Inhalt:
Zivilisation und Wildnis
Die Wolfsglocke
Heimweh und Auswanderung
Die Ahnung
Schwarz und Weiß
Der Freischütz
Kalifornischer Mietzwang
Berlin und das Schauspielhaus im Belagerungszustand
Herr Schultze
Der Deutsche und sein Kind
Schicksale einer Nacht
Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange
Die Otterjagd
Die Tochter des Riccarees
Curtis’ Brautfahrt
Ein Versuch zur Ansiedlung oder Wie’s dem Herrn v. Sechingen im Urwald gefiel
Der wunderbare Traum
Die Bärenjagd an der Bayou Meter in Arkansas
Die Menagerie im Urwalde
Coverbild: fatistok/Shutterstock.com
Im westlichen Teile des Squatterstaates Missouri, unfern vom Flusse gleichen Namens, dem „Roaring River“, oder rauschenden Strom, und etwa nur zwanzig englische Meilen von der östlichen Grenze des „indianischen Territoriums“ entfernt, wo nördlich die Kickapoos und südlich von ihnen die Delawaren durch die Regierung der Vereinigten Staaten ihre Wohnsitze angewiesen bekommen hatten, lag ein kleines, unscheinbares Waldstädtchen, in früherer Zeit wohl nur der ergiebigen Bleiminen wegen gegründet, jetzt aber, da vielleicht bessere Adern und besser gelegene entdeckt worden, auch wieder von einem großen Teil der ersten Ansiedler verlassen.
Das Städtchen selbst bestand eigentlich nur aus einer einzigen Straße und darin sich gegenüber liegenden zwölf oder vierzehn Häusern, von denen das umfangreichste das Meeting- oder Bethaus, das wohnlichst eingerichtete das des Händlers oder Krämers und das kleinste, einfachste das einer armen Witwe, Mrs. Rowland, war, die hier mit ihrer Pflegetochter Rosy still und zurückgezogen, aber auch von allen Nachbarn geliebt und geachtet lebte.
Da sich übrigens meine kleine Erzählung gerade um diese Personen dreht, so ist es vielleicht dem Leser lieb, gleich von vornherein und mit so kurzen Worten wie möglich das zu erfahren, was zur Verständigung des Ganzen nötig ist, und was er nun einmal überhaupt wissen muss.
Mrs. Rowland war die älteste Ansiedlerin im ganzen Orte, und zwar hatte ihr Mann hier die ersten Bleiminen auf einem Jagdzug entdeckt und mitten unter damals feindlichen Indianern als kühner Pionier und Vorzügler der Zivilisation die Arbeit begonnen.
Aber nicht warnen ließ er sich durch das Schicksal tausend anderer, die vor ihm den roten Sohn der Wälder in seiner Heimat aufgesucht und durch Übermut gereizt. Auf seine Kraft und geschickte Führung der Büchse vertrauend, trotzte er jeder Gefahr, die ihm vom Feinde oder Gegner drohen konnte, und – fiel. Ein Häuptling der Delawaren war von ihm beleidigt worden – wenige Tage später hörte er morgens dicht bei seiner Hütte den Lockton einer Truthenne, er nahm seine Büchse, um die vermeintlich leichte Beute zu erlegen, und – kehrte nie mehr zurück. Der Ton musste eine Schlinge der listigen Wilden gewesen sein – wenige Minuten später überfielen die dunklen entsetzlichen Gestalten das jetzt unbeschützte Haus, und als die unglückliche Frau aus ihrer Ohnmacht, in die sie der erste Schreck geworfen, erwachte, lag sie vor den qualmenden Überresten ihrer Hütte unter einem Baum, und ihr Sohn, ihr einziges, liebes Kind, war verschwunden.
Umsonst durchwühlte sie den ganzen langen Tag mit blutenden, verbrannten Fingern die qualmenden Trümmer ihrer friedlichen Heimat, nicht einmal die Gebeine fand sie, um den Überresten des Kindes ein Grab zu gewähren.
Halb wahnsinnig floh sie damals, allein und schutzlos, durch den Wald der meilenweit entfernten nächsten Hütte zu und zog später in ihrem hoffnungslosen Schmerz nach St. Louis zu einer da wohnenden Schwester.
Hier lebte sie vierzehn lange Jahre in stiller Zurückgezogenheit; wenn aber auch die Zeit den Schmerz gelindert hatte, so vergaß sie doch nie und nimmer die teuern Lieben, die ihr durch Mörderhand entrissen worden, und das besonders ließ ihr weder Ruhe noch Rast, dass sie nie Gewissheit von des Kindes Tod erhalten. Wenn sie der Überzeugung auch Raum geben musste, ihr Gatte sei als Opfer indianischer Rache gefallen, so konnte sie sich weder wachend noch träumend des Gedankens erwehren, wie der Knabe, vielleicht nur geraubt, vielleicht entflohen, verirrt gewesen und von anderen Farmern – Reisenden möglicherweise – aufgenommen sei.
Als sie daher von der Gründung des kleinen Städtchens Boonville hörte, das spätere Bleisucher kaum eine Viertelstunde von ihrem früheren Wohnorte angelegt, da beschloss sie, weil ihre Schwester indessen auch gestorben war und sie nun doch allein auf der Welt stand, mit deren hinterlassener Stieftochter, einem lieben, holden, damals zwölfjährigen Kinde, nach Boonville zu übersiedeln. Dort war sie wenigstens in der Nähe jener Stelle, auf der sie fast alles verloren, was ihr auf Erden lieb und teuer gewesen, und dort, meinte sie, müsse auch, wenn je, ihre Hoffnung erfüllt werden.
Sechs volle Jahre waren aber wieder verflossen, ohne dass sie auch nur eine Spur des Verlorenen gefunden, und wenngleich alle Bewohner des kleinen Ortes, mit dem Schicksal der armen Mutter bekannt, sich die größte Mühe gegeben hatten, ihre Nachforschungen zu unterstützen, so schien doch alles umsonst – der Verschwundene blieb verschwunden, und die arme alte Frau siechte endlich mit mehr und mehr abnehmenden Körperkräften dem Grabe zu, nach dem sie sich ja auch, besonders in den letzten Jahren, als dem einzigen Ort, die Ihren wiederzufinden, so heiß und brünstig gesehnt.
Es war ein freundlicher, sonniger Abend im August; von Nordosten her wehte ein kühler, labender Luftzug, und vor den Türen der einzelnen Wohnungen, teils im Schatten fruchtbeladener Hickories, nicht selten auch von Töpfen mit qualmendem Rauch umgeben, um die etwas lästigen Moskitos zu verscheuchen, saßen hier und da die Bewohner von Boonville – die Frauen mit irgendeiner Nadelarbeit beschäftigt, von der sie nur manchmal aufstanden, um nach dem innen am Kamin brodelnden Abendessen zu schauen, und die Männer im Dolcefarniente an Holzstücken schnitzelnd oder auch auf ein über die freie Erde hingebreitetes Büffelfell müßig ausgestreckt.
Nur der Stuhl vor der Tür des Händlers war leer, denn Madame schaffte und arbeitete mit feuergerötetem Angesicht vor dem geräumigen Kamin der Küche, während Zacharias Smith zwei fremde Indianer bediente, die vor kurzer Zeit mit ihren Fellbündeln und Wildbret in das Städtchen gekommen waren, um hier ihre nötigsten Bedürfnisse, wie Pulver, Messer, Blechbecher und – Whisky, gegen das Erbeutete einzutauschen.
Es waren ein paar Krieger vom Stamme der Kickapoos, wenn der Name Krieger überhaupt noch einem Paar der miserabelst aussehenden Subjekte indianischer Rasse beigelegt werden konnte. Die schmutzigen wollenen und zerrissenen Decken, die sie um sich herumgeschlagen, verhüllten kaum notdürftig ihre Blöße, und das Haar hing ihnen, nicht mehr bloß in der einzelnen stolzen Skalplocke prangend, nein, unbeschnitten, aber auch ungekämmt, wild und wirr, an manchen Stellen wie eine Pferdemähne, von Kletten zu festem Zopf zusammengehalten, um den braunen Nacken.
Der eine trug ein Hemd – aber ob das einst aus weißem Stoff oder buntem Kattun bestanden, ließ sich wahrlich nicht mehr erkennen; das Blut des erlegten Wildes hatte eine Art Kruste darüber gelegt, die nur auf der Schulter durch das Tragen der ziemlich schweren unbehilflichen Büchse unterbrochen schien – ihre Leggins waren mit Stücken roher Haut geflickt, und ihre Mokkasins sahen aus, als ob sie jeden Augenblick auseinanderfallen wollten. Ein Gürtel, aus Hickoryrinde gedreht, hielt ihre Leggins um die Hüften fest, wie ebenso das kleine Skalpiermesser und eine kurze Schilfpfeife, und die ausdruckslosen, trägen Züge der schmutzigen Gesichter heiterten sich erst wieder auf, als sie in des Händlers Laden die rotbestrichenen Whiskyfässer sahen.
Der Handel war sehr einfach und deshalb bald abgeschlossen – das, was sie an Pulver notdürftig haben mussten, ließen sie sich geben und füllten es in ihre Hörner, den Rest aber verlangten sie natürlich in „Uiski“, und damit kauerten sie sich gleich an Ort und Stelle in eine Ecke des Ladens zwischen Salz- und Mehlfässer nieder und begannen ohne weitere Vorbereitung ihr Festmahl.
Sie hatten nur einen Becher mit, und der eine schaute mit weit aufgerissenen, fast aus ihren Höhlen tretenden Augen zu, als der andere das gelbe Feuerwasser aus der erhaltenen Flasche in diesen einsprudeln ließ – sein breiter Mund verzog sich zu einem noch breiteren Grinsen, und zwei Reihen blendend weißer Zähne wurden sichtbar. Die eine Hand streckte er dabei schon wie unwillkürlich nach dem Göttertrank aus, und ein leises, gurgelndes Lachen wurde laut, als sein Gefährte den Becher zuerst an die Lippen hob. Das Lächeln verlor sich aber, die Mundwinkel zogen sich wieder zusammen, wenn auch die Lippen getrennt blieben, und das Auge nahm einen mehr starren, ängstlichen Ausdruck an, als der Freund, gar nicht mehr freundschaftlich, in nicht endendem Zug mit dem Blechmaß zu verwachsen schien.
„Ugh!“, sagte da endlich – nach langem, langem Genusse absetzend –der erste Trinker und schaute, über das Gefäß hinüber, den Gefährten an; dessen Züge aber heiterten sich jetzt urplötzlich wieder auf – er streckte die Hand aus, ergriff den Becher, den er selbst nicht wieder losließ, als jener ihn erst aufs Neue füllte, und schien nun seinerseits reichliche und volle Rache an dem nehmen zu wollen, der seine Erwartung vorher auf so peinliche Folter gespannt.
So tranken sie abwechselnd, jeder bei dem Genusse des anderen mit atemloser Angst das Abnehmen des verführerischen Giftes beobachtend, jeder, wenn die Reihe an ihn kam, seine früheren Gefühle in dem einen, alles andere ausschließenden Bewusstsein seiner Seligkeit vergessend. Und vor ihnen auf dem Ladentisch, das rechte heraufgezogene Knie mit seinen beiden Händen gefasst, den Körper, um das Gleichgewicht zu behaupten, etwas zurückgebeugt und die vergnügt lächelnden Augen fest auf das zechende Paar geheftet, saß der Händler Zacharias Smith und hatte allem Anschein nach seine herzliche Freude über dasselbe.
So schweigsam und verdrossen die beiden Wilden aber auch im Anfang gewesen waren, so munter wurden sie jetzt, als ihnen der Feuertrank erst durch die Adern rollte und in diesen mit seinem scharfen, zuerst allerdings belebenden Geist in ihre Köpfe stieg. Sie fingen an, kleine Bruchstücke von Kriegsliedern zu singen, lobten wahrscheinlich –denn Smith verstand ihre Sprache nur sehr unvollkommen – ihre eigenen vortrefflichen und unübertroffenen Eigenschaften, und es schien überhaupt, als ob ihre tolle Lustigkeit in dem Verhältnis stiege, wie die Flut in der zwischen ihnen stehenden oder vielmehr immer hin und her gehenden Flasche ebbte.
„Ugh!“, rief endlich der eine, als er eben wieder seinen Becher füllen wollte und nun zu seinem Entsetzen fand, dass die Flasche, die er gerade erst gegen das Licht gehoben und welche danach wohl noch anderthalb Becher halten musste, kaum einen guten Schluck mehr hergab. „Was das? Uiski drin und kommt nicht aus?“
Er drehte, während sich der andere neugierig und bestürzt zu ihm hinüberbog, die Flasche um und entdeckte hier zu seiner ihm nichts weniger als angenehmen Überraschung die eingedrückte Höhlung.
„Wah!“, rief er erstaunt aus. „Groß Loch hier – weißer Mann hat groß Loch in Flasche – ugh – schlecht – Indianer kriegt Flasche voll – in Loch nichts.“
„Ugh – schlecht!“, stimmte der andere bei und bezeugte durch ein den Gaumenlaut begleitendes Kopfnicken, dass er vollkommen derselben Meinung und ebenso mit der getanenen Äußerung einverstanden sei.
Der Händler erwiderte: „Ei, Indianer, da sieh dir nur all die anderen Flaschen an – das Loch ist in allen; sie halten nun einmal so ihr Maß und sind danach eingerichtet; wäre das Loch nicht, würde die ganze Flasche kleiner sein.“
„Ist nicht nötig“, brummte der Sprecher wieder. „Weißer Mann hat Felle gekriegt, ganz – bloß Kugelloch drin – Kugelloch kann wieder gemacht werden – weißer Mann muss das Loch auch machen!“ Und er hielt, in deutlicher Erklärung dessen, was er meinte, dem Händler die Flasche verkehrt hin, damit dieser solcherart und gewissenhaft das Versäumte nachholen könne.
„Ha, ha, ha!“, lachte der aber. „Das ist eine verdammt komische Zumutung – wie käm’ ich denn dazu, oben und unten einzuschenken – ihr habt ohnedies beide gerade so viel in euch hineingegossen, wie ihr bequemerweise tragen könnt.“
„Schad’t nichts“, brummte der zweite Indianer und deutete dabei auf die Flasche. „Loch wieder machen!“
„Ei nun, wenn ihr’s nicht anders wollt“, lachte der Händler und sprang, nach der Flasche greifend, von dem Ladentisch, „so kommt mir’s auf die paar Tropfen auch nicht an – hier, Kickapoo – halt denn einmal die Flasche – aber steh fest – Donnerwetter, Bursche, dir ist ja der Trunk schon jetzt in den Kopf gestiegen, und willst noch immer mehr haben?“
„Schad’t nichts“, grinste der Wilde; „sehr gut, mehr – viel besser Wort wie weniger – weniger schlechtes Wort.“
„Also auch nicht weniger heiß – weniger Hunger – weniger Durst?“, lachte Smith, während er sich zum Fass niederbog.
„Nein, nein!“, rief der Kickapoo, und seine Augen verschlangen schon jeden einzelnen Tropfen, der ihnen noch zugemessen wurde. „Immer mehr Durst – Durst viel gut – sehr viel gut!“
Das „Loch“ hatte freilich nicht so viel gegeben, als die beiden erwartet haben mochten; denn sie hielten den Inhalt, nachdem sie ihn vorher in den Becher ausgeschüttet, lange Zeit zwischen sich und schwatzten viel und eifrig in ihrer eigenen Sprache miteinander; endlich aber leerten sie ihn doch, und als der Händler hiernach unerbittlich blieb, ihnen noch mehr auszufüllen, holte einer von ihnen ein kleines zusammengerolltes Päckchen aus seiner Decke vor, das er aufwickelte und ein fein gegerbtes Otterfell zum Vorschein brachte.
Es war augenscheinlich, sie hatten dieses im Anfang nicht um Whisky hingeben, sondern vielleicht irgend andere Bedürfnisse, vielleicht für die Squaw daheim, die derlei Arbeiten auch verfertigen, eintauschen wollen. Die furchtbare Gier aber, die der rote Sohn der Wälder – einmal verführt – nach dem für ihn so verderblichen Genuss des Feuerwassers nährt und hegt, ließ den Kampf, den in ihrer Brust wahrscheinlich jetzt noch das bessere Gefühl bekämpfte, einen sehr kurzen sein.
Der Indianer warf das Fell, das der Amerikaner sorgfältig prüfte, auf den Ladentisch und verlangte im Anfang „halbe Flasche Uiski – nachher anderes“ – dafür; sie wollten nur einen Teil des anvertrauten Gutes vertrinken. Mit dem Genuss stieg aber auch die Gier danach, und Becher nach Becher voll ließen sie sich von dem kopfschüttelnden und keineswegs ganz damit einverstandenen Krämer nachgießen, bis auch der letzte Cent vertrunken und die unersättlichen Kehlen dennoch mehr verlangten.
„Mehr Uiski!“, lallte jetzt der eine mit stieren, glanzlosen Augen und streckte den einen Arm mit der Flasche dem Amerikaner entgegen, während er mit dem andern den schwankenden Körper am Ladentisch zu stützen suchte. „Mehr Uiski – Fell eine Flasche mehr wert.“
„Ihr bekommt keinen Whisky mehr!“, sagte aber, und zwar auf das Bestimmteste, der Händler; denn er fürchtete nicht mit Unrecht den wilden, zügellosen Geist seiner Gäste, der sich, so friedlich sie auch im nüchternen Zustande sein mochten, im trunkenen nur zu oft die Bahn brach und dann zu allem Schlimmen fähig war. „Ihr zwei habt mehr getrunken, als sechsen zuträglich gewesen wäre, und es ist besser jetzt, ihr legt euch ein paar Stunden aufs Ohr, um euern Rausch auszuschlafen.“
„Rausch? Ausschlafen?“, lallte der Ältere der beiden, indem er die Flasche am Hals ergriff und in die Ecke schleuderte, dass sie in tausend Scherben zerbrach. „Hahahaha! Weißer Mann – mehr, Po-co-mo-con nüchtern wie junges Waschbär – weißer Mann, trunken – wackelt hin und her wie junge Birke – hahaha – mehr Uiski – Blassgesicht – mehr Uiski – bei Gott!“
„Ihr bekommt keinen Tropfen mehr“, sagte der Händler und deutete nach der zerschmetterten Flasche. „Seid ihr gute Indianer? Tun das gute Indianer? Tun das nüchterne Waschbären? Packt eure Siebensachen zusammen, und ich will euch nebenan in mein Warenhaus bringen, da könnt ihr bis zum Morgen ausschnarchen, und morgen Früh sollt ihr dann auch noch jeder einen Becher voll auf den Weg haben – seid ihr damit zufrieden?“
„Ja!“, sagte der Ältere. „Ja, sehr gut, Becher voll, sehr gut – aber gleich trinken – dann morgen, morgen andern.“
„Du bist gescheit – nein, schlaft nur erst aus“, lautete die Antwort.
„Go to hell!“, knurrte jetzt gereizt der Jüngere. „Bleichgesicht – betrügt roten Mann – Bleichgesicht tut nichts umsonst.“
„Würde schon Uiski geben“, lallte der andere schluckend, „wenn wüsste – hick – wenn wüsste, was ich weiß – hick!“
„Möglich!“, sagte Smith lakonisch.
„Nich möglich!“, rief, durch die Ruhe des Weißen gereizt, der Indianer. „Nich – hick – nich möglich, gewiss! Indian weiß großes Geheimnis für weißen Mann, dam you – hick – großes Geheimnis von Konzas – hick – aber Uiski, mehr Uiski.“
„No, you d’ont!“, lachte der Händler, der nichts anders glaubte, als der Wilde machte ihm hier etwas weis, um nur noch einen Becher voll Whisky herauszupressen. „Du behältst dein Geheimnis und ich meinen Whisky, das wird das Gescheiteste sein.“
„Dam you!“, brummte der Wilde. „Ihr gebt ganz Fass voll – hick – vor Geheimnis – weißer Mann – hick – ugh – ganz zwei Fass voll – hick –weißer Mann unter Indian – ugh – sieht gut – hick – sieht gut aus – hick – großer Krieger – hick – hahahaha – wohl auch Fass voll wert – hick?“
Der Jüngere, der doch nicht so ganz trunken sein mochte als sein älterer Gefährte und vielleicht eine Art Ahnung hatte, wie jener durch sein Schwatzen sie beide in Unannehmlichkeiten verwickeln könne, ergriff seinen Arm und suchte ihn fortzuziehen; der aber stieß ihn mit mürrischem Fluch von sich.
„Dam you! – Mehr Uiski – huih!“ Und sein gellender Schlachtschrei tönte die ganze Straße hinab, sodass die Kinder im Spielen aufhörten und die Einzelnen, die in dem mehr und mehr anbrechenden Abend noch draußen vor den Türen weilten, überrascht die Köpfe hoben, um dem unheimlichen Ton, der vielleicht bei manchem gar trübe Erinnerungen ins Gedächtnis zurückrief, zu lauschen.
Smith war aber auch aufmerksam geworden – ein Weißer unter den Indianern als Indianer – denn etwas Ähnliches schien unfehlbar die wirre Rede anzudeuten – er wusste selbst nicht, woher es kam, aber fast unwillkürlich zuckte ihm der Gedanke an Mrs. Rowland durch den Kopf, und er beschloss jetzt, jedenfalls dieser Spur so rasch wie möglich zu folgen.
„Hallo, Indian – ist das wahr, was du da sprichst?“, redete er diesen an und trat, um den Ladentisch herum, auf ihn zu.
„Aha“, grinste die Rothaut, „hat Po-co-mo-con recht? Hick – Bleichgesicht gäb’ ganz Fass voll – hick – für – hick – für Geschichte – hier Becher.“
Smith füllte kopfschüttelnd den Becher aus einem auf dem Ladentisch stehenden Krug und schaute dabei forschend und von der Seite den Indianer an – der aber hatte des Guten schon zu viel getan – mit gläsernen Augen und mattem Lächeln hob er das Gefäß noch einmal an die Lippen – aber er vermochte schon nicht mehr zu schlucken.
„Hick!“, lallte er, und der Whisky strömte über seine braune Brust und das blutige Hemd. „Hick – weißer Mann, gut – hick – Uiski besser – hick – sehr bes – ser – hick!“
Und der Becher entfiel seiner Hand – Po-co-mo-con tat einen Schritt vor, um sich im Gleichgewicht zu halten, glitt auf dem nassen Boden aus und wäre, hätte ihn der Händler nicht noch gefasst, auf die Erde niedergeschlagen. Aber an Rede-und-Antwort-stehen durfte er an diesem Abend nicht mehr denken, selbst der Jüngere schien so trunken, oder stellte sich wenigstens so, um vielleicht den Fragen zu entgehen, dass auf eine vernünftige Antwort bei allen beiden nicht mehr zu hoffen war.
Smith also tat das Einzige, was er unter diesen Umständen tun konnte – er schleppte die Bewusstlosen, da es unterdessen überhaupt fast dunkel geworden, ohne Weiteres in ein neben seiner Wohnung leer stehendes kleines Gebäude, das er zugleich mit als Warenlager benutzte, warf sie hier auf eine Partie Hirsch- und Bärenhäute, die in der einen Ecke ausgebreitet lagen, und verließ sie hier hinter vorsichtig verschlossener Tür mit dem festen Entschluss, sie am nächsten Morgen nicht eher ziehen zu lassen, bis sie auf das Genaueste gebeichtet hätten, wie es mit dem Weißen unter den Indianern stand und ob sich die Sache wirklich so verhielt, wie er jetzt noch glaubte.
Als aber der nächste Morgen kam und Smith mit dem Frühesten in der Absicht hinüberging, seine Gefangenen zu wecken, fand er zu seinem unbegrenzten Erstaunen das Nest schon leer und von den Indianern keine Spur, ja bei näherer Untersuchung ergab sich sogar, dass sie durch eine Ecke des niedern Daches, wohin sie auf den rauen Balken leicht gelangen konnten, ausgebrochen seien und ihm zwei vortrefflich geräucherte Hirschkeulen, für die er erst gestern per Stück einen silbernen Vierteldollar bezahlt, als Zehrung mitgenommen hatten.
Der Verlust der Keulen schmerzte ihn aber am Wenigsten; sie hatten getrunken, und er würde ihnen auch gern zu essen, ja die Keulen vielleicht mit auf den Weg gegeben haben, wenn er nur gewusst hätte, wie es mit dem „Geheimnis“ stand. Der Wunsch blieb aber Wunsch, und wenn er auch im ersten Augenblick an eine Verfolgung dachte, so gab er den Gedanken gleich wieder als unausführbar auf; denn dass die Wilden sich alle Mühe geben würden, keine Fährten zu hinterlassen, ließ sich denken.
Was aber nun tun? Smith zerschnitzte in allem Brüten und Nachdenken ein paar Stücke Holz, die ihm bei ruhigem Blut einen ganzen Tag vorgehalten hätten, und kam immer noch zu keinem Resultat. Sollte er Mrs. Rowland etwas von der gefundenen Spur sagen, ohne ihr eine Gewissheit geben zu können? Es wäre grausam gegen die arme alte Frau gewesen, die nachher in vielleicht nicht einmal befriedigter Hoffnung vergangen wäre.
Ließe sich außerdem auch nicht denken, dass der lügnerische Wilde doch am Ende nur ein Märchen erfunden haben konnte, um noch einen Schluck Whisky zu erpressen? Aber der andere, sein jüngerer Gefährte, war augenscheinlich bestürzt geworden, als der ältere das Thema berührte – ha! Da ging ein Mann vorüber, der ihm, gerade hierin, gar nicht erwünschter hätte kommen können.
„Heda, Tom – oh, Tom!“, rief er, rasch in die Tür tretend.
„Hallo, Smith, was gibt’s so früh?“, nickte ihm der Angerufene freundlich hinüber. „Guten Morgen! Schon ausgeschlafen?“ Er ging zu dem Hause hinüber und blieb in der Tür, auf seine Büchse gestützt, stehen.
Tom Fairfield war eine kräftige, edle Gestalt, ein echter Hinterwäldler, Jäger mit Leib und Seele, und nie zufriedener, als wenn er draußen in seinem Wald einer Fährte folgen oder eine Falle stellen konnte. Er schien auch jetzt wieder unterwegs, trug die Büchse in der Hand, den leichten spanischen Packsattel und Zaum auf der Schulter, um sein Pferd draußen im Busch zu suchen, er hatte die wollene Decke übergeschnallt, um da zu lagern, wo ihn die Nacht gerade überraschen würde.
„Hört, Tom“, sagte aber Smith mit einem weit ernsthafteren Gesicht, als das sonst seine Sache war, und zog dabei den jungen Mann in den Laden herein. „Ihr seid doch mit Rowlands gut bekannt – nun, braucht nicht rot zu werden, mein Junge – hier, nehmt einmal einen Schluck, es ist Dogwood und Cherry Bitteres, und wird Euch in dem Tau heute Morgen guttun – das ganze Städtchen weiß ja doch, dass Ihr Rosy auf unmenschliche Art den Hof macht.“
„Unsinn, Smith!“, sagte Tom Fairfield und leerte, um seine Verlegenheit zu verbergen, das dargebotene Glas auf einen Zug.
„Bah, Mann!“, rief aber dieser. „Was wollt Ihr da noch leugnen? Aus bloßer Freundschaft versorgt Ihr nicht die ganze Wirtschaft mit Feuerholz und Wild; das sollt Ihr mir nicht weismachen.“
„Und wen hätten denn die alleinstehenden Frauen –“
„Ach, papperlapapp – das sind Redensarten und tun hier auch nichts zur Sache. Rosy ist ein liebes, gutes Mädchen, und Ihr seid ein hübscher junger Kerl, ein guter Jäger und – wenn es sein muss, auch ein guter Arbeiter; was sollte Euch also hindern, selber eine Wirtschaft anzufangen? Doch hier ist etwas, um das ich Euch fragen will – wollt Ihr Rowlands einen großen, einen sehr großen Dienst leisten?“
„Rowlands, was ist es, sprecht?“, rief Tom, augenscheinlich bestürzt über die Feierlichkeit des Mannes. „Steht es in meinen Kräften?“
„Das müsst Ihr selbst beurteilen“, sagte Smith und machte ihn nun in kurzen Worten mit dem bekannt, was er sowohl gestern Abend von den Indianern gehört, wie auch, was er selber über die Sache denke.
Fairfield hörte ihm schweigend und mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu, er schien jedes Wort von den Lippen des Redenden zu nehmen und nickte nur manchmal, wenn der Händler irgendetwas äußerte, das seinen Ideen begegnete, leise mit dem Kopf.
„Und Ihr glaubt, dass Mrs. Rowlands Sohn unter den Konzas lebe?“, sagte er endlich, als der Händler schwieg, und sah diesen fragend an.
„Lieber Gott“, meinte Smith, „man weiß wahrhaftig nicht, was man glauben soll; lebt aber wirklich einer dort als Indianer, und die Rede des trunkenen Schufts lässt mich das in der Tat vermuten, ei, warum sollte es denn nicht ebenso gut der junge Rowland wie irgendwer anders sein können? Es käme auf die Reise an; die ist aber allerdings keine Kleinigkeit, und gerade ein Mann, wie Ihr seid, gehört dazu, ein so kühnes Wagnis auszuführen. Wie weit glaubt Ihr, dass es bis zum Stamm der Konzas ist?“
„Auf die Entfernung kommt es da nicht so an“, sagte sinnend der junge Jäger, „aber der Stamm der Konzas ist groß und weitverbreitet; die Indianer werden dabei, wenn sie es wirklich wissen, nicht so gesprächig über einen Fall sein, der sie vielleicht in gefährliche Berührung mit ihren weißen Nachbarn bringen könnte.“
„Wie alt wäre denn der Junge jetzt?“, fragte Smith.
„Fünfundzwanzig Jahre; Mrs. Rowland sprach noch gestern von ihm und sagte, sein Geburtstag sei an dem Tag gewesen; aber“, setzte er leiser hinzu, „sie dürfte keine Silbe davon erfahren, die Angst und Erwartung würde sie töten.“
„Das ist’s ja eben, was mir so im Kopf herumgegangen“, meinte Smith, „und deshalb war mir Euer Anblick heute so willkommen; die Freude aber, wenn Ihr mit ihm zurückkehrtet –“
Auch vor Toms innerem Geiste schien ein derartiges Bild vorüber zu schweben, er lächelte still vor sich hin und strich dann mit der Hand leicht über die Stirn. „Smith“, sagte er und bog sich zu ihm hinüber. „Ihr scheint Euch für die Leute zu interessieren, und das freut mich von Euch. Ihr wisst aber nicht, Ihr könnt das nicht gut wissen, wie glücklich mich die Erfüllung dieses heißen Seelenwunsches der armen alten Frau machen würde, und schon deshalb bin ich Euch zu unendlichem Dank verpflichtet, dass Ihr mir auch nur eine Aussicht auf die mögliche Verwirklichung dieser Hoffnung gebt. – Ich gehe zu den Konzas, und das noch in dieser Stunde!“
„Was! Jetzt gleich?“, rief Smith erstaunt. „Das ist ja aber gar nicht möglich! Zu einer Reise von wenigstens hundertzwanzig Meilen müsst Ihr Euch doch wahrhaftig mehr vorbereiten, als wenn Ihr bis an den nächsten Wasserkurs einen Bären oder Hirsch schießen geht!“
„Weshalb?“, lachte Tom. „Ob ich acht Tage hier in der Nähe oder irgendeine Strecke weiter entfernt lagere, bleibt sich das nicht gleich? Im Wald bin ich doch, und was sollt’ ich sonst zu meiner Bequemlichkeit noch mitnehmen?“
„Doch wenigstens Proviant.“
„Den liefert mir der Wald selber, meine Decke habe ich auch bei mir und mein Kopfkissen“, er deutete dabei lachend auf den Sattel. „Und was braucht’s da mehr.“
Kurz, trotz aller Vorstellungen des Händlers ließ sich Tom Fairfield nicht mehr von dem einmal beschlossenen Zug abbringen, und alles, wozu er bewogen werden konnte, war, wenigstens ein Stück Speck und Maisbrot und etwas gemahlenen Kaffee mit in seine Decke zu wickeln, und zwar den Speck, um etwas Fettes zu dem sonst trockenen Hirsch- und Truthahnfleisch zu haben.
Eine halbe Stunde später nahm er von dem Händler herzlichen Abschied, bat ihn noch einmal, nicht eine Silbe über die Sache, selbst nicht gegen seine Frau zu erwähnen (bei welchem Gedanken, dass er nämlich seiner Frau ein Geheimnis anvertrauen werde, Zacharias Smith in ein lautes Gelächter ausbrach), und war zehn Minuten später, auf dem kleinen Waldpfad rüstig dahinschreitend, gerade da in dem Holz verschwunden, wo ein niederes Dickicht von Sassafras und Dogwood ihn rasch den Blicken des Nachschauenden entzog.
Smith stand noch eine ganze Weile dicht neben seinem Hause, von wo er den freien Platz nach dem Wald zu übersehen konnte, und erst dann, als der junge Mann schon lange, lange in den Büschen verschwunden war und die freundlich hinter ihm über dem Wald aufsteigende Morgensonne seinen eigenen Schatten weit und geisterhaft über den Hof und im Zickzack über die Lattenfenz warf, kehrte er plötzlich rasch in den Laden zurück, öffnete die hintere Tür und rief in die Küche hinaus:
„Mrs. Smith!“
„Sir!“, lautete die Antwort.
„Wenn jemand nach mir fragen sollte, ich bin hinüber zu Cowleys gegangen.“
Und Zacharias Smith schritt, die Hände nachdenkend auf dem Rücken gekreuzt, langsam die Straße hinunter dem bezeichneten Hause zu.
„Hm“, sagte gleich darauf Mrs. Smith, und ihre scharfe, von der Kaminglut jetzt etwas echauffierte Nase wurde zwischen zwei ärgerlich blitzenden grauen Augen sichtbar.
„Hm – bin zu Cowleys gegangen – das ist immer so die Art: wenn jemand nach mir fragt, ich bin zu Cowleys gegangen, und die Frau geht nie zu Cowleys, die kann zu Hause sitzen und die Wirtschaft besorgen, und alle Augenblicke, wenn jemand kommt, in den Laden springen. Na, das Leben hätt’ ich satt!
Und was jetzt nun wieder im Wind ist – mein Mann heute Morgen vor Tagesanbruch aufgestanden – das ist vor seinem Ende – und diese Geheimniskrämerei mit der Mrs. Rowland! Oh, ich hab es wohl gehört, mein guter Mr. Smith!“ Und sie wandte sich in triumphierendem Hohn der Himmelsgegend zu, in der sie ihren Ehegatten jetzt vermutete.
„Mrs. Smith hat keine Baumwolle in den Ohren, wenn sie etwas hören will – Mrs. Rowland sprach von ihm und sagte – und der junge Rowland unter den Indianern – und Mr. Tom hingeschickt, ihn zu holen – oho, Mr. Smith, so ganz auf den Kopf sind wir denn doch nicht gefallen, dass wir uns da nicht unser Teil herausstudieren könnten.
Also haben sie den Jungen endlich gefunden – ein schöner Strick wird das geworden sein – und mein Mann steckt mit in der Geschichte drin – gibt sich so jetzt immer mit den ekelhaften Indianern ab – heiliger Gott, war das gestern Abend wieder ein Skandal und Flaschenzerschmeißen! Der fromme Vater Billygoat wird schön mit dem Kopf schütteln, wenn ich ihm das erzähle.
Und ich erfahre kein Wort von der ganzen Geschichte – oh, Gott bewahre! Seiner ihm ehelich angetrauten Frau sagt der saubere Herr kein Sterbenswörtchen, aber zu Cowleys geht er hinüber. Mr. Cowley und Mrs. Cowley, die müssen ihren Senf dazu geben, zu jeder Neuigkeit, und ihre Finger in jeden Kuchen stecken.
Aber warten Sie nur, Mr. Smith, warten Sie nur, my dear Sir! Der Sache komme ich auf den Grund, und wenn ich zu Mrs. Rowland selber hingehen sollte, mich zu erkundigen; tausendmal hab ich mir’s gefallen lassen, jetzt aber hat meine Geduld ein Ende, und nun will ich doch sehen, ob ich mit meinem Kopf nicht durch eine eben so dicke Wand durchdringen kann, wie Mr. Smith mit dem seinigen.“
Und mit diesem löblichen Vorsatz tauchte sie urplötzlich wieder in ihre Küche unter und ließ die blechernen Kaffeekannen und eisernen Pfannen und Töpfe, die rings an den Wänden herum hingen und standen, in unbegrenztem Erstaunen über die so schöne und mit solcher Lebhaftigkeit gehaltenen Rede allein zurück.
Wenn aber auch Mrs. Smith in der ersten Aufregung gekränkter Wissbegierde einen so verzweifelten Entschluss gefasst haben konnte, der Mrs. Rowland geradezu ins Haus zu rücken und eine Mitteilung von dem zu verlangen, ja zu fordern, was sie mit ihrem ehelich verbundenen Gatten an Geheimnissen zu verhandeln habe, so schien sie doch bei kälterem Blut auch gemäßigteren Empfindungen Raum zu geben, und versuchte erst einmal ihr Überredungstalent an dem Gatten selber.
Der aber blieb zwölf volle Tage taub und stumm sowohl gegen die Plänkeleien versteckter Anspielungen, wie gegen das schwere Geschütz direkter Fragen, und da auch in dieser ganzen Zeit Tom Fairfield sich nicht wieder in Boonville sehen ließ, ja hier und da schon Besorgnisse laut wurden, ob ihm nicht gar etwas zugestoßen sein könnte, kein Mensch aber Aufschluss über seine unerklärlich lange Abwesenheit zu geben wusste, so konnte sie ihre Neugierde nicht länger zähmen, und beschloss nun wirklich, Mrs. Rowland – sie war ihr das ja doch aus nachbarlichen Rücksichten schuldig – einmal freundlich zu besuchen. Sie fühlte sich dabei fest überzeugt, es würde ihr, einmal im Gleis, nichts weniger als schwer werden, einen kleinen Überblick über die näheren, jedenfalls höchst interessanten und jetzt so geheim gehaltenen Verhältnisse zu bekommen.
Der vierzehnte Tag nach dem Aufenthalt der beiden Indianer in Boonville war es und der erste im Monat September zugleich, der sich aber mit schwülen Gewitterwolken angekündigt hatte und die trüben, schweren Nebelmassen bald in zerrissenen grauen und schwarzen Streifen, bald in kompakten, wetterschwangeren Schichten über die ächzende, schwankende Waldung von Ost nach West stürmisch hinüberjagte.
Mrs. Rowland saß in ihrem Stübchen, warm eingehüllt in Polster und Tücher, auf einem rohgearbeiteten, aber bequemen Sorgenstuhl, denn der Wind strich heute trotz der sonst eigentlich sehr warmen Jahreszeit frisch und erkältend über die Lichtung hin, und die alte Frau hatte sich gerade in den letzten Tagen wieder unwohler gefühlt, als seit langer Zeit.
Zu ihren Füßen saß Rosy, das liebe, holde Kind, leise den linken Arm auf der Mutter Knie gestützt, und in der Rechte das kleine, zierlich gebundene Testament haltend, aus dem sie der mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen aufmerksam lauschenden Frau die herrlichen Worte der Bergpredigt, die süßen Trost und heilige Zuversicht atmende Rede Christi las.
Sie hatte eben ein Kapitel beendet, und eine Träne glänzte in ihrem Auge, als sie das Buch senkte und zu dem bleichen, abgezehrten, kummerschweren Angesicht ihrer Mutter emporschaute – leise berührte sie ihre Hand und flüsterte:
„Soll ich weiter lesen, Mutter?“
„Lass es jetzt, liebes Kind“, sagte die Matrone und legte schmeichelnd die abgezehrten Finger auf das gescheitelte Haar der Jungfrau. „Lass es, du hast dich schon zu viel angestrengt und auch noch andere Sachen zu tun, die ebenfalls getan sein müssen. Wie wär’s denn, wenn du einmal zu Cowley hinüber gingest und ihn bätest, uns seinen Neger auf ein halbes Stündchen zu schicken, dass er etwas Feuerholz zum Hause schaffte – nur ganz wenig – Tom kommt gewiss heute wieder.“
„Es ist Feuerholz in Menge da“, sagte Rosy schnell. „Ich ging, weil wir doch gestern Abend das letzte hereingeschafft, heute Morgen recht früh in den Wald und holte einen Armvoll, um die Suppe für dich zu kochen, und als ich wieder kam, hatte Mr. Cowley schon seinen Jim mit einer ganzen Wagenladung voll herübergesandt, und ging eben daran, es in Kaminlänge zu hauen. Er hat mir auch ein großes Rückenstück hereingetragen; du schliefst noch, Mütterchen.“
„Cowleys sind brave Leute“, flüsterte die Matrone. „Gott vergelte es ihnen! Es ist doch bös, wenn man so ganz allein in der Welt steht – keinen Sohn – keinen Freund –“
„Mutter!“, bat mit wurfsvollem Ton Rosy.
„Du hast recht, mein Kind, ich bin vielleicht ungerecht gegen Tom Fairfield gewesen, und – doch wenn auch er nun nicht wiederkehrt –wenn auch er nun –
Sei nicht böse, mein Kind“, unterbrach sie sich selber nach ziemlich langer Pause, „du weißt ja, wie trüb und traurig mir gerade an dem heutigen Tage zumute sein muss, dem Jahrestag jenes fürchterlichen Morgens – ich sehe da alles schwärzer, als es vielleicht wirklich ist, und begreife dann manchmal fast selber nicht, wie es möglich war, dass ich – ich – alte schwache Frau sie, die Kräftigen alle, alle überleben musste.
Oh, es ist recht hart, nicht sterben zu können, weil man nicht weiß, ob man nicht doch noch das Liebste – das eigene Kind – allein zurücklässt in der Welt. Es ist recht hart, nicht leben zu können, weil das arme Herz die Sehnsucht nach den Lieben, wenn sie wirklich schon vorangegangen, verzehrt.“
„Mutter!“, bat die Tochter, stand auf, barg ihr Antlitz auf der Schulter der Kranken und flüsterte mit leiser, von Tränen fast erstickter Stimme: „Wenn ich dir auch den Sohn nicht ersetzen kann, lieb habe ich dich ja doch wie meine eigene Mutter.“
Mrs. Rowland antwortete nichts, aber fest und liebend schlang sie die Arme um das blühende Kind und hielt es lange und fest an ihrem Herzen.
Da klopfte es ziemlich lebhaft an ihre Tür, und froh erschreckt und mit freudestrahlenden Augen sprang Rosy empor und eilte zu öffnen; auch Mrs. Rowland richtete sich etwas in ihrem Stuhl auf und schaute mit lebhafterem Blick dorthin, denn das Klopfen war ganz so, wie Tom Fairfield bei ihnen anzupochen pflegte – und wie lange, schmerzliche Tage hatte Rosy auf das Pochen umsonst und mit immer wachsenderer Angst und Sorge geharrt!
Rasch und mit vor Freude zitternder Hand zog sie den Pflock zurück, der, einfach von innen vorgesteckt, die Tür verschloss, und öffnete rasch – ein schmerzlich erstauntes „Ach!“ entfuhr aber ihren Lippen, und auch Mrs. Rowland wandte sich enttäuscht ab und sank wieder mit leisem Seufzer in ihre Kissen zurück, als das zwar gutmütige, aber doch scharfe und gerade heut gewiss nicht willkommene Angesicht der Mrs. Smith auf der Schwelle sichtbar wurde.
An ein Abweisen war aber gar nicht mehr zu denken – die Lady sah die Bresche kaum offen, als sie auch mit löblichem Eifer hereinstürmte, sich augenblicklich einen Stuhl neben Mrs. Rowland rückte, und dann zwischen tausend Entschuldigungen, dass sie hier so ohne alle Anmeldung hereinbreche, dass aber das Wetter sie gerade überrascht habe, weil es eben zu regnen anfange, und dass sie nach Cowleys eigentlich hinüber gewollt, sich aber die Freude unmöglich habe versagen können, diese Gelegenheit, wo sie gerade in der Nähe ist – sie wohnte überhaupt kaum fünfzehnhundert Schritt von Mrs. Rowland entfernt – einmal zu benutzen und zu sehen, wie es der „lieben, lieben Kranken“ denn eigentlich gehe.
Mrs. Rowland antwortete auf alles das mit leiser Stimme und bündigster Kürze; sie hoffte vielleicht dadurch, dass sie Mrs. Smith keinen Anlass zu einer Unterhaltung gab, den Besuch etwas abzukürzen.
War das aber wirklich ihre Absicht gewesen, so kannte sie Mrs. Smith ungemein schlecht oder traute ihr wenigstens viel mehr Ungeselligkeit zu, als sie wirklich besaß.
Die gute Dame fragte nur einmal, und zwar gleich im Anfang, ob sie geniere, und als sie darauf ein höfliches, wenn auch etwas zögerndes Nein zur Antwort erhalten, säumte sie auch keinen Augenblick länger, es sich so bequem wie möglich zu machen, legte ihre Haube und den großen baumwollenen Regenschirm ab, zog die Halbhandschuhe aus, nahm die kurze Schilfpfeife aus der Tasche, die sie schon gestopft – oder geladen, wie Mr. Smith manchmal sagte – bei sich trug, holte sich im Kamin eine glühende Kohle, und befand sich, wie sie selber sagte, als sie sich ganz behaglich auf dem Stuhl zurechtrückte, so wohl und vergnügt hier wie zu Hause.
Mrs. Rowland griff dieses ununterbrochene auf sie Einreden, selbst wenn sie nur wenig oder gar keine Antwort zu geben brauchte, auf die Länge der Zeit so an, dass sie endlich bleich und erschöpft in ihren Stuhl zurücksank und die Augen schloss. Selbst Mrs. Smith fühlte, dass sie der Kranken erst wieder einige Ruhe gönnen müsse, gedachte aber dafür indessen mit dem jungen Mädchen zu beginnen, um damit desto sicherer ihrem Ziel entgegenzurücken; denn gerade fragen mochte sie doch auch nicht.
„Es wird nun bald lebendiger hier im Hause werden“, sagte sie, als Rosy der Mutter die Kissen zurechtgerückt und ihren Platz wieder neben ihr, oder eigentlich zwischen ihr und der Kranken, um den Zungenschwall in etwas abzuwehren, eingenommen hatte. „Ja, wo so ein Mann ist, geht die Sache gleich anders.“
Rosy, das arme Kind, errötete bis tief in das Halstuch hinein, sah aber auch zu gleicher Zeit erstaunt zu der Geschwätzigen auf.
„Ih nun, Miss“, fuhr Madame – dadurch, dass sich das junge Mädchen ihrer Meinung nach gar zu gleichgültig stellte, etwas gereizt – fort. „Sie brauchen nicht so erschrecklich unschuldig zu tun, ich weiß die ganze Geschichte – bei mir ist’s aber auch aufgehoben, als ob’s im Grabe ruhte – von mir erfährt wahrhaftig niemand eine Sterbenssilbe.“
„Aber, beste Mrs. Smith –“
„Aber, beste Rosy Baywood – wenn Sie denn einmal selbst nicht gegen mich davon sprechen wollen, so habe ich nichts dagegen. Wie lange ist er denn aber nun schon eigentlich verloren?“
„Verloren? Also glauben auch Sie, dass er verloren ist?“, rief jetzt Rosy in der Angst um den geliebten Mann – denn auf diesen musste sie doch natürlich das Gesagte beziehen.
„Ist? Gewesen ist, beste Miss“, sagte Mrs. Smith lächelnd; „und das war ja noch das Glücklichste, was Sie sich hätten denken können. Aber nach so langer Zeit einen Menschen unter den entsetzlichen roten Wilden wiederzufinden, scheint mir doch wirklich etwas erschrecklich Merkwürdiges. Was ich doch sagen wollte: Wie lange ist es also her, dass ihn Mrs. Rowland verloren hat?“
„Mrs. Rowland?“, wiederholte, jetzt wieder ganz irregemacht, das junge Mädchen, und die alte Frau, ob nun durch Nennung ihres Namens aus ihrem Halbschlaf geweckt oder schon längst vielleicht den Worten mit geschlossenen Augen lauschend, wendete leise den Kopf nach der Redenden und schaute zu ihr auf. „Mrs. Rowland? Ich weiß gar nicht –“
„Nun, einige zwanzig Jahre muss es doch gewiss sein“, fuhr die unverwüstliche Mrs. Smith, der es jetzt nur darum zu tun schien, die beiden Frauen wissen zu lassen, sie kenne die ganzen Verhältnisse genau und sei vollkommen vertraut mit denselben, ruhig fort. „Ich weiß mich noch recht gut zu erinnern, wie mein Seliger, John Rosbeard von Connecticut, der auch damals hier eine Bleimine angelegt oder gefunden hatte, davon sprach. Aber wenn sie ihn nur vorher erst abwaschen, ehe sie ihn mit hereinbringen.
Jesus, meine Zuversicht! So ein gemalter Mensch ist doch was Fürchterliches, wenn er blaue Backen, eine gelbe Nase, rote Ohren und grüne Lippen hat – und die Skalpe! Denken Sie sich, wie mir einmal mein Seliger das Skalpieren beschrieb und seinen Skalp, der ihm doch noch ganz fest und gesund auf dem Kopf saß, mir zeigte, fiel ich Ihnen wahrhaftig um wie ein Stück Holz, so ohnmächtig wurde ich – wenn sie nur nicht skalpieren wollten! Das andere ließe man sich noch immer gefallen, aber das Skalpieren ist fürchterlich.“
„Mrs. Smith!“, rief da plötzlich Mrs. Rowland, von ihrem Stuhl in Angst und peinlicher Überraschung emporfahrend, denn der Dame Reden, die so ganz zu dem stimmten, über das sie ja den ganzen tränenlangen Tag getrauert, trieben ihr das Blut in rasender Schnelle durch die Adern und machten ihr Herz fast hörbar klopfen.
„Mutter“, bat Rosy, die bestürzt der Leidenden erregten Zustand erkannte und rasch auf sie zusprang, um sie zu beruhigen, „Mutter, es ist nur ein Missverständnis!“
„Gott bewahre, Mrs. Rowland“, fiel da rasch die Dame ein. „Ich glaubte ja gar nicht, dass Sie es hören würden; nein, ans Skalpieren wird er nicht mehr denken, wenn er das auch früher getan hat, denn das lassen die schrecklichen Menschen nun einmal nicht – es sind ihre Siegestrophäen, wie sie’s nennen – aber Mr. Billygoat wird ihn schon lehren, was guter und echter Christen Pflicht ist – nein, es ist doch ein herrlicher Mann, dieser Mr. Billygoat.“
„Mrs. Smith“, sagte die Kranke leise, und die Hand, die Rosy zurückschob, zitterte wie in Fieberfrost, „wer wird nicht mehr ans Skalpieren denken? Wer trägt die Farben und Abzeichen der Wilden – wer – großer Gott, die ganze Stube dreht sich mit mir – wer war verloren – zwanzig Jahre – und ist und ist wieder gefunden?“
„Aber, liebe Mrs. Rowland“, lächelte gutmütig die würdige Kaufmannsfrau, „was tun Sie nur gegen mich so geheimnisvoll? Ich weiß ja die ganze Geschichte – ist denn nicht jetzt eben Tom Fairfield fortgeritten, um ihn zu holen? Ich weiß nur noch nicht bei welchem Stamm er ist, denn den Namen konnte ich nicht recht verstehen; wenn Sie’s aber nicht wünschen, will ich ja auch wahrhaftig mit keinem Menschen ein Wort darüber wechseln.“
„Tom Fairfield fort, ihn zu holen – bei welchem Stamm?“, wiederholte die alte Frau mit zitternder, halblauter Stimme und presste sich die Stirn zwischen die eisigen Hände. „Heiliger Gott! Träume ich denn, oder bin ich wahnsinnig geworden in Kummer und Gram?“
„Nein, ist mir so eine Frau schon vorgekommen!“, sagte Mrs. Smith kopfschüttelnd, aber jetzt doch auch durch die Aufregung der Kranken etwas besorgt gemacht.
Rosy schrak empor – eine Ahnung dessen, was geschehen, was vielleicht im Werke sein konnte, zuckte ihr durch den Sinn, und einen Blick auf die unglückliche, alte Frau werfend, winkte sie ängstlich Mrs. Smith zu und bat sie durch Zeichen, kein Wort weiter von dem Begonnenen, was es auch sei, zu erwähnen.
Aber es war zu spät; ehe des Händlers Frau verstand, was sie sollte, oder ehe sich Rosy zu ihr neigen konnte, sie mit Worten darum zu bitten, hob Mrs. Rowland wieder den Kopf, und ihr Auge begegnete in demselben Moment dem ängstlich und bittend auf die Schwatzhafte gerichteten Blick der Pflegetochter.
Rasch begriff sie deren Meinung und wurde dadurch nur noch mehr in der peinlichen Gewissheit dessen bestärkt, was sie nicht einmal auszusprechen wagte, weil sie selbst dadurch schon den Zauber zu zerstören fürchtete, der ihr jetzt wie in einem süßen, wenn auch ängstlichen Traum die Sinne förmlich gefesselt hielt. Wie aber der Wahnsinnige schlau die Wachsamkeit seines Wächters zu täuschen weiß, so benutzte auch die Kranke mit fast konvulsivischer Hast die Gelegenheit, um der geschwätzigen Frau das Geheimnis, das für sie Tod oder Leben enthielt, abzulocken.
„Sie haben recht, Mrs. Smith“, sagte sie und versuchte dabei, mit der Qual im Herzen zu lächeln; „wir brauchen Ihnen nichts, gar nichts mehr zu verheimlichen.“
„Sehen Sie, beste Mrs. Rowland“, rief die Dame, jetzt völlig beruhigt, in triumphierender Freude aus, „das habe ich Ihnen ja auch gleich von Anfang an gesagt; aber mein Mann –“
„Und Tom Fairfield – ist ausgegangen – ihn – ihn zu holen – hierher nach Boonville zu holen.“
„Liebe, beste Mutter“, bat Rosy in ihrer Herzensangst, denn sie fürchtete nicht mit Unrecht die bösen Folgen, die solche Aufregung für die Kranken haben musste.
„Lass nur, mein Kind – lass nur“, beruhigte sie aber die Leidende, „mir ist jetzt vollkommen wohl – recht wohl, Rosy – und Tom Fairfield, Madame –“
„Nun, der kann doch wahrhaftig nicht lange mehr bleiben; aber – nicht wahr – er soll ihn mitbringen?“
„Ihn? Ja – ja – wohl – nicht mehr – Sie – Sie meinen doch –“
„Nun, Ihren Sohn!“
„Ha!“, schrie die alte Frau mit einem Laut, der den beiden durch Mark und Seele schnitt – Rosy warf sich augenblicklich über die zusammenbrechende Gestalt und rief nur noch mit vorwurfsvoller Stimme: „Oh, Mrs. Smith, was haben Sie getan, Sie haben sie getötet!“
Und diese würdige Dame stand im Anfang selbst zum Tod erschrocken, denn noch begriff sie den ganzen Zusammenhang nicht, und nur der Gedanke begann allmählich in ihr zu dämmern, dass sie doch wohl am Ende einen gewaltig dummen Streich gemacht und sich selbst in eine äußerst fatale Sache hineingearbeitet habe.
Hierin wurde sie auch bald durch Rosys Erklärung bestätigt, und als sie erfuhr, dass sie beide die Ursache von Tom Fairfields Abwesenheit gar nicht gewusst und über den Zweck seiner Sendung keine Ahnung gehabt, war sie außer sich. Sonst von Herzen seelengut und gewiss die Letzte, die irgendeiner ihrer Nachbarinnen – und nun noch besonders der wackern, unglücklichen, kranken alten Frau mit Willen weh getan hätte, wurde ihr der Gedanke unerträglich, durch ihre Schwatzhaftigkeit, die sie jetzt gar nicht genug verwünschen konnte, solches Unheil angerichtet zu haben.
Sie wich nun auch nicht von Mrs. Rowlands Seite, tat alles, was in ihren Kräften stand, um Rosy die Pflege zu erleichtern, und beruhigte sich nicht eher, als bis sie sah, dass sich die Ohnmächtige wieder erholt hatte und, aus Erschöpfung wahrscheinlich, in einen tiefen, gesunden Schlaf gefallen war.
Wunderbar war die Veränderung, die, nachdem sie sich wieder erholt, mit ihr vorgegangen schien. Rosy hatte schon von der Erinnerung an das Gehörte das Schlimmste befürchtet und deshalb auch mit klopfendem Herzen der Mutter Erwachen beobachtet – dem aber gerade entgegengesetzt, zeigte sich die Kranke vollkommen ruhig und hatte nicht etwa das Geschehene vergessen, sondern fing selbst wieder zuerst davon an, indem sie fragte, ob Tom mit ihm noch nicht zurückgekommen sei.
Rosy wollte ihr jetzt das Ganze noch ausreden und meinte, es seien ja doch nur Vermutungen der Frau – einzelne Worte, welche sie hinter der Tür erhorcht und die wahrscheinlich etwas ganz anderes bedeutet hätten.
Mrs. Rowland bat sie aber ruhig, ihr nicht durch solche freilich gutgemeinten Reden nur weh zu tun, indem sie ihr die einzige Hoffnung zu rauben suche, an der ihr Herz jetzt noch auf dieser Welt bange und mit deren Zerstörung es ebenfalls, wie sie das recht gut fühle, zugrunde gehen müsse.
Sie war dabei so gefasst, sprach so vernünftig über das Selige und Schmerzliche des ersten Begegnens, dass es Rosy, dem armen Kind, ordentlich unheimlich vorkam, und sie den Gedanken nicht los werden konnte, der Zustand der Kranken sei ein übernatürlich erregter, und ihr Körper werde jetzt nur auf kurze Zeit von dem stärkeren Geist aufrecht gehalten.
Wie dem aber auch war, Mrs. Rowland blieb den ganzen Tag so still und gefasst, erkundigte sich mehrere Male, ob sie denn noch nicht gekommen seien, und ließ es sich von Rosy fest versprechen, ihr nun, da das doch nichts mehr helfen könne, auch die Ankunft der beiden nicht zu verheimlichen – nur den Namen vermied sie zu nennen – das Wort Sohn war noch nicht über ihre Lippen gekommen.
So mochte es fünf Uhr nachmittags geworden sein. Mrs. Smith hatte schon mehrere Male nachgefragt, wie es der Kranken gehe, und sich eben wieder, wohl zum zwanzigsten Mal, über ihr ungeschicktes Benehmen am Morgen entschuldigt, als es wieder an die Tür klopfte und Mrs. Rowland mit einem kaum unterdrückten Schrei in ihrem Stuhl emporfuhr, denn als sich die nur angelehnte Tür öffnete, trat Tom Fairfield herein, aber – allein.
Rosy erschrak ebenfalls; ehe aber sie oder Tom ein Wort sprechen konnten, streckte ihm Mrs. Rowland mit stierem, entsetztem Blick den Arm entgegen, und rief mit vor innerer Bewegung kaum hörbarer Stimme: „Wo ist er?“
„Um Gott!“, sagte Tom erschreckt und sah Rosy an. „Woher weiß Ihre Mutter?“
„Wo ist er? Tom, wenn Ihr mich töten wollt, so zögert mit der Antwort.“
„Sie weiß alles“, bestätigte Rosy unter Tränen, und Tom, der bald fand, dass es aller der von ihm für nötig gehaltenen Vorbereitungen gar nicht mehr bedürfe, beruhigte, wenn er auch nicht begriff, durch wen sie es erfahren haben konnte, die Frau nun wenigstens vor allen Dingen insoweit, dass er ihr versicherte, er habe ihren Sohn gefunden und mitgebracht, und er sei wohl und gesund, sie aber solle sich heut Abend sammeln und vorbereiten, dass er ihr denselben morgen Früh herüberbringen könne.
Davon wollte die Mutter aber nichts länger hören. „Morgen? Weshalb nicht heute? Jetzt? War sie jetzt weniger gesammelt, als sie es morgen sein würde? Sicherlich nicht – die lange Nacht der Erwartung würde ihre Kräfte nur abspannen, und jetzt, jetzt wollte sie den so lange Jahre beweinten Knaben sehen – nicht morgen.“
Vorstellungen halfen nichts, und da auch Tom selber fühlen mochte, wie recht sie unter diesen Umständen habe, versprach er, ihr den Sohn in einer halben Stunde zu bringen, und bat sie nur, dann hübsch ruhig und gefasst zu sein und sich nicht, damit ihr das nicht schade, zu sehr von ihrem mütterlichen Gefühl hinreißen zu lassen.
Indessen war Mr. Smith daheim schon emsig beschäftigt, aus dem bei ihm eingeführten Wilden, der sich nach mehreren von Mrs. Rowland schon früher und oft bezeichneten Merkmalen wirklich als der verlorengegangene Sohn herausstellte, wieder einen anständigen weißen Menschen zu machen.
Vor allen Dingen wurde ihm die bunte Farbe abgewaschen, mit der er sein Angesicht noch viel mehr als die Indianer selber bestrichen hatte, um die weißere Haut nicht durchschimmern zu lassen; dann musste er zu seinem anscheinenden Leidwesen allen Schmuck ablegen, mit dem er sich behängt – besonders alles beseitigen, was an Skalpe und andere dem ähnliche Entsetzlichkeiten erinnerte, und zuletzt noch – und er stellte sich ungeschickt genug dabei an – in „menschliche Hosen“, wie sie Smith nannte, und nicht in solch oben abgeschnittene Dinger, die gerade da aufhörten, wo anständige Hosen erst recht anfangen sollten, hineinfahren. Auch Weste und Rock, Hemd und Schuhe bekam er nun.
Wenn er aber auch mit allem so ziemlich einverstanden schien, oder es wenigstens ohne Widerstand über sich ergehen ließ, so warf er doch die Letzteren augenblicklich wieder ab, weil sie ihn drückten und er die Füße darin nicht vom Boden heben konnte, und verschmähte auch auf das Hartnäckigste den schönen schwarzen Seidenhut, den ihm Smith schon mit wirklichem Behagen auf das zottig dunkelbraune Haar gedrückt hatte. Jeder Überredung hielt er standhafte Weigerung entgegen, und es blieb zuletzt nichts übrig, als ihn mit bloßem Kopf und barfuß seiner Mutter zuzuführen.
Das Wort Mutter war aber auch der einzige Zauberspruch, der ihn aus seinem wilden, freien Leben hierher geführt hatte in das „Dorf der Weißen“ – Mutter, der Klang tönte ihm wie eine in der Kindheit gehörte und lange vergessene Harmonie leise, aber mit solcher süßen Gewalt durch die Seele, dass er alle seine Herzensfibern erbeben fühlte und nicht zurückbleiben konnte – dem Himmelslaute folgen musste.
Und jetzt stand er vor der Tür, die ihm die weißen Männer an seiner Seite bezeichnet, und scheu wandte er nach rechts und links den Kopf, als ob er dem Augenblick, den er mit klopfendem Herzen herbeigesehnt, nun, da er endlich erschienen, rasch und ängstlich entfliehen wolle.
Krampfhaft und wie Hilfe suchend erfasste er den Arm Toms, der dicht an seiner Seite ging, und er schämte sich, dass ihn das „Bleichgesicht“ in solcher Aufregung sehen sollte.
„Ugh – wie mich friert“, flüsterte er leise und zog sich den Rock vorn, wie er das früher mit seiner Decke gewohnt gewesen, fest über der Brust zusammen.
Und drinnen im Hause saß, mit vor innerer Aufregung frisch geröteten Wangen und lebendigen, glänzenden Augen, die Matrone und hielt der Tochter Hand fest in der ihrigen, dass diese sie jetzt, nur jetzt nicht verlasse; denn draußen hörte sie Schritte – Stimmen, und in atemloser Spannung lauschte sie den Tönen, ob sie – heiliger Gott, wie ihr das Herz pochte! – die Stimmen des Kindes – des Sohnes nicht zu unterscheiden vermöge.
Und jetzt – jetzt öffnete sich die Tür, in die mit höflicher, freundlicher Verbeugung der Händler trat, und hinter ihm – Mrs. Rowland sah die freie männliche Stirn Tom Fairfields und – an seiner Seite – einen braunen, unbedeckten Kopf – sie richtete sich in ihrem Stuhl auf – alle Schwäche der Krankheit hatte sie verlassen, stark und allein stand sie, von niemand gehalten, von niemand unterstützt.
„Meine gute Mrs. Rowland“, sagte Smith; aber die Mutter sah nicht den Fremden, der sich zwischen sie und ihr Kind stellte.
„Mein Sohn – mein Sohn!“, rief sie; die Arme streckte sie sehnend, hütend nach den Männern aus, und jetzt – jetzt vermochte auch der Halbwilde nicht länger zu schweigen – er riss sich von Tom, der ihn noch zurückhalten wollte, los, schob den Händler beiseite, und flog mit raschem Sprung und dem leise – jubelnd gerufenen Laut: „Mutter!“ in die Arme der alten Frau.
Fest, fest hielt ihn diese umklammert, fest, als ob sie ihn im Leben nicht wieder loslassen wollte; aber ihre Kräfte schwanden auch in der einen Empfindung seligen Entzückens, und nur noch durch die Arme des Sohnes fühlte sie sich gestützt, gehoben.
„Mein Sohn, mein Kind!“, rief sie schmeichelnd, als er sie endlich leise auf den Stuhl zurückgleiten ließ und, halb unwillkürlich, halb von ihr gezogen, vor ihr auf die Knie niedersank. „Mein liebes, liebes Kind! Und doch endlich den Verlorenen wiedergefunden – doch jahrelange Sorge und Schmerzen noch belohnt bekommen, ehe das flüchtige Leben den alten schwachen Körper verließ – mein teures, teures Kind!“
John blieb lange und schweigend in ihrer Umarmung, und es war fast, als ob er sich schäme, von den „weißen“ Männern so schwach und weibisch gesehen zu werden – wenigstens warf er den Blick, als er endlich den Kopf erhob, scheu im Zimmer umher – aber er war allein mit der Mutter. Alle hatten das Zimmer verlassen, selbst Mrs. Smith, die jetzt, da ihre Voreiligkeit weiter keine bösen Folgen gehabt, wieder guten Mutes hergekommen war, um dem Wiedersehen beizuwohnen; sie wurde aber, sehr wider ihren Wunsch und Willen, von Mr. Smith freundlicher, als das sonst gewöhnlich geschah, unter den Arm gefasst und zur Tür hinaus begleitet.
Mutter und Sohn blieben lange allein. Dieser hatte bald auch die letzte Scheu überwunden und saß jetzt neben der Mutter, streichelte ihre Hand und nannte sie in seinem gebrochenen Englisch mit den süßesten, sanftesten Namen, die er finden konnte. Erst wohl nach Verlauf einer halben Stunde, und als sie sich beide vollkommen gesammelt hatten, traten die Übrigen wieder ein, und Tom musste jetzt vor allen Dingen erzählen, wie er den Verlorenen gefunden und ihn bewogen habe, mitzukommen. Er tat das, wenn auch nur in sehr kurzen Worten und Umrissen.
Den Stamm der Konzas hatte er am vierten Tage nach seiner Abreise von Boonville schon erreicht und dort augenblicklich seine Nachforschungen begonnen, aber eine bestimmte Antwort konnte er weder von den Kriegern noch vorn Häuptling erhalten – teils stellten sich alle, an die er sich wandte, als ob sie seine Sprache nicht verstehen könnten, teils leugneten sie, irgendetwas von einem Weißen in ihrer Nation zu wissen.
Aber gerade dieses Leugnen bestärkte den Amerikaner nur mehr und mehr in dem Glauben, dass diese nicht die Wahrheit sprächen; denn einige sahen ihn erstaunt an, als ob sie nicht begreifen könnten, wie er das erfahren hätte, andere wurden verlegen und sagten, sie wüssten es nicht genau, sie glaubten, es sei einmal früher einer bei ihnen gewesen – bis er endlich einen Halbindianer, einen kanadischen Franzosen traf, der ihn rasch auf die richtige Spur brachte.
Noch an dem nämlichen Abend führte er ihn in das Dorf, wo sich der „Weiße Hirsch“, wie sie ihn nannten, aufhielt, und wenn dieser auch im Anfang gar keinen Verkehr mit dem „Bleichgesicht“ haben wollte, ja sich sogar hartnäckig weigerte, ein Wort Englisch mit ihm zu sprechen, so ließ er sich doch zuletzt wenigstens willig von dem Dorf der Weißen erzählen, und fing sogar an, aufmerksam den Worten des Fremden zu lauschen, als dieser ihm von der Mutter sagte, die daheim in Sorge und Kummer so lange Jahre sehnsüchtig seiner geharrt und auf das Wiedersehen ihres Kindes gehofft habe.
Besonders und ordentlich auffällig erschütterte ihn aber Toms Rede, als dieser – wie sich der Verwilderte immer noch nicht bewegen ließ, ihm zu folgen – endlich ausrief: „Und so will denn der Weiße Hirsch, dass seine kranke, alte Mutter daheim allein dem Grabe zusiecht und keinen Sohn hat, der ihren Wigwam deckt – ihr Wild jagt und das Erlegte bereitet, sie zu stärken? Sollen Fremde ihr Grab graben, dass nicht Wolf und Aasgeier ihre Gebeine entheiligen?“
„Ugh!“, hatte er da ausgerufen. „Weißer Mann hat recht – Weißer Hirsch böser Sohn“, und in die Höhe sprang er und eilte hinaus in den Wald.
Tom Fairfield war aber nicht wenig bestürzt, als der „Weiße Hirsch“ am nächsten Morgen verschwunden und auch nirgends aufzufinden war; Hütte bei Hütte durchforschte er nach ihm, und manch zorniges Wort, manche finstere Drohung ertrug er, wenn er vielleicht den Wigwam eines den Bleichgesichtern feindlich gesinnten Kriegers betreten hatte.
Schon wollte er die Hoffnung, den Entflohenen für jetzt wiederzufinden, als ganz trostlos aufgehen und eben sein Pferd besteigen, um nach dem Nachbardorf, wo der Kanadier seinen Wigwam aufgeschlagen, zurückzukehren, als plötzlich der Verschwundene, völlig gerüstet wie zu einem Schlacht- oder Kriegszug, auf seinem rauhaarigen Pony angesprengt kam und sich erbot, ihn zu begleiten.
Allerdings wollten sich dem jetzt einige des Stammes widersetzen und nicht dulden, dass der, welcher einer der Ihrigen geworden, auf solche Art ihnen wieder entführt werde.
Der „Weiße Hirsch“ schien aber nicht leicht durch irgendeine Drohung eingeschüchtert; mit kräftig trotzigen Worten wies er die Unzufriedenen zurück, und seine Kriegskeule in der Rechten, in der Linken die Büchse, und das Pferd nur mit den Schenkeln regierend, sprengte er unerschrocken durch die Schar, die ihm auch wirklich Raum gab und keinen tätlichen Versuch machte, ihn oder seinen Begleiter zurückzuhalten.
So kamen sie nach Boonville, und John Rowland bog sich liebkosend über der Mutter Hand hinüber, als ihn diese bat und ihm das Versprechen abnahm, sie die wenigen Tage, die sie noch auf dieser Erde zu leben habe, nie – nie wieder zu verlassen.
Ein voller Monat verging so, ohne dass in Boonville irgendetwas Wichtiges vorgefallen wäre. Wenn aber auch die Matrone in dem Glück, ihr Kind wiedergefunden zu haben, die ersten Wochen wie neugeboren und Schwäche und Krankheit gänzlich zu vergessen schien, so kehrte doch bald die natürliche Erschöpfung zurück, die solcher Aufregung auch selbst bei gesundem Zustand hätte folgen müssen, und sie wurde von Tag zu Tag schwächer und hinfälliger.
Was John betraf (denn den Namen: „der Weiße Hirsch“ hatte er gleich von Anfang an abgelegt), so fand sich der in das zivilisierte Leben der „Städter“ besser und leichter, als man es wohl hätte erwarten können; er trug wenigstens die Kleider, die man ihm angelegt – ja nach einiger Zeit selbst Schuhe und einen Hut, aß mit am Tisch und mit Gabel und Löffel, und schien sich besonders bei seiner Mutter wohlzufühlen, bei der er oft stundenlang, am liebsten wenn sie schlief, neben dem Bett saß und ihr still und ernst in das bleiche Antlitz schaute.
Sonst war aber kein ganz gutes Auskommen mit ihm; er war wild und herrisch, wie er das als Krieger seit seiner Mannbarkeit ja auch nicht anders gewohnt gewesen und es jetzt nur schwer und ungern ablegen mochte.
Am besten kam noch Rosy mit ihm aus; das liebe, sanfte Kind übte den größten Einfluss auf das raue Wesen des jungen Mannes, und wo er einmal in Kleidung, Sitte oder Sprache – wie das übrigens gar nicht selten geschah – in seine alten Gewohnheiten zurücksinken wollte, bedurfte es von Rosy nur eines Wortes, ja oft nur eines Blickes, seinen Sinn, der in einzelnen Fällen selbst nicht unbedingt der Mutter nachgab, zu beugen.
Drei Personen lebten aber in Boonville, denen John auswich, wo er nur irgend konnte, und auf die er im Laufe der Zeit nach und nach selbst eine Art von Hass übertrug. Die erste war unsere gute, aber geschwätzige Mrs. Smith, die ihn von vornherein so mit ihren Fragen und Erkundigungen gepeinigt hatte, dass er sie ordentlich fürchtete, und einmal sogar zum Entsetzen seiner Mutter, die gar nicht begriff, was ihn auf einmal anwandle, aus dem Fenster sprang, als jene zur Tür hereintrat.
Die zweite war der ehrwürdige Pastor Billygoat, der es in seinem heiligen Eifer für Pflicht und Schuldigkeit hielt, den „armen, blinden Heiden“ zu bekehren.
Im Anfang, und besonders weil es seiner Mutter große Freude machte, lauschte John mit ziemlicher Aufmerksamkeit dessen Worten, und wenn er auch später nur durch Rosys Bitten dahin gebracht werden konnte, still sitzen zu bleiben, sobald der Prediger – oder der „Medizinmann“ wie er ihn unerschütterlich nannte – seine Hand einmal auf ihn gelegt und seine Worte an ihn gerichtet hatte, so blieb er doch darin ganz der so schönen indianischen Sitte treu, dass er den Mann nie unterbrach, sondern ihn ruhig ausreden ließ und mit wenigstens äußerer Aufmerksamkeit ihm zuhörte.
Pastor Billygoat täuschte sich aber gewaltig, wenn er das auch nur einen Augenblick für wirkliche Andacht hielt – John hasste den alten Mann wie die Sünde – und vielleicht noch mehr – und durch ihn auch die Religion, die er ihm predigen wollte. Trotzdem blieben beide im Anfang noch auf ziemlich friedlichem Fuß miteinander, und der Prediger schien zufrieden, wenn sein neu zu Bekehrender nur ruhig und ohne Widersetzlichkeit die gehörige Zeit aushielt.
Die dritte Person aber war wunderbarerweise gerade der Mann, der doch als die Hauptursache und das Werkzeug seines jetzigen Hierseins angesehen werden musste – und zwar niemand anderes als Tom Fairfield selber.
Im Anfang schienen die beiden jungen Leute unzertrennlich. Tom gab sich jede nur erdenkliche Mühe, den verwilderten Weißen in alle Geheimnisse des zivilisierten Lebens wieder einzuweihen, und John, wenn auch mit augenscheinlichem Widerwillen, fügte sich doch gern jeder Neuerung, die der Hinterwäldler, den er überdies als vortrefflichen Jäger kennen lernte, und deshalb achtete, mit ihm vornahm.
Je länger er aber in der Mutter Hause lebte, wo Tom Fairfield ein täglicher Gast war, desto mehr und mehr zog er sich von ihm zurück, antwortete einsilbig auf seine Anreden, mied seine Gesellschaft und wurde sogar, was sonst selbst nicht gegen den Prediger geschah, unfreundlich, wenn er ihm nicht mehr ausweichen konnte.
Das nahm, je weiter es in den Herbst hineinkam, mehr und mehr überhand, da sich besonders in letzter Zeit Mrs. Rowlands Zustand auch immer mehr verschlimmert hatte.
Die Krankheit der alten Frau schien in den ersten Wochen von ihres Sohnes Rückkunft durch die Freude und Aufregung des Wiedersehens fast ganz gehoben; nach dieser unnatürlichen Erregung trat aber auch eine Erschlaffung ein, die bald das Schlimmste besorgen ließ, und Rosy, das arme, liebe Kind, fast ausschließlich an die Seite der jetzt fortwährend bettlägerigen Kranken bannte.
John verließ das Haus ebenfalls nur sehr selten, und nie anders, als wenn er in den Wald ging, um einen Hirsch oder Truthahn zu schießen; hatte er aber Fleischvorrat daheim, so schaute er oft stundenlang in stummem Brüten zu, wie Rosy die Mutter pflegte oder, wenn diese einmal eingeschlafen war, ihre sonstige Arbeit, das große, surrende Baumwoll-Spinnrad, sachte beiseite schob und sich mit ihrer Näherei, die Augen der Kranken zugekehrt, zu Füßen des Bettes setzte.
Der November war indessen angebrochen, und wenn auch der wundervolle Herbst – in dieser seiner schönsten Zeit, dem sogenannten indianischen Sommer – noch freundliche und selbst warme Tage brachte, so brauste doch auch schon manchmal ein recht ordentlicher Nordwest durch die Wipfel der sich in die buntesten Herbsttinten schmückenden Blätter.
Und wie das Laub erstarb, wich auch die Kraft, das Leben aus dem Herzen der alten Frau. Lange Jahre hatte sie standhaft und still den Schmerz ertragen, dem Leiden die Stirn geboten – jetzt, mit der einkehlenden Freude, erlag das arme Herz Gefühlen, die zu mächtig für es waren und zu erschütternd. Wie der Saft aus dem Laube und dem Stamm der Bäume und Pflanzen schwand, so ebbte auch der Lebensstrom in ihren Adern, und von Tag zu Tag fühlte sie mehr das Herannahen ihrer Auflösung.
Und doch hätte sie gerade jetzt noch so gern gelebt, denn ihrem Scharfblick entging es keineswegs, wie der durch so treues Ausharren so teuer erkaufte Sohn sich nicht mehr wohl und glücklich in seiner neuen Umgebung fühle. An der Mutter hing er, ja – und mit all der Gewalt kindlicher Liebe, die stark genug gewesen war, ihn seinem wilden Leben zu entziehen, bannte es ihn an ihr Lager und ließ ihm nicht Ruhe noch Frieden draußen im Wald, seiner sonstigen Heimat.
Wie aber sollte das werden, wenn sie einst hinübergegangen und damit auch das Band zerrissen war, das ihn jetzt noch an das zivilisierte Leben hielt? Nur eine Möglichkeit gab es, ihn auch später zu fesseln, und die sah die arme alte Frau einzig und allein in der Vereinigung ihrer Pflegetochter mit dem jungen Tom Fairfield, der sich in der letzten Woche in Boonville niedergelassen und jetzt ordentlich und ehrlich um Rosys Hand angehalten hatte.
Bei diesen beiden konnte John bleiben – in ihnen fand er stets treue und liebende Geschwister, und ihnen gelang es auch gewiss, den Sohn von der Rückkehr zu jenem entsetzlichen Leben unter den heidnischen Wilden abzuhalten. Ja, selbst Rosys wegen war es gut, vielleicht nötig, dass sie versorgt ward und eine männliche Stütze hatte, ehe sie die Mutter verlor, und das alles ließ Mrs. Rowland wünschen, ihre Vereinigung sobald wie möglich bewirkt zu sehen.
Eigentümlich war der Eindruck, den diese Nachricht, die er aus der Mutter Mund erfuhr, auf John machte – keine Silbe erwiderte er, nicht den Blick hob er von der Spitze seines groben Schuhes, den er gegen die leichten Mokassins hatte vertauschen müssen, und zweimal fragte ihn die Mutter, ob er sie gehört und ob er sich nicht freue, dass seine Pflegeschwester einen so wackeren Beschützer bekäme, der sie gegen die Stürme des Schicksals schirmen und wahren könne.
„Und will Rosy weißen Jäger?“, sagte er leise und als ob er die Antwort schon eigentlich vorher wisse.
„Sie lieben sich schon seit langen Jahren, und Rosy glaubt, glücklich mit ihm zu werden.“
„Gut – John freut sich“, sagte der junge Mann, stand auf und verließ das Zimmer – kehrte auch den ganzen Tag nicht mehr zurück, sondern blieb bis spät in die Nacht draußen im Wald, wo er nachher, sein Pony schwer mit Wild beladen, zurückkehrte und, ohne jemand an dem Abend weiter zu sprechen, von außen am Haus hinauf in sein Lager kletterte.
Von dem Tag an war John wie umgewechselt – sonst still und friedlich, wurde er mürrisch und zanksüchtig, verkehrte, außer mit seiner Mutter und Rosy, mit niemand mehr, und ließ jetzt sogar nicht selten seinem wilden Mutwillen bei allen denen freien Lauf, die sich in seinen Weg stellten oder sonst durch irgendetwas seinen Hass auf sich gelenkt hatten.
Gegen die würdige Mrs. Smith zeigten sich diese Launen gewöhnlich nur neckischer Art; hatte sie ihn einmal zu irgendeiner Zeit wieder angeredet, oder um etwas gefragt, so konnte sie sich fest darauf verlassen, es wurde ihr abends, wenn sie ihr Essen kochte, irgendein Stein oder Stück Holz durch den Kamin in den Topf geworfen, oder durch einen nie zu Ermittelnden, wenn sie nach Dunkelwerden auf ihrem gewöhnlichen Platz in der Stube saß, ein Gewehr dicht neben ihr abgefeuert, dass sie erschrak und gewöhnlich mit einem lauten Aufschrei in die Höhe fuhr – oder die Hühner flatterten nachts gestört umher, und nicht selten fehlten sogar einzelne von Stellen, wo sie weder Eule noch Opossum geholt haben konnten.
Schlimmer aber ging es dem armen Vater Billygoat, bei dem es jetzt, seiner Meinung nach, Ehrensache wurde, den hartnäckigen Helden zu bekehren. War es ihm einmal gelungen, den „störrischen Wilden“ so zu fassen, dass er ihm nicht mehr entrinnen konnte, und hatte er ihm dann eine recht eindringliche Ermahnungs- und Strafpredigt gehalten, dann fing John auf einmal an, grimmige und entsetzliche Gesichter zu schneiden, fletschte mit den Zähnen, rutschte und glitt dem mehr und mehr geängstigten Prediger immer näher, und schrie ihm vielleicht zuletzt noch den gellenden Schlachtschrei der Konzas so nahe und scharf in die Ohren, dass der fromme Mann entsetzt aus dem Zimmer floh und noch weit hinter sich drein das Hohnlachen des Heiden hören musste. Nach jeder solchen Zusammenkunft konnte er sich aber fest darauf verlassen, dass ihm in derselben Nacht irgendein Schwein abhanden kam oder seine Lenz an irgendeiner Seite eingerissen und die Herde in die Felder getrieben wurde, oder auch, wie das sogar einmal geschah, eine heimliche Kugel seine beste Kuh traf und tötete.
Stellten die Leidenden den wahrscheinlichen Täter zur Rede, so machten sie die Sache dadurch nur noch schlimmer, und das ganze Städtchen begann schon den „bekehrten Wilden“, wie er im Anfang hieß, als eine Plage zu betrachten, die man sich herzlich freuen würde, sobald wie möglich wieder loszuwerden.
Merkwürdig war es dabei, dass John an Tom Fairfield, so feindlich gesinnt er ihm sonst auch immer sein mochte, nie einen ähnlichen Mutwillen versuchte; ja im Gegenteil rettete er ihm sogar eines Tages, als er ihn zufällig auf der Jagd traf, oder auch vielleicht durch seinen Schuss herbeigelockt war, auf die aufopferndste Art das Leben.
Tom hatte nämlich nicht weit von Boonville einen alten Bären beim Lappen getroffen, aber, durch eine rasche Bewegung desselben verleitet, einen übereilten Schuss getan, was ihm das angeschossene und gereizte Tier mit Blitzesschnelle auf den Hals brachte.
Sein Hund war zu schwach, um ihm wirksamen Beistand zu leisten; sein Messer brach beim ersten, einen Knochen treffenden Stoß, und wer weiß, ob er nicht von der Bestie, wenn auch nicht getötet, doch gar arg verwundet worden wäre, hätte sich nicht John in dem Augenblick, da er, aus Furcht, den Mann zu treffen, nicht wagen durfte zu schießen, mit keckem Mut auf den zottigen Feind geworfen und diesem sein Messer so sicher ins Herz gestoßen, dass er sich wohl noch gegen seinen neuen Gegner wenden konnte, gleich darauf aber auch, vom früheren Blutverlust schon erschöpft, tot zusammenbrach.
Tom wollte dem jungen Mann danken und streckte ihm mit herzlichen Worten die Rechte entgegen – der aber wandte sich knurrend ab und verschwand, sich nicht weiter mehr um Jäger und Beute kümmernd, rasch im nahen Dickicht. Zu Hause sprach er auch kein Wort davon, nur als Tom heimkam und den Hergang erzählte, und die Mutter ihm mit glänzenden Augen die Wangen streichelte, und Rosy unter Tränen seine Hand nahm und ihn ihren lieben, lieben Bruder nannte, da wurde er weich; wie er seit Langem nicht gewesen, und an dem Tag wäre vielleicht selbst Vater Billygoat ungestraft bei einem neuen Angriff weggekommen, hätte sich dieser würdige Mann nicht schon seit längerer Zeit fest vorgenommen gehabt, den heidnischen Wilden, der eigenen Schweine wegen, seinem Schicksal zu überlassen.
So standen die Sachen, als sich die Kranke eines Tages recht schwach und unwohl fühlte – ihre Kinder wichen nicht mehr von ihrer Seite, und John besonders saß neben dem Lager und hielt der Mutter Hand fest, fest in der seinen. Aber der Sand war abgelaufen, welcher der Leidenden auf dieser Erde zugemessen – die Kräfte wichen, die bis dahin das mürbe Gebäude ihres Körpers zusammengehalten.
„Rosy“, flüsterte sie, als die Abendsonne ihrem Lager gegenüberstand und der rote, schimmernde Glanz den totenbleichen Zügen noch einmal ein, ach, trügerisches Leben zu verleihen schien. „Rosy – Tom – mir wird so wunderleicht und wohl – die Glieder fühle ich gar nicht mehr, die mich sonst so bleiern an mein Lager bannten – ich glaube, der Tod naht – ach! – dann ist es schön zu sterben – aber – euch lasse ich noch unvereinigt hier zurück, und mein Kind – meinen John, in eurem Schutze – versprecht mir – versprecht mir, ihn stets – als euren Bruder zu lieben.“
„Mutter!“, schluchzte Rosy und barg das Antlitz an der Schulter der Sterbenden.
„Er soll mir wie mein liebster Bruder sein“, sagte Tom mit tiefer Rührung, „ja, nicht teurer konnten ihn diese Worte meinem Herzen machen, als er es jetzt schon ist – John soll nie einen andern Freund brauchen, solange noch ein Tropfen Lebenssaft in diesen Adern quillt.“
„Und, John“, sagte mit leiser Stimme die Mutter, „wird dir das Grab der Mutter so teuer sein, als es die Lebende war?“
John hatte augenscheinlich einen harten Kampf mit sich gekämpft – er schämte sich; in Gegenwart eines andern Mannes zu weinen oder irgendeine Schwäche zu zeigen, und saß starr und regungslos, die Blicke unverwandt in eine Zimmerecke gerichtet; jetzt aber, bei der direkten Anrede an ihn, wo ihm, der so oft den Tod gesehen, sein Auge sagte, dass das teure Leben nur noch wenige Minuten in der alten lieben Hülle weilen werde – jetzt konnte er sich nicht länger halten – am Bett fiel er nieder auf die Knie, den Kopf barg er in der überhangenden Decke, und sein ganzer Körper zitterte von der Allgewalt des Schmerzes, der in ihm tobte.
„Guter John“, flüsterte die Mutter, und ihre Hand ruhte segnend auf dem Haupt des Sohnes, „guter – lieber John!“
„Mutter!“, rief Tom Fairfield plötzlich, denn ein eigenes Zucken im Gesicht der Kranken – ein eigenes Erstarren der Züge erschreckte ihn.
John fuhr schnell empor und heftete seinen Blick nur sekundenlang auf das liebe Antlitz.
„Meine Mutter!“, schluchzte er, und die hellen Tränen netzten seine sonngebräunten Wangen. „Meine liebe Mutter! Und du gehst?“
Die Sterbende antwortete nicht mehr – der letzte Druck der Hände galt noch dem Kind – der Tochter – ihr brechendes Auge hing an dem sinkenden Tagesgestirn, und mit dessen Verschwinden hinter dem goldglänzenden Laubnetz des Waldes schlossen sich auch die treuen Augen auf immer.
Am andern Tag, nach der Mutter Tod, grub John an derselben Stelle, wo früher seines Vaters Hütte gestanden, das Grab für die Verblichene – – sie hatte es gewünscht, dort zu ruhen, und fast alle Einwohner des kleinen Ortes begleiteten die Leiche zu ihrer letzten stillen Ruhestätte unter den rauschenden, schwanken Bäumen des Waldes.
John blieb dort draußen drei volle Tage und Nächte, und als er endlich zurückkehrte, war er ernst und traurig und schien sein früheres wildes Wesen ganz verloren zu haben. Sanft wie ein Kind zeigte er sich gegen jedermann, selbst mit dem Prediger war er freundlich, so freundlich, dass er den armen Mann im Anfang mehr damit erschreckte als früher mit seiner Wildheit, weil der schon nicht anders glaubte, als dass dies nur eine andere Maske sei, unter der er neue Streiche auszuführen gedenke. Aber darin hatte er sich geirrt – John blieb sich immer gleich, und vermied jetzt nur von allen gerade die, deren Nähe ihm früher so unendlich wohlgetan.
Obgleich er nämlich seine alte Schlafstelle, den oberen Teil von seiner Mutter Haus, noch beibehielt, bekam ihn das junge Mädchen fast gar nicht mehr zu sehen; nur morgens vor Tag stand er auf, schaffte Holz herbei, zündete das Feuer an und verzehrte im Hause sein Frühstück; dann aber mied er Rosys Nähe den ganzen Tag, und nur abends hörte sie, wie er von außen in seine Kammer wieder hinaufstieg und sein Lager suchte. Wildbret genug schaffte er dabei zum Haus, und weiche Felle gerbte er ihr nach indianischer Art, und nähte Mokkasins und färbte Decken für sie; aber nicht daheim tat er das, sondern im Walde draußen, wie auch das Wetter war, und nur froh konnte sie ihn machen, wenn sie annahm, was er ihr, meist morgens, brachte.
So rückte endlich der von Tom Fairfield so lang und heiß ersehnte Tag der Verbindung zwischen ihm und seiner holden Braut heran, und Tom hatte alle Bekannten und Freunde eingeladen, ihn feiern zu helfen. In festlicher Prozession zogen die Glücklichen nach des Friedensrichters, Mr. Cowleys Haus, und heute schloss sich selbst John nicht aus von der fröhlichen Schar.
An Toms Seite, gegen den er in letzter Zeit wieder so freundlich gewesen war wie in den ersten Wochen ihres Beisammenseins, betrat er das kleine, wohnliche Gemach des Richters und war Zeuge der heiligen, feierlichen Handlung; als aber die Braut das schüchterne und doch so herzfreudige Ja gesprochen – als der Gatte sie leise, leise an sich zog und sie das in holder Scham übergossene Antlitz an seiner männlichen Brust barg – da glitt er unbemerkt und geräuschlos aus dem Zimmer – aus dem Hause und über die Straße hinüber in sein eigenes kleines Gemach.
Nacht war’s, und aus Tom Fairfields neuer Wohnung brachen lichte Strahlen, und muntere Violintöne schallten die stille Straße herab; in Hornpipes und Quadrillen, in Reels und Jigs und den anderen amerikanischen oder von England herübergebrachten Tänzen schwangen sich die fröhlichen Paare; munter ging der Becher im Kreise, und herzlich übertönte das Lachen oft die schallenden Geigenklänge.
Draußen aber vorbei, durch den Herbststurm, der jetzt schon recht ingrimmig die laublosen Zweige schüttelte, schritt, die Büchse in der Hand, den Tomahawk im Gürtel und die Decke auf dem Rücken, ein Jäger, und wollte schon rasch vorüberziehen an dem festlichen Hause, als der silberreine Ton einer lachenden Frauenstimme sein Ohr traf.
Er blieb stehen, zögerte einen Augenblick und näherte sich dann dem Hause; an der Fenz schwang er sich hinauf und schaute viele Minuten lang still und ernst durch das kleine offene, ausgeschnittene Fenster in den innern hell erleuchteten Raum, auf die fröhlichen, glücklichen Menschen hin, die in dem engen Gemach sich lachend und tanzend hin und her bewegten. Glück und Freude lag auf allen Gesichtern, auf die sein düsterer Blick fiel, aber von allen ab schweifte er unbefriedigt, um das eine von allen denen zu erkennen, das –
Ha! – da trat Rosy in den Kreis – die frohe junge Frau an des Gatten Hand, und das Licht der Lampen fiel hell und voll auf die lieben Züge des jungen Weibes.
Johns Blick haftete lange und ernst auf der holden Gestalt, aber kein Laut entfloh seinen Lippen, keine Bewegung, ein einzelnes, fast krampfhaftes Zucken seiner Lippen vielleicht ausgenommen, verriet die Bewegung, die in ihm kämpfte.
Endlich nickte er, wie Abschied nehmend, aber auch fast seiner unbewusst, dort hinüber, wo er jetzt alles zurückließ, was ihm noch lieb auf dieser Welt war und ihn wohl hätte an ein ruhiges, friedliches Leben fesseln können – dann stieg er langsam nieder und warf die Büchse auf die Schulter.
Als er den Boden wieder betrat, hatte er ganz die alte Ruhe wiedergewonnen – die wollene Decke, die über seine Schultern hing, zog er fest um sich her, und den Pfad verfolgend, der an seiner Mutter Grab vorüber gen Westen führte, verschwamm seine dunkle Gestalt bald in den düsteren Schatten, mit denen der Urwald die enge Lichtung fest und dicht umlagerte.
Und wohin führte sein Weg? Man hat nie wieder von ihm gehört; aber zu den Konzas war er nicht zurückgekehrt, denn wenige Wochen später kam von dort her der kanadische Franzose, der Tom Fairfield früher auf seine Spur gebracht, und wusste nichts von ihm.
Ja, Tom besuchte im Frühjahr selbst noch einmal den Stamm – doch konnte ihm niemand Kunde geben vom „Weißen Hirsch“ – er war und blieb spurlos verschwunden.
In den Washita-Bergen Nordamerikas liegt der Schauplatz, auf den ich den Leser führen will. Dort in den wilden Tälern jener reizenden Hügelketten existiert noch der richtige Backwoodsman; schlicht und ehrlich, ;rau und derb, aufopfernd in seiner Freundschaft, aber gefährlich in seinem Hass, und sein Leben großenteils von der Jagd, etwas vom Ackerbau und meist von der Viehzucht abhängig machend.
Die Letztere wird ihm besonders durch das milde Klima jener Gegend, durch die grasreichen Hügel, durch die noch hier und da mit dichten Schilfbrüchen gefüllten Täler erleichtert, und wenig Mühe ist es, die ihm die Zucht einer oft nicht unbeträchtlichen Herde kostet. Dann und wann eine Handvoll Salz nahe bei seiner Hütte hingeworfen, eine häufige und regelmäßige Wanderung von einem der kleinen zerstreuten Trupps zum andern, dass sie den Anblick des Menschen gewohnt blieben und nicht wild wurden – und der Sorgfalt, die er möglicherweise darauf verwenden konnte, war vollkommen Genüge geleistet.
Einen Feind aber hatte er, den er, so oft er ihm auch nachstellte und ihn mit Büchse und Falle unermüdlich verfolgte und zu vernichten strebte, doch nicht bewältigen konnte, einen Feind, der nachts in heulenden Scharen die ängstlich blökende Herde umschlich und manch kräftiges Kalb, ja sogar manch einzeln abschweifende Kuh – und wie viel Ferkel und junge Schweine – überfiel, erwürgte und verzehrte – dieser listige, blutgierige und erbarmungslose Feind war der Wolf.
Durfte man es dem Backwoodsman verargen, wenn er seine ganze List und Jagdkenntnis anwandte, um solch schlauem und gefräßigem Diebe beizukommen? Aber so eifrig er auch auf der Lauer lag, so manche Nacht er, Moskitos und Holzböcken zum Trotz, in den Ästen irgendeiner knorrigen Eiche eingeklemmt hing und beim matten Mondeslicht den scheuen Räuber durch angeschlepptes Aas herbeizulocken und zu belauern gedachte, so selten war er imstande, der höchst umsichtigen Beute die tödliche Kugel in den Pelz zu schicken. Die Zahl der Raubtiere mehrte sich, trotz den unermüdlichen Nachstellungen, von Jahr zu Jahr, und im Verhältnis dazu wurden die Herden gelichtet, sodass wirklich etwas Ernstes geschehen musste, wenn sich die Viehzüchter nicht genötigt sehen sollten, ihre Weidegründe, nur allein dieser Plage wegen, aufzugeben. Und ein Hinterwäldler einem Wolf das Feld räumen? Ei, Klapperschlangen und Popkorn! Das wäre so wahrhaftig eine Schmach und Schande für sein ganzes Leben gewesen.
Dass unter solchen Umständen derjenige, welcher die meiste Geschicklichkeit auf der Jagd bewies, auch der geachtetste der Jäger war, versteht sich wohl von selbst, und so geschah es auch, dass sich Benjamin Holik, der erst seit kurzer Zeit aus Missouri heruntergekommen war, in kaum einem halben Jahr, wo er allein mit seiner Büchse siebzehn der Bestien erlegt hatte, den Ehrennamen „Wolfs Ben“ verdiente und bald für den besten Wolfsjäger im ganzen Revier galt.
Wolfs Ben war auch noch außerdem ein gar stattlicher und wackerer Bursche; gut seine sechs Fuß hoch, mit wahrhaft riesigen Schultern und Armen, und einer Kraft, der es keiner der doch sonst gewiss nicht schüchternen Hinterwäldler gewagt hätte, im Einzelkampf zu begegnen, zeigte er sich sonst in seinem ganzen Wesen als der gutmütigste, verträglichste und gefälligste Freund. Mit einem guten Wort ließ sich von ihm alles erlangen, die vorletzte Ladung Pulver gab er her und den letzten Bissen, den er in seine Decke gewickelt bei sich trug; dabei war er der trefflichste Gesellschafter, wusste Unmassen der abenteuerlichsten Geschichten zu erzählen, half, wo er einmal irgendwo übernachtete, mit unermüdlichem Fleiß Feuerholz zu schlagen und zum Haus schaffen, den Mais in der Stahlmühle mahlen, die Tiere versorgen etc., und hatte sich dadurch sowohl wie durch sein männlich schönes Äußere die Herzen sämtlicher Frauen der Ansiedlung dermaßen gewonnen, dass er die übrigen jungen Burschen wahrhaft zur Verzweiflung brachte und schon anfing, trotzdem dass er noch keinem auch nur eines Strohhalms Hindernis in den Weg gelegt, recht tüchtige Feinde unter ihnen zu zählen.
So still und ruhig aber Ben dabei seinen Weg ging und anscheinend harmlos in den Tag hinein lebte, so hatte er doch auch die Augen weit genug offen und wusste selber am besten, unter welchem Dach er am liebsten schlief, in welche Augen er am unermüdlichsten schauen konnte, und wo ihn – nicht das freundlichste Gesicht, denn die Mädchengesichter bewillkommten ihn alle freundlich – wohl aber das süßeste Erröten begrüßte, das ihm bis jetzt noch stets das Blut in rasender Schnelle durch die Adern gejagt.
Doch ich will dem Leser keine langen Rätsel aufgeben, die er jedenfalls schon eine Weile vorher erraten hätte. Benjamin Holik liebte – wie nur seine treue, einfache Seele lieben konnte – so recht aus Herzensgrunde Robert Sutton’s liebliches und einziges Töchterlein, und die einzige und alleinige Sorge, die ihn dabei quälte, war, dass Sutton, der die größte Farm und Baumwollplantage unten am Washita und Redriver besaß, und im Sommer hier nur eigentlich seiner Herden und seiner Gesundheit wegen in die Berge zog, für einen sehr reichen und – was noch schlimmer – geizigen Mann galt, und er – armer Teufel – weiter nichts auf der weiten Welt besaß als seine Büchse, sein Messer und seinen Körper. Sein braves, ehrliches und treues Herz schlug er dabei gar nicht an, und doch war das die kostbarste Perle, die in ihrer Umhüllung nur wie in einer weit minder wertvollen Schale saß.
Ben hatte aber schon oft und lange, und nicht selten mit recht trübem Sinnen darüber nachgedacht, wie er es eigentlich anfangen sollte, um etwas Geld zu verdienen und einen kleinen „start“ wenigstens zu haben, mit dem er beginnen könne – denn sich um Arbeit auszudingen und langsam und wachsam Dollar nach Dollar in schwerer Tages- und Monatsarbeit zu verdienen, das schien ihm ein viel zu langer und weitläufiger Weg und hätte ihn seinem Ziel auch wohl nun und nimmermehr entgegengeführt. Und doch war es nötig, denn er wäre nicht der erste Freier gewesen, dem der alte Sutton seiner ärmlichen Verhältnisse wegen, einen Stuhl vor die Tür gesetzt. Und wo zeigte sich ihm in dem einfachen, ruhig dahinfließenden Waldleben eine Gelegenheit, so einmal mit raschem Schlage das Glück beim Schopf zu erfassen – und zu halten?
Er wurde immer nachdenkender und schwermütiger, mied die geselligen Wohnungen der Ansiedelung, trieb sich Tag und Nacht draußen im Wald herum, und hatte als einzigen Gewinn die Skalpe der erbeuteten Wölfe, die ihm der Staat allerdings mit drei Dollars Prämie per Stück vergütete, die aber immer noch zu keiner Summe erwachsen wollten, um auch nur einigermaßen seine Ansprüche auf der holden Betsy Hand zu begründen.
In dieser Zeit etwa war es, dass der alte Sutton einmal einen kleinen Abstecher nach Texas gemacht und dort von eben so abgeschieden wohnenden Viehzüchtern ein Mittel gehört hatte, um die Wölfe aus einer Gegend, in die sie sich gezogen und wo sie überhandgenommen hätten, vollkommen zu vertreiben.
Dies bestand einfach darin, dass sie vorher einen Wolf lebendig fingen, ihm dann eine Glocke wie einem Pferd um den Hals schnallten und ihn ruhig wieder laufen ließen. Der Wolf kehrte hiernach natürlich so rasch er konnte zu seinem Rudel zurück; dort aber hörten sie kaum die fremdartige Schelle, als sie auch scheu vor dem früheren Kameraden die Flucht ergriffen und in wilder Eile einem so unheimlichen Gegenstand zu entkommen suchten. In jedes Versteck, das sie annehmen, folgt ihnen nun der beglockte Wolf, dem es mit dem unbequemen Riemen um den Hals und dem ewigen Gebimmel unter seiner Kehle selber unheimlich wird, wenn er sich allein sieht. Er glaubt Schutz unter den Brüdern zu finden, schüttelt sich, wälzt sich, springt, schwimmt, kurz tut alles Mögliche, um seine Qual los zu werden, und ist besonders darüber aufs Äußerste empört, dass er nicht mehr wie früher so leise und geräuschlos seine Beute beschleichen kann, sondern sich jedes Mal selbst gleich durch lauten Glockenklang verraten muss, und flieht nun, hat er das eine Rudel förmlich verjagt, zu einem andern, treibt auch dieses aus den Bergen, die er sich selber bis dahin zum Wohnort erwählt, und sieht sich endlich – was er aber auch nur im äußersten Fall und erst dann tut, wenn er wirklich ganz allein zurückgeblieben ist – genötigt, selbst einen andern Jagdgrund zu suchen, da auch die Herden sich bald den Ton der Glocke merken und nicht selten in festgeschlossener Phalanx den nächsten Ansiedlungen zustürmen, sobald sie den klingenden Feind nur nahen hören.
Der Versuch musste auch am Washita gemacht werden; Sutton kehrte rasch dorthin zurück, beriet sich mit sämtlichen benachbarten Farmern, und kam mit ihnen darüber überein, dass sie eine Prämie von zwanzig Dollars darauf setzen wollten, einen Wolf lebendig überliefert zu bekommen, sodass sie ihm selber die Glocke umschnallen und ihn dann ins Freie wieder hinauslassen konnten.
Der Preis ließ sich aber gut setzen! Die Wölfe waren schlauer als die Jäger, und wenn besonders Ben noch manchen Skalp einbrachte, so schien es doch selbst ihm unmöglich zu sein, einen der schlauen Schurken wirklich unbeschädigt und lebendig zu erhaschen, denn die Fallen, die er stellte, blieben leer, und in den Fallgruben, die er auswarf, fingen sich nur der Nachbarn Rinder und Schweine.
Da es ihm nicht gelang, waren es die übrigen Jäger noch weit weniger imstande, und der auf einen lebendig eingebrachten Wolf gesetzte Preis stieg endlich, da die Farmer jetzt auch hitzig wurden und den Versuch unter jeder Bedingung, und zwar sobald wie möglich, zu machen wünschten, bis zu der für den Wald ungemein hohen Summe von zweihundert Dollars empor.
Das war ein Sporn für unseren Benjamin. Zweihundert Dollars, alle Wetter, damit konnte er sich eine vollkommen eingerichtete kleine Farm mit einem mäßigen Rinder- und Schweineanfang kaufen – und Betsy – ei wer weiß, ob sich der Alte nicht dann doch noch überreden ließ, wenn er nur erst einmal den schwarzen Burschen einbringen und überliefern konnte! Zeit durfte er übrigens dabei auch nicht im Geringsten verlieren, denn der Preis hatte natürlich alle Jäger der ganzen Umgegend auf die Füße gebracht, und überall im Wald hallten die Axtschläge der Männer wider, die sich kleine Baumstämme fällten, um damit die einzig mögliche Art von Fallen zu errichten, die man dort kannte, um eine solch wilde Bestie wirklich unbeschädigt zu fangen. Stahlfallen durften nämlich nicht angewandt werden, da diese jedenfalls den erfassten Lauf verwundet, vielleicht gar zerschmettert hätten und die Prämie nur ausdrücklich für ganz gesunde Wölfe garantiert wurde.
In dieser Zeit etwa war ein Besuch in die Hügel gekommen, der unsern armen Benjamin Holik bald auf das Bösartigste beunruhigen – ja, was noch schlimmer war – ihm wirklich gefährlich werden sollte. Es war dies niemand anderes als ein sogenannter „Vetter“ von Suttons, ein „Städter“ mit blauem Tuchfrack, blanken Knöpfen und „Strippen“ an den Hosen. Jesus! Wie die Kinder lachten, wenn er irgendwo in ein Haus kam und sich niedersetzte; wie sie sich dann mit den schmutzigen Gesichtern zusammendrückten, miteinander flüsterten, dann einen scheuen Seitenblick nach den „Strippen“ warfen, plötzlich in ein lautes, mit aller Mühe nicht zu unterdrückendes Gelächter ausbrachen, und wild und toll aus dem Hause stürmten!
Das blieb sich aber gleich, die Kinder waren dumme Bälger, die noch nichts von der Welt verstanden und am wenigsten beurteilen konnten, ob an einem Manne wirklich etwas sei oder nicht – und an diesem war jedenfalls etwas, denn sein Onkel galt für einen der reichsten Pflanzer in Alabama und hatte nur den einzigen Erben. Ist es da ein Wunder, dass ihn der alte Sutton freundlich aufnahm, wie den eigenen Sohn behandelte und sich und sein ganzes Haus (die Hand der Tochter mit eingerechnet) zu seiner Disposition stellte?
Mr. Metcamp schien denn auch recht gut einzusehen, welch ein Schatz ihm hier geboten wurde, und wenn ihn auch die junge Dame selber scheu, und in der Tat absichtlich vermied, und ihm auf jede nur mögliche Art zu verstehen gab, es sei ihr an seinen Artigkeiten nicht das Mindeste gelegen, so war er – in New Orleans selber auferzogen – keineswegs der Mann, der sich durch solch „ländliche Sprödigkeit“ hätte so und so leicht abschrecken lassen. Er wusste sich nur vor allen klugerweise bei dem Vater in festeste Gunst zu setzen, lauerte dem alten Mann bald seine Schwachheiten ab, und machte ihn in kürzester Zeit glauben, er sei der beste Jäger, der unerschrockenste Reiter und überhaupt das mutigste Herz, das nur je unter einem ledernen Jagdhemd geschlagen, also unter einem feinen blauen Tuchrock doppelten Wert haben musste, und wusste dabei den schlichten Hinterwäldler durch seine Gelehrsamkeit und sein tiefes Wissen – lauter solche Sachen, von denen dieser bis jetzt noch nicht einmal eine Idee gehabt – so zu verblüffen, dass Sutton endlich schwor, Mr. Metcamp sei der „smartest“ und beste Mann in der „range“, und wenn seine Tochter ihm nicht ihre Hand geben wollte, so bekäme sie es mit ihm selber, ihrem Vater zu tun.
Betsy machte bei einer – der ersten – heimlichen Zusammenkunft mit dem Geliebten diesen mit allem bekannt, was ihr das Herz abzudrücken drohte, erklärte ihm, nicht ohne ihn leben zu können, und behauptete, das unglücklichste Wesen zu sein, das die Erde trüge. Benjamin war vollkommen damit einverstanden, hielt der Geliebten Hand fest, fest in der seinen, schaute ihr mit recht wehmutsvollen Blicken in die treuen Augen und sagte endlich mit leiser, zum Trost bestimmter, aber ach! des Trostes selber sehr bedürftiger Stimme:
„Liebe Betsy, verzage nicht – es wird schon noch alles gut gehen – sieh, ich habe die ganze Nacht gearbeitet und vier neue Fallen aufgestellt, und auch in alle schon treffliche Lockspeise gelegt; fang ich den Wolf, dann hab ich ein kleines Kapital und kann nachher sagen: Nachbar Sutton, ich möchte Eure Tochter zum Weib, und bin imstande ihr gleich ein freundliches Obdach zu bieten, sodass ich Eurer Hilfe dabei gar nicht weiter bedarf – und wenn er dann hört, dass du, Betsy, mir wieder so recht von Herzen gut bist –“
„Ach, du wirst gar nicht den ersten Wolf fangen können!“, sagte Betsy unter Tränen. „Der hässliche Fremde hat dem Vater den ganzen Abend von weiter nichts als den neuerfundenen Fallen erzählt, die er hier anwenden will – der kennt gewiss lauter neue Schliche und Pfiffe, wie sie in den Städten ausgedacht werden, und wird dir auch da am Ende störend in den Weg treten.“
„Lass nur sein, mein Herz“, beruhigte sie, jetzt aber wirklich in stolzem Selbstgefühl lächelnd, der Jägersmann. „Darum sorge dich nicht – wo’s in den Wald schlägt und mit wilden Bestien zusammenhängt, da lass sie in den Städten getrost sinnen und grübeln: In der Ausführung sollen sie’s uns hier schon nicht zuvortun, oder – es ist unsere eigene Schuld und wir haben’s nicht besser verdient. Da du mir jedoch sagst, mein Kind, dass er auch von der Jagd etwas zu verstehen vorgibt, so kommt er mir da auf einen Boden, wo ich ihm meinen Mann stehe, und siehst du, jetzt – ich weiß selber nicht, wie das so eigentlich gekommen ist – hab ich auf einmal weit mehr Mut und Selbstvertrauen als vorher. Bleib du mir nur hold, du gutes Kind! Zwingen kann dich der Vater zur Heirat doch nicht, und wenn er erst findet, dass ich dich nur zu meinem lieben Weib haben will, weil ich einmal nicht ohne dich leben kann, und keineswegs seines Geldes und Gutes wegen, ei! – so wird er auch einsehen, dass ihm ein solcher Schwiegersohn mehr Ehre bringt als der geschniegelte Städter, und vielleicht bekomme ich dann noch ein recht herzliches „Ja“ von ihm.“
Es lag eine so freudige, vertrauensvolle Zuversicht in den Worten, dass sie selbst der mutlosen Jungfrau neue Hoffnung gab. Durch das Gerücht von des Fremden Kenntnis im Fallenstellen war aber auch Benjamin aufgereizt worden, seine Anstrengungen zu verdoppeln, dass er nicht etwa durch Lässigkeit sein ganzes Glück versäume. Einen fast fröhlichen Abschied nahm er von dem schwermütigen Mädchen, küsste ihr die tränenden Augenlider, schulterte seine Büchse und wanderte frisch und getrost in den dunkeln Wald hinein.
Die Fallen, die Ben Holik für Wölfe stellte, befanden sich alle ziemlich in der Nähe der Ansiedlungen, da die wilden Bestien die bewohnten Plätze, wohin sich das Vieh abends zurückzog, und wo auch die säugenden Sauen ihre Betten hatten, am liebsten aufsuchten. Eine besonders, auf die er seine meiste Hoffnung setzte, da sie nicht weit von einem Wechselpfad der Wölfe zwischen zwei Hügelrücken lag, war mit außerordentlicher Sorgfalt hergerichtet und so gestellt, dass sie von den Wölfen gesehen werden musste. Ebenso stak die trefflichste Lockspeise, die ganze Keule eines erst gefallenen Pferdes, daran, und den Vorteil hatte sie noch außerdem vor den übrigen, dass er nicht jedes Mal, wenn er nachsehen wollte, ob sich etwas gefangen habe, nicht hinzugehen brauchte, wo er gezwungen gewesen wäre, Spuren zurückzulassen, sondern von einem nicht fernen, ziemlich steilen Hügelrücken aus, der dort in eine starre Felsspitze vorragte, mit seinen Adleraugen den ganzen Platz recht gut übersehen konnte. Ließ sich dann auch nicht gleich bestimmen, ob sich etwas gefangen hätte, so ließ sich doch recht gut erkennen, ob die Falle noch aufgestellt oder niedergeschlagen wäre.
In der Nacht mochte er freilich den Ort nicht stören, deshalb ging er jetzt geradenwegs zu seinem Lagerplatz, den er sich, bis er sein Ziel erreicht, in den Bergen aufgeschlagen, entzündete dort sein Feuer wieder, verzehrte sein einfaches Abendbrot, rollte sich in seine Decke und war bald sanft und süß, jeder weiteren Anstrengung für diese Nacht entsagend, eingeschlafen.
Am Morgen bedurfte er des Hahnenschreis nicht, um munter zu werden. So wie der „Whip-poor-will“ seine ersten klagenden Laute wieder hören ließ, sprang er auf, kochte seinen Kaffee, den jeder Jäger gebrannt und gemahlen in einem Leinwand- oder Ledersäckchen bei sich führt, und erwartete nun ungeduldig den ersten matten Dämmerschein, der sich im Osten zeigen würde. Endlich, endlich kam das diesmal so heiß ersehnte Licht, mit dem sich der Wolf jedes Mal wieder in seine bestimmten und gewöhnlich unzugänglichen Schlupfwinkel zurückzieht – und vorsichtig, dürre Äste und brechendes Holz meidend, damit das Geräusch nicht etwa noch in der Nähe weilende Bestien aufscheuche, kroch er in der Tat mehr als er ging dem Felsen zu, der ihm zur hohen Warte diente.
Jetzt hatte er ihn erreicht – jetzt konnte er den flachen, eben von grauem Licht kalt durchgossenen Fleck überschauen – beim Himmel, der ungewisse Schein musste ihn täuschen – er vermochte das aufgestellte Dach der Falle nicht mehr zu erkennen. War sie – war sie niedergeschlagen?
Das Herz schlug ihm in fieberhafter Ungeduld, und gewaltsam fast bezwang er sich, um den heller heraufbrechenden Morgen abzuwarten, ehe er seine Fährte dem Talgrunde einpresse.
Aber lange hielt er es so nicht aus; weder Ruh noch Rast ließ ihm die Ungeduld, und je mehr er jetzt den Blick anspannte, um die Gegenstände unter sich zu erkennen, desto deutlicher wurde ihm die Tatsache und der Zweifel endlich zur Gewissheit. Die Falle war wirklich zugeschlagen, und es musste also ein Wolf in ihr stecken, denn die Kühe, die manchmal auch sehr zum Ärger des Jägers und ihrem eigenen Schrecken die Stützen umstoßen, kamen gar nicht in dies felsige grasleere Tal hinunter.
„Betsy!“ Das war der einzige Laut, den er, sich selbst vielleicht unbewusst, ausstieß, als er mit flüchtigen Füßen den Talgrund hinab und der Stelle zuflog, wo im Schatten dichter Sassafras und Spicebüsche, gar schlau in einen wilden Haufen des dort von dem manchmal reißend geschwollenen Bergstrom hingeschwemmten Holzes hineingestellt und von dem klar vorbeisprudelnden Wasser bespült, die Falle stand.
„Hurra!“ Er konnte sich nicht helfen, er musste seinem Jubel wenigstens in einem recht herzlichen, recht aus tiefster, innerster Seele kommenden Aufschrei Luft machen. Und er hatte auch wahrlich Ursache darüber zu jauchzen, denn in der Falle saß, scheu und verschämt, als ob er sich genierte, bei dem heller und heller heraufdämmernden Tageslicht hier noch ertappt zu sein, ein prachtvoller, rabenschwarzer männlicher Wolf, und die Augen funkelten dunkelglühend zwischen den wohl eine Handbreit auseinander liegenden Stämmen nach dem grimmsten Feind durch, dem er in diesem Teil des Waldes hätte in die Hände fallen können – dem jungen Jägersmann entgegen.
„Siehst du, Bestie“, sagte aber der, „so habe ich dir endlich das Handwerk gelegt, du alter grauer Sünder – wirst die anderen wohl gestern von der gefundenen und so vortrefflich geglaubten Beute weggebissen haben, und sitzest jetzt in der beneidenswertesten Lage von der Welt hinter Glas und Rahmen. Nun warte nur, dir ist noch weit besserer Spaß aufbewahrt. Ans Leben geht es dir diesmal allerdings nicht gleich, wenn du aber nur erst einmal mit der Glocke um den Hals spazieren läufst, wirst du schon finden, was es heißt, in Ben Holiks Hände geraten zu sein!“
Der Wolf fletschte, als er sich nach der Falle hinunterbog, ingrimmig die Zähne gegen ihn, behauptete aber seinen Platz und schien, wie ein ärgerlicher Hund, nur einen Angriff zu erwarten, um gleich zufahren zu können. Ben dachte aber gar nicht daran, ihn weiter zu reizen, sah nur noch einmal lächelnd nach ihm zurück und rief:
„Bin dir nicht böse, alter Bursche; bist zwar ein gar unwirsch aussehender Brautwerber, sollst mir aber doch zur Braut verhelfen, und da müssen wir schon gute Freunde mitsammen bleiben.“
Und einen fröhlichen Gruß dem Gefangenen hinüberwinkend, warf er seine Büchse über die Schulter und sprang in flüchtigen Sätzen den ziemlich steilen Abhang der Schlucht hinauf, um die Ansiedlung auf dem geradesten Wege und so rasch wie möglich zu erreichen, damit er von dort aus gleich Hilfe herbeiholen könne, um dem wilden Burschen das Halsband mit der Glocke umzulegen und ihn dann wieder – hei, wie er springen würde! – frank und frei laufen zu lassen.
So hatten die Männer der Ansiedelung (die sie, um ihr doch eine Art Stadtnamen zu geben, Woodville getauft, obgleich sie nur aus drei Häusern und zwei Ställen bestand) den jungen Jägersmann noch nie gesehen. Jubelnd und jauchzend kam er in Suttons Haus gesprungen, umarmte in Ermangelung der Tochter den alten Sutton selber, und schwatzte eine solche Menge tolles Zeug von Wölfen, Skalpen, Farmen, Glocken, Stricken und Holzhaufen, dass eine Art Gerücht, „Wolfs Ben sei wahnsinnig geworden“, schon wirklich anfing, Glauben zu gewinnen.
Nach und nach klärte sich aber die Sache auf, und der alte Sutton erfuhr kaum, um was es sich handle, als er auch selber mit fast solchem Eifer darauf einging, und jetzt nur bedauerte, dass Metcamp den Augenblick nicht gegenwärtig wäre, da er ebenfalls die Nacht im Wald gewesen sei, um sein Glück zu versuchen.
„Hallo, jetzt bekommen wir am Ende gar zwei!“, lachte der Alte endlich, während er seine Büchse vom Nagel nahm und die Kugeltasche umhing. „Metcamp hatte verdammt gute Aussichten und scheint seiner Sache ziemlich gewiss zu sein. Nun, das schadete nichts; dann teilt ihr die Prämie und zwei Wölfe wären am Ende immer noch sicherer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 24.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5735-6
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