass die Auswirkungen der Geschlechter einander prachtvoll ergänzen.

Gleich sind die Geschlechter als gleichartige freie Geister. Man darf also für sie anstreben gleiche Freiheit, gleiche Wertschätzung, auch gleiche Besitzrechte und sonstige staatsbürgerliche Rechte. Sie werden sie aber ungleich ausüben und verwerten. Es wird sich ganz ohne gesetzliche Eingriffe eine Verteilung der Arbeit herausbilden, wo gleiche Erwerbsmöglichkeiten geboten werden.

Die auffallendste Ungleichheit der Geschlechter tritt ein im Zeichen der Liebe. Der Mann wird immer der werbende Teil sein müssen, das Weib der gewährende.

Damit ist das Weib nicht schlechter gestellt. Auch dem gewährenden Teil stehen genug Mittel zu Gebote, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und den werbenden Teil zu leiten und zu beeinflussen.

Die Frau wirbt auch, aber anders. Am meisten zieht sie an durch ihre Zurückhaltung. Sie begibt sich ihrer wahren, geheimnisvollen Anziehungskraft, wenn sie sich vordrängen wollte. Je zurückhaltender ein Mädchen ist, desto eifriger wird der Mann werben.

Man soll immerhin den Geschlechtern freiesten, harmlosesten Verkehr zubilligen, man mag sie auch zusammen erziehen in öffentlichen Schulen oder Universitäten, es können ganz getrost altväterische Sitten einer heutigen freieren Regung Platz machen, aber auch in den letzten und freiesten Formen des Verkehrs der Geschlechter wird die Anziehungskraft für einander nur dann die gleiche bleiben, wenn der Mann wirbt, das Weib die Umworbene bleibt. Sobald dieses Verhältnis in falsch verstandenem Freiheitsdrange ins Schwanken kommt, wird die Anziehungskraft ungleich. Meistens zu Ungunsten der Frau.

Oder was klingt einem Weibe angenehmer in einer späteren Ehe, ob der Mann sagt: Du bist mir so lange nachgelaufen, dass mir nichts übrig blieb, als dich zu heiraten, oder: Ich habe dich errungen und ich bin stolz darauf.

 

Natürlich kommen viele Ehen nur durch das Vordrängen der Frau zustande. Viele werden auch anscheinend ganz glücklich. Aber etwas fehlt in ihnen allen, das rechte Verhältnis der beiden Geschlechter. Sie leiden alle an einer gewissen Naturwidrigkeit. Wenn sie glücklich werden, ruht das Glück nur darauf, dass dem Manne niemals die Augen aufgehen. Aber das Weib wird stets empfinden, dass ihm der eigentliche Mann fehlt.

Damit fehlt dem Glück aber sehr vieles. Denn das Weib verlangt nach einem rechten Manne. Schwäche widersteht dem Weibe von Grund der Seele, während sie den Mann oft gerade anzieht. Eine solche Frau muss dann ihrem Manne lebenslang mit mütterlichen Gefühlen nahen. Solche Ehen sind vielleicht sehr friedlich, aber das eigentliche menschliche Glück, die rechte Würze bleibt ihnen vorenthalten.

Eine Frau, die das alles auf sich nehmen will, mag's immerhin tun. Es gibt einmal Männer, die geheiratet werden müssen, wenn sie überhaupt zu einer Ehe gelangen sollen. Warum sollten sie nicht heiraten? Vielleicht wird in der Ehe noch etwas aus ihnen und werden allerhand verborgene Schönheiten ihres Lebens entdeckt.

Aber jede Frau, die einen solchen Mann heiratet, soll es auf eigene Verantwortung tun und wissen, dass sie die Zügel allein in die Hände zu nehmen und alle Verantwortung des Lebens allein zu tragen hat. Sie mag's tun, aber ohne jemanden zu fragen und ohne zu klagen, wenn sie's nicht hinausbringen kann. Ich habe solche Frauen kennen gelernt in allen Schichten der Bevölkerung und keine ohne Hochachtung ansehen können.

Aber etwas Herbes und etwas Wehmütiges liegt auf solchen Ehen. Männer ohne rechte Männlichkeit können nur geheiratet werden von Frauen ohne echte Weiblichkeit. Diese würden aber in vielen Fällen allein glücklicher werden.

 

Wie jemand wirbt, so ist er. Ein rechtes Werben muss unwiderstehlich sein für das Weib, eine Eroberung, der sie nicht ausweichen kann. Ich würde als Weib nie einem Manne gehören wollen, der erst lange herumfragt bei Schwestern und Basen oder auch Eltern, ob es ihm wohl gestattet werden würde, seine Werbung bei Fräulein Tochter zu beginnen.

Die Werbekraft der Frau ist nicht schwächer als die des Mannes, aber sie wirkt sich grundanders aus. Ihre Kraft liegt in Bewahrung der Sitte. Im Ganzen ist der Mann der vorwärtsdrängende, das Weib der bewahrende und erhaltende Teil der Menschheit. Die Kraft des Mannes liegt darin, dass er neue Wege geht, die des Weibes, dass sie Erprobtes verteidigt.

Männern eignet eine überaus rohe Art, ein nicht ganz taktfestes Mädchen zu zertreten. Wo ihnen der Sieg leicht wird, sind sie stets zur Verachtung geneigt.

Der wahre Fortschritt der Menschen kann nur so zustande kommen, wenn diese beiden Urkräfte, Mann und Weib, sich ihrer Eigenart nach auswirken, der Mann vorwärtsdrängend und werbend, das Weib zurückhaltend und die Sitte bewahrend. Welches die Sitte ist, ist nicht so wichtig. Sie ändert sich mit den Zeiten.

Die Sitte ist ein stillschweigendes Übereinkommen der Völker und Zeiten, das durch wirtschaftliche Vorteile bedingt ist. Ihre Form wechselt mannigfach, sie selbst aber ist immer eine Großmacht, die niemand ungestraft verletzt, und die nur sehr schwer und nie ohne Schmerz zu verursachen in neue Bahnen gelenkt werden kann.

Wo Sittenlosigkeit wird, ist die Frau verantwortlich vor dem Manne. Es ist aber nicht alles Sittenlosigkeit, was gewisse Leute so heißen. Unsere Zeit, die ich für sittenreiner halte als irgendeine vorher, wird deshalb sittenlos gescholten, weil sich offenbar eine neue Sitte bilden will, und ein großer Teil der verständigen Frauenwelt arbeitet gerade heute an ihrer Festigung.

Wenn ein Teil der Frauenwelt sich

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: Jürgen Müller
Cover: PROKOPEVA IRINA/Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2014
ISBN: 978-3-7309-8587-8

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