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Zum Buch

Detailiert und wohlinformiert als langjähriger Biograf schildert John Forster Leben und Schreiben des Erfolgsautors Charles Dickens in drei umfassenden Bänden.

 

Band 1:

 

Kindheit (1812 – 1822). Harte Erfahrungen im Knabenalter (1822 – 1824). Schultage und Eintritt ins Leben (1824 – 1830). Die Galerie der Berichterstatter und die Zeitungsliteratur (1831 – 1835). Erstes Buch und Entstehung Pickwicks (1836). Er schreibt die Pickwick Papers (1837). Zwischen Pickwick und Nickleby (1837 und 1838). Oliver Twist (1838). Nicholas Nickleby (1838 und 1839). Während und nach Nickleby (1838 und 1839). Neue literarische Pläne (1839). Der Raritätenladen (1840 und 1841). Devonshire Terrace und Broadstairs (1840). Barnaby Rudge (1841). Öffentliches Festmahl in Edinburg (1841). Abenteuer in den Hochlanden (1841). Wieder in Broadstairs (1841). Vorabend der Reise nach Amerika (1841). Erste amerikanische Eindrücke (1842). Spätere Amerikanische Eindrücke (1842). Philadelphia, Washington und der Süden (1842). Kanalbootfahrten: auf dem Wege nach dem fernen Westen (1842). Der ferne Westen: nach dem Niagarafall (1842). Niagara und Montreal (1842).

 

In neuer deutscher Rechtschreibung und Korrektur gelesen.

 

Kindheit (1812 – 1822)

Charles Dickens, der volkstümlichste Novellist unseres Jahrhunderts und einer der größten Humoristen, die England hervorgebracht hat, wurde Freitag den 7. Februar 1812 in Landport auf Portsea geboren.

Sein Vater, John Dickens, war damals, als Beamter in dem Zahlamt der Marine, in dem Dockyard von Portsmouth angestellt. Er war mit der Dame, welche später seine Frau wurde, Elisabeth Barrow, durch deren älteren Bruder, Thomas Barrow, der ebenfalls eine Anstellung in der Marineverwaltung hatte, bekannt geworden und hatte von ihr im Ganzen eine Familie von acht Kindern, von denen zwei in jugendlichem Alter starben. Auf das Älteste, Fanny (geb. 1810), folgte Charles (in dem Taufregister von Portsea als Charles John Huffham eingetragen, obgleich er, in den sehr seltenen Fällen, in welchen er sich mit diesem Namen zeichnete, denselben Huffam schrieb); dann ein anderer Sohn, namens Alfred, der jung starb; Letitia, geb. 1816; eine andere Tochter, Harriet, die ebenfalls jung starb; Frederick, geb. 1820; Alfred Lamert, geb. 1822, und Augustus, geb. 1827, von denen allen jetzt nur noch die zweite Tochter am Leben ist.

Walter Scott erzählt in dem Fragment seiner Selbstbiografie, wo er von den gegen seine Lahmheit angewandten seltsamen Heilmitteln spricht, dass er sich erinnere, als noch nicht ganz dreijähriger Junge auf dem Fußboden des Wohnzimmers in dem Pachthause seines Großvaters gelegen zu haben, eingewickelt in ein Schafsfell, das noch warm von dem Leibe des Schafes kam.

David Copperfields Gedächtnis reicht noch weiter hinauf. Wir hören von ihm, dass er weit genug in die Ferne seiner Kindheit zurückschaut, um darin seine Mutter und deren Dienstmagd unterscheiden zu können, und zwar in verkleinerter Gestalt für sein Auge, weil sie sich auf den Boden niederbeugen oder knien, während er selbst mit schwankendem Schritt von der einen zur andern geht. Er gibt zu, dass dies Einbildung sein möge, obgleich er der Ansicht ist, dass viele sehr junge Kinder eine ganz staunenswerte scharfe und genaue Beobachtungsgabe besitzen und meint, dass die Erinnerung der meisten Menschen viel weiter in solche Zeiten zurückgehen könne, als manche glauben.

Was er jedoch hinzufügt, ist sicherlich keine Einbildung. »Sollte es aus dem, was ich in dieser Erzählung niederlegen werde, hervorgehen, dass ich als Kind scharf beobachtete oder dass ich als Mann eine lebendige Erinnerung an meine Kindheit habe, so mache ich unzweifelhaft auf diese beiden Charaktereigentümlichkeiten Anspruch.« So anwendbar dies auf David Copperfield sein mochte, so einfach und ungekünstelt wahr war es von Charles Dickens.

Er erzählte mir oft, er erinnere sich des kleinen Gartens vor dem Hause in Portsea, das er verließ als er zwei Jahre alt war und wo er, von dem Kindermädchen durch ein niedriges mit der Gartenfläche fast auf demselben Niveau liegendes Küchenfenster beobachtet, mit etwas zu essen in der Hand, in Begleitung seiner älteren Schwester umherlief. Eines Tages trug man ihn aus dem Garten hinaus, um ihm zu zeigen, wie die Soldaten exerzierten und ich entsinne mich, dass er, als wir zu der Zeit da er »Nickleby« schrieb, zusammen in Portsmouth waren, die Gestalt des Paradeplatzes genau wieder erkannte, den er ein Vierteljahrhundert vorher an derselben Stelle als Kind gesehen hatte.

Als sein Vater durch seine Amtspflichten wieder von Portsmouth nach London geführt wurde, bezog die Familie eine Mietwohnung in Norfolk-Street, bei dem Middlesex-Hospital, und auch das lebte in des Kindes Gedächtnis fort, dass sie Portsea im Schnee verlassen hatten. Nicht lange nachher änderten sie von Neuem ihren Wohnort, da der ältere Dickens in dem Dockyard in Chatham angestellt wurde.

Das Haus, das er in Chatham bewohnte, ein gewöhnlich aussehendes Gebäude mit geweißter Fronte und einem kleinen Vorder- und Hintergarten, lag in St. Mary's Place, sonst auch der Brook genannt, und stieß an einen Betsaal der Baptisten, Providence-Chapel geheißen, in der ein gleich zu erwähnender Mr. Giles Pfarrer war. Charles war damals vier bis fünf Jahre alt und er blieb hier bis zu seinem neunten Jahre. Hier empfing er die dauerndsten Eindrücke seiner Jugend; und die Umgebung, in welcher er starb, war dieselbe, die ihn zu Anfang seines Lebens am stärksten beeinflusst hatte.

Das Gadshill-Place genannte Haus steht auf dem höchsten Punkte der Landstraße zwischen Rochester und Gravesend. Oft waren wir zusammen daran vorbeigereist, viele Jahre ehe es seine Heimat wurde und nie ohne eine Anspielung auf das, was er mir sagte, als ich es zuerst in seiner Gesellschaft sah: dass es nämlich in seinen Kindheitserinnerungen immer eine hervorragende Stelle eingenommen. Denn als er, mit seinem Vater von Chatham kommend, es zuerst gesehen und mit Bewunderung daran emporgeblickt, habe man ihm versprochen, er könne selbst in diesem oder einem ähnlichen Hause wohnen, wenn er ein Mann werde und nur fleißig genug arbeiten wolle. Und eine lange Zeit war dies sein Ehrgeiz. Es ist dies eine gefällige Anekdote, die in authentischer Weise bestätigt wird durch den Anfang eines seiner Essays über das Reisen im Auslande, wo auf der Straße nach Canterbury eine Vision seines früheren Selbst seinen Weg kreuzt.

So eben war die alte Landstraße und so frisch waren die Pferde und so schnell fuhr ich, dass wir die Mitte des Weges zwischen Gravesend und Rochester erreicht hatten und der breiter werdende Fluss die Schiffe mit weißen oder rauchschwarzen Segeln der See entgegenführte, als ich seitab am Wege einen sehr sonderbaren kleinen Jungen bemerkte.

»Holla!«, sagte ich zu dem sehr sonderbaren kleinen Jungen. »Wo wohnst du?«

»In Chatham«, sagt er.

»Was machst du da?«, sage ich.

»Ich gehe in die Schule«, sagt er.

Ich nahm ihn flugs zu mir in den Wagen und wir fuhren weiter. Hierauf sagt der sehr sonderbare kleine Junge: »Das ist Gads-Hill, wo wir jetzt hinkommen, wo Falstaff hinauszog, um die Reisenden auszuplündern und davon lief.«

»So weißt du etwas von Falstaff?«, sagte ich.

»Alles«, sagte der sehr kleine sonderbare Junge. »Ich bin alt (neun Jahre) und lese alle möglichen Bücher. Aber bitte, lassen Sie uns oben auf dem Hügel still halten und das Haus dort ansehen!«

»Du bewunderst das Haus?«, sagte ich.

»Bewundern!«, sagte der sehr kleine sonderbare Junge. »Schon als ich nicht mehr als halb so alt war wie jetzt, war es ein Vergnügen für mich, wenn ich hingenommen wurde und das Haus ansehen durfte. Und nun ich neun bin, gehe ich allein hin, um es anzusehen. Und so lange ich mich erinnern kann, hat mein Vater, der sah wie gern ich es mochte, oft zu mir gesagt: Wenn du sehr große Ausdauer hast und sehr fleißig arbeitest, kannst du vielleicht eines Tages darin wohnen. Aber das ist unmöglich!«, sagte der sehr sonderbare kleine Junge, indem er tief Atem holte und nun aus dem Fenster hinaus das Haus mit aller Macht anstarrte.

Es überraschte mich nicht wenig, dies von dem sehr sonderbaren kleinen Jungen zu hören; denn zufälligerweise war dies Haus mein Haus und ich habe Ursache zu glauben, dass das, was er sagte, wahr ist.

Der sonderbare kleine Junge war in der Tat er selbst. Er war ein sehr kleiner und sehr kränklicher Knabe. Er war heftigen Krampfanfällen unterworfen, die ihn zu jeder körperlichen Anstrengung unfähig machten. Er war nie ein guter kleiner Kricketspieler. Er zeichnete sich nie aus beim Knipfern, Kreiselwerfen oder Schwarzen Mann. Aber es machte ihm viel Vergnügen, den andern Jungen, meist Offizierssöhnen, bei diesen Spielen zuzusehen, während er selbst las, und er war immer überzeugt, dass jene frühe Kränklichkeit in einer Beziehung von unschätzbarem Nutzen für ihn gewesen sei, weil seine schwache Gesundheit ihm eine starke Neigung zum Lesen eingeflößt habe.

Aus dem weitern Verlauf meiner Erzählung wird sich nicht ergeben, dass er seinen Eltern viel verdankte, oder dass er mehr war, als wie er sich in seinem ersten Briefe an Washington Irving beschreibt, »ein sehr kleiner und nicht eben zu freundlich behandelter Junge«; aber man hat ihn oft sagen hören, dass sein erstes Verlangen nach Erkenntnis und seine erste Leidenschaft für Bücher durch seine Mutter in ihm erweckt wurden, die ihm nicht nur die Anfangsgründe des Englischen, sondern etwas später auch die des Lateinischen lehrte. Sie unterrichtete ihn eine lange Zeit regelmäßig jeden Tag und sie unterrichtete ihn seiner Meinung nach vortrefflich.

Ich stellte in Bezug hierauf einmal eine Frage an ihn, die er in fast denselben Worten erwiderte, welche er fünf Jahre später David Copperfield in den Mund legte. »Ich erinnere mich dunkel, dass sie mir das Alphabet lehrte und wenn ich die fetten schwarzen Buchstaben in dem Lesebuch sehe, macht die verwirrende Neuheit ihrer Gestalt und die bequeme Gutmütigkeit des O und S mir immer noch denselben Eindruck wie ehemals.«

Dann folgte die Kinderschule, eine Schule für Knaben und Mädchen, die er mit seiner Schwester Fanny besuchte und die sich in einer Rome-Lane genannten Straße befand. Als er im Mannesalter wieder nach Chatham kam und sich nach dieser Straße umsah, fand er, dass man sie vor »undenklichen Zeiten« niedergerissen habe, um Raum für eine neue Straße zu schaffen; aber aus der Ferne der Zeiten stieg nichtsdestoweniger eine dunkle Vorstellung empor, dass die Schule über einem Färberladen gewesen sei, dass er eine Treppe dazu hinaufging, dass er sich dabei oft gegen die Knie gestoßen und dass er, indem er den Schmutz von einem sehr unsichern kleinen Schuh abzukratzen suchte, gewöhnlich mit seinem Bein über das Schabeisen kam.

Andre ähnliche Kindheitserinnerungen sind ihm gelegentlich in seinen kleineren Schriften entschlüpft, deren Leser sich erinnern mögen, wie lebendig er Teile seiner Knabenzeit in seiner Fantasie über den Weihnachtsbaum neu belebt hat und kaum vergessen haben werden, was er in seiner gedankenvollen kleinen Abhandlung über »Ammenmärchen« von den zweifelhaften Orten und Leuten sagt, mit denen Kinder bekannt werden, ehe sie sechs Jahre alt sind und zu denen sie allnächtlich von Dienstboten, unter deren Aufsicht sie stehen, gegen ihren Willen gezwungen werden, zurückzukehren.

Und hat er nicht auch verständnisvoll erzählt, dass die Kindheit das was sie sieht übertreibt? Wie er meinte, die Hochstraße von Rochester müsse mindestens so breit sein wie Regent Street in London, und nachher fand, dass sie wenig mehr als eine Gasse war; wie die öffentliche Uhr darin, die er für die schönste Uhr in der Welt hielt, sich später als eine Uhr mit einem so kläglichen Mondgesicht herausstellte, wie Menschenaugen je sahen, und wie er in dem Rathause, das ihm vormals als ein so herrliches Gebäude erschien, dass er sich darin das Modell vorstellte, wonach der Genius der Lampe den Palast für Aladdin gebaut, mit Schmerzen nichts als einen elenden kleinen Haufen von Ziegelsteinen, einer toll gewordenen kleinen Kapelle ähnlich, erkennen musste.

Allein doch nicht mit so großen Schmerzen, wenn die weisen Nachgedanken sich einstellten. »Ach, welches Recht hatte ich, mit der Stadt zu grollen, dass sie mir verändert schien, da ich selbst so verändert zu ihr zurückkehrte. Meine ganze frühe Lektüre, alle meine frühen Fantasien schlossen sich an diesen Platz an und ich nahm sie so voll unschuldiger Deutung und arglosem Glauben mit mir fort und brachte sie so entstellt und abgenutzt zurück, so viel weiser und so viel schlechter!«

Und hier will ich sogleich ausdrücklich bemerken, was schon angedeutet wurde, dass, grade wie Fielding sich und seine Verhältnisse im »Capitän Booth« und »Amalia« beschrieb und immer beteuerte, dass er in seinen Büchern weiter nichts geschrieben, als was er im Leben gesehen, so dasselbe von Dickens mit ganz besonderer Beziehung auf »David Copperfield« gesagt werden kann.

Man hat seit seinem Tode mancherlei Vermutungen angestellt über den Zusammenhang der Lebensgeschichte David Copperfields mit seiner eigenen, und sich bemüht, die häufig wiederkehrende Darstellung des Gefängnislebens, das er, mit seinem Humor und seinem Pathos, mit so wunderbarer Lebenstreue geschildert hat, aus wirklichen Erfahrungen zu erklären und aus dem was David in der Schule an Steerforth über die Geschichten erzählt, die er in seiner Kindheit gelesen, nachzuweisen, was sein eignes Genie besonders beeinflusst habe.

In allen diesen Dingen ist nicht nur Wahrheit, sondern die Identität ging, wie sich gleich herausstellen wird, tiefer als irgendjemand gedacht hatte, und umfasste Erfahrungen, die in der Wirklichkeit nicht weniger außerordentlich waren, als sie in der Dichtung zu sein schienen.

Was für ›Lektüre‹ und ›Fantasien‹ er von Chatham mit fortnahm, kann diese Autorität uns sagen. Es ist eine der vielen Stellen in »Copperfield«, die wörtlich wahr sind und hier ist der Ort sie einzuschalten.

»Mein Vater hatte eine kleine Büchersammlung in einem kleinen Zimmer im obern Stock gelassen, zu dem ich Zutritt hatte (denn es stieß an mein eigenes) und um das niemand sonst im Hause sich je bekümmerte. Aus diesem gesegneten kleinen Zimmer kamen Roderich Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, der Vicar von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas und Robinson Crusoe hervor, eine glorreiche Schar, um mir Gesellschaft zu leisten. Sie hielten meine Fantasie lebendig und meine Hoffnung auf etwas jenseits jenes Ortes und jener Zeit – sie und die »Arabischen Nächte« und die »Erzählungen der Genien« – und fügten mir kein Übel zu; denn was etwa Übles in ihnen war, war nicht für mich da; ich wusste nichts davon.

Ich wundere mich jetzt, wie ich inmitten meines verworrenen Brütens über wichtigern Gegenständen Zeit fand, diese Bücher so zu lesen wie ich sie las. Es ist mir sonderbar, wie ich mich je in meinen kleinen Leiden (die für mich große Leiden waren) damit trösten konnte, dass ich meine Lieblings-Charaktere in denselben personifizierte ... Ich bin eine ganze Woche lang Tom Jones (ein kindlicher Tom Jones, ein harmloses Geschöpf) gewesen. Ich habe, wie ich wahrhaftig glaube, meine eigne Vorstellung von Roderich Random einen ganzen Monat lang in einem Zuge durchgeführt. Ich verschlang mit gierigem Behagen einige Bände Reisebeschreibungen – ich vergesse jetzt, welche – die in jenen Bücherbrettern waren; und ich erinnere mich, dass ich viele Tage lang in meiner Region unsres Hauses umherwanderte, bewaffnet mit dem Mittelstück aus einem alten Stiefelblock, als vollkommene Personifikation eines Capitäns der brittischen Marine, der Gefahr läuft, von Wilden überfallen zu werden, und entschlossen ist, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen ...

Wenn ich daran denke, so steigt vor meiner Seele immer das Bild eines Sommerabends auf; die Jungen spielen auf dem Kirchhof und ich sitze auf meinem Bette, wie auf Leben und Tod lesend. Jede Scheune in der Nachbarschaft, jeder Stein in der Kirche und jeder Fußbreit des Kirchhofs stand in meinem Geiste in einer gewissen Beziehung zu diesen Büchern und stellte einen in denselben berühmt gewordenen Ort dar. Ich habe Tom Pipes den Kirchturm hinauf klettern sehen; ich habe Strap belauscht, wie er mit seinem Ranzen auf dem Rücken an dem Gartentor ausruht, und ich weiß, dass Commodor Trunnion seinen Club mit Mr. Pickle in der Gaststube unsrer kleinen Dorfkneipe hatte.«

Jedes Wort dieser persönlichen Erinnerung war als Tatsache niedergeschrieben, mehrere Jahre ehe es seine Stelle in »David Copperfield« fand; die einzige Abänderung in der Dichtung bestand in der Auslassung des Namens einer um jene Zeit veröffentlichten billigen Ausgabe der Novellendichter, mittelst deren sein Vater glücklicherweise der Besitzer eines so großen Haufens literarischer Schätze in seiner kleinen Büchersammlung geworden war.

Das gewöhnliche Resultat erfolgte. Das Kind fing selbst zu schreiben an und erwarb in seinem kindischen Kreise Ruhm durch eine Tragödie Namens Misnar, Sultan von Indien, die sich auf eine der »Erzählungen der Genien« (ohne Zweifel in sehr wörtlicher Weise) gründete.

Doch war dies nicht seine einzige Auszeichnung. Er besaß ein solches Geschick im Erzählen von Geschichten aus dem Stegreif und trug kleine komische Lieder so vortrefflich vor, dass man ihn zu Hause und anderswo, der wirksameren Entfaltung seiner Talente willen, auf Stühle und Tische zu heben pflegte, und als er mir dies während einer der Dreikönigstags-Gesellschaften an dem Geburtstage seines ältesten Sohnes zuerst erzählte, sagte er, er erinnere sich nie daran, ohne dass seine schrille kleine Kinderstimme ihm wieder in den Ohren klinge und erröte zu denken, wie unausstehlich er für viele harmlose erwachsene Leute gewesen sein müsse, die aufgefordert wurden, ihn zu bewundern.

Sein Hauptbeförderer in diesen Dingen war ein junger Mann von Talent, namens James Lamert, viel älter als er selbst, Stiefsohn seiner Tante und daher eine Art Vetter und der große Gönner und Freund seiner Kindertage. Mary, die älteste Tochter Charles Barrows, der selbst ein Lieutenant in der Kriegsflotte war, war in erster Ehe mit einem Commodor der Kriegsflotte, namens Allen, verheiratet gewesen; nachdem dieser bei Rio Janeiro ertrunken war, hatte sie sich zu ihrer Schwester, der Frau des Beamten im Zahlamt der Marine, nach Chatham begeben, wo sie sich später in zweiter Ehe mit Dr. Lamert, einem Militärarzt, verheiratete, dessen Sohn James, auch nachdem er in das Kadettenhaus nach Sandhurst geschickt war, Chatham noch von Zeit zu Zeit besuchte. Er hatte eine Neigung für theatralische Aufführungen, und da der zweite Mann seiner Stiefmutter sein Quartier in dem Artilleriehospital in Chatham, einem weitläufigen, sonst damals fast unbewohnten Gebäude hatte, fehlte es nicht an Räumlichkeiten, wo er seine Darstellungen veranstalten konnte. Der Stabsarzt selbst nahm daran Teil und man wird sein Porträt im Pickwick wiederfinden.

Von Lamert wurde Dickens, wie ich ihn oft habe sagen hören, in sehr zartem Alter ins Theater genommen. Er konnte indes kaum jünger gewesen sein, als Charles Lamb, der sich erinnerte, mit sechs Jahren den »Artaxerxes« gesehen zu haben, und ganz gewiss nicht jünger als Sir Walter Scott, der erst vier Jahre alt war, als er Shakespeares »Wie ihr wollt« in dem Theater in Bath aufführen sah und sich erinnerte, laut ausgerufen zu haben: Sind sie nicht Brüder?, als der Anfang des Kampfes zwischen Orlando und Oliver ihm ein Ärgernis gab.

Aber jedenfalls war er alt genug, um sich zu entsinnen, wie sein Herz vor Schrecken klopfte, als der böse König Richard, gegen den tugendhaften Richmond auf Leben und Tod kämpfend, sich an die Loge, in der er saß, zurückzog und dagegen stieß; und spätere Besuche in demselben Heiligtum enthüllten ihm, wie er uns erzählt, viele wundersame Geheimnisse, »worunter nicht die am wenigsten furchtbaren waren, dass die Hexen im »Macbeth« eine schreckenerregende Ähnlichkeit hatten mit den Thanen und andern eigentlichen Bewohnern Schottlands und dass der gute König Duncan nicht in seinem Grabe ruhen konnte, sondern beständig daraus hervorkam und unter einem andern Namen wieder erschien.

Während der beiden letzten Jahre von Dickens Aufenthalt in Chatham wurde er in eine Schule geschickt, welcher der bereits genannte junge Baptistenprediger, Mr. William Giles, vorstand. Sein Bild aus dieser Zeit steht klar vor meiner Seele, als das eines gefühlvollen, nachdenklichen, schwächlichen kleinen Jungen, mit ungewöhnlicher Kenntnis und Fantasie für ein solches Kind und mit einer gefährlichen Art von umherschweifendem Verstand, den ein Lehrer zum Guten oder Bösen, zu Glück oder Elend wenden konnte, je nachdem er ihn leitete.

Übrigens scheint der Einfluss von Mr. Giles, so weit er eben ging, ein vorteilhafter gewesen zu sein. Charles selbst empfand es in spätern Jahren nicht ohne Dankbarkeit, dass dieser erste seiner Lehrer in seiner ziemlich liebeleeren Kindheit ihn für einen Knaben von Talent erklärt hatte, und als sein alter Lehrer ihm um die Zeit, als ungefähr die Hälfte der »Pickwickier« veröffentlicht war, eine silberne Schnupftabaksdose schickte, mit der bewundernden Inschrift »An den unvergleichlichen Boz«, erinnerte ihn dies an das viel köstlichere Lob, das er bei seinem ersten Jahresexamen in Mr. Giles’ Schule davon getragen, als seine Deklamation eines Stückes aus dem Humourist’s Miscellany, über Doktor Bolus, ihm, falls seine jugendliche Eitelkeit ihn nicht täuschte, ein doppeltes Dacapo errungen. Eine Gewohnheit (die einzige schlechte, die Mr. Giles ihm beibrachte), eine Zeitlang in äußerst mäßigen Dosen den »Irish Blackguard« genannten Schnupftabak zu gebrauchen, war das Resultat dieses Geschenks seines alten Lehrers; aber er gab sie nach einigen Jahren auf und kehrte seitdem nie wieder dazu zurück.

Es war auf dem die Schule umgebenden Spielplatz, wo er, einer seiner jugendlichen Erinnerungen zufolge, zur Zeit der Heuernte, durch seine Landsleute, die siegreichen Britten (einem Jungen aus dem anstoßenden Hause und seinen beiden Vettern), aus dem Kerker von Seringapatam, einem ungeheuern Gebäude (von Heuhaufen) befreit und mit Entzücken von seiner Braut (Miss Green) erkannt wurde, die den ganzen Weg von England (aus dem zweiten Hause in der Reihe) herübergekommen war, um ihn loszukaufen und zu heiraten.

Es war, wie er selbst berichtet hat, ebenfalls auf diesem Spielplatz, wo er zuerst im Vertrauen von einem, dessen Vater »im Staatsdienst stand« und in hohen Kreisen angesehen war, von dem Dasein einer schrecklichen Räuberbande hörte, genannt die Radikalen, deren Grundsätze waren: dass der Prinz-Regent ein Korsett trage, dass niemand einen Anspruch auf Besoldung habe und dass man die Armee und die Flotte beseitigen müsse – Gräuel, vor denen er in seinem Bett zitterte, nachdem er darum gebetet, dass die Radikalen schleunig gefangen genommen und gehängt werden möchten.

Auch war es nicht die geringste unter den Enttäuschungen eines Besuchs, den er später dem Schauplatz seines Knabenalters abstattete, dass er seinen Spielplatz durch eine Eisenbahnstation verschlungen fand. Derselbe war, stammt seinen zwei schönen Hagedornbäumen, dahin und wo die Hecke, der Rasen und alle die Butterblumen und Maßlieben geblüht hatten, war nichts als die steinigste aller rüttelnden Straßen.

Dickens war nicht viel mehr als neun Jahre alt, als sein Vater von Chatham nach London zurückberufen wurde und er seinen guten Lehrer und den alten Ort, der ihm durch Erinnerungen, woran er sein ganzes späteres Leben hindurch hing, lieb geworden war, verlassen musste. Hier war es, wo er nicht nur die berühmten Bücher kennen gelernt hatte, die David Copperfield ausdrücklich nennt: Roderich Random, Peregrine Pickle, Humphrey Clinker, Tom Jones, den Vicar von Wakefield, Don Quichote, Gil Blas, Robinson Crusoe, Tausend und eine Nacht und die Erzählungen der Genien, sondern auch die Zeitschriften Spectator, Idler, Tatler, Citizen of the World und Mrs. Juchbalds »Sammlung von Possen«.

Auch diese Letzteren waren in der kleinen Bibliothek gewesen, zu der er Zutritt hatte, und seine früheste Erinnerung hinsichtlich derselben war, nicht dass er sie zum ersten, zweiten oder dritten Mal, sondern dass er sie in Chatham immer wieder und wieder gelesen habe. Sie waren eine Schar von Freunden für ihn, als er keinen einzigen Freund hatte, und ich hörte ihn oft sagen, als er den Ort verlassen, sei ihm gewesen, als verlasse er diese Freunde und alles, was seinem kränkelnden kleinen Leben Gestalt und Sonnenschein verliehen, auch.

Dort lag die Geburtsstätte seiner Fantasie und er wusste kaum, wie viel das geschäftig wechselnde Leben des Ortes ihm wert war, ehe er die niedersinkende Wolke erblickte, die seine Bilder auf immer vor ihm verbergen sollte. Das Ein- und Ausziehen der schmucken glänzenden Regimenter, das beständige Exerzieren und Feuern, die Aufeinanderfolge von Schein-Belagerungen und Schein-Verteidigungen, die von seinem Vetter im Hospital veranstalteten Schauspiele, die Yacht des Marinezahlamts, in der er mit seinem Vater nach Sheerneß gesegelt war und die aus dem Medway ausfahrenden Schiffe mit ihren fernen Visionen vom Meere – alles das sollte er verlieren. Nie mehr sollte er den Spielen der Knaben zusehen, oder sehen, wie sie die Schein-Belagerungen und Schein-Verteidigungen noch einmal wieder durchkämpften. Er sollte in der Stage-Coach »Commodor« nach London fahren und die Kentischen Wälder und Felder, der Park und der Landsitz von Cobham, die Kathedrale und das Schloss von Rochester, das ganze wunderbare Märchen, mit Einschluss des rotwangigen kleinen Kindes, für das er eine leidenschaftliche Liebe empfunden, sollte wie ein Traum verschwinden.

»Am Vorabend »unsrer Abreise«, erzählte er mir, »kam mein guter Lehrer zwischen den Kisten und Kasten hereingehuscht, um mir Goldsmiths » Biene« zum Andenken mitzugeben – die ich auch, um seinet- und um ihretwillen lange behielt.«

Noch später besann er sich auf die Fahrt in der Stage-Coach und bemerkte in einer seiner veröffentlichten Schriften, er habe nie, in allen dazwischen liegenden Jahren, den Geruch des feuchten Strohes vergessen, in das er eingepackt gewesen und wie Wild franko befördert worden sei.

»Es war kein Passagier außer mir in der Kutsche und ich verzehrte meine Butterbrote in Einsamkeit und Trübsinn und der Regen strömte die ganze Zeit nieder und das Leben kam mir schmutziger vor als ich erwartet hatte.«

Die frühsten Eindrücke, die er in London empfing und behielt, bezogen sich auf die Geldverlegenheiten seines Vaters, und damals hörte er zuerst von der »Urkunde« reden, welche in Wahrheit die Krise in den Verhältnissen seines Vaters bezeichnete, die in der Dichtung denjenigen Mr. Micawbers zugeschrieben wird. Später erfuhr er, dass es ein Vergleich mit Gläubigern gewesen war, obgleich er sich bewusst war, es in dieser frühern Zeit mit Pergamenten von weit dämonischerer Art verwechselt zu haben. Eine Folge des furchtbaren Dokuments zeigte sich bald in notgedrungenen Einschränkungen. Die Familie musste ihren Wohnsitz in einem Hause in Bayham Street, in Camden Town, aufschlagen.

Bayham Street war damals so ziemlich der ärmste Teil der Londoner Vorstädte und das Haus war eine elende kleine Wohnung, mit einem kläglichen kleinen Hintergarten, der an einen schmutzigen Hof stieß. Das war kein Ort, neue Bekanntschaften zu machen: Es gab keine Knaben in der Nähe, mit denen er hoffen konnte, irgendwie befreundet zu werden.

Eine Waschfrau wohnte in dem anstoßenden Hause und ein Polizist auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Wieder und wieder hat er hiervon mit mir gesprochen und wie er sofort in einen von allen andern Knaben seines Alters geschiedenen Zustand der Einsamkeit zu verfallen und zu Hause in eine verwahrloste Lage zu versinken schien, die ihm immer ganz unerklärlich gewesen war.

»Wenn ich«, sagte er bei einer Veranlassung sehr bitter, »in der kleinen Hinter-Dachkammer an alles dachte, was ich verloren, indem ich Chatham verlor – was würde ich nicht gegeben haben (hätte ich etwas zu geben gehabt), in irgendeine andre Schule geschickt und irgendwo in irgendetwas unterrichtet zu werden!«

Er war schon in einer andern Schule, ohne es zu wissen. Die ihm aufgezwungene Selbsterziehung lehrte ihn, vorläufig noch unbewusst, eben das, was ihm für die Zukunft, die ihm bevorstand, am wichtigsten war, zu wissen.

Dass er, von den frühesten Anfängen dieses Lebens in Bayham Street an, seine ersten Eindrücke jener kämpfenden Armut empfing, die nirgends lebendiger hervortritt, als in den geringeren Straßen einer gewöhnlichen Londoner Vorstadt und die seine frühesten Schriften mit einem originellen Humor und einem ungesuchten Pathos bereicherten, denen dieselben viel von ihrer raschen Popularität verdankten, kann nicht bezweifelt werden.

»Ich verstand sie damals«, hat er oft zu mir gesagt, »sicherlich eben so gut wie jetzt.«

Aber er war sich noch nicht bewusst, dass er sie so verstand, oder was für einen Einfluss dies Verständnis schon damals auf sein Leben ausübte. Es scheint fast zu viel, von einem neun- oder zehnjährigen Kinde zu behaupten, dass seine Beobachtung so scharf und richtig gewesen oder dass er eben so viel intuitive Einsicht in den Charakter und die Schwächen der erwachsenen Leute seiner Umgebung besessen habe, als zu der Zeit, da dieselbe durchdringende und wunderbare Fähigkeit ihn unter den Menschen berühmt machte.

Aber so wie ich ihn kannte, konnte ich nicht umhin, der von ihm unveränderlich wiederholten Behauptung: er habe nie Ursache gehabt, etwas in dem, was während seiner Knabenzeit sein geheimer Eindruck über irgendeine Person gewesen, zu ändern oder zu bessern, wenn er als erwachsener Mann in spätern Jahren Gelegenheit zur Prüfung gehabt habe, vollkommenen Glauben beizumessen.

Wie es kam, dass ein Kind von solcher Anlage in das Elend und die Verwahrlosung der Zeit, von der ich jetzt reden werde, versank, war ein Problem, worüber wir oft unsre Gedanken austauschten, und bei einer Gelegenheit entwarf er mir ein Charakterbild seines Vaters, das, da ich es hier ganz in den von ihm gebrauchten Worten wiedergeben kann, die beste Vorrede zu Mitteilungen sein wird, hinsichtlich deren mir keine Wahl bleibt.

»Ich weiß, dass mein Vater ein so warmherziger und edler Mensch ist, als irgendeiner, der je in der Welt lebte. Sein ganzes Benehmen gegen seine Frau, seine Kinder und seine Freunde, soweit ich mich desselben erinnere, ist über alles Lob erhaben. Bei mir hat er, wenn ich als Kind krank war, Nacht und Tag, unermüdet und geduldig, viele Tage und Nächte gewacht. Er unternahm nie ein Geschäft, einen Auftrag oder eine Verantwortlichkeit, ohne sie eifrig, gewissenhaft, pünktlich, ehrenhaft zu erfüllen. Er war immer unermüdlich fleißig. Er war in seiner Weise stolz auf mich und bewunderte meinen komischen Gesang sehr.

Aber bei der Leichtigkeit seines Temperaments und dem Mangel an Geldmitteln schien er um diese Zeit jeden Gedanken an meine Erziehung völlig verloren und sich der Vorstellung, dass ich irgendwelche Ansprüche an ihn habe, völlig entschlagen zu haben. So sank ich dazu herab, dass ich morgens seine und meine Stiefel putzte und mich bei den Geschäften des kleinen Hauses nützlich machte und nach meinen jüngern Brüdern und Schwestern sah (es waren unser jetzt im Ganzen sechs) und die kläglichen Bestellungen ausrichtete, die bei unsrer kläglichen Lebensweise auszurichten waren.«

Der schon erwähnte Vetter, James Lamert, der vor Kurzem seine Erziehung in Sandhurst beendet hatte und auf sein Offizierspatent wartete, wohnte damals bei der Familie in Bayham Street und hatte weder seinen Geschmack für die Bühne noch seinen dahin schlagenden Erfindungsgeist verloren. Von Mitleid für den einsamen Knaben erfüllt, verfertigte und malte er ein kleines Theater für ihn. Es war die einzige poetische Wirklichkeit seines damaligen Lebens; aber es konnte ihm nicht ersetzen, was er am schmerzlichsten entbehrte, den Verkehr mit Knaben von seinem eigenen Alter, mit denen er an den Vorteilen einer Schule hätte teilnehmen und um die Preise derselben kämpfen können.

Seine Schwester Fanny wurde um diese Zeit als Schülerin in die königliche Musik-Akademie aufgenommen und er erzählte mir, welch ein Stoß durchs Herz es für ihn war, als er, im Gedanken an seine eigene verwahrloste Lage, sie unter den tränenvollen guten Wünschen sämtlicher Hausbewohner fortgehen sah, um ihre Erziehung anzufangen.

Doch indem die Zeit vorrückte, rückte nichtsdestoweniger unbewusst auch seine Erziehung, unter dem strengsten und mächtigsten aller Lehrer, vor; und vernachlässigt und elend wie er war, gelang es ihm allmählich alle Träumereien, das ganze träumerische Wesen und die ganze Romantik, womit er Chatham bekleidet hatte, aus London zu übertragen.

Am obern Ende von Bayham Street standen damals (und standen noch, als ich vor fast siebenundzwanzig Jahren die Straße wieder mit ihm besuchte) einige Armenhäuser, und dorthin zu gehen und von dieser Stelle aus über die Erdhaufen und Felder die Kuppel der Paulskirche durch den Rauch aufdämmern zu sehen, war, wie er mir erzählte, ein Vergnügen für ihn, das ihm für Stunden unbestimmten Nachdenkens Nahrung bot.

Ein Spaziergang in die wirkliche Stadt, besonders in die Nähe von Covent Garden und des Strand, erfüllte ihn mit wahrhaftem Entzücken. Aber die mächtigste Anziehungskraft übte der abstoßende Distrikt von St. Giles auf ihn aus. Wenn er nur die Personen, die mit ihm spazieren gingen, bewegen konnte, ihn durch Seven-Dials zu führen, war er außer sich vor Freude. »Großer Gott!«, rief er oft aus, »was für wilde Visionen von Ausgeburten der Schlechtigkeit, des Mangels und des Bettlertums stiegen aus diesem Ort in meinem Geiste empor!« Er war, was der Leser nicht vergessen darf, diese ganze Zeit über noch beständigen Krankheitsanfällen unterworfen und aus diesem Grunde selbst für sein Alter ein sehr kleiner Knabe.

Wir nähern uns jetzt einem Teil seines Knabenalters, den er, als die Tage des Ruhmes und des Glücks für ihn kamen, wie eine schmerzliche Last in seinem Gedächtnis fühlte, bis er sie lindern konnte, indem er sie mit einem Freunde teilte, und ein Zufall, den ich sogleich erwähnen werde, führte diese Enthüllung herbei.

Vorher muss ich aber noch eine Zwischenzeit von einigen Monaten beschreiben, über die ich nach Unterredungen und Briefen, welche in Folge jener Enthüllung zwischen uns gewechselt wurden und die bereits für diese Blätter von Nutzen gewesen sind, einige allgemeine und flüchtige Notizen mitteilen kann.

Ich bin es mir selbst schuldig zu bemerken, dass der Gebrauch, den ich jetzt davon mache, damals beabsichtigt wurde; denn obschon ich lange vor seinem Tode aufgehört hatte, es für wahrscheinlich zu halten, dass ich ihn überleben würde, um über ihn zu schreiben, so hatte er doch den zu jener Zeit entschieden ausgedrückten Wunsch nie widerrufen, noch mir das Vertrauen entzogen, welches er mir nicht bloß damals, sondern bis an seinen Tod schenkte und wodurch ich in den Stand gesetzt werden sollte, jenen Wunsch zu erfüllen. Er hatte selbst in der Tat die Erfüllung erleichtert, indem er in »David Copperfield« den Schleier teilweise lüftete.

Die Besuche, die er von Bayham Street aus machte, galten besonders zwei Verwandten und Freunden der Familie, dem ältern Bruder seiner Mutter und seinem Taufvater. Der Letztere, ein Takelmeister und Mast-, Ruder- und Blockverfertiger, wohnte in der Nähe der Themse, in wohlhabenden Verhältnissen, und erwies sich freundlich gegen sein Patenkind. Es war immer ein großes Vergnügen für ihn, dorthin zu gehen, und das Bild Londons bei Nacht auf seinem Rückwege erweckte ihm stets Freude und Staunen. Dort kam auch sein Talent für das Singen komischer Lieder so sehr zur Anerkennung, dass einer der Gäste seines Taufvaters, ein ehrlicher Schiffsbauer, den Knaben für ein »kleines Wunder« erklärte.

Die Besuche bei seinem unverheirateten Onkel, der wie sein Vater bei der Marineverwaltung angestellt war, führten ihn nicht so weit von Hause. Mr. Thomas Barrow, das älteste Mitglied der Familie seiner Mutter, hatte sich das Bein durch einen Fall gebrochen und bewohnte, während er auf dem Krankenbette lag, den obern Teil des Hauses eines würdigen alten Herrn, der eben damals gestorben war, eines Buchhändlers, namens Manson, Vater des Teilhabers in der berühmten Firma Christie und Manson, dessen Witwe um diese Zeit das Geschäft weiter führte.

Durch die Erscheinung des Knaben angezogen, liehen diese guten Leute ihm Bücher zu seiner Unterhaltung, unter andern Miss Porters Scottish Chiefs, Holbeins Totentanz und George Colmans Broad Brins (Grimaçen).

Dies Letztere gefiel ihm sehr und eine Beschreibung des Covent-Garden-Markts in dem »Der Ältere Bruder« betitelten Abschnitt brachte einen so lebhaften Eindruck auf ihn hervor, dass er sich auf eigne Hand nach dem Covent-Garden-Markt schlich, um ihn mit dem Buche zu vergleichen.

Er erinnerte sich, als er mir dies erzählte, dass er den Geruch der welken Kohlblätter eingesogen habe, als wäre derselbe der Lebensatem der komischen Dichtung. Und in der Tat hatte er nicht ganz Unrecht, wie die komische Dichtung damals und einige Zeit nachher war. Es war ihm selbst vorbehalten, ihr ein reineres und frischeres Leben einzuhauchen. Vorher sollten noch manche Jahre vergehen, aber er fing bereits an, den Versuch zu machen.

Sein Onkel ließ sich von einem äußerst seltsamen alten Barbier aus der Nachbarschaft rasieren, der nie müde wurde, die Ereignisse des letzten großen Krieges zu besprechen und besonders Napoleons Missgriffe zu enthüllen und dessen ganzes Leben nach einem von ihm selbst entworfenen Plane umzugestalten. Der Knabe entwarf eine Beschreibung dieses alten Barbiers, hatte aber nie den Mut, sie jemandem zu zeigen.

Ungefähr um dieselbe Zeit entwarf er, nach dem Muster der Haushälterin des Kanonikus in Gil Blas, eine Skizze einer tauben alten Frau, die ihnen in Bayham Street aufwartete und mit Wallnussbrühe schmackhafte Ragouts bereitete. Auch diese Skizze ließ er niemanden sehen, obgleich er sie selbst für äußerst geistreich hielt.

Inzwischen gingen die Dinge in Bayham Street schlecht; die Besuche des armen Knaben bei seinem Onkel, während der Letztere noch durch seinen Unfall ans Haus gefesselt war, wurden durch einen neuen Fieberanfall unterbrochen und nach seiner Genesung hatte die geheimnisvolle »Urkunde« wieder die Oberhand gewonnen. Seines Vaters Geldmittel waren so gering und alle seine Auskunftsmittel so vollständig erschöpft, dass ein Versuch gemacht werden sollte, ob seine Mutter nicht helfen könne.

Die Zeit sei für sie gekommen, sich zu bemühen, sagte sie, und »sie müsse etwas tun«. Es hieß, der Taufvater an der Themse habe Verbindungen mit Indien. Die Leute in Indien schickten ihre Kinder immer nach England, um dort erzogen zu werden. Sie wollte eine Schule einrichten. Dadurch würden sie alle reich werden. Und dann, dachte der kranke Knabe, »könnte vielleicht sogar ich selbst zur Schule gehen«.

Ein Haus wurde bald in Nr. 4 Gower Street gefunden; ein großes Messingschild an der Tür kündigte »Mrs. Dickens’ Institut« an, und den Erfolg kann ich in den eignen Worten des damaligen kleinen Schauspielers in der Komödie mitteilen, dessen Hoffnungen so hoch dadurch gespannt worden waren:

»Ich gab an sehr vielen andern Türen sehr viele Circulare ab, die auf die Verdienste des Instituts hinwiesen. Doch niemand kam je in die Schule, noch erinnere ich mich, dass jemand sich bereit erklärte zu kommen, oder dass die geringsten Vorbereitungen gemacht wurden, jemanden zu empfangen. Aber ich weiß, dass wir uns sehr schlecht mit dem Fleischer und dem Bäcker verstanden, dass wir sehr oft nicht zu viel zum Mittagsessen hatten und dass endlich mein Vater verhaftet wurde.«

Die Zwischenzeit zwischen dem Verhaftslokal und dem Gefängnis brachte der traurige Knabe damit hin, Bestellungen und Botschaften für den Gefangenen auszurichten, die mit geschwollenen, tränenfeuchten Augen überbracht wurden, und die letzten Worte, welche sein Vater zu ihm sagte, als er schließlich in das Schuldgefängnis nach Marshalsea abgeführt wurde, lauteten dahin, dass die Sonne auf immer über ihm untergegangen sei.

»Ich glaubte damals wirklich«, sagte Dickens zu mir, »sie würden mein Herz brechen.«

Er nahm später reichliche Rache für diesen falschen Alarm, indem er die ganze Welt in »David Copperfield« darüber lachen ließ.

Die Leser von Mr. Micawbers Geschichte, die sich des ersten Besuchs Davids in dem Marshalsea-Gefängnis erinnern, und wie der Anblick des Schließers ihm den Schließer in der baumwollnen Decke in »Roderich Random« ins Gedächtnis rief, werden mit gespanntem Interesse lesen, was folgt und was als tatsächliches persönliches Erlebnis zwei oder drei Jahre, ehe Dickens sich mit der Dichtung auch nur in Gedanken beschäftigte, niedergeschrieben war.

»Mein Vater erwartete mich in der Wohnung des Türhüters und wir gingen in sein Zimmer hinauf (in dem zweitobersten Stockwerk) und weinten laut. Und er riet mir, wie ich mich entsinne, mir die Warnung zu Herzen zu nehmen und zu bedenken, dass, wenn jemand zwanzig Pfund jährliches Einkommen habe und neunzehn Pfund neunzehn Schillinge und sechs Pence davon ausgebe, es ihm gut gehen werde, wenn er aber einen Schilling mehr ausgebe, so werde er ins Elend geraten.

Ich sehe das Feuer, vor dem wir saßen, noch jetzt; es waren zwei Ziegelsteine in dem rostigen Kamingitter angebracht, einer auf jeder Seite, um zu verhüten, dass zu viele Kohlen verbrannt wurden. Ein anderer Schuldgefangener, der später hereinkam, teilte das Zimmer mit ihm und da das Mittagsessen auf gemeinsame Kosten hergestellt wurde, schickte man mich hinauf zu Kapitän Porter, in das Zimmer über dem unsern, mit Mr. Dickens Empfehlung und ich wäre sein Sohn und ob er, Kapitän P., mir ein Messer und eine Gabel leihen könne.

»Kapitän Porter lieh mir das Messer und die Gabel und schickte seine Empfehlungen. In seinem Zimmer befanden sich eine sehr schmutzige kleine Dame und zwei abgezehrte Mädchen, seine Töchter, mit dickem buschigen Haar. Ich dachte, ich hätte Kapitän Porters Kamm nicht gerne leihen mögen. Der Kapitän selbst befand sich in dem letzten Stadium der Schäbigkeit, und könnte ich zeichnen, so würde ich ein treues Bild entwerfen von dem uralten braunen Überrock, den er, ohne einen andern Rock darunter, trug. Er hatte einen großen Bart. Ich sah sein Bett in einer Ecke aufgerollt und die in seinem Besitz befindlichen Teller und Schüsseln und Töpfe auf einem Brett und ich wußte (Gott weiß wie), dass die beiden Mädchen mit dem dicken buschigen Haar Kapitän Porters natürliche Kinder waren und dass die schmutzige Dame nicht mit Kapitän P. verheiratet war. Mein scheuer erstaunter Standpunkt auf seiner Schwelle wurde nicht mehr als ein paar Minuten innegehalten, aber ich kam wieder in das untere Zimmer hinunter mit all diesen Dingen ebenso gewiss in meinem Bewusstsein, als mit Messer und Gabel in meiner Hand.«

Wie das Mittagsessen am Ende doch etwas Angenehmes und Zigeunerhaftes hatte und wie er früh Nachmittags dem Kapitän Messer und Gabel zurückbrachte, und wie er nach Hause ging, um seine Mutter mit dem Bericht über seinen Besuch zu trösten, hat David Copperfield ebenfalls genau erzählt. Zu Hause folgten dann viele elende tägliche Kämpfe, die eine unendliche Zeit zu dauern schienen, vielleicht aber nicht viele Wochen dauerten. Fast alles wurde allmählich verkauft oder verpfändet und der kleine Charles war bei diesen traurigen Vorgängen der Hauptvermittler.

Die Bücher, die von Chatham mitgenommen waren, »Peregrine Pickle«, »Roderich Random«, »Tom Jones«, »Humphrey Clinker« und alle übrigen, gingen zuerst. Sie wurden von dem kleinen Chiffonier, den sein Vater die Bibliothek nannte, zu einem Buchhändler in Hampstead-Road getragen, demselben, den David Copperfield als in City-Road wohnend beschreibt, und der Bericht über den Verkauf, wie er wirklich stattfand, und mir lange ehe David das Licht der Welt erblickte, mitgeteilt wurde, erschien Wort für Wort wieder in der Erzählung des Romans.

»Der Besitzer dieses Buchladens bewohnte ein kleines hinter demselben gelegenes Haus und pflegte sich jede Nacht zu betrinken und jeden Morgen von seiner Frau heftig gescholten zu werden. Mehr als einmal, wenn ich früh zu ihm ging, gab er mir Audienz in einem zurückgeschlagenen Bette, mit einer Wunde in der Stirn oder einem schwarzen Auge, den Zeichen seiner nächtlichen Ausschweifungen (denn wie mir schien, war er streitsüchtig, wenn er betrunken war), und mit zitternder Hand bemühte er sich dann, die nötigen Schillinge in einer oder der andern Tasche seiner auf dem Fußboden liegenden Kleidungsstücke zu finden, während seine Frau, mit einem Säugling in den Armen und niedergetretenen Schuhen, keinen Augenblick abließ, ihm Vorwürfe zu machen. Mitunter hatte er sein Geld verloren und dann bat er mich, wieder zu kommen; aber seine Frau hatte immer etwas (hatte vermutlich seins genommen, während er betrunken war), und schloss insgeheim den Vergleich auf der Treppe ab, indem wir hinunter gingen.«

Auch mit dem Trödelladen, der David so wohl bekannt war, wurde Charles nicht weniger vertraut und der Pfandverleiher oder dessen Hauptgehilfe hinter dem Ladentisch bewiesen ihm bei diesen Gelegenheiten viele Aufmerksamkeit; besonders hörte es der Letztere gern, wenn der Knabe, während er das Duplikat ausfertigte, ihm ein lateinisches Zeitwort vorkonjugierte und sein musa und dominus deklinierte oder übersetzte.

Unter dieser Begleitung ging allmählich alles hin, bis endlich selbst von den Möbeln in No. 4 Gower Street nichts übrig blieb, als ein paar Stühle, ein Küchentisch und einige Betten. Sie schlugen dann in den beiden Wohnzimmern des ausgeleerten Hauses gleichsam ihr Lager auf und wohnten dort Tag und Nacht.

Dies alles ist nur das Vorspiel zu dem, was jetzt erzählt werden soll.

Harte Erfahrungen im Knabenalter (1822 – 1824)

Die nachstehenden Begebenheiten, wie die Ereignisse seiner Kindheit und Jugend überhaupt, würden mir vermutlich nie bekannt geworden sein, ohne eine Frage, die ich im März oder April 1847 zufällig an ihn richtete.

Ich fragte ihn, ob er sich entsinne, in seiner Kindheit je unseren Freund, den ältern Dilke, gesehen zu haben, einen Bekannten und Altersgenossen seines Vaters, der in demselben Büro der Marineverwaltung angestellt war wie Mr. John Dickens. Ja, sagte er, er erinnere sich, ihn in einem Hause in Gerard Street gesehen zu haben, wo sein Onkel Barrow sich während einer Krankheit aufgehalten und Mr. Dilke ihn besucht habe – nie zu irgendeiner andern Zeit.

Ich sagte hierauf, dass in der gegen mich gemachten Bemerkung von jemand sonst die Rede gewesen sei, denn es habe nicht nur das darin gelegen, dass eine zufällige Begegnung stattgefunden, sondern dass er (Dickens) eine jugendliche Beschäftigung in einem Warenhause in der Nähe des Strand gehabt, wo Dilke ihn in Begleitung des ältern Dickens eines Tages gesehen und zum Dank für ein Geschenk von einer halben Krone eine sehr tiefe Verbeugung empfangen habe.

Er schwieg einige Minuten; ich fühlte, dass ich gegen meine Absicht eine schmerzliche Stelle in seinem Gedächtnis berührt hatte und mit Dilke sprach ich von dieser Angelegenheit nie wieder. Aber erst einige Wochen nachher machte Dickens eine weitere Andeutung gegen mich, dass ich so unbewusst auf eine Zeit gestoßen, deren Erinnerung ihm nie entschwinden könne, so lange er sich überhaupt an etwas erinnerte, und deren Andenken ihn von Zeit zu Zeit immer wieder verfolgte und bis auf jene Stunde elend machte.

Sehr bald darauf erfuhr ich, in allen ihren Einzelheiten, die Ereignisse, welche so schmerzlich für ihn gewesen waren, und was mir damals mündlich darüber mitgeteilt oder geschrieben wurde, enthüllte die Geschichte seines Knabenalters. Der Plan zu »David Copperfield«, der die ganze Welt zu seiner Vertrauten machen sollte, war damals noch nicht in ihm aufgestiegen; was für mich aber eine so aufregende Enthüllung gewesen war, wurde seinen Lesern grade mit so vielen Abänderungen und Zusätzen erzählt, dass er sich für den Augenblick hinreichend unter der Hülle seines Helden verbarg.

Denn der arme kleine Junge, mit guten Fähigkeiten und einer gefühlvollen Natur, der im Alter von zehn Jahren in einen »arbeitenden Knecht« im Dienste von Murdstone und Grinby verwandelt wurde und dem es schon sehr seltsam vorkam, wie man sich seiner in einem solchen Lebensalter so leicht hatte entledigen können, war in der Tat er selbst. Er durchlebte die geheime Seelenqual, der »Genosse von Mick Walker und Mealy Potatoes« geworden zu sein, und seine Tränen mischten sich mit dem Wasser, womit er und sie die Flaschen ausspülten und wuschen.

Es war alles als Tatsache niedergeschrieben, ehe er daran dachte, einen andern Gebrauch davon zu machen, und erst mehrere Monate später, als der Gedanke zu »David Copperfield«, der ihm selbst durch das nahe gelegt wurde, was er über seine Jugendleiden aufgezeichnet, in seinem Geiste Gestalt zu gewinnen anfing, entsagte er seiner ersten Absicht, sein eignes Leben zu schreiben.

Jene Erfahrungen im Warenhause schlossen sich dann dem von ihm gewählten Gegenstande so bequem an, dass er der Versuchung, sie sofort zu gebrauchen, nicht widerstehen konnte; und seine Aufzeichnungen darüber, die nur den ersten Teil dessen ausmachten, was er hatte schreiben wollen, wurden der Hauptsache nach in das elfte und die früheren Kapitel seines Romans aufgenommen.

Was mir jedoch schon übersandt war sowie interlinierte Korrekturbogen des Romans setzen mich jetzt in den Stand, die Tatsachen von der Dichtung zu trennen und der Kindheitsgeschichte des Schriftstellers diejenigen in dem Buche ausgelassenen Stellen hinzuzufügen, welche, abgesehen davon, dass sie die Entwicklung seines Charakters aufhellen, uns ein Bild tragischer Leiden und einer eben so zarten wie humoristischen Fantasie darbieten, das selbst von den Wundern seiner veröffentlichten Schriften nicht übertroffen wird.

Die Person, welche indirekt für die nachstehend beschriebenen Vorgänge verantwortlich war, war sein schon öfter erwähnter junger Verwandter James Lamert, derselbe, der die theatralischen Aufführungen in Chatham einrichtete und der nach Beendigung seiner Studien in Sandhurst bei der Dickensschen Familie in Bayham Street gewohnt hatte, in der Hoffnung, bald sein Offizierspatent zu erhalten.

Er erhielt dasselbe erst viel später, als Zeichen der Anerkennung der Verdienste seines Vaters, und gab es dann zu Gunsten eines jüngeren Bruders aus; er hatte aber inzwischen, schon ehe die Familie Bayham Street verließ, nicht mehr bei ihr gewohnt. Der Mann einer seiner Schwestern, ein Vetter von ihm, namens George Lamert, ein Mann von Vermögen, hatte sich kurz vorher auf eine seltsame kommerzielle Spekulation eingelassen und ihn zur Hülfe in sein Büro und sein Haus aufgenommen. Ich teile nun das Fragment von Dickens’ Selbstbiografie mit.

Diese Spekulation war eine Konkurrenz mit ›Warrens’ Schuhwichse, Nr. 30, Strand‹ – die damals sehr berühmt war. Ein gewisser Jonathan Warren (der berühmte hieß Robert), wohnhaft Nr. 30, Hungerfordstairs, oder Hungerfordmarket, Strand (denn ich vergesse, wie es damals hieß), machte den Anspruch, der ursprüngliche Erfinder oder Eigentümer des Schuhwichse-Rezepts gewesen und von seinem berühmten Verwandten abgesetzt und schlecht behandelt worden zu sein. Endlich machte er Anstalten, sein Rezept und seinen Namen und sein Nr. 30, Hungerfordstairs, Strand (Nr. 30 Strand sehr groß und die dazwischen liegende Adresse sehr klein geschrieben), für eine Leibrente zu verkaufen und ließ durch seine Agenten bekannt machen, dass etwas Kapital ein großes Geschäft daraus machen werde. Der Mann mit etwas Vermögen fand sich in George Lamert, dem Vetter und Schwager von James. Er kaufte das Recht und den Anspruch und begab sich in das Schuhwichsegeschäft und das Schuhwichsehaus.

»In einer bösen Stunde für mich, wie ich oft mit Bitterkeit dachte. Der Hauptgeschäftsführer, James Lamert, der Verwandte, der in Bayham Street bei uns gewohnt hatte und wusste, was meine tägliche Beschäftigung und unsre häuslichen Verhältnisse damals waren, schlug vor, ich solle in das Schuhwichselager eintreten und mich dort so nützlich machen wie ich könne, für einen Lohn von, wie ich glaube, sechs Schillingen die Woche. Ich weiß nicht genau, ob es sechs oder sieben waren. Bei meiner Ungewissheit über diesen Punkt neige ich zu der Annahme, dass es zuerst sechs und später sieben waren. Jedenfalls wurde der Vorschlag von meinem Vater und meiner Mutter sehr bereitwillig angenommen und eines Montag Morgens begab ich mich in das Schuhwichselager, um mein Geschäftsleben zu beginnen.

Es ist mir wunderbar, wie man mich in einem solchen Alter so leicht in die Welt hinausstoßen konnte. Es ist mir wunderbar, dass selbst nach meinem Herabsinken zu der Stellung des armen kleinen Sklaven, der ich seit unsrer Ankunft in London gewesen war, niemand Mitleid genug hatte mit mir – einem Kinde von hervorstechenden Fähigkeiten, aufgeweckt, lernlustig, zart und körperlich wie geistig leicht verletzt – um vorzuschlagen, dass man, wie ganz gewiss möglich gewesen wäre, etwas erübrigen könne, mich in eine gewöhnliche Schule zu schicken. Unsre Freunde hatten wahrscheinlich die Geduld verloren. Niemand gab ein Lebenszeichen von sich. Mein Vater und meine Mutter waren ganz zufrieden. Sie hätten es kaum mehr sein können, wäre ich zwanzig Jahre alt gewesen und, nachdem ich mich auf dem Gymnasium ausgezeichnet, nach Cambridge auf die Universität gegangen.

Das Schuhwichselager war das letzte Haus an der linken Seite der Straße, bei den alten Hungerfordstairs. Es war ein sonderbares, wackliges altes Gebäude, das, wie sich von selbst versteht, an den Fluss stieß und wörtlich von Ratten wimmelte. Seine holzbekleideten Zimmer und seine verrotteten Fußböden und Treppen und die alten grauen Ratten, die unten im Keller umherschwärmten und der Klang ihres Gequieks und Gezänks, der zu allen Zeiten die Treppe hinaufscholl, und der Schmutz und Verfall des Hauses, steigen sichtbar vor mir auf, als ob ich wieder dort wäre.

Das Comtoir war im ersten Stockwerk, von wo man die Kohlenschiffe und den Fluss überschaute. Es befand sich eine Nische darin, in der ich sitzen und arbeiten sollte. Meine Arbeit bestand darin, dass ich die Schuhwichse-Töpfe bedeckte, zunächst mit einem Stück Ölpapier und dann mit einem Stück blauem Papier, einen Faden darum band und dann das Papier ringsum genau und nett abschnitt, bis es so schmuck aussah wie ein Salbetopf aus einem Apothekerladen. Wenn eine gewisse Anzahl Gros von Töpfen diesen Gipfel der Vollkommenheit erreicht hatte, musste ich auf jeden eine gedruckte Etikette kleben und dann wieder mit neuen Töpfen anfangen.

Zwei oder drei andre Jungen traten dieselbe Arbeit um ähnlichen Lohn unten im Hause. Einer von ihnen kam an dem ersten Montagmorgen, in zerlumpter Schürze und einer Mütze von Papier, herauf, um mir den Kunstgriff beim Gebrauche des Fadens und dem Knüpfen des Knotens zu zeigen. Er hieß Bob Fagin und ich nahm mir die Freiheit, von seinem Namen lange nachher in »Oliver Twist« Gebrauch zu machen.

Unser Verwandter hatte es freundlich übernommen, mir während der zum Mittagsessen bestimmten Stunde einigen Unterricht zu geben; ich glaube von zwölf bis ein Uhr täglich. Aber eine Anordnung, die sich so schlecht mit dem Comtoirgeschäft vertrug, geriete bald in Verfall, ohne seine oder meine Schuld und aus demselben Grunde verschwanden mein kleiner Arbeitstisch und meine Gros Töpfe, meine Papiere, Bindfaden, Scheren, Kleistertopf und Etiketten, eins nach dem andern aus der Nische im Comtoir und leisteten den andern kleinen Arbeitstischen, Gros Töpfen, Papieren, Bindfaden, Scheren und Kleistertöpfen unten im Hause Gesellschaft.

Es dauerte nicht lange, so arbeiteten Bob Fagin und ich und ein andrer Junge, der Paul Green hieß, von dem man aber allgemein glaubte, er sei Poll getauft worden (ein Glaube, den ich lange nachher auf Mr. Sweedlepipe in »Martin Chuzzlewit« übertrug) gewöhnlich zusammen. Bob Fagin war eine Waise und wohnte im Hause seines Schwagers, eines Bootführers. Poll Greens Vater besaß die erhöhte Auszeichnung, ein Spritzenmann zu sein und war im Drury-Lane Theater angestellt, wo eine andre Verwandte Polls, ich glaube seine kleine Schwester, in den Pantomimen Kobolde darstellte.

Keine Worte können die geheime Seelenqual ausdrücken, die ich erduldete, als ich zu dieser Kameradschaft herabsank, diese alltäglichen Gefährten mit denen meiner glücklicheren Kindheit verglich und meine frühen Hoffnungen, ein gelehrter und berühmter Mann zu werden, in meiner Brust zusammenstürzen fühlte. Der tiefe Schmerz, den ich bei dem Gedanken empfand, völlig verwahrlost und hoffnungslos zu sein, die Scham über meine Lage, das Elend meines jungen Herzens bei dem Gedanken, dass Tag auf Tag alles, was ich gedacht und gelernt und woran ich Freude gehabt und meine Fantasie und meine Nacheiferung begeistert hatte, mir entschwand, um nie wiederzukehren, lässt sich nicht beschreiben. Mein ganzes Wesen war so von dem Schmerz und der Demütigung dieser Gedanken durchdrungen, dass ich selbst jetzt, berühmt, geliebt und glücklich wie ich bin, in meinen Träumen oft vergesse, dass ich ein liebes Weib und Kinder habe – selbst jetzt, da ich ein Mann bin – und trostlos in jene Zeit meines Lebens zurückwandre.

Meine Mutter und meine Brüder und Schwestern (mit Ausnahme Fannys in der königlichen Musikakademie) lagerten noch, mit einem kleinen Dienstmädchen aus dem Armenhause in Chatham, in den beiden Wohnstuben in dem ausgeleerten Hause in Gower Street. Der Weg war zu weit, um ihn in der für das Mittagsessen bestimmten Stunde hin und her zu gehen und ich nahm mein Mittagsbrot gewöhnlich entweder von Hause mit, oder kaufte es mir in einem benachbarten Laden. In dem letztern Falle bestand es gewöhnlich aus einer gekochten Wurst und einem Pennybrot, zuweilen aus einem in einem Fleischladen gekauften Gericht Rindfleisch für vier Pence, zuweilen aus einem Gericht Brot und Käse und einem Glas Bier, aus einem kläglichen alten Bierhaus, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße, dem »Schwan«, wenn ich mich recht besinne, oder dem Schwan und sonst noch etwas, was ich vergessen habe.

Einmal nahm ich, wie ich mich erinnere, mein eignes Brot, das ich mir von Hause mitgebracht, in ein Stück Papier gewickelt wie ein Buch, unter den Arm und ging in das beste Esszimmer in Johnsons à la mode Beef-Haus in Clare-Court, Drury-Lane, und bestellte mir zu dem Brote großartig einen Teller à la mode Beef. Was der Kellner dachte, als eine so seltsame kleine Erscheinung allein hereintrat, weiß ich nicht, aber ich sehe ihn noch jetzt, wie er mich anstarrte, während ich mein Fleisch aß und dass er einen andern Kellner auf mich aufmerksam machte. Ich gab ihm einen halben Penny Trinkgeld und wünsche jetzt, ich hätte es nicht getan.«

Hier findet sich in dem Fragment direkter Erzählung eine kleine Lücke, aber ich erinnere mich sehr wohl, dass er Sonnabendabend als sein großes Fest zu beschreiben pflegte. Es war ein erhabenes Gefühl, mit sechs Schillingen in der Tasche nach Hause zu gehen und in die Ladenfenster zu blicken und zu überlegen, was man damit kaufen könne. Hunts geröstetes Korn, als ein britisches und patriotisches Surrogat für Kaffee, war eben damals sehr im Schwunge und der kleine Mann pflegte es zu kaufen und am Sonntag zu rösten. Dann gab es eine billige Zeitschrift mit ausgewählten Lesestücken, das »Portfolio«, die er auch sehr gern mit nach Hause brachte.

Die neue in Vorschlag gebrachte »Urkunde« hatte inzwischen die Gläubiger seines Vaters nicht zufriedengestellt, alle Hoffnung auf einen Vergleich schwand und das Ende vom Liede war, dass seine Mutter ihr Lager in Gowerstreet abbrach und das Schuldgefängnis Marshalsea bezog. In diesem Zeitpunkt bin ich im Stande, seine eigne Erzählung wieder aufzunehmen.

»Der Schlüssel des Hauses wurde an den Hausherrn zurückgeschickt, der sich sehr freute, ihn zu bekommen und ich (als der kleine Kain, der ich war, obgleich ich nie jemandem etwas zu Leide getan) wurde als Mietwohner einer verarmten alten Dame überwiesen, die unsrer Familie lange bekannt gewesen war und in College Street, Camden Town, Kinder aufnahm und beköstigte, was sie schon früher in Brighton getan und die, mit einigen Abänderungen und Ausschmückungen, ohne es zu wissen, für Mrs. Pipchin in »Dombey und Sohn« zu sitzen anfing.

Damals standen ein kleiner Junge und dessen Schwester, die natürlichen Kinder von irgendjemand, für die sehr unregelmäßig bezahlt wurde, und der kleine Sohn einer Witwe unter ihrer Aufsicht. Die beiden Jungen und ich schliefen in demselben Zimmer. Mein eignes ausschließliches Frühstück, bestehend aus einem Pennybrot und Milch für einen Penny, besorgte ich selbst für mich. Ein andres kleines Brot und ein Viertelpfund Käse hatte ich auf einem besondern Bort in einem besondern Schranke und machte mein Abendessen davon, wenn ich abends nach Hause kam.

Ich weiß gut genug, dass sie ein Loch machten in die sechs oder sieben Schillinge und ich war den ganzen Tag in dem Schuhwichselager und musste von dem Gelde die ganze Woche leben. Die Miete für die Wohnung wurde, glaube ich, von meinem Vater bezahlt, wenigstens bezahlte ich selbst sie nicht, und ebenso gewiss hatte ich keine andre Hülfe (die Verfertigung meiner Kleidungsstücke ausgenommen) von Montag Morgen bis Sonnabend Abend. Kein Rat, keine Ermutigung, kein Trost, keine Unterstützung von irgendjemandem, dessen ich mich erinnere, so wahr mir Gott helfe.

Die Sonntage brachten Fanny und ich in dem Gefängnis zu. Ich holte sie neun Uhr Morgens von der Akademie in Tenterden Street, Hanover Square, ab und abends gingen wir zusammen dorthin zurück.

Ich war so jung und kindisch und so wenig fähig – wie hätte es anders sein können? – die ganze Sorge für meine Existenz zu übernehmen, dass ich, wenn ich morgens nach Hungerfordstairs ging, dem in Tottenham-Court-Road, in den Konditorläden auf Präsentiertellern zu halbem Preise ausgestellten abgestandenen Gebäck nicht widerstehen konnte und oft dafür das Geld ausgab, was ich für mein Mittagsessen hätte behalten sollen. Dann aß ich zu Mittag nichts, oder kaufte mir eine Rolle Brot oder ein Stück Pudding.

Es waren zwei Puddingläden da, zwischen denen ich je nach dem Stande meiner Finanzen wählte. Der eine befand sich in einem Hof in der Nähe der St. Martinskirche (hinter der Kirche), der jetzt vollständig verschwunden ist. Der Pudding in diesem Laden wurde mit Korinthen gemacht und war eine besondre Art von Pudding, aber teuer, denn für zwei Pennies bekam man nicht mehr als für einen Penny von dem gewöhnlichen Pudding.

Ein guter Laden für diesen Letzteren befand sich im Strand, nicht weit von der Stelle, wo jetzt die Lowther-Arkade ist. Es war ein kräftiger, gesunder Pudding, schwer und weich, mit großen Rosinen, die in großen Entfernungen voneinander darin steckten. Er kam alle Tage um Mittag heiß in den Laden und manchen, manchen Tag habe ich mein Mittagsessen davon gemacht.

Wir hatten, glaube ich, eine freie halbe Stunde zum Tee. Wenn ich Geld genug hatte, ging ich in einen Kaffeeladen und kaufte mir ein halbes Nößel Kaffee und eine Scheibe Butterbrot. Wenn ich kein Geld hatte, machte ich einen Gang durch den Covent-Garden-Markt und starrte die Ananas an. Von den Kaffeeläden, die ich am meisten besuchte, war einer in Maiden-Lane, einer in einem jetzt verschwundenen Hofe in der Nähe des Hungerford-Markts und einer in St. Martins-Lane, von dem ich mich nur entsinne, dass er bei der Kirche war und dass sich in der Türe eine ovale Glasplatte befand, mit den darauf gemalten, der Straße zugekehrten Worten: Kaffee-Stube.

Wenn ich mich jetzt in einer ganz andern Art von Kaffeestube befinde, wo eine solche Inschrift auf Glas steht und dieselbe auf der umgekehrten Seite rückwärts lese: E B U T S – E E F F A K (wie ich damals in trüben Träumereien oft tat), schießt es wie ein elektrischer Schlag durch mein Blut.

Ich weiß, dass ich nicht unbewusst und unabsichtlich die Kargheit meiner Mittel und die Schwierigkeiten meines Lebens übertreibe. Ich weiß, dass ich, wenn jemand mir einen Schilling oder so gab, denselben für Mittagsessen oder Tee verausgabte. Ich weiß, dass ich von Morgen bis Abend mit gemeinen Männern und Jungen arbeitete – ein schäbiges Kind.

Ich weiß, dass ich versuchte, aber ohne Erfolg, mein Geld nicht im Voraus zu verausgaben und die ganze Woche damit auszukommen, indem ich es, in sechs kleine Pakete gewickelt, deren jedes dieselbe Summe enthielt und die Aufschrift eines verschiedenen Tages trug, in einer Schieblade, die ich in dem Comtoir hatte, beiseite legte.

Ich weiß, dass ich ungenügend und unbefriedigend genährt durch die Straßen hinschlenderte. Ich weiß, dass ich, was die Teilnahme anging, die mir bewiesen wurde, ohne Gottes Gnade leicht ein kleiner Dieb oder ein kleiner Vagabund hätte werden können.

Aber ich nahm auch in dem Schuhwichselager eine Stellung ein. Abgesehen davon, dass mein Verwandter in dem Comtoir tat, was ein Mann, der sich mit einer so anomalen Beschäftigung befasste, tun konnte, um mich anders zu behandeln als die Übrigen, sagte ich nie einem Mann oder Jungen, wie es kam, dass ich dort sei, oder machte die geringste Andeutung, dass es mir leid tue.

Dass ich insgeheim litt und aufs Tiefste litt, wusste nie jemand außer mir selbst. Wie viel ich litt, fühle ich mich, wie ich bereits bemerkte, völlig unfähig zu sagen. Keines Menschen Einbildungskraft kann die Wirklichkeit überschreiten. Aber ich nahm mich zusammen und verrichtete meine Arbeit. Ich wusste von Anfang an, dass, wenn ich meine Arbeit nicht so gut machen könne, wie einer der andern, es mir unmöglich sein werde, einer geringschätzigen Behandlung zu entgehen.

Ich wurde bald mindestens ebenso flink und geschickt mit meinen Händen, wie die beiden andern Jungen. Obgleich ich mich ganz freundschaftlich zu ihnen stellte, waren mein Benehmen und meine Manieren doch von den ihrigen verschieden genug, um eine Scheidewand zwischen uns zu erhalten. Sie und die Männer sprachen von mir immer als von dem ›jungen Herrn‹.

Ein Mann (ein ehemaliger Soldat) namens Thomas, der Vormann war, und ein andrer namens Harry, der Fuhrmann war und eine rote Jacke trug, nannten mich mitunter Charles, wenn sie mit mir sprachen; aber dies war meist, wenn wir sehr vertraut miteinander waren und wenn ich mich bemüht hatte; sie bei der Arbeit mit Erinnerungen an meine frühere Lektüre zu unterhalten, die meinem Gedächtnis schon rasch zu entschwinden begann. Poll Green lehnte sich einmal gegen den ›Jungen Herrn‹-Gebrauch auf; aber Bob Fagin brachte ihn rasch zum Schweigen.

Den Gedanken an meine Befreiung aus diesem Leben gab ich als völlig hoffnungslos auf; obgleich ich fest überzeugt bin, dass ich nie, auch nur eine Stunde lang, damit ausgesöhnt war und mich anders als elend, unglücklich fühlte.

Ich empfand es aber tief, dass ich so von meinen Eltern und meinen Geschwistern getrennt war und dass ich, wenn mein Tagewerk vorüber war, in eine solche traurige Leere heimging und dies wenigstens, so schien mir, ließ sich ändern.

Eines Sonntags Abends sprach ich mich hierüber gegen meinen Vater so pathetisch und mit so vielen Tränen aus, dass seine gutmütige Natur nachgab. Er fing an zu denken, dass es nicht ganz recht wäre. Er hatte dies, glaube ich, nie vorher gedacht oder überhaupt daran gedacht. Es

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Übersetzung: Friedrich Althaus
Tag der Veröffentlichung: 31.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5895-7

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