Inhalt:
In den Manglaren
Das Fort an der Salzfurt
In den Pampas
Der Schiffs-Kapitän
Der Waldmensch
Die Moderatoren
Das Wrack
Der Wolfs-Benjamin
Coverbild: YUCALORA / Shutterstock.com
EINS
Im Norden des Staates Ecuador, etwa unter ein Grad nördlicher Breite, also ziemlich genau unter der Linie leben die Cayapas, ein so schöner, prachtvoller Menschenschlag, wie man ihn sich auf der Welt nur denken kann.
Das sind die Leute, welche die Fabel zunichte machen, aus Asien habe sich ein Stamm Israels nach Afrika gezogen und sei dort von der Sonne schwarz gebrannt. Unmittelbar unter der Linie, bis zum flachen Seeufer hinab haben sie ihre Heimat, und ihre Haut ist dabei viel weißer als die eines der Sonne ausgesetzten Bauern in unseren deutschen Landen. Kaum kann man sie leicht bronzefarbig nennen, und nur das lange, schwarze, straffe Haar, das allen amerikanischen Indianern eigen ist, unterscheidet sie von den Bewohnern der schönen Südsee-Inseln Tahiti und Eimeo, mit denen sie aber die schlanke Gestalt und die edlen, vollkommen kaukasischen Züge gemeinsam haben.
Ihre Tracht ist einfach genug; sie tragen nur kurze Beinkleider, die ihnen kaum bis zum Knie reichen und um die Hüfte mit einer Schnur zusammengehalten werden, und nur die Frauen gehen in buntgefärbte Baumwollstoffe gekleidet, die sie aus selbstgezogener Baumwolle noch in altdeutscher Weise mit der Spindel spinnen und dann weben, oder auch von den Weißen für ihre Arbeit – oder auch für Goldstaub – eintauschen.
Die Cayapas-Indianer sind außerdem die geschicktesten Holzarbeiter an der ganzen Westküste Amerikas, und ihre auf das Vortrefflichste ausgehöhlten Kanus sind überall berühmt und werden teuer bezahlt.
Aber nicht nur Kanus, auch Gitarren verfertigen sie, zum Verkauf für die Ecuadorianer, aus einem einzigen Stück Holz so sauber, leicht und dünn, dass man an dieser Arbeit seine Freude hat.
Außerdem sind sie kühne Fischer, die sich mit ihren leichten Booten weit hinaus in die See wagen und den Schwert- und Sägefisch mit Harpune und Lanze erlegen. Allerdings haben sie in dieser Breite keine wirklichen Stürme zu fürchten, denn unter der Linie erhebt sich der Wind nie zu einem Orkan.
Ihr Hauptaufenthalt ist am Rio Cayapas, der sich in den Santiago ergießt und mit diesem durch die sogenannte Tola-Mündung in das Stille Meer hineinströmt. Dort in den Hügeln und Bergen liegen ihre Wohnungen, und zu gewissen Jahreszeiten kommen dann selbst die Bergbewohner zu dem Strand der Tola, um dort zu fischen oder Austern zu sammeln und einzusalzen, und wo sie sich einer Weile dieser Beschäftigung hingeben, liegen ganze Berge von Austernschalen am Ufer aufgehäuft.
Ihre Kanufahrten dehnen sie aber, wie gesagt, nicht bloß auf die stillen Binnenwasser der Tola-Mündungen aus, die sich durch den Taja-Arm bis nach dem Pailon und fast bis nach dem Mirafluss erstrecken, sondern sie fahren keck in die See hinaus bis Tumaco nordwärts und südlich bis zum Rio Fuerde, Esmeraldas, ja selbst bis Guayaquil hinauf, um dort ihre Erzeugnisse, Pflanzendecken, Gewebe, Holzarbeiten, getrocknete Fische, Kakaobohnen und auch selbst Gold zu verkaufen und Waren und Schmuck dabei einzutauschen. Ihre Frauen rudern dabei das Boot und der indianische Herr lehnt behaglich hinten am Steuer und bestimmt seinen Gang. Ja, landet er an irgendeinem Platz, so dürfen die Frauen das Kanu nicht verlassen. Sie bleiben als Wache zurück, und der Cayapas geht indessen zur Stadt oder ins Dorf hinauf, schließt seine Handel ab und kehrt mit den eingehandelten Waren zurück, um sich wieder einzuschiffen.
Den Esmeraldas hinauf ruderte heute wieder ein großes, rot und blau bemaltes, weitbauchiges Kanu mit einer Cayapas-Familie darin, einem Indianer, seiner Frau und zwei jungen Mädchen, seinen Schwestern, welche die Ruder führten; und nicht leicht war es bei niederem Wasser, mit eben einsetzender Flut die Barre an der Mündung des sehr breiten Stromes zu passieren. Von großer Brandung war nichts zu spüren, aber eine solche Masse ästiges und knorriges Holz war darin festgeschwemmt, dass nicht einmal ein Schoner hätte bis an die etwas weiter oben am Flussufer liegende Stadt hinanlaufen können, auch Boote und Kanus vorsichtig zwischen dem Gewirr von Zweigen, abgebrochenen und halb versandeten Äst hindurchfahren mussten,
Das aber bot dem Kanu des Indianers natürlich keine Schwierigkeit. Der Cayapas kannte auch wohl schon von früher her die enge Passage dieser Einfahrt, und bald glitt das schlanke Boot wieder in tieferem, ruhigerem Wasser mit der eintretenden Flut den Strom hinauf und dessen linkem, hohem und lehmigem Ufer zu, wo es der Indianer zwischen eine Anzahl von Walfischbooten, Kähnen und anderen, ziemlich roh ausgehauenen Fahrzeugen ähnlicher Art mit dem Bug auflaufen ließ. Er bekümmerte sich auch weiter gar nicht darum, ergriff ein paar kleine Pakete, die vorn im Boot lagen, und stieg die Uferbank langsam hinauf, während die Frauen daran gingen, unten, gleich an der Landung, ein kleines Feuer anzuzünden und sich einige Fische und ein paar grüne, noch unreife Bananen, sogenannte Platanos, zu rösten.
Esmeraldas – das heißt die neue Stadt, denn die alte liegt an dem nämlichen Ufer etwas weiter stromauf und kann höchstens ein Dorf genannt werden, obgleich sie von Weißen seit den alten spanischen Zeiten bewohnt ist – führt ebenfalls nur den Namen einer Stadt, wie sich ein Bach, der zwölf Eimer Wasser enthält, einen Strom nennen könnte.
Dicht am Ufer des Stromes ist eine Lichtung in den Urwald hineingehauen, der aber schon unmittelbar hinter den Häusern wieder seine grüne Mauer um die „Ansiedlung“ zieht, und auf diesem Platze stehen vielleicht einige sechzig Häuser – alle auf Pfählen, wie es in diesem Landstrich Sitte ist, mit leichten luftigen Bambus- oder Schilfwänden und Blattdächern. Was bedurfte es hier auch großen Baumaterials, um eine Wohnung auszurichten? Schutz gegen niederströmenden Regen und die brennende Sonne, das war alles. Die Seitenwände dagegen mussten der kühlen Seebrise geöffnet bleiben, und Weiße wie auch eingeborene Mestizen errichteten ihre Häuser alle in der nämlichen Weise.
Nur die Kaufleute hatten ihre Läden mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit der Käufer zu ebener Erde, und ihre Warenlager bestanden auch aus festen Lehmmauern – schon der Nachbarschaft wegen. Sie lagen übrigens alle am Flussufer, die Front dem breiten Strom zugekehrt, weil sich hier ja auch der Verkehr der ganzen Welt abspielte.
Übrigens hatte der Platz keineswegs einen tropischen Charakter, denn nicht eine einzige Palme war zu sehen, obgleich gerade hier Kokospalmen ganz vortrefflich gediehen wären. Keine Banane zitterte mit ihren breiten Blättern im Winde, keine Chirimoya war angepflanzt, nicht einmal ein Papayabaum, der sonst wie Unkraut wuchert. Die Plantagen lagen alle mehr drinnen im Walde oder den Fluss hinauf, und hier in der Stadt hatte es niemand für nötig gehalten, sich seine Heimat ein klein wenig freundlicher herzurichten und Frucht und Schatten gebende Bäume um sein Haus zu pflanzen. Ja, ganze Schonerladungen mit solchen Früchten, die hier den nämlichen Boden, das nämliche Gedeihen fanden, kamen von der benachbarten kleinen Insel Tumaco herüber und wurden gut verkauft, und trotzdem rührte das faule Volk in Esmeralda keine Hand.
Was brauchten diese Bewohner der Tropen auch zu ihrem Leben! Die Weißen lagen den ganzen Tag in ihrer Hängematte im Verkaufslokal, sich kaum die Mühe nehmend, aufzustehen, wenn wirklich einmal ein Käufer den Laden betrat; die Eingeborenen, eine Mischlingsrasse von Indianern, Negern und Weißen, legte sich eine Plantage an – ein kleines Stück Feld, das sie mit Bananen bepflanzten, und das gab ihnen mit den paar Fischen, die sie gelegentlich fingen, genügenden Unterhalt – sie verlangten eben nicht mehr.
Der Cayapas ging langsam die Straße hinauf, an verschiedenen Kaufläden vorüber, er war hier schon bekannt, und trat endlich in ein niederes, langes, weißes Gebäude hinein, das genau so aussah, als ob es Proben von allen nur erdenkbaren Gegenständen enthielte, die in der Welt vorkommen und von irgendeinem menschlichen Wesen zu irgendeinem Zweck benutzt werden könnten.
Auf niederen hölzernen Unterlagen, um nicht mit dem Boden und dem darauf hinkriechenden Ungeziefer in Berührung zu kommen, standen halb offene Säcke mit Kakaobohnen, Mais, Reis, Kaffee, Mehl und anderen Dingen; daneben lagen Stangen Blei und ein paar Säcke mit Schrot – dann aufgeschichtet, in grobe Leinwand eingeschlagen, Klumpen und Rollen von Kautschuk, wie sie die Eingeborenen zum Verkauf aus dem Innern bringen.
Dicht daneben war Material für sogenannte Panamahüte aufgeschichtet, und an den Wänden hingen Ketten, Taue, Blöcke usw., was zum Seegebrauch etwa dienen konnte. Selbst ein paar kleine Anker und ein paar alte Schiffskanonen lagen in der einen Ecke.
Am Buntesten waren aber die Regale selber ausgestattet: fertige Matrosen- und gewöhnliche Hemden, bunte Kattune, Zeug zu Moskitonetzen, und dabei Zigarrenkisten, Tabak in Blättern, Schrauben, Schlösser, Messer und Gabeln, Strohhüte, Ledertaschen, Blech- und Eisentöpfe, Glasperlen, unechter Schmuck, Zwirn, Band, Branntwein, Wein, Schuhe und Stiefel, englische Ale und Porter in Flaschen, kurz, ein so buntes Gemisch von Dingen, wie es eben nur ein solcher überseeischer Laden zusammenwürfeln kann.
Der Eigentümer lag oder saß vielmehr dabei in seiner Hängematte, denn in Ecuador werden diese Hamakas so aufgehangen, dass die beiden Enden ziemlich dicht zusammenkommen und weit eher eine Art Lehnstuhl als ein Bett darstellen. Es schläft auch nachts niemand darin, sondern alles bedient sich dazu nur feststehender Betten.
Noch befanden sich zwei andere Leute im Laden, ein junger Italiener und ein französischer Arzt, beide aber der spanischen Sprache mächtig, die mitsammen auf ein paar zusammengerückten Seidenkissen Domino spielten. Sie wandten auch nach dem eben eintretenden Indianer kaum den Kopf, und nur der Händler selber, der ihn erkannte, nickte ihm zu und sagte freundlich:
„Ah, Cayapas, bist du auch wieder einmal nach Esmeraldas gekommen? Was bringst du?“
„Quien sabe“, sagte der Bursche in der wunderlichen Sprechart der ganzen Westküste, „wer weiß es, ein bisschen von allem, Gummi, Kakaobohnen, Rindendecken, Hutstroh.“
„So? Hast du kein Gold? Das liegt doch da oben in euren Bergen herum.“
„Si, poquito“, nickte der Indianer, „ein klein wenig – es gibt nicht viel, und man muss lange arbeiten, wenn man etwas finden will.“
„Ja“, lachte der Ecuadorianer, indem er sich von seiner Hängematte erhob, „das sagt ihr Schlauköpfe immer, damit euch keiner auf die Sprünge kommen soll. – Na, was hast du denn? Zeige mal her, mein Bursche!“
Gold war natürlich das Objekt, was die Händler von den Indianern am liebsten kauften, denn sie machten den größten Gewinn dabei. Erstlich zahlten sie ihnen für die Unze nur sechzehn, ja oft nur fünfzehn ecuadorianische Dollar, die etwa denselben Wert wie ein preußischer Taler hatten, und dann führten sie auch – in gar nicht so seltenen Fällen – noch besondere Gewichte für diesen Zweck, durch die sich ein doppelter Nutzen herausstellte. Mit der Sünde, einen solchen armen Teufel zu betrügen, fanden sie sich leicht ab, wenn sie nur nicht dabei erwischt wurden.
„Erst wollen wir aber den anderen Handel abmachen“, sagte der Indianer ruhig, denn er kannte seine Leute und hatte schon mehrmals zu seinem Schaden erfahren, dass der andere Handel den Weißen sehr gleichgültig sei, wenn sie nur vorher das Gold in Sicherheit wussten. „Könnt Ihr die Sachen gebrauchen, sonst gehe ich lieber woanders hin – Señor Basque hier nebenan ist ein freundlicher Mann.“
„Lass dich nicht mit dem ein, Cayapas, wenn ich dir raten soll“, sagte der Händler leise zu dem Indianer, denn er wollte nicht gern, dass der Doktor, der ein Landsmann von jenem französischen Händler Basque war, etwas davon hören sollte. „Dort bist du verraten und verkauft, das ist ein Fremder, der nur in das Land gekommen ist, um hier so viel Geld wie möglich zusammenzuschlagen, und nachher setzt er sich auf ein Schiff und fährt fort, niemand weiß wohin. Die Landeskinder sind immer die zuverlässigsten Leute.“
„Quien sabe“, lachte der Indianer gutmütig. „Also wollt Ihr die Sachen?“
„Hole sie nur; caramba!“, sagte der Ecuadorianer. „Wir haben ja bisher immer unsere Geschäfte zusammen abgemacht und werden doch auch diesmal einig werden.“
Der Cayapas nickte, und sich umdrehend schritt er wieder zum Flussufer hinab, bis er sein Kanu anrufen konnte, stieß einen eigentümlichen, langgezogenen Schrei aus und gab dann den aufhorchenden Frauen seine Befehle – die mitgebrachten Waren nämlich zu ihm heraufzutragen, ein Arbeit, mit der er sich selber unmöglich befassen konnte.
Die beiden jungen Mädchen, ganz reizende Wesen mit fast weißer Haut, aber glänzend schwarzen Augen und ebensolchen Haaren, kamen auch bald darauf mit ihrer Last angekeucht und folgten dem Cayapas, der sie am Ufer erwartete und ihnen langsam, aber mit leeren Händen voranschritt, bis sie das Lagerhaus der Ecuadorianers erreichten. Dort legten sie ihre Waren nieder, ohne den Blick auch nur zu einem der Anwesenden aufzuschlagen, und eilten rasch zu dem Kanu zurück, um eine zweite Ladung heraufzuschaffen.
„Alle Wetter!“, rief der junge Italiener, von seinem Dominospiel aufsehend. „Das waren ja ein paar verteufelt hübsche Mädchen. Wo sind die her, Saltando?“
„Von den Cayapas“, erwiderte der Händler. „Aber von denen lasst die Hände. Mit der Art ist nichts zu machen, und die Indianer selber, so ruhig und gemütlich sie aussehen, sind verdammt schnell mit dem Messer bei der Hand!“
„Caramba! Was für ein feines Gesicht die eine Kleine hatte!“, sagte der Doktor. „Das konnte doch keine Indianerin sein, amigo? Sie war ja vollkommen weiß.“
„Doch nicht ganz“, sagte kopfschüttelnd der Ecuadorianer, „ein bisschen gelb oder kupferbraun ist immer mit eingemischt; aber merkwürdig licht sehen sie in der Tat aus und haben ordentlich rote Backen. Es ist aber scheues Volk, und wenn man sie nur anredet, machen sie schon ein Gesicht, als ob man ihnen wunder etwas zuleide getan hätte.“
„Und wohin sind sie jetzt?“
„Sie holen noch Waren aus dem Kanu, werden aber gleich wieder oben sein.“
Es dauerte auch wirklich nicht lange, so kamen die beiden jungen Mädchen mit einer zweiten Last an; aber sie betraten diesmal gar nicht den inneren Raum, in dem sie die fremden Männer bemerkt hatten, sondern legten, was sie trugen, vor der Tür ab und liefen dann wie flüchtige Rehe hinab zum Kanu, um die dritte und letzte Ladung herbeizuschleppen.
„Wenn Sie ein bisschen galant wären, Torquato“, lachte der französische Doktor seinen Gefährten an, „so böten Sie den jungen Damen Ihre Hilfe an.“
„In der Hitze?“, stöhnte der Italiener. „Ich danke schön; und dass Sie nachher wieder Gelegenheit bekämen, sich über mich lustig zu machen, nicht wahr? Nein, kommen Sie, Doktor, mit den Mädchen ist nichts anzufangen, lassen Sie uns lieber unser Spiel beenden, wir haben so noch die entscheidende Partie. Saltando, geben Sie uns unterdessen eine Flasche Ale; der Doktor wird sie doch wieder bezahlen müssen.“
„Veremos, Señor“, sagte dieser, indem er sich auf der Seifenkiste niederließ, „ich habe so eine Ahnung, dass ich heute nicht in die Tasche zu greifen brauche.“
Der Cayapas begann jetzt seinen Handel mit dem Ecuadorianer und zeigte sich auch gar nicht so ungeschickt im Rechnen, wie der Weiße vielleicht gewünscht hätte, kam auch einige Male bei sehr niedrigen Angeboten des Händlers wieder auf Señor Basque zurück, der immer höhere Preise gezahlt hätte, bis endlich das Geschäft geordnet, das heißt, eine bestimmte Summe festgesetzt war, für die sich der Indianer dann wieder Waren mit in seine Heimat nahm, wo er, wie es schien, ebenfalls eine Art von Geschäft betrieb.
„Und nun das Gold, Cayapas, wie viel hast du diesmal mitgebracht? Das letzte Mal war es kaum der Mühe wert und ich habe Schaden daran gehabt.“
„Schaden?“, lächelte der Indianer, indem er an seinen Hosengurt griff und dort einen Riemen aufschnallte. „Du hütest dich schon, amigo, dass du keinen Schaden hast – aber diesmal ist es mehr. Unser ganzes Dorf hat zusammengelegt, und ich soll ihnen dafür verschiedene Waren zurückbringen: Salz, Brot, Tabak, Angelschnüre, Perlen und Stoffe – du musst viel hergeben, wenn du alles haben willst.“
„Caramba!“, rief der Händler, selber erstaunt, als der Indianer einen langen, dünnen Lederbeutel von seiner Hüfte ablöste, in dem sich nahe an zwei Pfund grobkörniges Gold befanden. „Ich glaube wahrhaftig, ihr kehrt das bei euch nur so auf der Straße zusammen. Sehen Sie einmal hier, Doktor! Sie, Don Torquato, betrachten Sie sich einmal dies Goldnest, das der Bursche in einem alten schmutzigen Lederbeutel herumträgt.“
„Der Doktor bezahlt!“, rief der junge Italiener lachend, indem er von seinem Sitz aufsprang. „He, Doktor, hab ich es Euch nicht gleich gesagt?“
„Caracho, es ist doch ein niederträchtiges Pech, das ich habe!“, brummte der Franzose, indem er seufzend in die Tasche griff. „Jetzt acht Tage hintereinander immer dieselbe Geschichte. Was habt Ihr da, Saltando?“
„Was Euch fehlt“, lachte dieser. „Oro.“
„Alle Teufel!“, riefen die beiden Fremden erstaunt aus, als sie den Schatz vor sich ausgebreitet sahen, den der Händler jetzt auf ein Stück Papier geschüttet hatte. „Wo kommt das viele Gold denn her?“
„Vom Rio Cayapas.“
„Und das hat der Indianer mitgebracht?“
Dieser nickte, verwandte aber kein Auge von dem Händler, der jetzt das Gold erst durcheinander wühlte und zwischen den Fingern durchlaufen ließ, und dann einen Teil davon in seine vorgeholte Waage schüttete, da diese nicht groß genug war, um das Ganze zu fassen.
Das Geschäft wurde aber auch beendet, und der Cayapas ging jetzt daran, sich die Waren auszusuchen, die er mit hinauf in die Berge nehmen wollte, eine etwas langweilige Verhandlung, der sich die beiden Europäer nicht bemüßigt sahen, beizuwohnen. Sie hatten ihr Ale ausgetrunken und schlenderten langsam an der Schattenseite der Häuser der Stadt entlang und waren dabei so in ihre eigenen Gedanken vertieft, dass sie anscheinend gar nicht bemerkten, wie sie die Häuser hinter sich ließen, bis sie sich plötzlich, dem Pfad am Strom hinauf folgend, vor dem dichten Ast- und Blattgewirr des Urwaldes fanden und nun in der Tat nicht weiter konnten.
Beide hatten einander erst in Esmeraldas kennen gelernt und waren aus zwei ganz verschiedenen Himmelsrichtungen zusammengetroffen, der Doktor von San Fransisco, der Italiener von Lima kommend. Der junge Italiener lebte nur allein seinem Vergnügen; er schien reichlich mit Geld versehen zu sein, während der französische Doktor alles Mögliche in dem fremden Land hervorsuchte, um sich seinen Lebensunterhalt damit zu erwerben. Er praktizierte ein wenig, hatte aber nicht viele Patienten, auch sehr geringen Nutzen dabei, und schien dagegen viel mehr Zeit auf das Sammeln von Naturalien zu verwenden, die er wohl später gut zu verwerten hoffte, denn hier natürlich konnte er nichts davon verkaufen.
Unter diesen Umständen war es denn kein Wunder, dass ihm der eben gesehene Goldreichtum durch den Kopf ging, und so mäßigen Erfolg er auch in Kalifornien selbst damit gehabt, die Hoffnung erstirbt nie im Menschen, und gar zu verlockend beschwor seine Fantasie neue goldene Zauberbilder herauf.
Der junge Italiener hatte inzwischen ähnlichen Gedanken nachgehangen, wenn auch nicht gerade irgendeines materiellen Nutzen wegen, aber die jungen, allerliebsten Indianerinnen, auch vielleicht das Gold mit, das der Cayapas so gleichgültig zu betrachten schien, übte einen eigenen Reiz auf ihn aus.
„Das muss ein ganz wunderbares Land dort oben in den Bergen sein“, sagte er plötzlich, während sie vor dem grünen, unpassierbaren Dickicht stehen blieben, „ein solch prächtiges Volk und so viel Gold, ich hätte gar nicht so übel Lust, eine Vergnügungsreise dort hinauf zu machen.“
„Das glaub ich Ihnen“, brummte der Doktor. „Ich auch, und wenn ich so viel Geld hätte wie Sie, besänne ich mich auch keinen Augenblick!“
„Und hätten Sie Lust mitzugehen, Doktor?“, rief der lebendige Italiener, der den Gedanken augenblicklich auffasste. „Was versäumen wir beide hier? Nichts – im Gegenteil, wir vergeuden die schöne Zeit damit, in dem sonnverbrannten Nest zu sitzen und weiter keinen Zoll breit von dem schönen Land zu sehen als diese verfluchten Schlingpflanzen und ineinander verwachsene Dickichte.“
„Wenn ich sagen wollte, dass es mir hier gefiele“, brummte der Doktor, „so müsste ich schmählich lügen, aber – der Knüppel ist an den Hund gebunden – erst muss ich mir Geld verdienen, ehe ich eine Vergnügungsreise machen kann.“
„Aber ich habe Geld, Doktor“, sagte der Italiener, „und allein wäre ich doch nicht imstande zu reisen. Außerdem wird sich unsere Ausrüstung auch nicht so teuer stellen, und es hindert uns ja niemand daran, wenn wir erst einmal im Goldland sind, dort ebenfalls ein wenig davon zusammenzusuchen, was dann unsere Auslagen decken kann.“
„Ja, das ist alles sehr schön“, sagte der Doktor nachdenklich. „Aber so viel ich weiß, betrachten die Indianer jenes Terrain als ihr Eigentum und gestatten uns am Ende nicht einmal, nach Gold zu suchen.“
„Nun, dann wäre es noch immer kein Unglück“, sagte der Italiener gutmütig. „Dann sammeln wir Naturalien; und dagegen, dass wir einige Exemplare ihres Ungeziefers mit fortnehmen, werden sie gewiss nichts einzuwenden haben. Weit ist die Entfernung auch nicht; wie wäre es, wenn wir da gleich aufbrächen? Vielleicht nimmt uns sogar der Cayapas in seinem Kanu mit hinauf.“
„Alle Wetter!“, lachte der Doktor. „Sie scheinen es eilig zu haben; aber das geht nicht, so rasch werden wir nicht fertig, denn einige Vorbereitungen sind dazu unbedingt nötig.“
„Aber was für Vorbereitungen?“
„Glauben Sie, dass wir das Gold mit den Händen herausbuddeln können? Nein, etwas Werkzeug müssen wir mitnehmen, eine Hacke und Pfanne und einen Spaten – vielleicht auch zwei; dann muss ich Medizinen einpacken, besonders gegen Schlangebiss, denn Schlangen soll es im Innern des Landes in großer Anzahl geben. Außerdem müssen wir unsere Gewehre instand setzen und Munition kaufen. Übers Knie dürfen wir die Sache nicht brechen, sonst sitzen wir nachher da oben auf der duftenden Heide, und die Hände sind uns nach allen Seiten gebunden.“
„Aber eine so günstige Gelegenheit findet sich nicht so leicht wieder – vielleicht können wir auch den Indianer bewegen, dass er bis morgen früh auf uns wartet.“
„Wenn er das allerdings tun wollte –“
„Es kommt auf die Frage an –“
„Gut – wir wollen’s versuchen – die wenigen Vorbereitungen sind dann schnell getroffen. Wenn uns der Indianer nur mitnimmt.“
„Weshalb sollte er nicht?“, sagte der Italiener, „Er hat ja seine Fracht hier ausgeladen, und die Cayapas-Kanus sind gewöhnlich so groß und leicht, dass sie enorm viel tragen. Kommen Sie, Doktor – wir wollen das Eisen schmieden, so lange es warm ist.“
Die beiden schritten auch ohne Weiteres zu dem Hause ihres Freundes Saltando zurück, wo sie den Indianer noch emsig beschäftigt fanden, eine nicht unbedeutende Anzahl von Waren auszusuchen, um die er aber auf das Hartnäckigste feilschte und wahrlich nicht gesonnen schien, dem Händler einen Real mehr zu gönnen, als ihm genau zukam.
Der Doktor suchte sich aber – mit diesen Leuten schon ein wenig bekannt – vor allen Dingen auf einen freundschaftlichen Fuß mit ihm zu setzen. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen; und als er in den Laden trat, rief er aus:
„Caramba, Señores, Ihr schließt Euern Handel da verwünscht trocken ab. Saltando, gebt uns einmal ein paar Gläser von Eurem famosen Anisette – wie ist es, Cayapas, trinkst du auch ein Glas mit uns?“
„Como no?“, erwiderte der Indianer schmunzelnd. „Der Anisette ist sehr gut, und die Frauen trinken ihn besonders gern.“
„Wo sind denn deine Frauen? Lass sie auch herkommen und ein Glas trinken!“, rief der Doktor.
Der Indianer schüttelte ruhig den Kopf.
„Die Frauen“, sagte er, „gehören in das Kanu und nicht an das Land zwischen die fremden Männer. Willst du ihnen etwas geben, so gießt es mir der Señor in ein Fläschchen, und ich nehme es ihnen nachher mit hinunter.“
„Jawohl!“, rief Saltando, immer bereit, wo es etwas zu verdienen gab. „Hier ist ein Fläschchen, Doktor, da können wir ein paar Gläser – wie viel Frauen sind es, Cayapas?“
„Drei.“
„Gut, da können wir drei Gläser hineingießen – oder auch vier; sie werden schon damit fertig werden.“
„Das ist recht“, sagte der Doktor, über die Bereitwilligkeit Saltandos indessen nicht besonders erbaut, denn er musste für die paar Gläser Anisette einen ganzen Dollar bezahlen, „aber wie ist’s, Cayapas: Ich und mein Freund hier hätten Lust, einmal nach der Tola-Mündung zu fahren – könntest du uns vielleicht in deinem Boot mit hinaufnehmen?“
Der Cayapas hatte eben sein Glas ausgetrunken und sah den Redenden überrascht an.
„Nach der Tola?“, sagte er endlich.
„Oder bis zur Mündung eures Flusses“, setzte der Doktor hinzu.
„So –“, sagte der Indianer gedehnt. „Und was wollt Ihr dort?“
„Nur das Land einmal besehen.“
„Hm – weiter nichts?“
„Und vielleicht auf die Jagd gehen.“
„Ahem“, nickte der Indianer. „Tut mir leid, habe keinen Platz mehr im Kanu – das soll alles noch hinein und viel ist schon unten; die Frauen kommen auch gleich und holen das Letzte.“
„Wir zahlen Euch unsere Passage“, sagte der Italiener.
„Wirklich?“, erwiderte der Indianer. „Aber es wird nicht gehen – ich habe keinen Platz, Señores, und der Wind fängt auch an stärker zu wehen. Wenn bewegte See ist, darf ich nicht überladen, oder wir sinken alle zusammen.“
„Aber es ist doch gar nicht so weit nach der Tola-Mündung“, sagte der Doktor. „Wie ich gehört habe, kann man’s in einem Tage laufen.“
„Morgen früh bin ich dort“, erwiderte der Cayapas.
„Morgen früh schon? So willst du die Nacht fahren?“
„Gewiss. Cayapas fährt immer in der Nacht“, nickte lächelnd der Indianer. „Aber da kommen die Frauen – adios, Señores. Hier – das nehmt“, wandte er sich dabei an die jungen Mädchen, die wieder heraufgekommen waren, um die neue Ladung einzunehmen, indem er diesmal selber ein großes Paket Kattun aufgriff – das Gespräch mit den Weißen schien ihm nicht angenehm zu sein, „und macht, dass wir in See kommen – die Ebbe muss bald einsetzen.“
„Da hast du noch eine Stunde Zeit“, sagte der Händler, „die Flut ist erst fünf Stunden herein.“
„Schadet nichts“, erwiderte der Indianer, „komme auch so hinaus – adios!“
Seinen Packen aufgreifend, während die Frauen schon wieder mit ihrer Last hinaus waren, folgte er ihnen zu seinem Kanu, ordnete dort das Gewicht der eingenommenen Sachen so, dass es sie nicht am Rudern oder Segeln hinderte, und kaum eine halbe Stunde später glitt das Kanu gegen die jetzt nur schwach einkommende Flut an, der Mündung des Stromes zu, und schaukelte bald nachher, während die Sonne gerade ins Meer tauchte, draußen auf der weiten, langsamen Schwellung des Ozeans, den Bug dem Norden und der Heimat zugekehrt.
ZWEI
„Aber nun sagen Sie mir einmal, Doktor“, rief Saltando, als der Indianer das Haus verlassen hatte, „was fällt Ihnen denn ein, Sie wollen den Cayapasfluss hinauf, zwischen die Rothäute, Moskitos, Schlangen, Alligatoren, Tiger, wilden Schweine und was weiß ich noch alles sonst. Sind Sie des Teufels? Womit gedenken Sie sich da oben die Zeit zu vertreiben? Mit Dominospielen?“
„Sehen Sie, Saltando“, sagte der Doktor ruhig, „das weiß man eigentlich noch nicht genau – aber hier in Ihrem von Gott verlassenen Esmeraldas, wo einem vor Langeweile die Zähne stumpf werden, hab ich auch nicht länger was zu suchen. Was uns hier geboten wird, finden wir auch dort.“
„Soll ich Ihnen sagen, was Sie dort suchen wollen, Doktor?“
„Nun? – Wäre neugierig.“
„Gold“, sagte der Händler ruhig.
„Nun“, lächelte der Franzose, „wenn ich nichts Schlimmeres fände, ließ sich’s eben aushalten.“
„Ja“, sagte der Händler, „das ist aber eben der Teufel, Sie werden etwas Schlimmeres finden. Glauben Sie denn, dass die Indianer irgendeinem Fremden erlauben, in ihren Bergen nach Gold zu suchen, und denken Sie, von uns hier wären nicht schon lange Verschiedene dort hinüber gegangen, wenn man es nur eben so im Walde auflesen dürfte?“
„Pah“, sagte der Doktor, „das Land gehört doch der ecuadorianischen Regierung, und solange ich mich unter deren Schutz befinde, kann ich tun und lassen, was ich will – vorausgesetzt, dass es nicht gegen die Gesetze des Staates verstößt.“
„Jawohl, Señor“, nickte Saltando, „ganz recht und logisch gedacht: Solange Sie sich unter deren Schutz befinden. Sowie Sie sich aber einmal zwischen die Indianer hineinwagen, stehen Sie eben nicht mehr unter dem Schutze der Regierung – wenn wir außerdem wüssten, wer hier eigentlich Regierung ist, da wir gegenwärtig von Quito und Guayaquil oft mit einer Post die widersprüchlichsten Befehle erhalten.“
„Aber was können uns die Indianer tun?“, fragte der junge Italiener, der indessen der Unterredung schweigend, wenn auch mit dem gespanntestem Interesse zugehört hatte.
„Was Sie Euch tun können? Pah“, wiederholte der Ecuadorianer, „das ist eine komische Frage! Weiter vielleicht nicht viel mehr, als dass sie Euch irgendwo in den Bergen drin den Hals abschneiden, und wer sollte sie nachher dafür strafen, ja, erführe überhaupt ein Wort davon, wenn sie nicht selber herkämen und es erzählten?“
„Ach, Unsinn!“, sagte der Doktor. „Darüber sind wir doch jetzt hinaus, dass man uns in Ecuador ungestraft den Hals abschneiden kann. Unsere Kriegsschiffe würden einen schönen Spektakel machen.“
„Wenn Ihnen das einige Beruhigung gewähren kann“, sagte der Ecuadorianer achselzuckend, „dann freilich haben Sie nicht viel zu riskieren. Ich, an Ihrer Stelle, würden Ihren Kriegsschiffen aber doch lieber die Mühe ersparen.“
„Es muss schmählich viel Gold da oben geben“, sagte der Doktor nachdenklich, „wenn so ein einziger lumpiger Wilder einen ganzen Sack davon hier herunterbringen kann.“
„Das bestreite ich nicht“, nickte Saltando, „und abkaufen will ich es Ihnen sehr gern; aber selber danach gehen? Nein, da würde ich doch schön danken, und wenn ich wüsste, dass ich es scheffelweise fände – ich wüsste auch, dass ich es nicht mit fortnehmen dürfte!“
„Das wäre das Wenigste“, rief der Doktor, „wenn wir es nur erst einmal hätten; das Fortkommen sollte meine Sorge sein. Also, Sie meinen wirklich, dass viel Gold dort oben in den Bergen liegt?“
„Wenn es nicht da wäre, wo hätte es der Indianer her?“, sagte der Händler. „Derlei Volk verlässt seinen Distrikt nicht, aber sie halten auch darauf, dass ihnen niemand in die Quere kommt; und wenn Sie meinem Rat folgen wollen, so lassen Sie Ihre Finger davon.“
„Und haben Sie uns nicht früher selber erzählt, was die Cayapas für ein friedliches, gutmütiges Volk wären?“
„Das sind sie auch“, nickte Saltando, „sie tragen nicht einmal Waffen und legen niemandem etwas in den Weg, verlangen aber dafür auch, dass man sie zufrieden lässt, und das hat die ecuadorianische Regierung denn auch bis jetzt gewissenhaft getan.“
„Dann werden wir auch mit ihnen auskommen“, rief der Doktor, der durch das eben Gehörte nur noch erpichter auf das Gold geworden war, „und wenn wir ein wenig in ihren Bergen herumklettern, so wird ihnen das wahrhaftig keinen Schaden tun.“
„Ihnen nicht“, lachte der Ecuadorianer, „das ist richtig, aber Ihnen beiden, wenn Sie denn keine Vernunft annehmen wollen. Wer nicht hören will, muss fühlen, ist ein altes gutes Sprichwort. Versuchen Sie’s, weiter kann ich Ihnen nichts sagen.“
„Und glauben Sie, dass wir von hier aus eine Gelegenheit dorthin finden können?“, fragte der Italiener, der die Möglichkeit einer höchst unbestimmten Gefahr ebenfalls nicht zurückschrecken konnte.
„Das ist das Wenigste“, meinte der Händler. „Boote dorthin bekommen Sie hier schon und finden auch ein paar Leute, die Sie hinaufrudern.“
„Und wie weit ist’s?“
„Ach, die Entfernung ist nichts; mit dem Südwind, der fortwährend draußen steht, laufen Sie bequem in zehn bis zwölf Stunden in die Tola-Mündung, und von dort aus haben Sie stilles Wasser. Wenn ich nicht irre, ist jetzt gerade ein Boot aus Tola hier, das Zigarren und Branntwein holen sollte. Ihr Landsmann, Doktor, der Franzose, hat mit den Leuten immer zu tun, der kann Ihnen die beste Auskunft geben.“
Der Doktor war schon aus der Tür, um sich gleich auf der Stelle danach zu erkundigen und keine unnütze Zeit mehr zu versäumen.
Die Nachricht bestätigte sich auch. Es lag wirklich ein Boot aus der Tola hier, und zwar von der Posa, wie der Platz an der mittleren Mündung heißt. Der Führer erbot sich, sie wenigstens bis zur Tola-Mündung zu schaffen, von wo aus sie dann leicht ein Kanu mieten oder auch vielleicht kaufen konnten, um damit bis in den Cayapasfluss hinaufzukommen. Kanus waren dort billig genug, und eine große Strecke hatten sie von da ab auch nicht mehr. Das Boot ging aber erst am nächsten Nachmittag wieder in See, weil es noch auf einige Waren warten musste. Die erste Nacht blieben sie dann jedenfalls in Rio-Fuerde, einem kleinen Nest am Grünen Fluss, und konnten, wenn sie mit der Ebbe morgens ausliefen, schon frühzeitig am nächsten Tag in der Tola sein.
Das wurde angenommen; die beiden Gefährten schlossen augenblicklich den Kontrakt mit dem Manne – einem Mestizen, der eine ziemlich mäßige Forderung für die Passage stellte – ab und behielten dadurch Zeit, sich genügend auf ihren etwas abenteuerlichen Marsch in die Berge vorzubereiten.
Und was erfuhren sie jetzt für Sachen von der Wildnis, als es erst einmal bekannt wurde, dass sie in die Berge hinein wollten! Es war fast so, als ob jeder eine andere Schreckensgeschichte wüsste, und alle wilden Bestien, alles Ungeziefer, das nur auf der Welt existierte, sollte auf einmal den Wald bevölkern. – Schlangen? Keinen Schritt sollte man tun können, ohne der Gefahr ausgesetzt zu sein, auf eins dieser giftigen Ungetüme zu treten, und wahre Schaudergeschichten wurden von Menschen erzählt, die gebissen und nachher ganz schwarz geworden und angeschwollen wären, bis sie der Tod von ihren furchtbaren Leiden erlöste.
Dem zu begegnen, kauften sie sich nun große dicke und sehr bequeme Ledergamaschen; aber das war noch das Wenigste: Tiger sollte es in Masse im Walde geben, dass sich die Indianer nie getrauten, allein von ihrem Hause fortzugehen. Auch eine wilde Schweineart, die sogenannten Seynos, waren der Aussage der Esmeraldaner Bewohner nach so gefährlich, dass man sich hüten musste, ihnen in den Weg zu kommen, denn sie griffen unvermittelt einen Menschen an und rissen ihn in Stücke, während er sich gegen das Rudel gar nicht wehren konnte. Und entgingen sie wirklich all diesen Gefahren, so waren sie noch um nichts gebessert, denn sie wurden von den Moskitos aufgefressen, die im Walde zu Millionen herumschwärmten.
Der Doktor entgegnete hierauf, dass die Indianer doch fast nackt gingen und selbst die Frauen nur dünne Kattunlappen überhängen hätten, aber man erwiderte ihm, dass sich diese kleinen blutdürstigen Bestien aus Indianerblut gar nichts machten, über einen Europäer aber mit einer wahren Mordlust herfielen.
Es waren wirklich ganz verzweifelte Berichte, und hätte der Entschluss der beiden Abenteuer nicht so fest gestanden, sie wären jedenfalls dadurch entmutigt und abgeschreckt worden. So aber legte der Doktor nur eine Menge Arzneien gegen Schlangenbisse und Salmiakgeist gegen Moskitostiche ein, dann schnürten sie ein Paket mit Werkzeugen so zusammen, dass man außen nicht erkennen konnte, was es enthielt, versahen sich darauf noch mit gehöriger Munition, kauften auch einige Lebensmittel, einen eisernen Kochtopf und eine Pfanne und konnten dann die Zeit kaum erwarten, bis sie ihren Marsch angetreten und das Ziel ihrer Sehnsucht erreicht hätten.
Gold – das Gold des Indianers füllte die Gedanken des Doktors, während der junge Italiener sich im Voraus auf die Jagd in den Bergen und den Aufenthalt bei den Indianern freute.
Die Zeit der Abfahrt rückte auch endlich heran; die Reise selber bot eben nichts Außergewöhnliches. Die See war ruhig, wie sie es in diese Breite fast immer ist; die Nacht landeten sie am Grünen Flusse, wo sie ein erbärmliches Quartier in einer Pfahlhütte und ein noch erbärmlicheres Abendessen von unreifen gerösteten Bananen erhielten, die ihnen wie Blei im Magen lagen, und am nächsten Morgen gingen sie schon wieder vor Tag in See, um die Tola-Mündung sobald wie möglich zu erreichen.
Das Boot hielt sich dabei ziemlich dicht am Land, wenigstens so nahe, dass sie die grüne, dichtbewachsene Küste immer deutlich in Sicht hatten, und trafen es auch glücklich genug, mit der Flut in den Meeresarm einzulaufen, der zwischen dem mit Manglaren bewachsenen Ufer hinauf nach dem kleinen Dorfe führte, das denselben Namen trug.
Dort landeten sie, und es hatte in der Tat nicht die geringste Schwierigkeit, ein Kanu für die eigene Rechnung zu kaufen, da die Cayapas fortwährend auf und ab fahren und diese kleinen Fahrzeuge eben einen ihrer Haupthandelsartikel bilden.
In einem eigenen Kanu entgingen sie dabei jeder Überwachung; sie konnten landen, wo sie eben wollten, und ebenso gut wieder unterwegs gehen. Lebensmittel, das heißt getrocknete Fische, waren hier ebenfalls nicht teuer, auch Schokolade bekamen sie billig, obwohl sie sich davon schon einen kleinen Vorrat in Esmeraldas angelegt hatten.
Nachdem sie ein ziemlich gutes Mittagsmahl an Reis, Austern, Fisch und Kokosmilch gehalten, schifften sie sich, in dem stolzen Bewusstsein, ein eigenes Boot zu besitzen, gegen vier Uhr nachmittags mit der aufgehenden Flut wieder ein, um das Ziel ihrer Fahrt, den Cayapasfluss, sobald wie möglich zu erreichen.
Das hatte aber mehr Schwierigkeiten, als sie sich anfangs dachten, denn eine Masse Auszweigungen dieses Seearmes brachte sie so oft in Verlegenheit, welchem Arm sie zwischen den entsetzlichen Manglaren hinein folgen sollten, dass sie froh waren, als sie unmittelbar vor einbrechender Dunkelheit noch eine kleine Anpflanzung erreichten, auf welcher eine Negerfamilie ihren Sitz hatte.
Dort mussten sie übernachten und dabei zahllose Fragen beantworten: Woher sie kämen, wohin sie wollten, was sie dort zu tun beabsichtigten, ob sie Händler wären usw. usw.
Der Doktor wand sich aber wie ein Aal hindurch, und es gelang ihm auch wirklich, die Leute zuletzt glauben zu machen, dass sie ein paar „Naturalistas“ wären, die bloß darauf ausgingen, Pflanzen und Tiere zu sammeln und in den Bergen ein wenig jagen zu wollen.
Damit beruhigten sich zuletzt die Neger. Komische Menschen, die zwecklos in der Welt herumzogen, hatten sie ja schon oft in dieser Gegend gesehen – das waren ein paar davon, und man musste sie eben ihren Weg gehen lassen – gescheit wurden sie ja doch nie anders als durch eigenen Schaden.
Als sie sich am andern Morgen nach dem Wege erkundigten, den sie zu nehmen hatten, um nicht in eine falsche Mündung hineinzugeraten, war die Auskunft, die sie hielten, so verworren – bald sollten sie dahin, bald dorthin, bald rechts, bald links abbiegen – dass sie es endlich in Verzweiflung aufgaben, da hindurch einen selbstständigen Kurs zu verfolgen. Sie dankten auch ihrem Schöpfer, als es ihnen endlich gelang, einen kleinen, etwa acht Jahre alten pechschwarzen und fasernackten Jungen zum Führer zu bekommen, der nicht das geringste Gepäck bei sich hatte, nicht einmal Taschentuch und Zahnbürste und so freudig in ihr Kanu hineinsprang, als ob er sie nur gerade über den Fluss hinüber ans andere Ufer bringen wollte.
Und was dort oben aus ihm werden wolle?
Oh, meinte die Mutter, es führen alle Wochen zwei- oder dreimal Cayapas-Kanus von dort herunter, und in einem von diesen könne er dann bequem zurückkehren – bekam er doch auch für seinen Lotsendienst einen Silberdollar, und der war hier oben nicht so leicht verdient.
Der kleine Bursche wusste auch überall am Ufer ganz vortrefflich Bescheid – da war keine Lichtung, die er nicht kannte und von der er hätte nicht sagen können, wer sie ausgerodet und wer jetzt darauf wohne; keine noch so unbedeutende Einmündung oder Bucht, deren Ursprung er nicht angegeben hätte. Hin und wieder war er auch schon, wie er erzählte, oben bei den Cayapas und bei Verwandten gewesen, die dort in der Nähe wohnten.
Und was habe er dort oben gemacht?
Oh, er war im Wald herumgelaufen.
Aber doch nicht in der „Kleidung“, wie sich der Doktor ausdrückte, und mit bloßen Beinen, wo es so viele Schlangen geben sollte!
Schlangen? – Der kleine Bursche lachte hell auf.
„Und was schaden die?“, rief er aus. „Seht, da schwimmt gleiche eine – rudert schnell, Señores, die müssen wir kriegen, das ist eine schlimme Sorte!“ Damit griff er die Stange auf, die vorn im Boot lag und stellte sich keck und zum Schlage bereit ganz vorn hin auf den äußersten Rand des Bugs.
Sie fuhren hier gerade unter einer etwas höheren, lehmigen Uferbank hin, auf welcher oben eine Plantage angelegt war, man konnte überall die breiten grünen Blätter der Bananen erkennen, während dazwischen mächtige Baumwollbüsche standen, deren aufgeplatzte reife Kapseln schon weit über den Strom hinaushingen.
Die Schlange, ein prachtvoll gezeichnetes goldgelbes Reptil mit dunkelbraunen Ringen und Flecken über den ganzen Rücken, hatte augenscheinlich quer über den Tola-Arm schwimmen wollen, als ihr das Kanu in den Weg kam; jetzt hielt sie einen Augenblick wie unschlüssig im Wasser und hob den Kopf mit der gespaltenen Zunge hoch und zornig empor, als ob sie gar nicht übel Lust habe, sich zur Wehr zu setzen.
Wie das Kanu seinen Bug gegen sie wandte, hielt sie nicht stand, sondern bog seitwärts ab, wieder dem Lande zu. Das Kanu war aber schon zu nahe heran; der kleine Bursche hatte die Stange mit beiden Händen gefasst und hieb mit voller Kraft auf das Gewürm ein, das sich blitzschnell nach dem Schlag umdrehte, dann aber wie tot oder betäubt auf dem Wasser schwamm und langsam vorübertrieb.
„Bravo, mein Bursche!“, rief der Doktor. „Das war vortrefflich ausgeführt – Donnerwetter, Torquato, wenn wir die Schlange abbalgen könnten!“
„Halten Sie sich doch um Gottes willen nicht mit dem Scheusal auf“, sagte aber Torquato. „Weiter fehlte nichts, als dass wir damit anfingen, alle Schlangen in Ecuador auszustopfen! Aber was macht der Junge da?“
Dieser hatte, ohne sich weiter um die Schlange zu bekümmern, die Stange, mit der er nach ihr geschlagen, nicht nur sorgfältig betrachtet, sondern er nahm einen vorn im Kanu liegenden Bambusspan und strich langsam und sorgfältig damit an der Stange auf und nieder.
Plötzlich hielt er an, hob die Stelle, auf welcher der Span Widerstand fand, empor und rief aus:
„Ob ich’s mir nicht gedacht habe – da sitzt er – da hätt’ es uns gehen können wie meinem Bruder!“
„Aber was ist – was hast du da?“
„Weiter nichts“, sagte der kleine Bursche, „als dass die Bestie beim Niederschlagen herumgefahren ist und in die Stange gehauen hat, und da ist einer von ihren bösen Zähnen drin steckengeblieben, und wenn jetzt jemand mit der Hand daran heruntergefahren wäre und sich an dem scharfen Zahn blutig gerissen hätte, so wär’ es gerade so schlimm gewesen wie der Biss selber. Mein Bruder ist so ums Leben gekommen.“
„Alle Teufel“, rief der Italiener erschreckt, „so wirf die verfluchte Stange lieber über Bord!“
„Ist nicht mehr nötig“, lachte der kleine Bursche, indem er die dort eingedrückte Zahnspitze sorgfältig über das Wasser hinaushielt und herauskratzte. „So, die ist fort; und weiter ist nichts daran.“
„Sind viele solche Schlangen hier im Walde?“, fragte der Doktor, über die Begegnung doch nicht gerade besonders erfreut.
„Es gibt schon viele“, sagte der kleiner Neger gleichgültig. „Aber sie sind feige und laufen fort, sobald sie einen Menschen herankommen hören. Im Wald fürchte ich mich nicht vor ihnen.“
„Da hätten wir uns die verdammt schweren Gamaschen ersparen können, Doktor“, sagte der Italiener. „Ach, ist das eine Hitze – ich bin schon ganz nass und die Sonne trocknet einen nicht einmal.“
Durch die ihnen günstige Flut brauchten sie sich übrigens nicht sehr anzustrengen, denn diese trug sie ihrem Ziel von selbst entgegen.
Eine wunderbare Szenerie, auf die sie bisher kaum geachtet, umgab sie, obgleich sie das nämliche Ufer, mit wenigen Unterbrechungen, schon von der Seemündung an gehabt hatten. Wo höheres Land lag, fanden sie überall Ansiedelungen, den Platz zu Bananenpflanzungen benutzt, weil die benachbarten Einwohner die Früchte leicht mit den Kanus abholen konnten.
Wo aber das Land – und an den meisten Stellen war das noch der Fall – sich so niedrig zeigte, dass es die bis viel weiter stromaufgehende Meeresflut erreichen konnte, wuchsen nichts als Manglaren oder Mangrovenbäume – der einzige Baum, der in Salzwasser vorkommt, ja zu seinem Gedeihen es verlangt.
So furchtbare Dickichte bildete die Manglare dabei, dass ihre niederhängenden Zweige bei hoher Flut bis in das Wasser hineinhingen und dann eine undurchsichtige grüne Laubmauer zeigten, in die der Blick vergebens einzudringen suchte. Nur wenn man die äußeren Äste zurückschob und hindurchdrang, bot sich dem Auge eine Wildnis von so fantastischen Ästen und Zweigen, von Stämmen, die auf elastischen Wurzeln in der Luft getragen wurden, von Schösslingen, die erst nieder und dann wieder in die Höhe wuchsen, dass man das tollste Fantasiegebilde eines wahnsinnig gewordenen Naturmalers vor sich zu sehen glaubte.
Nirgends zeigte sich Land, soweit die Manglare reichte; und nur in der Ebbezeit, wenn das Wasser sechs bis sieben Fuß gefallen war, wurden hohe, von wunderlichen Wurzeln durchwachsene und bogenförmig überspannte Schlammbänke sichtbar, auf denen sich aber auch nichts Lebendiges zeigte als eine Unzahl von buntgefärbten Krabben, die an den elastischen Schösslingen auf und nieder liefen oder sich auch in dem Schlamm ihr Bett wühlten.
Die beiden Europäer kümmerten sich übrigens wenig um die Manglaren, an denen sie bequem in ihrem Kanu vorüberliefen, und nur einmal, als sie ein warmer Luftzug vor dort herüber traf, hob der Doktor den Kopf in die Höhe und sagte:
„Das ist merkwürdig, Torquato, riechen Sie nichts?“
„Einen penetranten Moschusgeruch ganz plötzlich“, sagte dieser, darauf aufmerksam gemacht. „Sonderbar, woher das kommen kann?“
„Ob die Mangrovenbäume eine solche Ausdünstung haben?“, rief der Doktor. „Das wäre jedenfalls höchst interessant zu untersuchen.“
Der kleine Negerjunge, der vorn im Boot kauerte und sie mit den dunklen Augen groß ansah, lachte.
„Na, was hast du zu feixen, du kleiner Sappermenter?“, sagte der Doktor. „Weißt du, wo der Geruch herkommt?“
„Von dem da“, nickte der Bursche und zeigte mit dem Arm auf das Wasser hinaus, wo die beiden Fremden aber nichts Besonderes entdecken konnten.
„Von dem da? Von wem?“, sagte der Italiener. „Ich sehe niemanden.“
„Seht Ihr denn den großen Alligator nicht, der da im Wasser schwimmt?“, rief der kleine Schwarze. „Er guckt ja mit dem ganzen Kopf und einem Stück vom Hals daraus hervor – der riecht so.“
„Den Alligator? Wo – das angebrannte Stück Holz da?“
„Ja, angebranntes Stück Holz“, lachte der Neger. „Das ist ein tüchtiger Kerl und beinahe so lang wie das Kanu – seht nur, was er für eine breite Stirn hat.“
Der Doktor, der hinten im Kanu saß und mit seinem kurzen Ruder zugleich steuerte, hielt auf den Gegenstand zu.
„Nicht so gerade“, sagte der Negerjunge, „sonst geht er gleich unter. Ihr müsst tun, als ob Ihr an ihm vorbeifahren wolltet.“
„Beim Himmel“, rief der junge Italiener, indem er sein Gewehr aufgriff, „das ist in der Tat ein Alligator! Ich kann schon das tückisch blitzende Auge erkennen.“
„Schießen Sie ihm einmal eine Kugel auf den Pelz, Torquato“, schmunzelte der Doktor. „Heiland, wie die Bestie nach Moschus stinkt – und sie scheint sich aus uns gar nichts zu machen.“
Das Boot passierte jetzt den ruhig mit der Flut treibenden Alligator auf etwa fünfzehn Schritt; wenn dieser aber auch in seiner Stellung blieb, hielt er die kleinen stechenden Augen doch scharf auf das Fahrzeug geheftet und fühlte sich vielleicht nur deshalb so sicher, weil er es jeden Augenblick in seiner Macht hatte, wegzutauchen und aus Sicht zu kommen. Was wusste der Alligator in der Tola von Schießgewehren ...
Jetzt hatten sie ihn gerade von der breiten Seite, und der junge Italiener, ein ziemlich guter Schütze, zielte vorsichtig.
Mit dem Knall des Gewehres zeigte es sich auch, dass er jedenfalls getroffen hatte, denn das Ungetüm peitschte urplötzlich mit einer Wut und Gewalt und in einer Länge das Wasser, dass der Schütze ordentlich darüber erschrak.
Im nächsten Augenblick schon zeigte aber nur die bewegte und mit Luftblasen bedeckte Flut die Stelle an, wo er gelegen – er verschwand unter Wasser, ob tot oder verwundet, ließ sich nicht erkennen.
Als sie aber auf den Platz zuglitten, fanden sie das kristallhelle Seewasser mit großen dunklen Blutflecken gefärbt, und der kleine Neger wollte sich ausschütten vor Lachen, dass sie „den großen gefräßigen Burschen so angeführt hatten“.
„Gibt es viele, von den Bestien hier im Wasser?“, fragte der Doktor.
„Gewiss, sehr viel“, sagte der Kleine. „Böses Volk, und haben Zähne so lang; wen sie packen, den halten sie fest. Loslassen tun sie nie wieder, und wenn man sie mitten voneinander haut. Aber die nicht allein – auch viele Tiburons gibt es hier, die mit der Flut heraufkommen und mit der Ebbe wieder zurückgehen.“
„Tiburon?“, sagte der Doktor, der das Wort noch nicht kannte. „Was ist das?“
„Kennt Ihr keine Tiburons?“, lachte der Neger. „Na, wartet, wir werden wohl einen zu sehen bekommen – ich will aufpassen.“
Wieder glitten sie schweigend eine Strecke mit der Flut stromauf, das Ufer fing hier schon an etwas höher zu werden; den größten Teil bildeten allerdings noch die Manglaren, aber dahinter wurde anderer, dunklerer Baumwuchs sichtbar, der deutlich verriet, dass dort hinauf die Flut nicht reiche. Prachtvolle Laubbäume reckten ihre schlanken, riesigen Stämme empor, und die feingegliederten Kronen der Königspalme und einiger anderer sehr zierlicher Arten quollen dazwischen heraus.
„Da – da!“, rief der Neger plötzlich und zeigte mit der Hand gerade voraus. „Da schwimmt ein Tiburon – seht Ihr die Flosse?“
„Ein Hai!“, rief der Doktor, sowie er nur den Blick hinüber geworfen. „Bei Gott, ein Hai! Das ist ja eine allerliebste Gesellschaft hier im Wasser: Schlangen, Krokodile und Haifische – wenn wir hier über Bord fielen, wären wir verloren.“
„Ja, wir fallen aber auch nicht über Bord“, lachte der kleine Neger. „Hui, da geht er hin; dem ist gewiss ein Fisch begegnet.“
Er hatte recht; die große, spitze Rückenflosse des Hais, die immer deutlich sichtbar ist, wenn er ruhig an der Oberfläche schwimmt, schnitt plötzlich mit fabelhafter Schnelle durch die Flut und verschwand dann; und in der Tiefe spielte das Drama weiter, wo sich des „Meeres Hyäne“ jetzt wahrscheinlich auf ein unglückliches Schlachtopfer warf und es würgte, das bis dahin noch „gesund wie ein Fisch“ und in aller Behaglichkeit umhergeschwommen war.
Aber kein Zeichen, keine Bewegung an der Oberfläche kündete den dort unten wütenden Kampf, das Todeszucken des Erfassten – die raschen, furchtbaren Bewegungen des Hais – das Meer verrät keine Geheimnisse, und was auch in seiner dunklen Tiefe vorgeht, welche Leidenschaften darin wühlen – sein Antlitz bleibt still und unbewegt.
„Sehen Sie dort, Señores“, rief der Neger, indem er mit dem Kopf hinüber deutete, „wo da rechts der Fluss hereinkommt? Das ist der Cayapas, und von da an können Sie nicht mehr irre fahren. Ein Stück weiter hinein fängt schon das süße Wasser an.“
„Und wo landen wir jetzt?“
„Gleich links davon, wo das hohe Land ist, liegt eine Plantage – dort wohnt ein Onkel von mir, wo Sie auch am besten über Nacht bleiben. Der kennt den ganzen Fluss und kann Ihnen alles sagen, was Sie wissen wollen.“
„Wollen wir den Rat befolgen?“, fragte der Doktor seinen Begleiter, aber jetzt in französischer Sprache.
„Es wird doch am Ende das beste sein“, meinte dieser, „wenn wir nicht später noch die Abendkühle benutzen wollen. Jedenfalls können wir uns ja den Platz einmal ansehen und dann noch immer tun, was wir für das Zweckmäßigste halten.“
Der Doktor nickte, und das Kanu dem bezeichneten Wohnort zusteuernd, landeten sie kaum eine Viertelstunde später an einer roten Lehmbank, in die ein Weg oder eine Art Treppe eingehauen war, um bequem an Land kommen zu können.
Dort befestigte der kleine Negerbursche, der sich vollkommen zu Hause fühlte, auch das Kanu an einer langen, zu diesem Zweck dort angebrachten Liane, an der es mit der Flut bequem steigen und fallen konnte, und sprang dann selber voran die Treppe hinauf, um seine Schutzbefohlenen anzumelden.
DREI
Señor Tronco, der hier mit seiner Familie wohnte, war ein in Ecuador freigewordener Neger, der sich mit Fleiß und Sparsamkeit ein ganz hübsches Besitztum gegründet hatte und jetzt mit einem weißen Hemd und gar keiner Hose in seinem eigenen Hause spazieren ging.
Der Anzug, in dem er seine Gäste empfing, war solcherart allerdings sehr primitiv, und Torquato besonders musste sich alle Mühe geben, dass er nichts geradeheraus lachte.
Das würde aber den sehr ernsthaften und sogar etwas gravitätischen Mann sicher beleidigt haben, denn er führte seine weißen Gäste mit einer solchen Wichtigkeit, und jeder Form von Etikette dabei genügend, in sein Haus ein, dass seine Gastfreundschaft nichts zu wünschen übrig ließ.
Und darin unterstützte ihn auf das Lebhafteste seine Gattin, eine würdige Dame, die jedenfalls noch einmal so viel körperliches Gewicht hatte als er selber und dabei im tiefsten Bass sprach – aber all diesen Neger, so frei und unabhängig sie jetzt auch noch leben mögen, ist es schmeichelhaft, weißen Besuch zu bekommen, und sie suchen ihm alle Ehre zu machen.
Ein Paar rabenschwarze junge Damen im Hause, die eine vielleicht von vierzehn, die andere von sechzehn Jahren, voll aufgeblüht wie dunkle Rosen, ebenfalls mit nicht mehr Kleidung bedeckt, als unumgänglich nötig war, ihre schlanken Körper züchtig zu umhüllen, wurden augenblicklich beordert, eine Mahlzeit zuzubereiten.
Als der alte schwarze Señor seinen Gästen eine feingeflochtene Matte zum Ausruhen angewiesen hatte, ließ er sich dann in eine Unterhaltung mit ihnen ein, in welcher er vor allen Dingen zu erfahren suchte, was sie hier heraufgeführt und wohin sie wollten, wobei der Doktor wirklich alle Mühe hatte, Ausflüchte zu ersinnen. Nur das Wort Naturalista half ihm auch hier wieder darüber weg. Señor Tronco hatte von diesen schon selber einige persönlich kennen gelernt.
Einmal war ein Engländer bei ihm gewesen, der zwei Monate vergeblich darauf verwandt hatte, ein Exemplar der „fliegenden Fische“ zu fangen, und dann, mit nicht besserem Erfolg, zu demselben Zweck nach dem Pailon hinaufging. Auch ein Deutscher sollte früher einmal dort gewesen sein, der alles mögliche Unkraut ausriss und trocknete, und ein Franzose, der Vögel schoss und ausstopfte und Schmetterlinge fing – kurz, er hatte sie hier schon von allen Nationalitäten gehabt und schlug den Fremden deshalb vor, ihr Quartier bei ihm zu nehmen und von hier aus Exkursionen zu machen. Es sei ein ganz famoser Platz und sie könnten sich keinen besseren dazu wünschen.
Der junge Italiener war auch gleich dazu bereit, denn die beiden jungen reizenden Mädchen gefielen ihm ungemein, und zu dem Goldsuchen kamen sie, wie er dachte, noch immer früh genug. Sie konnten ja dann und wann einmal in die Berge hinauffahren und sammeln, und der Alte brauchte deshalb doch nicht zu erfahren, auf was sie eigentlich ausgingen.
Der Doktor ließ sich aber auf nichts Derartiges ein, denn vor allen Dingen wollte er erst einmal seinen Zweck erreichen, nachher blieb noch immer Zeit genug, sich ihrem Vergnügen zu widmen. Er bestand auch darauf, dass sie noch heute Abend aufbrächen, und es bedurfte aller Überredungskunst der alten würdigen Dame mit der Bassstimme, um ihn wenigstens zum Übernachten zu bewegen. Was hatten sie auch zu eilen, und vielleicht war es sogar möglich, von Señor Tronco einige nützliche Winke über die Ausführung ihrer nächsten Pläne zu erhalten.
Das musste freilich mit großer Vorsicht angefasst werden, denn er durfte auf keinen Fall merken, auf was sie abzielten. Der Doktor wusste das Gespräch deshalb nach dem Abendessen sehr geschickt auf die Cayapas-Indianer, ihren Handel, wie ihr ganzes Leben und Treiben zu lenken, über deren Verhältnisse der alte Neger ihnen allerdings die beste Auskunft geben konnte, da er in stetem Verkehr mit ihnen stand.
Es waren, wie er sagte, tüchtige, brave Menschen, fleißig und mäßig – dem Branntwein nicht ergeben, und untereinander friedlich und gastfrei. Dem Äußeren nach hatten allerdings die Meisten den christlichen Glauben angenommen, bekannten sich wenigstens dazu, insgeheim schienen sie aber noch sehr viele von ihren heidnischen Gebräuchen beibehalten zu haben, gestatteten Fremden jedoch keine Einsicht und hielten sich überhaupt merkwürdig scheu und abgesondert von jedem Verkehr mit solchen, die nicht ihres Stammes waren.
„Und wovon leben sie?“
„Von Jagd und Fischfang – die Frauen arbeiten dabei sehr fleißig Rindenmatten, Netze und Hängematten, die Männer höhlen Kanus aus, die einen bedeutenden Handelsartikel an der ganzen ecuadorianischen Küste, ja bis weit nach Neu-Granada hinauf bilden.“
„Und sonst haben sie keine Handelsartikel?“
„O doch – sie sammeln Gummi in den Wäldern.“
„Und was für Zahlung nehmen sie dafür?“, fragte der Doktor. „Wahrscheinlich am liebsten Gold, denn ich habe in Esmeraldas gesehen, dass einer der Burschen einen kleinen Beutel mit Goldstaub bei sich hatte.“
„O, das suchen sie selber“, rief die alte Dame. „In ihren Bergen gibt es Gold.“
„Das kann aber wohl nicht so viel sein, man hätte sonst mehr davon gehört“, bemerkte der Doktor gleichgültig.
„Es ist auch nicht wenig“, meinte Señor Tronco, „aber so geheimnisvoll sie in allem andern sind, so zurückhaltend zeigen sie sich auch darin.“
„Aber was hülfe ihnen das?“, meinte der Italiener. „Wenn wirklich viel Gold in den Bergen läge, so hätten das doch andere auch schon längst gefunden.“
„Wenn sie danach suchen dürften“, lachte die alte Dame. „Ich möchte es aber keinem raten, in den Bergen, die sie bewohnen und die ihnen auch gehören, anfangen zu arbeiten; der wäre bald geliefert. Weißt du, Señor Tronco, der amerikanische Matrose, der einmal mit seinem Werkzeug auf dem Rücken und einem ganzen Gürtel voller Pistolen da oben hineinzog? Kein Mensch hat wieder etwas von ihm gehört.“
Señor Tronco, ihr Gatte, zuckte die Achseln.
„Lieber Gott“, sagte er, „wir haben allerdings Sicherheitsgesetze im Lande, aber wer soll sie hier in den Bergen ausüben, wo die Haupt- und Hafenstadt Guayaquil sogar in den Händen eines Präsidenten ist, der dort die Gesetze über den Haufen wirft. Wenn jemand hier nicht auf sich selber Acht gibt, so tun es andere Menschen gewiss nicht, und die Cayapas sind nun einmal Herren in ihrem Eigentum. Habe ich ihnen doch sogar mein Land hier abkaufen müssen, weil keine Regierung damit etwas zu tun haben wollte. – Wer gräbt aber auch nach Gold? Es ist eine schwere, mühselige Arbeit und lohnt nicht halb so gut als Ackerbau – das sind unsere Geldgruben hier, Señores, und in denen schaufeln wir das Gold zutage – nicht in den Bergen.“
„Also von dem Amerikaner hat man nie wieder etwas gehört?“, sagte der Doktor, dem die Geschichte nicht angenehm war. „Vielleicht ist er aber weiter hinein in die Berge, möglicherweise sogar nach Quito gegangen?“
„Der Amerikaner hat aber Quito nie gesehen“, sagte der Neger, „so viel ist sicher, und was aus ihm geworden ist, werden die Cayapas wohl wissen; gesprochen haben sie aber nicht darüber, und es hat sie auch niemand darum gefragt. Weshalb auch? Man hätte doch nichts erfahren, denn von denen verrät keiner den andern.“
„Hm, das ist ja recht angenehm“, brummte der junge Italiener vor sich hin. „Was meinen Sie, Doktor, wenn wir da oben ebenso verschwänden?“
„Pah“, sagte die alte Negerdame, „den Señores tut niemand was, und wenn sie zehn Jahre zwischen ihnen lebten. Sie wollen ja doch kein Gold graben.“
„Nein – allerdings nicht“, lachte der Doktor erneut etwas verlegen. „Wäre eine schlechte Idee, und an den Vögeln und Schmetterlingen wird ihnen wohl nicht so viel liegen.“
„Die können Sie mitnehmen, so viel Sie wollen“, nickte der alte Schwarze. „Ungeziefer gibt’s genug im Walde, das weiß Gott, und ein Segen wär’s, wenn wir nur alles los würden – ist aber wenig Aussicht dazu vorhanden.“
Das Gespräch ging dann auf andere Gegenstände über, und es war spät geworden, ehe die beiden Freunde ihr Lager suchten. Das Gehörte ging ihnen aber doch im Kopfe herum, denn ermutigend klang es gerade nicht, und wenn auch alles dafür sprach, dass das Land goldhaltiger sein mochte, als man vermutete, stand die Gefahr, in die sie selber dabei liefen, in keinem Verhältnis zu dem möglichen Nutzen.
„Hören Sie, Doktor“, sagte der Italiener leise, als sie zusammen auf der kühlen Veranda des Hauses auf ihrer Matte lagen, „wie mir scheint, sind wir auf dem besten Wege, in ein Wespennest zu treten, denn wenn sich alles so verhält, wie der würdige Mann im Hemd erzählt – und es liegt kein Grund vor, daran zu zweifeln – so hätten wir etwas Gescheiteres tun können, als die Cayapas zu belästigen. Wie wär’s, wenn wir unser Glück einmal am Pailon versuchten?“
„Pah“, brummte der Doktor, „glauben Sie nur nicht alles, was das Volk sagt. Das sind lauter Schlangengeschichten. Was für furchtbare Schilderungen wurden uns in Esmeraldas von den Wäldern gemacht, und hier laufen die Leute halbnackt darin herum und es geschieht ihnen nichts. Solche romantische und gefährliche Geschichten haben eine merkwürdige Ähnlichkeit mit einem Regenbogen – man sieht ihn nur immer aus der Ferne, und je weiter man gegen ihn vorschreitet, desto rascher weicht er zurück.“
„Der Teufel traue!“
„Glauben Sie mir, Torquato, wir werden zusammen in die Berge gehen und von keiner Menschenseele belästigt werden. Bedenken Sie nur immer, dass wir Naturalistas sind, und wenn wir hier und da in die Erde herumstochern, so braucht das dumme Volk nicht zu erfahren, dass wir nach Gold suchen. Seltenes Gestein, Lava wollen wir – wir haben unter anderem gehört, dass hier noch aus früheren Zeiten viele jetzt wertlose Altertümer vergraben sind, irdene Geschirr, zum Beispiel alte Steinwaffen und Dergleichen, die für die jetzigen Indianer nicht das geringste Interesse haben. Danach suchen wir; das sind die Schätze, die wir verfolgen, und Sie sollen sehen, dass uns die Cayapas nicht das Geringste dabei in den Weg legen.“
„Na, ich will’s wünschen!“, seufzte der Italiener, noch immer erst halb beruhigt. „Und der einzige Trost ist mir nur der, dass wir unsere Gewehre mitgebracht haben – damit können wir sie uns doch im schlimmsten Fall vom Leibe oder wenigstens in Respekt halten. Das Beste wäre freilich, wenn wir nie dazu gezwungen würden.“
Das Gespräch wurde hier unterbrochen, denn einer jener tropischen Regen begann, die in diesem Lande der immerwährenden Regenzeit das ganze Jahr hindurch selten einmal einen oder zwei Tage aussetzen.
Und wie das schüttete, gar nicht wie Tropfen, sondern wie kleine Steine fiel es aufs Dach nieder und floss von dort in Strömen herab.
Hopp, hopp, hopp!, pochte es fortwährend und rasch hintereinander oben im Dach.
„Was zum Henker!“, rief der junge Italiener endlich, der dem Lärm schon eine ganze Weile gelauscht. „Was ist denn das eigentlich da oben? Du mein Himmel, wie das schüttet! In dem Wetter kann doch niemand da oben hämmern!“
„Das muss jedenfalls ein Vogel sein“, sagte der Doktor, der dem Geräusch ebenso schon eine ganze Weile gelauscht hatte. „Wenn die Nacht nicht so stockdunkel wäre und es nicht so gösse, könnte man ihn am Ende schießen.“
„Ja, und das Dach in Brand stecken“, brummte Torquato, der anfing schläfrig zu werden. „Ich wollte, die verdammte Bestie klopfte woanders – hopp hopp hopp! Hopp hopp hopp! Dass dich der Böse hole!“
Das Geräusch war übrigens zu eintönig, um sie lange wach halten zu können – der rauschende Regen und das monotone Klopfen dazu verschwammen zuletzt zu einem einzigen, unbestimmten Ton, in dem sie endlich sanft ein- und bis zum Morgen ruhig fortschliefen.
Gerade vor Tag fuhr Torquato einmal plötzlich in die Höhe und stieß einen halblauten Schrei aus – der Doktor erwachte.
„Was haben Sie denn?“
„Alle Wetter!“, rief der Italiener verstört. „Eben hat mich etwas in die große Zehe gebissen – das muss eine Ratte gewesen sein.“
„In die Zehe?“, rief der Doktor rasch. „Bester Freund, das war keine Ratte. Darüber hab ich schon viel gelesen – das war jedenfalls einer der Vampire, eine große Art von Fledermäusen. Tun Sie mir den einzigen Gefallen und legen Sie sich wieder hin, vielleicht kommt er zurück und ich kann ihn fangen.“
„Nun ja“, lachte der Italiener, „weiter fehlte mir gar nichts, als dass ich auch noch als Falle für Vampire gestellt werden soll. Strecken Sie doch eins von Ihren eigenen Hinterbeinen aus, wenn Sie sich so sehr für die Bestien interessieren; ich ziehe die meinigen ein, das kann ich Ihnen versichern.“
Der Doktor blieb von da an munter und erwartete die Rückkehr dieses merkwürdigen Tieres, das sich manchmal nachts an die Schläfer wagt und mit einem leisen, kaum merklichen und ganz allmählichen Biss an einer der Zehen Blut auszusaugen versucht. Es war aber jedenfalls verscheucht worden, denn es kam nicht wieder, und bald dämmerte auch, trübe und aus Regenwolken heraus, der Tag, an dem sie ihre Fahrt in die Berge beginnen wollten.
Es hatte indessen gegen Morgen aufgehört zu regnen; wenn das nicht der Fall gewesen wäre, so würde es sie doch schwerlich abgehalten haben, ihre Reise anzutreten, denn Regen ist eben in jenen Breiten etwas Alltägliches und das Klima dabei viel zu warm, um Regen zu fürchten oder besonders aus dem Weg zu gehen.
Vor dem Frühstück ließ aber der alte Neger, der sich noch in demselben Kostüm wie gestern befand, die Reisenden nicht fort, und der Doktor erkundigte sich augenblicklich danach, welch merkwürdiger Vogel das sei, der die ganze Nacht auf dem Dache hopp, hopp! geschrien habe.
„Ave Maria!“, rief der alte Bursche lachend aus. „Sie sind ein Naturalista, Señor, und halte einen Frosch für einen Vogel!“
„Einen Frosch? Aber das war doch kein Frosch!“
„Gewiss, amigo, ein großer, weißer, langbeiniger, ekelhafter Frosch – werden seine Bekanntschaft noch öfters machen.“
„Und weiß?“
„Gibt es hier von allen Farben“, nickte der Neger. „Feuerrote, graue, grüne, weiße, braune, blaue – nur einen schwarzen habe ich noch nicht gesehen. Aber die Schokolade ist fertig, Señores. Wenn Sie absolut fort wollen, so trinken Sie wenigstens erst eine Tasse warme Schokolade und essen Sie ein paar Bananen dazu, dann können Sie bis Mittag aushalten. Im Wald finden Sie auch manches zu schießen; Affen, Seynos, Pavas, Pauchis und viele andere Vögel. Not brauchen Sie nicht zu leiden; die Cayapas bauen auch Reis und haben große Plantagen, sind überhaupt ein gutes, friedliches Volk, wenn man sie nicht gerade böse macht , sonst aber hitzköpfig und wild wie der Böse, und dann ist’s am besten, man geht ihnen so rasch wie irgend möglich aus dem Weg.“
Das Frühstück war beendet, und da der alte Neger auf keinen Fall für das Nachtlager Bezahlung nehmen wollte, so gaben die Fremden den beiden jungen Mädchen ein paar Halsbänder von roten Glaskorallen, an denen sie große Freude hatten.
Auch dem kleinen Burschen, der sie hierher geführt hatte, machten sie noch einige Geschenke, und ruderten dann, da ihnen die Flut noch immer günstig war, getrosten Mutes in den an der Mündung ziemlich breiten Cayapasfluss hinein.
Hier passierten sie bald ein kleines Indianerdorf, und Torquato, der Italiener, wäre am liebsten gelandet, um vor allen einmal die Sitten und Gebräuche dieser Stämme kennenzulernen, aber der Doktor war damit gar nicht einverstanden und redete dem Freund so lange zu, bis dieser endlich nachgab. Sie waren, wie der Doktor meinte, von den Indianern beim Vorbeirudern gar nicht beachtet worden und hätten jetzt die beste und vielleicht einzige Gelegenheit, an irgendeiner versteckten Stelle ihr Kanu zu landen und die Berge abzusuchen. Die Indianer liefen ihnen dabei nicht fort; zu denen konnten sie jeden Tag zurückkehren. Gold fanden sie gewiss, denn wo es das überhaupt gab, lag es sicher nicht nur an einer einzigen Stelle, sondern war vielmehr über die ganzen Berge verstreut. Fanden sie nun aber einen solchen Platz, so konnten sie den, wenn sie vorher nicht mit den Indianern verkehrt oder diese aufmerksam gemacht hatten, auch nachher nach Herzenslust und in aller Ruhe ausbeuten.
Torquato gab endlich nach; ihm lag ja besonders daran, dies wunderliche Land kennenzulernen – wie das geschah, war ihm gleichgültig.
Der Fluss war indessen hier ziemlich belebt, und in kurzen Abständen begegneten ihnen drei Kanus mit Cayapas-Indianern, die sie aber wahrscheinlich nur für Händler hielten, denn sie nickten ihnen zu und schienen sich nicht weiter um sie zu bekümmern. Weiter oben trafen sie später noch einzelne mit Fischen beschäftigt, die aber ebenso wenig Notiz von ihnen nahmen, und der Doktor schien recht gehabt zu haben, als er meinte, dass die Leute in Esmeraldas geneigt wären, überall Gefahren zu sehen, wo gar keine existierten.
„Nun sehen Sie“, lachte er, als sie an den Fischern vorüber waren, ohne auch nur angerufen zu werden, „was habe ich Ihnen denn gesagt? Drehte auch nur einer der Burschen den Kopf nach uns um? Gott bewahre! Fremde werden genug hier heraufkommen; Naturforscher sind, wie Sie gestern Abend gehört haben, schon verschiedene hier gewesen und keineswegs belästigt worden; was also haben wir zu fürchten, wenn wir uns eine Zeitlang in den Bergen aufhalten? Ich denke sogar, wir landen an irgendeinem der Häuser, in dessen Obhut wir unser Kanu zurücklassen können, und steigen dann ganz offen in die Berge hinein.“
„Und das Werkzeug?“
„Pah, das lassen wir eingeschlagen, wie es ist, und ich nehme es auf den Rücken – das sind Instrumente, die Natur zu erforschen, die Indianer wissen den Teufel davon, was man dazu braucht. Lassen Sie mich nur machen. Die Hauptsache ist, dass wir nicht die geringste Unruhe oder Verlegenheit zeigen, sondern keck und zuversichtlich unsern Weg gehen. Wer sich selber traut, dem trauen auch andere. Und wenn wir nachher in diesem weiten, wilden Lande da oben einen ganzen Monat lang in irgendeiner Felsspalte oder Schlucht sitzen, wer soll uns da finden? Kein Mensch.“
„Und wie schaffen wir nachher das Gold weg?“
„Lieber Torquato, machen Sie sich deshalb keine Sorge“, sagte der Doktor. „Sie wissen doch, dass ich eigentlich nur nach Ecuador gekommen bin, um Naturalien zu sammeln, und den Zweck werde ich natürlich nicht aus den Augen verlieren – alles Nötige dazu habe ich ja auch bei mir. Was wir dann finden, wird in Vogelbälge oder in Felle größerer Tiere gepackt – da gibt es tausend Mittel und Wege, das zu transportieren, und die Indianer sollen uns selber dabei helfen – das lassen Sie mich nur arrangieren; die Hauptsache ist jetzt, den richtigen Platz zu finden, und das scheint mir allerdings keine Kleinigkeit; denn hier beginnen schon die Hügel und es ist reine Glückssache, wo wir einfallen. Was meinen Sie, wollen wir uns rechts oder links wenden?“
„Nach der Richtung, die der Fluss läuft“, sagte der Italiener. „Es scheint mir fast, dass sich nach rechts die Hügel zu rasch dem Meere zu abflachen; ich denke, wir gehen lieber links hinein.“
„Ich glaube, Sie haben recht“, sagte der Doktor. „Links die Berge sehen auch höher aus und scheinen steiler und felsiger – dort müssen auch die Kordilleren liegen. Übrigens rücken wir hier verwünscht langsam vorwärts – es kann doch noch nicht Ebbe sei?“
„Wir haben hier gar keine Flut mehr“, sagte der Italiener. „Sehen Sie denn nicht, dass die Manglaren am Ufer fehlen? Wahrhaftig, das Wasser ist vollkommen süß und trinkbar. Jetzt müssen wir aber scharf rudern, wenn wir vorwärts kommen wollen.“
„Desto leichter haben wir es nachher stromab“, erwiderte der Doktor, sich mit allen Kräften in das Ruder legend. „Vorwärts, amigo, vorwärts – denken Sie nur immer daran, was für eine Wonne das nachher sein muss, wenn wir in so ein Goldnest geraten und das edle Metall löffelweise aus den Steinen herauskratzen können. Mir zuckt’s schon ordentlich in den Fingern, und ich kann die Zeit nicht erwarten, wo wir unsere Arbeit beginnen.“
Die beiden ruderten jetzt wirklich aus allen Kräften, bis sie gegen Mittag an eine Stromschnelle trafen, wo sie aussteigen und ihr Kanu über die Steine ziehen mussten. Hier und da sahen sie auch noch Häuser und Ansiedelungen am Ufer, sie hielten sich aber nirgends auf und landeten erst nachmittags an einer ziemlich öden und unbewohnten Stelle, wo sie das kleine Fahrzeug in die Büsche zogen und dann im Wald drin ein Feuer anzündeten.
Hier beschlossen sie, es dem Zufall zu überlassen, von welchem Punkt aus sie in die Berge steigen wollten. Zu dem Zweck gedachten sie in einer Stunde etwa wieder abzufahren und dann so lange zu rudern, bis sie eine menschliche Wohnung erreichten. Dort wollten sie ihr Kanu lassen und am nächsten Morgen ihren Marsch beginnen.
Ein solcher Platz fand sich aber nicht, denn bis in die späte Nacht hinein ruderten sie stromauf, ohne eine Wohnung weiter am Ufer zu finden.
Endlich mussten sie liegen bleiben, da es im Fluss selber zu viel Steine und niedergebrochenes Holz gab, das sie in der Dunkelheit nicht meiden konnten.
Nachdem sie ein paar Mal festgerannt waren und einmal ihr Kanu sich mit Wasser gefüllt hatte, beschlossen sie endlich, anzulegen und im Walde zu übernachten und dann am nächsten Morgen zu sehen, ob sie ihr kleines Fahrzeug hier lassen konnten oder noch einen besser gelegenen Platz aufsuchen müssten.
Glücklicherweise regnete es auch nicht mehr, und, die gespannten Gewehre neben sich – denn der Wald wurde ordentlich lebendig von den verschiedensten Tönen, als die Nacht völlig einbrach – warfen sie sich auf das feuchte, aber warme Moos und schliefen trotz all dem wunderlichen, fremdartigen Geräusch vortrefflich bis zum nächsten Morgen.
Jetzt wurde Kriegsrat gehalten. Am Ufer fanden sie in nächster Nähe allerdings eine Stelle, wo sie das Kanu bequem auf festes Land hinaufziehen und in den Büschen verstecken konnten. Der Platz war außerdem leicht wiederzufinden, denn gerade dort kam ein Bergbach aus den Hügeln herunter, und wenn sie diesem jetzt aufwärts folgten, konnte kein Mensch am ganzen Cayapasfluss ahnen, wo sie geblieben waren oder nach welcher Richtung sie sich gewandt hätten.
Beide kamen denn auch überein, diesem Plan zu folgen; ihr Kanu wurde also heraufgezogen und außer Sicht gebracht, um nicht von einem zufällig stromab kommenden Fahrzeug entdeckt zu werden.
Dann, als sie es an einem geschützten Platz untergebracht hatten, entzündeten sie weiter drin im Wald ein kleines Feuer, kochten sich ihre Frühstücksschokolade; schulterten dann ihre eben nicht leichte Last und stiegen frohen Herzens und im Gefühl vollständiger Sicherheit in die Berge hinein.
VIER
Das Marschieren in diesen Hügeln mochten sie sich übrigens doch leichter gedacht haben, als es sich hier zeigte; für nicht an diese Vegetation gewöhnte Europäer war es wenigstens keine Kleinigkeit, darin herumzuklettern. Bald blieben sie hier mit ihren Lasten hängen, bald dort, bald lag ihnen ein umgestürzter Baum quer im Weg, um den herum sie sich erst mit ihren Messern die Bahn frei machen mussten.
Und diese Stacheln und Dornen überall! Der Doktor hatte sich die linke Hand an einer Palmenart schon so zerstochen, dass er in einem fort vor sich hin fluchte, und der Italiener war gleich anfangs mit dem Fuß in einer Liane hängen geblieben und dermaßen gestürzt, dass er sich das ganze Gesicht aufgeschlagen hatte.
Aber es konnte eben nichts helfen, diese Unbequemlichkeit des Bergsteigens musste erst überwunden werden, nachher durften sie auch hoffen, lichteren Wald und dadurch bequemere Bahn zu finden.
Jetzt fing es auch wieder an zu regnen, aber das schadete nichts, denn Tau und Regentropfen hingen noch fortwährend in solcher Masse an den Büschen, durch die sie sich ihre Bahn brechen mussten, dass sie ohnehin vollständig durchnässt waren. Auf etwas mehr oder weniger kam es nicht mehr an.
So folgten sie dem kleinen Wasserlauf, an dessen Mündung ihr Kanu versteckt lag, in die Hügel hinein, höher und höher hinauf, und der junge Italiener sah hier keine Möglichkeit, wie irgendein Mensch der Welt da Gold finden könne, denn der Boden war fußhoch mit verfaultem Laub bedeckt, darunter weich, an vielen Stellen ordentlich schwammig.
Je weiter sie dann in die Hügel hineinkamen, desto felsiger wurde der Grund, und um zehn Uhr morgens lagerten sie, vollständig erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, auf einer breiten Felsplatte, neben der ein starker Quell herausströmte und eine tiefe Rinne in den Boden gerissen hatte.
Natürlich stärkten sie sich mit Speise und Trank, um dann das Terrain zu untersuchen, mit der Hoffnung, vielleicht schon hier goldhaltige Erde zu finden. Während Torquato eine Pfanne nahm und an der Quelle zu waschen anfing, stocherte der Doktor mit seinem Messer zwischen den Felsen umher, um nur erst einmal die Spur des ersehnten Metalls zu finden – aber beide ohne den geringsten Erfolg. Kein Stäubchen Gold ließ sich entdecken, wenn sie auch den schwarzen Stahlsand, zwischen dem sich das Gold so häufig finden soll, in ziemlicher Menge antrafen.
„Hier ist nichts“, sagte der Doktor endlich, nachdem sie etwa drei Stunden mit ihrer Untersuchung verloren, „wir müssen höher hinauf, Torquato; der Grund scheint mir hier noch zu weich und ausgewaschen.“
„Vielleicht liegt es tiefer“, meinte der junge Italiener.
„Dann müssten wir oben wenigstens ein Zeichen davon finden“, sagte kopfschüttelnd der Doktor. „Nein, wir versäumen hier nur unsere schöne Zeit. Kommen Sie, in Kalifornien findet man das Gold auch nur viel weiter oben in den Bergen.“
Damit waren die Untersuchungen hier beendet, und beide stiegen wieder bis zu einbrechender Dunkelheit bergan. Aber die Hänge waren nicht mehr steil, sondern das ganze Land war mit wellenförmigen Hügeln bedeckt, die, je weiter sie sich den Kordilleren zuzogen, mehr und mehr hoben.
Zuzeiten wanderten sie auch stundenlang wie auf ganz ebenem Lande, und da sich der kleine Wasserlauf, dem sie bisher gefolgt waren, hier in sechs, acht Läufe teilte, so fürchtete der Italiener schon, dass sie sich verirren könnten.
Der Doktor dagegen behauptete, dass sie von diesem Tal aus nur irgendeinem laufenden Wasser zu folgen hätten, um sicher den nämlichen Bach zu erreichen, an dem ihr Kanu versteckt lag, und darin hatte er vollkommen recht.
Sie hielten auch nicht eher an, bis es völlige Nacht geworden, denn schon seit etwa fünf Uhr nachmittags goss es, was vom Himmel herunter wollte, und an ein Feuer anzünden durften sie doch nicht denken.
Heut Abend ging das auch; bei der warmen Nacht dachten beide – überhaupt zum Umfallen müde – gar nicht an ein Abendessen, warfen sich im Schutz eines dichtlaubigen Baumes auf ihre wollene Decke und waren bald trotz des Regens ruhig eingeschlafen; aber am nächsten Morgen stellte sich der Hunger umso stärker ein, und das Wenige, was sie noch an Lebensmitteln bei sich führten, musste dabei kalt verzehrt werden.
An Wild hatten sie indessen schon einiges getroffen – Pavas, eine Art kleiner Truthühner – Affen gab es in Masse – aber sie ekelten sich davor und keiner wollte sie essen. Auch einen großen prächtigen Pauchi trafen sie gar nicht weit vom Fluss an, scheuten sich aber damals noch, ihn zu schießen, weil sie die Indianer aufmerksam zu machen fürchteten.
Jetzt aber hielten sie sich weit genug von allen Ansiedelungen entfernt, und es wurde deshalb beschlossen, an diesem Morgen, ehe man noch weiter marschierte, den nächsten Teil des Waldes nach Wild abzusuchen.
Übrigens waren beide auf das Äußerste erstaunt, in der ganzen Wildnis, durch die sie nun die Zeit über gezogen waren, auch nicht eine einzige Schlange getroffen zu haben. Wo blieben jetzt die Erzählungen, mit denen man sie in Esmeraldas fürchten gemacht, und was nützten ihnen die dicken, schweren, auch schon vollständig durchweichten Ledergamaschen?
Auf der Jagd waren sie indessen glücklicher als beim Goldsuchen, denn als der Doktor noch früh am Morgen den Platz, wo sie die Nacht gelagert, kaum verlassen hatte, begegnete er einem kleinen Rudel Tatabras, einer wilden Schweineart, und erlegte eines davon. Jetzt hatten sie Fleisch genug und konnten sogar nicht einmal mehr gebrauchen, da es ihnen in dem feuchten und warmen Klima doch nur zu rasch verdorben wäre.
Nicht weit davon erreichten sie ein neues Tal, das von Osten herüberkam und mehr felsigen Boden und raue Seitenwände zeigte. Der obere Teil war allerdings noch mit den herrlichen und wahrhaft riesigen Bäumen dieses Landstrichs bestanden; mächtige Biguarris, Kendes, Robles und wie sie alle heißen, reckten ihre säulenartigen Schäfte empor, und dazwischen wucherten wohl zehn oder zwölf Arten der zierlichsten Palmen und woben ihre Wipfel an manchen Stellen so dicht ineinander, dass die Sonne nicht einmal imstande war, sich in mehr als vereinzelten Strahlen hier und da auf den Boden zu stehlen.
Der Grund selber schien aber, wenn hier überhaupt Gold in den Bergen lag, für das Auffinden wie gemacht. Quarzgestein trat außerdem überall zutage, das man so häufig in Verbindung mit Gold antrifft.
Der Doktor, der darin schon einen Überblick zu haben glaubte, sagte auch: Wenn wir hier nichts finden, finden wir nirgends was!“, und es wurde beschlossen, an dieser Stelle ein stehendes Lager aufzuschlagen, was in solchen tropischen Ländern mit nicht großer Schwierigkeit verbunden ist.
Die Hauptbedingung blieb: einen trockenen Platz auszusuchen, wo sie kein laufendes Wasser erreichen konnte, denn sich gegen den Regen zu schützen, war nicht so schwer; dann wurden Stangen abgehauen und ein Gestell hergerichtet, und nun fällten sie mit dem kleinen Beil, das sie bei sich führten, ein paar kräftige Palmen, die ihnen Blätter zu ihrem Dach lieferten. Allerdings ging das nicht so leicht, denn die äußere Rinde des Palmenstammes ist eisenhart, und sie mussten ziemlich lange daran hacken.
In Zeit von einer halben Stunde waren zwei tüchtige Palmen gefällt, die mächtigen Blätter wurden dann abgehauen und von der Spitze herab gespalten, dass sie zwei Hälften bildeten, und nun das Dach so damit belegt, um selbst einem ecuadorianischen Regen Trotz zu bieten.
Andere Palmenblätter dienten nachher dazu, ein trockenes und weiches Lager herzurichten, und lange vor Abend hatten sie nicht allein die neue Wohnung fertig, sondern auch noch ein festgeflochtenes „Küchendach“ hergerichtet, unter das sie die Kohlen stecken konnten, um sie vor Regen zu schützen.
An dem Abend beschlossen sie auch, keine weitere Arbeit mehr vorzunehmen, und nur der Doktor, während sich Torquato auf dem weichen Lager behaglich ausstreckte, beschäftigte sich noch damit, ein paar prachtvolle Schmetterlinge und Käfer zu fangen und die Letzteren in Spiritus aufzubewahren.
Und was für herrliche Leuchtkäfer kamen herbeigesurrt, als es erst vollständig dunkel wurde! Wahre Prachtexemplare – und so leicht waren sie zu fangen, denn sie flogen nach dem Feuerschein, den sie umschwirrten, und gar nichts selten sogar bis unter das Regendach, sodass der Italiener zwei mit der Hand erfassen konnte.
Dieser hatte eigentlich die erste Nacht ein wenig Angst vor den angedrohten Tigern gehabt, die den Wald füllen sollten, aber nicht einmal das Geheul eines solchen ließ sich hören, und ebenso wenig konnten sie irgendwo im Wald, in dem weichen Boden, die Fährte auch nur eines einzigen dieser gefährlichen Raubtiere entdecken.
Es ging ihnen mit den Tigern wie mit den Schlangen – gab es wirklich von beiden Arten hier in der Wildnis, so schienen sie außerordentlich zurückhaltend zu sein und sich mit den Fremden gar nicht befassen zu wollen. Die Nacht verging ihnen auch so ruhig, als ob sie in einer volkreichen Stadt im vollen Schutz aller Sicherheitsbehörden geschlafen hätten.
Und wie malerisch war der Platz gelegen! Gleich über ihrem kleinen Rancho, wie derartige Laubdächer genannt werden, stiegen zwei prachtvolle Palmen empor, und dichtes, breitblättriges Gebüsch umgab sie so unmittelbar, dass es im Rücken und an den beiden Seiten eine richtige Wand bildete. Gleich vor dem Platz rieselte der Quell, und auf der andern Seite des Wassers ragte eine etwa zwanzig Fuß hohe Felswand schroff und steil empor, während darüberhin mächtige Blattgewächse ihr wunderlich geformtes Grün herüberhingen und dünne Palmenschösslinge darüber hinausragten und ihre Federkronen im Winde schüttelten.
Die Stelle schien wie gemacht für ein heimliches Versteck, und wer von den Indianern hätte hier ihre Spur finden, ja ihnen nur hinein in die Berge folgen wollen?
Sie säumten auch jetzt nicht lange, ihre Arbeit zu beginnen. Lebensmittel hatten sie noch für einige Tage, und je eher sie sich von dem Erfolg ihres kecken Unternehmens überzeugten, desto besser.
Gleich nach dem Frühstück schulterten sie deshalb ihr jetzt in Ordnung gebrachtes Handwerkzeug und gingen dann eine kurze Strecke an dem Wasserlauf hinauf, bis sie zu einer Stelle kamen, die ihnen passend und versprechend genug aussah. Dort untersuchten sie zuerst mit der Pfanne den Sand und Kies und ließen sich nicht abschrecken, als sie darin nichts fanden. Der Doktor wusste aus seinen kalifornischen Erfahrungen, dass das schwere Gold fast immer tiefer im Boden auf einer Tonschicht oder dem Felsen lag, und die musste deshalb erst ausgestochen werden.
Die beiden Goldsucher begannen auch deshalb ein ordentliches, geräumiges und viereckiges Loch auszuwerfen, wuschen dabei dann und wann die tieferliegende Erde aus und hörten in ihrer Arbeit selbst nicht auf, als es den Nachmittag wieder tüchtig zu regnen anfing.
Was schadete ihnen das? Trocken waren sie doch die ganze Zeit noch nicht geworden. In der Grube sammelte sich freilich das Wasser, aber es musste eben ausgeschöpft werden, und tiefer und tiefer wühlten sie sich in den Boden ein – trotzdem fanden sie kein Gold, und die Nacht überraschte sie bei der Arbeit.
Am nächsten Morgen stand etwa ein Fuß Wasser in der Grube, das erst wieder beseitigt werden musste, dann hackten und schaufelten sie, bis sie auf harten Felsen kamen – aber Gold fanden sie nicht. Nur ein paar kleine Körnchen entdeckte der Doktor in der Pfanne, und so sehr auch Torquato darüber den Kopf schüttelte, erfüllte
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 14.11.2013
ISBN: 978-3-7309-6208-4
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