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Inhalt:

 

Germelshausen

Der dreizehnte

Der tote Chaussee-Einnehmer

Der gemalte Indianer

Der Doppelgänger

Im Red River

Die neue Geisterwelt

Werner

Die Puppe

Die Leichenräube

Von Toten erschlagen

 

Coverbild: Oliver Denker /Shutterstock.com

 

Germelshausen

Im Herbst des Jahres 184- wanderte ein junger, lebensfrischer Bursch, den Tornister auf dem Rücken, den Stab in der Hand, langsam und behaglich den breiten Fahrweg entlang, der von Marisfeld hinauf nach Wichtelhausen führte.

Er war kein Handwerksbursch, der Arbeit suchend von Ort zu Ort ging, das sah man ihm auf den ersten Blick an, hätte ihn nicht schon die kleine, sauber gefertigte Ledermappe verraten, die er auf den Tornister geschnallt trug. Den Künstler konnte er überhaupt nicht verleugnen. Der keck auf einer Seite sitzende schwarze breitrandige Hut, das lange blonde, gelockte Haar, der weiche, noch ganz junge, aber volle Bart – alles sprach dafür, selbst der etwas abgetragene schwarze Samtrock, der ihm jedoch bei dem warmen Morgen ein wenig zu heiß werden mochte. Er hatte ihn aufgeknöpft, und das weiße Hemd darunter – denn er trug keine Weste – wurde um den Hals von einem schwarzseidenen Tuch nur locker zusammengehalten.

Als er ein Viertelstündchen von Marisfeld sein mochte, läutete es dort zur Kirche, und er blieb stehen, stützte sich auf seinen Stecken und lauschte aufmerksam den vollen Glockentönen, die wundersam zu ihm herüberschallten.

Das Läuten war lange vorüber, und noch immer stand er dort und blickte träumerisch hinaus auf die Bergeshänge. Sein Geist war daheim bei den Seinen, in dem kleinen, freundlichen Dorf am Taunusgebirge – bei seiner Mutter, bei seinen Schwestern – und es schien fast, als ob sich eine Träne in sein Auge drängen wolle. Sein leichtes, fröhliches Herz aber ließ die trüben und schwermütigen Gedanken nicht aufkommen. Nur den Hut nahm er ab und grüßte mit einem herzlichen Lächeln der Richtung zu, in der er die Heimat wusste, und dann fester seinen derben Stecken fassend, schritt er munter die Straße entlang, der begonnenen Bahn folgend.

Die Sonne brannte indessen ziemlich warm auf den breiten, eintönigen Fahrweg nieder, auf dem der Staub in dicker Kruste lag, und unser Wanderer hatte sich schon eine Zeitlang nach rechts und links umgeschaut, ob er nicht irgendeinen bequemeren Fußpfad entdecken könne. Rechts zweigte zwar einmal ein Weg ab, der ihm aber keine Besserung versprach und auch zu weit aus seiner Richtung führte; er behielt also den alten noch eine Zeitlang bei, bis er endlich an ein klares Bergwasser kam, an dem er die Trümmer einer alten steinernen Brücke erkennen konnte. Drüben lief ein Rasenweg, der in den Grund hineinführte, und doch mit keinem bestimmten Ziel vor sich – da er ja nur dem schönen Werratal zuzog, seine Studienmappe zu bereichern – sprang er auf einzelnen großen Steinen trockenen Fußes über den Bach zur kurz gemähten Wiese drüben und schritt hier, auf dem elastischen Rasen und im Schatten dichter Erlenbüsche, rasch und sehr zufrieden mit seinem Tausch vorwärts.

»Jetzt hab ich den Vorteil«, lachte er dabei vor sich hin, »dass ich gar nicht weiß, wohin ich komme. Hier steht kein langweiliger Wegweiser, der einem immer schon Stunden vorher sagt, wie der nächste Ort heißt, und dann jedes Mal mit der Entfernung unrecht hat. Wie die Leute hier nur ihre Stunden messen, möcht’ ich wissen! Merkwürdig still ist’s aber hier im Grund. – Freilich, am Sonntag haben die Bauern draußen nichts zu tun, und wenn sie die ganze Woche hinter ihrem Pflug oder neben dem Wagen herlaufen müssen, halten sie am Sonntag nicht viel vom Spazierengehen, schlafen morgens erst in der Kirche tüchtig aus und strecken die Beine dann nach dem Mittagessen unter den Wirtstisch. – Wirtstisch – hm – ein Glas Bier wäre jetzt bei der Hitze gar nicht so übel; aber bis ich das bekommen kann, löscht auch die klare Flut hier den Durst.«

Und damit warf er Tornister und Hut ab, stieg zum Wasser nieder und trank nach Herzenslust.

Als er dadurch etwas abgekühlt war, fiel sein Blick auf einen alten, wunderlich verwachsenen Weidenbaum, den er rasch und mit geübter Hand skizzierte, und jetzt vollständig erfrischt und ausgeruht, nahm er seinen leichten Tornister wieder auf und setzte seinen Weg, unbekümmert, wohin er ihn führe, fort.

Eine Stunde mochte er noch so gewandert sein, hier ein Felsstück, dort ein eigentümliches Erlengebüsch, da wieder einen knorrigen Eichenast in seine Mappe sammelnd; die Sonne war dabei höher und höher gestiegen, und er nahm sich vor, nun rüstig auszuschreiten, um wenigstens im nächsten Dorf das Mittagessen nicht zu versäumen, als er vor sich im Grund, dicht am Bach und an einem alten Stein, auf dem früher einmal ein Heiligenbild gestanden war, eine Bäuerin sitzen sah, die den Weg, den er kam, herabschaute.

Von Erlen gedeckt, hatte er sie früher sehen können als sie ihn; dem Ufer des Baches aber folgend, trat er kaum über das Gebüsch hinaus, das ihn bis dahin ihren Blicken entzogen hatte, als sie aufsprang und ihm mit einem Freudengeschrei entgegeneilte.

Arnold, wie der junge Maler hieß, blieb überrascht stehen und sah bald, dass es ein bildhübsches, kaum siebzehnjähriges Mädchen war, das, in eine ganz eigentümliche, aber äußerst nette Bauerntracht gekleidet, die Arme gegen ihn ausgestreckt hatte und auf ihn zuflog. Arnold wusste freilich, dass sie ihn sicher für einen anderen hielt und dieses freudige Begegnen nicht ihm galt.

Das Mädchen erkannte ihn auch kaum, als es erschrocken stehen blieb, erst blass und dann über und über rot wurde und endlich schüchtern und verlegen sagte: »Nehmt’s nicht ungütig, fremder Herr, ich – glaubte –«

»Dass es dein Schatz wäre, mein liebes Kind, nicht wahr?«, lachte der junge Bursche. »Und jetzt bist du verdrießlich, dass dir ein anderes, fremdes und gleichgültiges Menschenbild in den Weg läuft? Sei nicht böse, dass ich’s nicht bin.«

»Ach, wie könnt Ihr nur so reden«, flüsterte die Maid ängstlich. »Wie dürft’ ich böse sein. – Aber wenn Ihr wüsstet, wie sehr ich mich darauf gefreut hatte!«

»Dann verdient er’s aber auch nicht, dass du noch länger auf ihn wartest!«, sagte Arnold, dem jetzt erst die wahrhaft wunderbare Anmut des schlichten Bauernkindes auffiel. »Wär’ ich an seiner Stelle, du hättest nicht eine einzige Minute vergebens meiner harren sollen.«

»Wie Ihr nur so wunderbar redet«, sagte das Mädchen verschämt. »Wenn er hätt’ kommen können, wär’ er gewiss schon da. Vielleicht ist er wohl krank oder – oder gar – tot«, setzte sie langsam und recht aus vollem Herzen aufseufzend hinzu.

»Und hat er so lange nichts von sich hören lassen?«

»Gar sehr, sehr lange nicht.«

»Dann ist er wohl weit von hier daheim?«

»Weit? Gewiss – schon eine recht lange Strecke von da«, sagte das Mädchen; »in Bischofsroda.«

»Bischofsroda?«, rief Arnold. »Da hab ich jetzt vier Wochen gehaust und kenne jedes Kind im ganzen Dorf. Wie heißt er?«

»Heinrich – Heinrich Vollgut«, sagte das Mädchen verschämt; »des Schulzen Sohn in Bischofsroda.«

»Hm«, meinte Arnold, »bei dem Schulzen bin ich ein und aus gegangen; der aber heißt, so viel ich weiß, Bäuerling, und den Namen Vollgut hab ich im ganzen Dorf nicht gehört.«

»Ihr werdet wohl nicht alle Leute dort kennen«, meinte das Mädchen, und durch den traurigen Zug, der über dem lieben Antlitz lag, stahl sich doch ein leises, verschmitztes Lächeln, das ihm gar zu gut und noch viel besser als die vorige Schwermut stand.

»Aber von Bischofsroda«, meinte der junge Maler, »kann man über die Berge recht gut in zwei Stunden, höchstens in dreien herüberkommen.«

»Und doch ist er nicht da“, sagte die Maid wieder mit einem schweren Seufzer; »und doch hat er mir’s so fest versprochen.«

»Dann kommt er auch gewiss«, versicherte Arnold treuherzig; »denn wenn man dir einmal etwas versprochen hat, müsste man ja ein Herz aus Stein haben, wenn man nicht Wort hielte – und das hat dein Heinrich gewiss nicht.«

»Nein«, sagte die Maid treuherzig. »Aber jetzt wart’ ich doch nicht länger auf ihn, denn zu Mittag muss ich daheim sein, sonst schilt der Vater.«

»Und wo bist du daheim?«

„Dort gleich im Grund drin – hört Ihr die Glocke? Eben wird der Gottesdienst ausgeläutet.«

Arnold horchte auf, und gar nicht weit entfernt konnte er das langsame Anschlagen einer Glocke hören; aber nicht voll und tief tönte es zu ihm herüber, sondern scharf und disharmonisch, und als er zu der Gegend dort hinschaute, war es fast, als ob ein dichter Höhenrauch über jenem Teil des Tals läge. »Eure Glocke hat einen Sprung«, lachte er, »die klingt bös.«

»Ja, ich weiß wohl«, erwiderte das Mädchen gleichmütig; »hübsch klingt sie nicht, und wir hätten sie lange schon umgießen lassen, aber es fehlt immer an Geld und an Zeit dazu, denn hier herum sind keine Glockengießer. Doch was tut’s; wir kennen sie einmal und wissen, was es bedeutet, wenn es anschlägt – da verrichtet’s auch die gesprungene.«

»Und wie heißt dein Dorf?«

»Germelshausen.«

»Und kann ich von dort nach Wichtelhausen kommen?«

»Recht leicht; den Fußweg hinüber ist’s kaum ein halbes Stündchen – vielleicht nicht einmal so weit, wenn Ihr gut ausschreitet.«

»Dann geh ich mit durch dein Dorf, Schatz, und wenn ihr ein gutes Wirtshaus im Ort habt, ess ich dort zu Mittag.«

»Das Wirtshaus ist nur zu gut«, sagte das Mädchen seufzend, indem es einen Blick zurückwarf, ob der Erwartete denn noch nicht käme.

»Und kann ein Wirtshaus je zu gut sein?«

»Für den Bauern ja«, sagte das Mädchen ernst, indem es jetzt an seiner Seite langsam im Grund hinschritt; »der hat auch des Abends nach der Arbeit noch manches im Haus zu tun, was er versäumt, wenn er bis spät in der Nacht im Wirtshaus sitzt.«

»Aber ich versäume heute nichts mehr.«

»Ja, mit den Stadtherren ist es etwas anderes – die arbeiten doch nichts und versäumen deshalb auch nicht viel; muss doch der Bauer das Brot für sie verdienen.«

»Nun eigentlich doch nicht«, lachte Arnold. »Bauen wohl, aber verdienen müssen wir es selber, und manchmal sauer genug; denn was der Bauer tut, lässt er sich auch gut bezahlen.«

»Aber Ihr arbeitet doch nichts?«

»Und warum nicht?«

»Eure Hände sehen nicht danach aus.«

»Dann will ich dir gleich einmal beweisen, wie und was ich arbeiten kann«, lachte Arnold. »Setz dich einmal da auf den flachen Stein unter den alten Fliederbusch –«

»Aber was soll ich dort?«

»Setz dich nur hin!«, rief der junge Maler, der rasch seinen Tornister abwarf und Mappe und Bleistift hervornahm.

»Aber ich muss heim!«

»In fünf Minuten bin ich fertig. Ich möchte auch gern eine Erinnerung an dich mitnehmen in die Welt, gegen die selbst dein Heinrich nichts einzuwenden haben wird.«

»Eine Erinnerung an mich? Wie Ihr gespaßig seid!«

»Ich will dein Bild mitnehmen.«

»Ihr seid ein Maler?«

»Ja.«

»Das wär’ schon gut – dann könntet Ihr in Germelshausen gleich die Bilder in der Kirche wieder einmal frisch anmalen, die sehen so gar bös und mitgenommen aus.«

»Wie heißt du?«, fragte jetzt Arnold, der schon seine Mappe geöffnet hatte und die lieblichen Züge des Mädchens rasch skizzierte.

»Gertrud.«

»Und was ist dein Vater?«

»Der Schulze im Dorf. – Wenn Ihr ein Maler seid, dürft Ihr auch nicht ins Wirtshaus gehn; da nehm’ ich Euch gleich mit nach Hause, und nach dem Essen könnt Ihr alles mit dem Vater besprechen. «

»Über die Kirchenbilder?«, lachte Arnold.

»Ja gewiss«, sagte das Mädchen ernsthaft, »Und Ihr müsst dann bei uns bleiben, recht, recht lange Zeit – bis wieder unser Tag kommt und die Bilder fertig sind.«

»Nun, davon sprechen wir nachher, Gertrud«, sagte der junge Maler, fleißig dabei seinen Bleistift handhabend. »Aber wird dein Heinrich nicht bös werden, wenn ich auch manchmal – oder recht oft – bei euch bin und – recht viel mit dir plaudere?«

»Der Heinrich?«, sagte das Mädchen. »Der kommt jetzt nicht mehr.«

»Heute wohl nicht; aber dann vielleicht morgen?«

»Nein«, sagte Gertrud, vollkommen ruhig. »Da er bis elf Uhr nicht da war, bleibt er aus, bis einmal wieder unser Tag ist.«

»Euer Tag? Was meinst du damit?«

Gertrud sah ihn groß und ernst an, aber sie antwortete nicht auf seine Frage, und während ihr Blick zu den hoch über ihnen hinziehenden Wolken schweifte, haftete er mit einem eigenen Ausdruck von Schmerz und Wehmut an ihnen. Sie war in diesem Augenblick wirklich engelschön, und Arnold vergaß in dem Interesse, das er an der Vollendung des Porträts nahm, alles andere. Es blieb ihm auch nicht mehr viel Zeit.

Das junge Mädchen stand plötzlich auf, und ein Tuch über den Kopf werfend, um sich vor den Sonnenstrahlen zu schützen, sagte es: »Ich muss fort – der Tag ist so kurz, und sie erwarten mich daheim.«

Arnold hatte aber sein kleines Bild auch fertig, und mit ein paar kecken Strichen den Faltenwurf der Kleidung angebend, sagte er, ihr das Blatt entgegenhaltend: »Hab ich dich getroffen?«

»Das bin ich?«, rief Gertrud rasch und fast erschreckt.

»Nun, wer denn sonst?«, lachte Arnold.

»Und das Bild wollt Ihr behalten und mit Euch nehmen?«, fragte das Mädchen schüchtern, fast ängstlich.

»Gewiss will ich!«, rief der junge Mann. »Und wenn ich dann weit, weit von hier bin, werde ich noch oft und fleißig an dich denken.«

»Aber wird das mein Vater leiden?«

»Dass ich an dich denke? Kann er mir das verwehren?«

»Nein, aber – dass Ihr das Bild da mit Euch – in die Welt hinaus nehmt.«

»Er kann es nicht hindern, mein Herz«, sagte Arnold freundlich. »Aber wäre es dir selber unlieb, es in meinen Händen zu wissen?«

»Mir? Nein!«, erwiderte das Mädchen nach kurzem Überlegen. »Wenn – nur nicht – ich muss doch den Vater darum fragen.«

»Du bist ein närrisches Kind«, lachte der junge Maler; »selbst eine Prinzessin hätte nichts dagegen, dass ein Künstler ihre Züge für sich erwirbt. Dir geschieht kein Schaden dadurch. Aber so lauf doch nur nicht so, du wildes Ding; ich gehe ja mit – oder willst du mich hier ohne Mittagessen zurücklassen? Hast du die Kirchenbilder vergessen?«

»Ja, die Bilder«, sagte das Mädchen stehenbleibend und auf ihn wartend.

Arnold aber, der seine Mappe rasch wieder zusammengebunden hatte, war auch schon im nächsten Augenblick an seiner Seite, und schneller als vorher setzten sie ihren Weg dem Dorf zu fort. Dieses aber lag viel näher, als Arnold dem Klang der gesprungenen Glocke nach vermutet hatte, denn das, was der junge Mann von Weitem nur für ein Erlendickicht gehalten hatte, zeigte sich, als sie näher kamen, als eine heckenumzogene Reihe von Obstbäumen, hinter denen dicht versteckt, aber im Norden und Nordosten von weiten Feldern umgeben, das alte Dorf mit seinem niedrigen Kirchturm und seinen rauchgeschwärzten Häusern lag.

Hier auch betraten sie zuerst eine gut angelegte und feste Straße, an beiden Seiten mit Obstbäumen bepflanzt. Über dem Dorf aber hing der düstere Höhenrauch, den Arnold schon von Weitem gesehen hatte, und brach das helle Sonnenlicht, das nur mit einem gelblich-unheimlichen Schein auf die alten grauen, verwitterten Dächer fallen konnte.

Arnold aber hatte für das alles kaum einen Blick, denn die an seiner Seite hinschreitende Gertrud fasste, als sie sich den ersten Häusern näherten, langsam seine Hand, und diese in der ihren haltend, schritt sie mit ihm in die nächste Straße hinein.

Ein wunderbares Gefühl durchzuckte den jungen, lebensfrischen Burschen bei der Berührung dieser warmen Hand, und unwillkürlich fast suchte sein Blick dem des jungen Mädchens zu begegnen. Aber Gertrud schaute nicht zu ihm herüber; das Auge züchtig am Boden haftend, führte sie den Gast dem Haus ihres Vaters zu, und Arnolds Aufmerksamkeit wurde endlich auch auf die ihm begegnenden Dorfbewohner gelenkt, die alle still an ihm vorübergingen, ohne ihn zu grüßen.

Das fiel ihm zuerst auf, denn in all den benachbarten Dörfern hätte man es fast für ein Vergehen gehalten, einem Fremden nicht wenigstens einen »Guten Tag« oder ein »Grüß Gott« zu bieten. Hier dachte niemand daran, und wie in einer großen Stadt gingen die Leute entweder still und teilnahmslos vorbei oder blieben auch hier und da stehen und sahen ihnen nach – aber es redete sie niemand an. Selbst das Mädchen grüßte keiner von allen.

Und wie wunderlich die alten Häuser mit ihren spitzen, mit Schnitzwerk verzierten Giebeln und festen, wettergrauen Strohdächern aussahen – und trotz des Sonntags war kein Fenster blank und geputzt, und die runden, in Blei gefassten Scheiben sahen trüb und angelaufen aus und zeigten auf ihren matten Flächen den schillernden Regenbogenglanz. Hier und da öffnete sich aber ein Flügel, als sie vorüberschritten, und freundliche Mädchengesichter oder alte, würdige Matronen schauten heraus.

Auch die seltsame Tracht der Leute fiel ihm auf, die sich wesentlich von der der Nachbardörfer unterschied. Dabei herrschte eine fast lautlose Stille überall, und Arnold, dem das Schweigen endlich peinlich wurde, sagte zu seiner Begleiterin: »Haltet ihr denn in eurem Dorf den Sonntag so streng, dass die Leute, wenn sie einander begegnen, nicht einmal einen Gruß haben? Hörte man nicht hier und da einen Hund bellen oder einen Hahn krähen, so könnte man den ganzen Ort für stumm und tot halten.«

»Es ist Mittagszeit«, sagte Gertrud ruhig, »und da sind die Leute nicht zum Reden aufgelegt; heute Abend werdet Ihr sie desto lauter finden.«

»Gott sei Dank«, rief Arnold, »da sind wenigstens Kinder, die auf der Straße spielen! Mir fing es hier schon an, unheimlich zu werden; da feiern sie in Bischofsroda den Sonntag auf andere Art.«

»Dort ist auch meines Vaters Haus«, sagte Gertrud leise.

»Dem aber«, lachte Arnold, »darf ich nicht so unversehens mittags in die Schüssel fallen. Ich könnte ihm ungelegen kommen und habe beim Essen gern freundliche Gesichter um mich her. Zeig mir deshalb lieber das Wirtshaus, mein Kind, oder lass mich es selber finden, denn Germelshausen wird von anderen Dörfern keine Ausnahme machen. Dicht neben der Kirche steht auch gewöhnlich die Schenke, und wenn man nur dem Turm folgt, geht man nie fehl.«

»Da habt Ihr recht; das ist bei uns geradeso«, sagte Gertrud ruhig. »Aber daheim erwarten sie uns schon, und Ihr braucht nicht zu fürchten, dass man Euch unfreundlich aufnimmt.«

»Erwarten sie uns? Ah, du meinst dich und deinen Heinrich? Ja, Gertrud, wenn du mich heute an dessen Stelle nehmen wolltest, dann bliebe ich bei dir – so lange, bis du mich selber wieder fortgehen hießest.«

Er hatte die letzten Worte fast unwillkürlich mit herzlicher Stimme gesprochen und leise dabei die Hand gedrückt, die noch immer die seine gefasst hielt; da blieb Gertrud plötzlich stehen, sah ihn voll und groß an und sagte: »Wolltet Ihr das wirklich?«

»Mit tausend Freuden!«, rief der junge Maler, von der wunderbaren Schönheit des Mädchens ganz übermannt.

Gertrud erwiderte aber nichts weiter darauf, und ihren Weg fortsetzend, als ob sie sich die Worte ihres Begleiters überlege, blieb sie endlich vor einem hohen Haus stehen, zu dem eine mit Eisenstäben verwahrte, breite steinerne Treppe hinaufführte, und sagte ganz wieder mit ihrem früheren schüchternen und verschämten Wesen: »Hier wohne ich, lieber Herr, und wenn’s Euch freut, so kommt mit hinauf zu meinem Vater, der stolz darauf sein wird, Euch an seinem Tisch zu sehen.«

Ehe Arnold aber nur etwas darauf erwidern konnte, trat oben auf der Treppe schon der Schulze in die Tür, und während ein Fenster geöffnet wurde, aus dem der freundliche Kopf einer alten Frau herausschaute und ihnen zunickte, rief der Bauer: »Aber, Gertrud, heint bist du lang ausgeblieben; und schau, schau, was sie sich für einen schmucken Gesellen mitgebracht hat!«

»Mein bester Herr –«

»Nur keine Umstände auf der Treppe – kommt herein, die Klöße sind fertig und werden sonst hart und kalt.«

»Das ist aber nicht der Heinrich!«, rief die alte Frau aus dem Fenster. »Hab ich’s denn nicht immer gesagt, dass der nicht wiederkäme?«

»Schon gut, Mutter; schon gut«, meinte der Schulze; »der tut’s auch.« Und dem Fremden die Hand entgegenstreckend, fuhr er fort: »Schönen Willkommen in Germelshausen, mein junger Herr, wo Euch das Mädel auch aufgelesen haben mag. Und jetzt kommt herein zum Essen, und langt zu nach Herzenslust– alles Weitere können wir nachher besprechen.«

Er ließ dem jungen Maler auch wirklich keinen weiteren Raum zu irgendeiner Entschuldigung, sondern derb seine Hand schüttelnd, die Gertrud losgelassen hatte, sobald er den Fuß auf die steinerne Treppe setzte, fasste er ihn zutraulich unter dem Arm und führte ihn in die breite und geräumige Wohnstube hinein.

Im Haus selber herrschte eine dumpfe, erdige Luft, und so gut Arnold die Gewohnheit des deutschen Bauern kannte, der sich in seinem Zimmer am liebsten von jeder frischen Luft abschließt und selbst im Sommer nicht selten einheizt, um die ihm behagliche Brathitze zu erzeugen, so fiel es ihm doch auf.

Der schmale Hausgang hatte dabei ebenfalls wenig Einladendes. Der Kalk war von den Wänden gefallen und schien eben nur flüchtig beiseite gekehrt zu sein. Das Einzige, erblindete Fenster im hinteren Teil des Flurs konnte kaum ein notdürftiges Licht hereinwerfen, und die Treppe, die in das obere Stockwerk führte, sah alt und verfallen aus.

Es blieb ihm aber nur wenig Zeit, das zu beobachten, denn im nächsten Augenblick schon warf sein gastlicher Wirt die Tür der Wohnstube auf, und Arnold sah sich in einem nicht hohen, aber breiten und geräumigen Zimmer, das frisch gelüftet, mit weißem Sand bestreut und mit dem großen, von schneeigem Linnen bedeckten Tisch in der Mitte freundlich gegen die übrige, etwas verwilderte innere Einrichtung des Hauses abstach.

Außer der alten Frau, die jetzt das Fenster geschlossen hatte und ihren Stuhl zum Tisch rückte, saßen noch ein paar rotbäckige Kinder in der Ecke, und eine rüstige Bauersfrau – aber auch in ganz anderer Tracht als die der Nachbardörfer– öffnete eben der mit einer großen Schüssel hereinkommenden Magd die Tür. Und jetzt dampften die Klöße auf dem Tisch, und alles drängte an die Stühle, der willkommenen Mahlzeit entgegen; keins aber setzte sich, und die Kinder schauten mit – wie es Arnold vorkam – fast ängstlichen Blicken auf den Vater.

Dieser trat zu seinem Stuhl, lehnte sich mit dem Arm darauf und sah still und schweigend, ja finster vor sich nieder. – Betete er? Arnold sah, dass er die Lippen fest zusammengepresst hielt, während seine rechte Hand zusammengeballt an der Seite niederhing – in diesen Zügen lag kein Gebet, nur starrer und doch unschlüssiger Trotz.

Gertrud ging da leise auf ihn zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, und die alte Frau stand ihm sprachlos gegenüber und sah ihn mit ängstlich bittenden Blicken an.

»Lasst uns essen«, sagte da der Mann barsch, »es hilft doch nichts!« Seinen Stuhl beiseite rückend und seinem Gast zunickend, ließ er sich selber nieder, ergriff den großen Schöpflöffel und legte allen vor.

Arnold kam das ganze Wesen des Mannes fast unheimlich vor, und in der gedrückten Stimmung der Übrigen konnte er sich ebenfalls nicht behaglich fühlen.

Der Schulze war aber nicht der Mann, der sein Mittagessen mit trüben Gedanken verzehrt hätte. Als er auf den Tisch klopfte, trat die Magd wieder herein und brachte Flaschen und Gläser, und mit dem kostbaren alten Wein, den er jetzt einschenkte, kam bald ein ganz anderes, fröhlicheres Leben in alle Tischgenossen.

Durch Arnolds Adern strömte das herrliche Getränk wie flüssiges Feuer – nie im Leben hatte er etwas Ähnliches gekostet – und auch Gertrud trank davon und die alte Mutter, die sich nachher an ihr Spinnrad in die Ecke setzte und mit leiser Stimme ein kleines Lied vom lustigen Leben in Germelshausen sang. Der Schulze selber aber war wie ausgewechselt. So ernst und schweigsam er vorher gewesen war, so lustig und aufgeräumt wurde er jetzt, und Arnold selber konnte sich dem Einfluss dieses kostbaren Weins nicht entziehen. Ohne dass er eigentlich genau wusste, wie es gekommen war, hatte der Schulze eine Violine in die Hand genommen und spielte einen lustigen Tanz, und Arnold, die schöne Gertrud im Arm, wirbelte mit ihr in der Stube so toll herum, dass er das Spinnrad und die Stühle umwarf und gegen die Magd anrannte, die das Geschirr hinaustragen wollte, und allerhand lustige Streiche trieb, dass sich die Übrigen darüber vor Lachen ausschütten wollten.

Plötzlich wurde alles still in der Stube, und als sich Arnold erstaunt nach dem Schulzen umschaute, deutete dieser mit seinem Violinbogen zum Fenster und legte dann das Instrument wieder in den großen Holzkasten zurück, aus dem er es vorher genommen hatte. Arnold aber sah, wie draußen auf der Straße ein Sarg vorbeigetragen wurde.

Sechs Männer, in weiße Hemden gekleidet, hatten ihn auf den Schultern, und hinterher ging ganz allein ein alter Mann mit einem kleinen blondhaarigen Mädchen an der Hand. Der Alte schritt wie gebrochen auf der Straße hin; die Kleine aber, die kaum vier Jahre zählen mochte und wohl noch keine Ahnung hatte, wer da in dem dunklen Sarg lag, nickte überall freundlich hin, wo sie ein bekanntes Gesicht traf, und lachte hellauf, als ein paar Hunde vorüberhetzten und der eine gegen die Treppe des Schulhauses anrannte und sich überkugelte.

Nur aber solange der Sarg in Sicht war, dauerte die Stille, und Gertrud trat zu dem jungen Maler heran und sagte: »Jetzt gebt aber auf kurze Zeit Ruhe – Ihr habt genug getollt, und der schwere Wein steigt Euch sonst immer mehr in den Kopf. Kommt, nehmt Euren Hut, und wir wollen einen kleinen Spaziergang zusammen machen. Bis wir zurückkommen, wird es Zeit, in die Schenke zu gehen, denn heint Abend ist Tanz.«

»Tanz? Das ist recht!«, rief Arnold vergnügt. »Da bin ich grad zur guten Zeit gekommen! Du gibst mir den ersten Tanz, Gertrud?«

»Gewiss, wenn Ihr wollt.«

Arnold hatte schon Hut und Mappe aufgegriffen.

»Was wollt Ihr mit dem Buch?«, fragte der Schulze.

»Er zeichnet, Vater«, sagte Gertrud; »er hat auch mich schon abgemalt. Seht Euch einmal das Bild an.«

Arnold öffnete die Mappe und hielt dem Mann das Bild entgegen. Der Bauer betrachtete es still und schweigend eine Weile. »Und das wollt Ihr mit nach Hause nehmen?«, sagte er endlich. »Und vielleicht in einen Rahmen machen und in die Stube hängen?«

»Und warum nicht?«

»Darf er, Vater?«, fragte Gertrud.

»Wenn er nicht bei uns bleibt«, lachte der Schulze, »hab ich nichts dagegen; aber da hinten fehlt noch etwas.«

»Was?«

»Der Leichenzug von vorhin. – Malt den mit auf das Blatt, und Ihr mögt das Bild mitnehmen.«

»Aber der Leichenzug zu Gertrud?«

»Da ist noch Platz genug«, sagte der Schulze hartnäckig. »Der muss mit drauf sein, sonst leid’ ich nicht, dass Ihr meines Mädels Bild so ganz allein mit fortnehmt. In so ernster Gesellschaft kann aber niemand etwas Übles davon denken.«

Arnold schüttelte über den wunderlichen Vorschlag, dem hübschen Mädchen einen Leichenzug als Ehrenwache mitzugeben, lachend den Kopf. Der Alte schien aber einmal die fixe Idee zu haben, und um ihn zufriedenzustellen, tat er ihm den Willen. Später konnte er die traurige Beigabe ja leicht wieder entfernen. Mit geübter Hand hatte er auch bald die eben vorbeigezogenen Gestalten – wenn auch nur aus der Erinnerung – auf das Papier gebracht, und die ganze Familie drängte sich dabei um ihn her und sah mit offenbarem Staunen die rasche Ausführung der Zeichnung.

»Hab ich’s so recht gemacht?«, rief Arnold endlich, als er von seinem Stuhl aufsprang und das Bild in Armeslänge vor sich hielt.

»Vortrefflich!«, nickte der Schulze. »Hätt’s nimmer gedacht, dass Ihr’s so schnell fertigbrächtet. Jetzt mag’s sein; nun geht mit dem Mädel hinaus und seht Euch das Dorf an – möchtet es doch so bald nicht wieder zu sehen bekommen. Bis um fünf Uhr seid aber fein wieder da; wir feiern ein Fest heint, und da müsst Ihr dabeisein!«

Arnold selber wurde es in der dumpfigen Stube mit dem Wein im Kopf eng und beklemmend zumute. Er sehnte sich ins Freie, und wenige Minuten später schritt er an der Seite der schönen Gertrud die Straße entlang, die durch das Dorf führte.

Jetzt lag auch der Weg nicht mehr so still da wie vorhin; die Kinder spielten auf der Straße, die Alten saßen hier und da vor ihren Türen und sahen ihnen zu, und der ganze Ort mit seinen alten, wunderlichen Gebäuden hätte sicherlich sogar ein freundliches Aussehen gehabt, wäre die Sonne nur imstande gewesen, durch den dichten bräunlichen Rauch zu dringen, der wie eine Wolke über den Dächern lag.

»Ist hier ein Moor- oder Waldbrand in der Nähe?«, fragte er das Mädchen. »Derselbe Rauch liegt über keinem anderen Dorf und kann nicht von den Schornsteinen herrühren.«

»Es ist Erdrauch«, sagte Gertrud ruhig. »Aber habt Ihr nie von Germelshausen gehört?«

»Nie.«

»Das ist sonderbar, und das Dorf ist doch schon so alt– so alt.«

»Die Häuser sehen wenigstens danach aus, und auch die Leute haben alle ein so wunderliches Benehmen, und eure Sprache klingt so ganz anders wie in den Nachbarorten. Ihr kommt wohl wenig hinaus aus eurem Ort?«

»Wenig«, sagte Gertrud einsilbig.

»Und keine einzige Schwalbe ist mehr da? Die können doch noch nicht fortgezogen sein?«

»Schon lange«, antwortete das Mädchen eintönig; »in Germelshausen baut sich keine mehr ihr Nest. – Sie können vielleicht den Erdrauch nicht vertragen.«

»Aber den habt ihr doch nicht immer?«

»Immer.«

»Dann ist der auch schuld daran, dass eure Obstbäume keine Früchte tragen, und noch in Marisfelde mussten sie dieses Jahr die Äste stützen, so reich gesegnet ist das Jahr.«

Gertrud erwiderte kein Wort darauf und wanderte schweigend an seiner Seite immer im Dorf hin, bis sie dessen äußerstes Ende erreichten. Unterwegs nickte sie nur manchmal einem Kind freundlich zu oder sprach mit einem der jungen Mädchen – vielleicht über den heutigen Tanz und den Ballstaat – ein paar leise Worte. Und die Mädchen sahen dabei den jungen Maler mit recht mitleidsvollen Blicken an, dass es diesem – er wusste selber nicht recht warum – ganz warm und weh ums Herz wurde, aber er getraute sich nicht, Gertrud deshalb zu fragen.

Jetzt endlich hatten sie die äußersten Häuser erreicht, und so lebendig es im Dorf selber auch gewesen war, so still und einsam, ja so totenähnlich wurde es hier. Die Gärten sahen aus, als ob sie seit langen, langen Jahren nicht betreten wären; in den Wegen wuchs Gras, und merkwürdig schien es besonders dem jungen Fremden, dass kein einziger Obstbaum auch nur eine Frucht trug.

Da begegneten ihnen Menschen, die von draußen hereinkamen, und Arnold erkannte augenblicklich den zurückkehrenden Leichenzug. Die Leute zogen still an ihnen vorüber, wieder in das Dorf hinein, und fast unwillkürlich lenkten sich beider Schritte dem Friedhof zu.

Arnold suchte jetzt seine Begleiterin, die ihm allzu ernst vorkam, aufzuheitern; er erzählte ihr von anderen Orten, wo er gewesen war, und wie es draußen in der Welt aussähe. Sie hatte noch nie eine Eisenbahn gesehen, ja nie davon gehört, und horchte aufmerksam und erstaunt seiner Erklärung. Auch von den Telegrafen hatte sie keine Ahnung; ebenso wenig von all den neueren Erfindungen, und der junge Maler begriff nicht, wie es möglich sei, dass noch Menschen in Deutschland so abgeschieden, so förmlich getrennt von der übrigen Welt und außerhalb der geringsten Verbindung mit ihr leben konnten.

In diesen Gesprächen erreichten sie den Gottesacker, und hier fielen dem jungen Fremden gleich die altertümlichen Steine und Denkmäler auf, so einfach sie auch im Ganzen waren.

»Das ist ein alter, alter Stein«, sagte er, als er sich zu dem nächsten niederbog und mit Mühe dessen Schnörkelschrift entziffert hatte. »Anna Maria Berthold geborene Sieglitz, geboren am Dec. 1188 – gestorben den 2. Dec. 1224 –«

»Das ist meine Mutter«, sagte Gertrud ernst, und ein paar große helle Tränen drängten sich in ihre Augen und fielen langsam auf ihr Mieder nieder.

»Deine Mutter, mein gutes Kind?«, sagte Arnold erstaunt. »Deine Ururururgroßmutter könnte sie nicht einmal gewesen sein!«

»Nein«, sagte Gertrud, »meine rechte Mutter – der Vater hat nachher wieder gefreit, und die zu Hause ist meine Stiefmutter.«

»Aber steht da nicht: gestorben 1224?«

»Was kümmert mich das Jahr«, sagte Gertrud traurig. »Es tut gar weh, wenn man so von der Mutter getrennt wird; und doch«, setzte sie leise und recht schmerzlich hinzu, »war es vielleicht gut – recht gut, dass sie noch vorher zu Gott eingehen durfte.«

Arnold bog sich kopfschüttelnd über den Stein, um die Inschrift genauer zu erforschen, ob die erste Zwei in der Jahreszahl vielleicht eine Acht sei, denn die altertümliche Schrift machte das nicht unmöglich; aber die andere Zwei glich der ersten auf ein Haar, und 1884 schrieben sie noch lange nicht. Vielleicht hatte sich der Steinmetz geirrt, und das Mädchen war so in das Andenken an die Verstorbene vertieft, dass er es nicht weiter durch vielleicht lästige Fragen stören mochte. Er ließ Gertrud deshalb bei dem Stein, an dem sie niedergesunken war und leise betete, um einige andere Denkmäler zu untersuchen; aber alle ohne Ausnahme trugen Jahreszahlen viele hundert Jahre zurück, und kein neuer Stein ließ sich finden; und doch wurden die Toten selbst jetzt noch hier beigesetzt, wie das letzte, ganz frische Grab bezeugte.

Von der niederen Kirchhofmauer aus hatte man aber auch einen trefflichen Überblick über das alte Dorf, und Arnold benützte rasch die Gelegenheit, eine Skizze davon zu entwerfen. Aber auch über diesem Platz lag der wunderliche Höhenrauch, und weiter dem Wald zu konnte er doch die Sonne hell und klar auf die Berghänge niederfallen sehen.

Da schlug im Dorf wieder die alte zersprungene Glocke an, und Gertrud, sich rasch emporrichtend und die Tränen aus den Augen schüttelnd, winkte freundlich dem jungen Mann, ihr zu folgen. Arnold war rasch an ihrer Seite.

»Jetzt dürfen wir nicht mehr trauern«, sagte sie lächelnd; »die Kirche läutet aus, und nun geht es zum Tanz. Ihr habt wohl geglaubt, dass die Germelshauser lauter Kopfhänger wären; heint Abend sollt Ihr das Gegenteil gewahr werden!«

»Aber dort drüben ist doch die Kirchentür«, sagte Arnold, »und ich sehe niemanden herauskommen.«

»Das ist sehr natürlich«, lachte das Mädchen, »weil niemand hineingeht, der Pfarrer selber nicht einmal. Nur der alte Sakristan gönnt sich keine Ruhe und läutet die Kirche aus und ein.«

»Und keiner von euch geht in die Kirche?«

»Nein – weder zur Messe noch zur Beichte«, sagte das Mädchen ruhig. »Wir liegen in einem Streit mit dem Papst, der bei den Welschen wohnt, und der will es nicht leiden, bis wir ihm wieder gehorchen. «

»Aber davon hab ich im Leben nichts gehört.«

»Ja, ist auch schon lange her«, sagte das Mädchen leichthin. »Seht Ihr, da kommt der Sakristan ganz allein aus der Kirche und schließt die Tür zu; der geht auch nicht abends ins Wirtshaus, sondern sitzt still und allein daheim.«

»Und der Pfarrer kommt?«

»Das sollt’ ich meinen – und ist der Lustigste von allen. Er nimmt sich’s nicht zu Herzen.«

»Und weshalb ist das alles geschehen?«, sagte Arnold, der sich fast weniger über die Tatsachen als über des Mädchens Unbefangenheit wunderte.

»Das ist eine lange Geschichte«, meinte Gertrud, »und der Pfarrer hat das alles in einem großen dicken Buch aufgeschrieben. Wenn’s Euch Spaß macht und Ihr Lateinisch versteht, mögt Ihr’s darin lesen. – Aber«, setzte sie warnend hinzu, »sprecht nicht davon, wenn mein Vater dabei ist, denn er hat’s nicht gern. Seht Ihr – da kommen die Burschen und Mädchen schon aus den Häusern; jetzt muss ich machen, dass ich heimkomme und mich auch anziehe, denn ich möchte nicht die Letzte sein.«

»Und den ersten Tanz, Gertrud?«

»Tanze ich mit Euch; Ihr habt mein Versprechen.«

Rasch schritten die beiden ins Dorf zurück, wo jetzt aber ein ganz anderes Leben herrschte als am Morgen. Überall standen lachende Gruppen von jungen Leuten; die Mädchen waren zu der Festlichkeit geschmückt und die Burschen ebenfalls in ihrem besten Staat, und an dem Wirtshaus, an dem sie vorbeigingen, hingen Blattgirlanden von einem Fenster zum anderen und zogen über der Tür einen weiten Triumphbogen.

Arnold mochte sich, da er alles aufs Beste herausgeputzt sah, nicht in seinen Reisekleidern zwischen die Festtägler mischen; er schnallte deshalb im Haus des Schulzen seinen Tornister auf, nahm seinen guten Anzug heraus und war eben mit seiner Toilette fertig, als Gertrud an die Tür klopfte und ihn rief. Und wie wunderbar schön sah sie jetzt in ihrem einfachen und doch so reichen Schmuck aus, und wie herzlich bat sie ihn, sie zu begleiten, da Vater und Mutter erst später nachfolgen würden.

Die Sehnsucht nach ihrem Heinrich kann ihr das Herz nicht besonders abdrücken, dachte der junge Mann freilich, als er ihren Arm in den seinen zog und mit ihr durch die jetzt einbrechende Dämmerung dem Tanzsaal zuschritt; aber er hütete sich wohl, einem derartigen Gedanken Worte zu geben, denn ein eigenes, wunderliches Gefühl durchzuckte seine Brust, und sein Herz klopfte ihm selber ungestüm, als er das der Jungfrau an seinem Arm pochen fühlte. »Und morgen muss ich wieder fort«, seufzte er leise vor sich hin.

Ohne dass er es selber wollte, waren aber die Worte zum Ohr seiner Begleiterin gedrungen, und sie sagte lächelnd: »Sorgt Euch nicht um das – wir bleiben länger zusammen; länger vielleicht, als Euch lieb ist.«

»Und würdest du es gern sehen, Gertrud, wenn ich bei euch bliebe?«, fragte Arnold, und er fühlte dabei, wie ihm das Blut mit voller Gewalt in Stirn und Schläfe schoss.

»Gewiss«, sagte das junge Mädchen unbefangen. »Ihr seid gut und freundlich; mein Vater hat Euch auch gern – ich weiß es – und Heinrich ist doch nicht gekommen!«, setzte sie leise und wie zürnend hinzu.

»Und wenn er nun morgen käme?«

»Morgen?«, sagte Gertrud und sah ihn mit ihren großen dunklen Augen ernst an. »Dazwischen liegt eine lange – lange Nacht. Morgen! Ihr werdet morgen begreifen, was das Wort bedeutet. Aber heint sprechen wir nicht davon«, brach sie kurz und freundlich ab; »heint ist das frohe Fest, auf das wir uns so lange, so sehr lange gefreut haben, und das wollen wir uns ja nicht durch trübe Gedanken verkümmern. Und hier sind wir auch am Ort – die Burschen werden nicht schlecht schauen, wenn ich mir einen neuen Tänzer mitbringe. «

Arnold wollte ihr etwas darauf erwidern, aber lärmende Musik, die von innen herauskam, übertönte seine Worte. Wunderliche Weisen spielten auch die Musikanten auf – er kannte keine Einzige davon und wurde durch den Glanz der vielen Lichter, die ihm entgegenfunkelten, am Anfang fast wie geblendet. Gertrud führte ihn jedoch mitten in den Saal hinein, wo ein Menge junger Bauernmädchen plaudernd beisammenstand, und dort erst ließ sie ihn los, dass er sich, bis der Tanz begann, ein wenig umsehen und mit den übrigen Burschen bekannt werden konnte.

Arnold fühlte sich im ersten Augenblick zwischen den vielen fremden Menschen nicht behaglich; auch die wunderliche Tracht und die Sprache der Leute stießen ihn ab, und so lieb diese harten, ungewohnten Laute von Gertruds Lippen klangen, so rau tönten sie von anderen an sein Ohr.

Die jungen Burschen waren aber alle freundlich zu ihm, und einer von ihnen kam auf ihn zu, nahm ihn bei der Hand und sagte: »Das ist gescheit von Euch, Herr, dass Ihr bei uns bleiben wollt; führen auch ein lustiges Leben, und die Zwischenzeit vergeht rasch genug.«

»Welche Zwischenzeit?«, fragte Arnold, weniger erstaunt über den Ausdruck, als dass der Bursche so fest seine Überzeugung aussprach, dass er dieses Dorf zu seiner Heimat machen wollte. »Ihr meint, dass ich hierher zurückkehre?«

»Und Ihr wollt wieder fort?,« fragte der junge Bauer rasch.

»Morgen – ja, oder übermorgen; aber ich komme wieder.«

»Morgen? – So?«, lachte der Bursche. »Ja dann ist’s schon recht – na, morgen sprechen wir weiter darüber. Jetzt kommt, dass ich Euch unsere Vergnüglichkeit einmal zeige, denn wenn Ihr morgen schon wieder fort wollt, bekämt Ihr die am Ende nicht einmal zu sehen.«

Die anderen lachten heimlich miteinander; der junge Bauer aber nahm Arnold an der Hand und führte ihn im ganzen Haus herum, das dichtgedrängt voll lustig schwärmender Gäste war. Erst kamen sie durch Zimmer, in denen Kartenspieler saßen, die große Haufen Geld vor sich liegen hatten, dann betraten sie eine Kegelbahn, die mit hell glänzenden Steinen ausgelegt war. In einem dritten Zimmer wurden Ringel- und andere Spiele gespielt, und die jungen Mädchen liefen lachend und singend aus und ein und neckten sich mit den jungen Burschen, bis auf einmal ein Tusch von den Musikanten, die bis dahin lustig fortgespielt hatten, das Zeichen zum Beginn des Tanzes gab und Gertrud jetzt auch an Arnolds Seite stand und seinen Arm erfasste.

»Kommt, wir dürfen nicht die letzten sein«, sagte das schöne Mädchen; »denn als des Schulzen Tochter muss ich den Tanz eröffnen.«

»Aber was für eine seltsame Melodie ist das?«, sagte Arnold. »Ich finde mich gar nicht in den Takt.«

»Es wird schon gehen«, lächelte Gertrud; »in den ersten fünf Minuten findet Ihr Euch hinein, und ich sage Euch wie!«

Laut jubelnd drängte jetzt alles – nur die Kartenspieler ausgenommen – dem Tanzsaal zu, und Arnold vergaß in dem einen seligen Gefühl, das wunderbarschöne Mädchen in seinen Armen zu halten, bald alles andere. Wieder und wieder tanzte er mit Gertrud, und kein anderer schien ihm seine Tänzerin streitig machen zu wollen, wenn ihn die übrigen Mädchen im Vorbeifliegen auch manchmal neckten.

Eins nur fiel ihm auf und störte ihn: Dicht neben dem Wirtshaus stand die alte Kirche, und im Saal konnte man deutlich die grellen, misstönenden Schläge der zersprungenen Glocke hören. Beim ersten Schlag der Glocke aber war es jedes Mal, als ob der Stab eines Zauberers die Tanzenden berührt hätte. Die Musik hörte mitten im Takt auf zu spielen; die lustig durcheinander wogende Schar stand wie an ihre Plätze gebannt still und regungslos, und alles zählte schweigend die einzelnen langsamen Schläge. Sobald aber der letzte Glockenschlag verhallt war, gingen Leben und Jauchzen von Neuem los. So war es um acht, so um neun, so um zehn Uhr, und wenn Arnold nach der Ursache des so sonderbaren Betragens fragen wollte, legte Gertrud ihren Finger an die Lippen und sah dabei so ernst und traurig aus, dass er sie nicht um die Welt hätte mehr betrüben mögen.

Um zehn Uhr wurde im Tanzen eine Pause gemacht, und der Musikchor, der eiserne Lungen haben musste, schritt dem jungen Volk voran in den Esssaal hinab. Dort ging es lustig her; der Wein floss nur so, und Arnold, der nicht gut hinter den Übrigen zurückbleiben konnte, berechnete sich schon im Stillen, welchen Riss dieser verschwenderische Abend in seiner bescheidenen Kasse machen würde. Aber Gertrud saß neben ihm, trank mit ihm aus einem Glas, und wie hätte er da einer solchen Sorge Raum geben können! – Und wenn ihr Heinrich morgen kam?

Der erste Schlag der elften Stunde ertönte, und wieder schwieg der laute Jubel der Zechenden, wieder dieses atemlose Lauschen den langsamen Schlägen. Ein eigenes Grauen überkam ihn – er wusste selber nicht weshalb –, und der Gedanke an seine Mutter daheim zog ihm durch das Herz. Langsam hob er sein Glas und leerte es als Gruß den fernen Lieben.

Mit dem elften Schlag aber sprangen die Gäste von den Tischen auf – der Tanz sollte aufs Neue beginnen, und alles eilte in den Saal zurück.

»Wem habt Ihr zuletzt zugetrunken?«, fragte Gertrud, als sie ihren Arm wieder in den seinen gelegt hatte.

Arnold zögerte mit der Antwort. Lachte ihn Gertrud vielleicht aus, wenn er es ihr sagte? Aber nein – so brünstig hatte sie ja noch am Nachmittag an ihrer eigenen Mutter Grab gebetet, und mit leiser Stimme sagte er: »Meiner Mutter.«

Gertrud erwiderte kein Wort und ging schweigend neben ihm die Treppe wieder hinauf – aber sie lachte auch nicht mehr, und ehe sie wieder zum Tanz antraten, fragte sie ihn: »Habt Ihr Eure Mutter so lieb?«

»Mehr als mein Leben.«

»Und sie Euch?«

»Liebt eine Mutter ihr Kind nicht?«

»Und wenn Ihr nicht wieder heim zu ihr kommt?«

»Arme Mutter!«, sagte Arnold. »Ihr Herz würde brechen.«

»Da beginnt der Tanz wieder«, rief Gertrud rasch; »kommt, wir dürfen keinen Augenblick mehr versäumen!«

Und wilder als je begann der Tanz; die jungen Burschen, von dem starken Wein erhitzt, tobten und jubelten und kreischten, und ein Lärmen entstand, das die Musik zu übertönen drohte. Arnold fühlte sich nicht mehr so wohl in dem Toben, und auch Gertrud war ernst und still dabei geworden. Nur bei den anderen allen schien der Jubel zu wachsen, und in einer Pause kam der alte Schulze auf sie zu, schlug dem jungen Mann herzhaft auf die Schulter und sagte dann lachend: »Das ist recht, Herr Maler: Nur lustig die Beine geschwenkt den Abend; wir haben Zeit genug, uns wieder auszuruhen. Na, Trudchen, weshalb schneidest du denn so ein ernstes Gesicht – passt das zu dem Tanz heint? Lustig – hei, da geht’s wieder los! Jetzt muss ich meine Alte auch suchen, mit ihr den letzten Tanz zu machen. Stellt euch an; die Musikanten blasen schon wieder die Backen auf«, und mit einem Juchzer drängte er sich durch den Schwarm der lustigen Menschen.

Arnold umschlang wieder Gertrud zu neuem Tanz, als diese sich plötzlich von ihm losmachte, seinen Arm ergriff und leise flüsterte: »Kommt!«

Arnold behielt keine Zeit, sie zu fragen, wohin, denn sie glitt ihm unter den Händen weg und der Saaltür zu.

»Wohin, Trudchen?«,riefen ihr ein paar der Gespielinnen nach.

»Bin gleich wieder da!«, lautete die kurze Antwort, und wenige Sekunden später stand sie mit Arnold draußen in der frischen Abendluft vor dem Haus.

»Wo willst du hin, Gertrud?«

»Kommt!« Wieder ergriff sie seinen Arm und führte ihn durch das Dorf, an ihres Vaters Haus vorbei, in das sie hineinsprang und mit einem kleinen Bündel zurückkehrte.

»Was hast du vor?«, fragte Arnold erschrocken.

»Kommt!«, war das Einzige, was sie erwiderte, und an den Häusern vorbei schritt sie mit ihm, bis sie die äußere Ringmauer des Dorfes hinter sich ließen.

Sie waren bis jetzt der breiten, festen und hartgefahrenen Straße gefolgt; jetzt bog Gertrud links vom Weg ab und schritt einen kleinen, flachen Hügel hinauf, von dem aus man gerade auf die hellerleuchteten Fenster und Türen des Wirtshauses sehen konnte. Hier blieb sie stehen, reichte Arnold die Hand und sagte herzlich: »Grüßt Eure Mutter von mir – lebt wohl!«

»Gertrud!«, rief Arnold so erstaunt wie bestürzt. »Jetzt, mitten in der Nacht, willst du mich so von dir schicken? Habe ich dir mit irgendeinem Wort wehgetan?«

»Nein, Arnold«, sagte das Mädchen, ihn zum ersten Mal bei seinem Vornamen nennend; »eben – eben weil ich Euch gern hab, müsst Ihr fort.«

»Aber so lass ich dich nicht von mir im Dunkeln allein in das Dorf zurück!«, bat Arnold. »Mädchen, du weißt nicht, wie lieb ich dich habe, wie du mir das Herz in wenigen Stunden fest und sicher gefasst hast. Du weißt nicht –«

»Sprecht nichts weiter«, unterbrach ihn Gertrud rasch; »wir wollen keinen Abschied nehmen. Wenn die Glocke zwölf geschlagen hat –es kann kaum noch zehn Minuten dauern – so kommt wieder an die Tür des Wirtshauses – dort werd’ ich Euch erwarten.«

»Und so lange –«

»– bleibt Ihr hier auf dieser Stelle stehen. Versprecht mir, dass Ihr keinen Schritt zur Rechten oder zur Linken gehen wollt, bis die Glocke zwölf ausgeschlagen hat.«

»Ich verspreche es, Gertrud; aber dann –«

»Dann kommt«, sagte das Mädchen, reichte ihm die Hand zum Abschied und wollte fort.

»Gertrud!«, rief Arnold mit bittendem, schmerzlichem Ton. Gertrud blieb einen Augenblick wie zögernd stehen – dann plötzlich wandte sie sich gegen ihn um, warf ihre Arme um seinen Nacken, und Arnold fühlte die eiskalten Lippen des schönen Mädchens fest auf den seinen. Aber es war nur ein Moment; in der nächsten Sekunde hatte sie sich losgerissen und floh dem Dorf zu, und Arnold blieb, bestürzt über ihr wunderliches Betragen, aber seines Versprechens eingedenk, an der Stelle stehen, wo sie ihn verlassen hatte. Jetzt erst sah er auch, wie sich das Wetter in den wenigen Stunden verändert hatte. Der Wind heulte durch die Bäume, der Himmel war mit dichten, jagenden Wolken bedeckt, und einzelne große Regentropfen verrieten ein nahendes Gewitter.

Durch die dunkle Nacht glänzten hell die Lichter aus dem Wirtshaus heraus, und wie der Wind dort herübersauste, konnte er in einzelnen unterbrochenen Stößen den lärmenden Klang der Instrumente hören – aber nicht lange. Nur wenige Minuten war er auf seiner Stelle gestanden, da hob die alte Kirchturmglocke zum Schlagen aus – im selben Moment verstummte die Musik oder wurde von dem heulenden Sturm übertäubt, der so arg über den Hang tobte, dass Arnold sich zum Boden niederbeugen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Vor sich auf der Erde fühlte er da das Paket, das Gertrud aus dem Haus geholt hatte: seinen eigenen Tornister und seine Mappe; und erschreckt richtete er sich wieder empor. Die Uhr hatte ausgeschlagen, die Windsbraut heulte vorüber, aber nirgends im Dorf entdeckte er mehr ein Licht. Die Hunde, die kurz vorher gebellt und geheult hatten, waren still, und dichter, feuchter Nebel quoll aus dem Grund herauf.

»Die Zeit ist um«, murmelte Arnold vor sich hin, indem er seinen Tornister auf den Rücken warf, »und ich muss Gertrud noch einmal sehen, denn so kann ich nicht von ihr scheiden. Der Tanz ist aus – die Tänzer werden nach Hause gehen, und wenn mich der Schulze auch nicht über Nacht behalten will, bleib ich im Wirtshaus. In der Dunkelheit fänd’ ich überdies nicht meinen Weg durch den Wald.«

Vorsichtig stieg er den leichten Abhang wieder hinunter, den er mit Gertrud heraufgekommen war, um dort auf den breiten und weißen Weg zu treffen, der in das Dorf hineinführte – aber umsonst tappte er unten in den Büschen danach herum. Der Grund war weich und sumpfig; mit seinen dünnen Stiefeln sank er bis tief über die Knöchel ein, und dichtes Erlengebüsch schoss überall dort empor, wo er den Weg vermutet hatte. Gekreuzt konnte er ihn in der Dunkelheit auch nicht haben; er musste ihn fühlen, wenn er darauf trat, und außerdem wusste er, dass die Ringmauer des Dorfes querüber lief – diese konnte er nicht verfehlen.

Aber umsonst suchte er mit ängstlicher Hast danach – der Boden wurde weicher und sumpfiger, je weiter er darin vordrang; das Gestrüpp wurde dichter und überall von Dornen durchzogen, die seine Kleider zerrissen und seine Hände blutig ritzten.

War er rechts oder links abgekommen und am Dorf vorbei? Er fürchtete, sich noch weiter zu verirren, und blieb auf einer ziemlich trockenen Stelle, um dort zu erwarten, bis die alte Glocke eins schlagen würde. Aber es schlug nicht an; kein Hund bellte, kein menschlicher Laut tönte zu ihm herüber, und mit Mühe und Not, durch und durch nass und vor Frost zitternd, arbeitete er sich wieder zu dem höher gelegenen Hügelhang zurück, an dem ihn Gertrud verlassen hatte. Wohl versuchte er von hier aus noch ein paar Mal in das Dickicht einzudringen und das Dorf zu finden – aber vergebens; zu Tode erschöpft, von einem eigentümlichen Grauen erfasst, mied er zuletzt den tiefen, dunklen, unheimlichen Grund und suchte einen schützenden Baum, um die Nacht dort zu verbringen.

Und wie langsam zogen die Stunden an ihm vorüber; denn zitternd vor Frost war er nicht imstande, der langen Nacht auch nur eine Sekunde Schlaf abzustehlen. Immer wieder horchte er dabei in die Dunkelheit hinein, denn immer aufs Neue glaubte er den rauen Schlag der Glocke zu vernehmen, um sich immer aufs Neue getäuscht zu sehen.

Endlich dämmerte der erste lichte Schein aus fernem Osten; die Wolken hatten sich verzogen, der Himmel war wieder rein und sternenhell, und die erwachenden Vögel zwitscherten leise in den dunklen Bäumen.

Und breiter wurde der goldene Himmelsgürtel und lichter – schon konnte er deutlich um sich her die Wipfel der Bäume erkennen, aber vergebens suchte sein Blick den alten braunen Kirchturm und die wettergrauen Dächer. Nichts als ein altes Erlengestrüpp mit einzelnen verkrüppelten Weiden dazwischen dehnte sich vor ihm aus.

Kein Weg war zu erkennen, der links oder rechts abführte – kein Zeichen einer menschlichen Wohnung in der Nähe.

Heller und heller brach der Tag an; die ersten Sonnenstrahlen fielen auf die weite, grüne, vor ihm ausgebreitete Fläche, und Arnold, nicht imstande, sich dieses Rätsel zu erklären, wanderte ein ganzes Stück den Grund zurück. Er musste sich in der Nacht, während er den Ort suchte, ohne dass er es wusste, verirrt und weiter davon entfernt haben, und er war jetzt fest entschlossen, ihn wiederzufinden.

Endlich erreichte er den Stein, an dem er Gertrud gezeichnet hatte; den Platz hätte er unter Tausenden wiedererkannt, denn der alte Fliederbusch mit seinen starren Ästen bezeichnete ihn zu genau. Er wusste jetzt genau, woher er gekommen war und wo Germelshausen liegen musste, und schritt rasch das Tal zurück, genau dieselbe Richtung beibehaltend, der er gestern mit Gertrud gefolgt war. Dort erkannte er auch die Biegung des Hangs, über dem der düstere Höhenrauch gelegen war; nur das Erlengebüsch schied ihn noch von den ersten Häusern. Jetzt hatte er es erreicht, drängte sich hindurch und –befand sich wieder in dem gleichen sumpfigen Morast, in dem er in der letzten Nacht herumgewatet war.

Vollständig ratlos und seinen eigenen Sinnen nicht trauend, wollte er die Passage hier erzwingen, aber das schmutzige Sumpfwasser zwang ihn endlich, das trockene Land wieder zu suchen, und vergebens wanderte er dort jetzt auf und ab. Das Dorf war und blieb verschwunden.

Mit diesen unnützen Versuchen mochten mehrere Stunden vergangen sein, und die müden Glieder versagten ihm zuletzt den Dienst. Er konnte nicht weiter und musste sich erst ausruhen; was half ihm auch das nutzlose Suchen – vom ersten Dorf, das er erreichte, konnte er leicht einen Führer nach Germelshausen bekommen und dann den Weg nicht wieder verfehlen.

Todesmatt warf er sich unter einen Baum – und wie war sein bester Anzug zugerichtet! – Aber das kümmerte ihn jetzt nicht; seine Mappe nahm er hervor und aus der Mappe Gertruds Bild, und mit bitterem Schmerz hing sein Auge an den lieben, lieben Zügen des Mädchens, das, wie er zu seinem Schrecken fand, schon einen zu festen Halt an ihn gewonnen hatte. Da hörte er hinter sich das Laub rascheln – ein Hund schlug an, und als er rasch emporsprang, stand ein alter Jäger nicht weit von ihm und betrachtete neugierig die wunderliche, so anständig gekleidete und so verwildert aussehende Gestalt.

»Grüß Gott!«, rief Arnold, seelenfroh, einem Menschen hier zu begegnen, während er das Blatt rasch wieder in die Mappe schob. »Sie kommen mir hier wie gerufen, Herr Förster, denn ich glaube, ich habe mich verirrt.«

»Hm«, sagte der Alte, »wenn Sie hier die ganze Nacht im Busch gelegen haben – und kaum eine halbe Stunde nach Dillstedt hinüber zu einem guten Wirtshaus – so glaub ich das auch. Donnerwetter, wie sehen Sie aus! Gerade, als ob Sie eben Hals über Kopf aus Dornen und Sumpf kämen!«

»Sie sind hier im Wald genau bekannt?«, sagte da Arnold, der vor allen Dingen wissen wollte, wo er sich eigentlich befand.

»Ich sollt’ es denken«, lachte der Jäger, indem er Feuer schlug und seine Pfeife wieder in Brand brachte.

»Wie heißt das nächste Dorf?«

»Dillstedt – gerade dort hinüber. Wenn Sie da drüben auf die kleine Anhöhe kommen, können Sie es gleich unter sich liegen sehen.«

»Und wie weit hab ich von hier nach Germelshausen?«

»Wohin?« rief der Jäger und nahm erstaunt seine Pfeife aus dem Mund.

»Nach Germelshausen.«

»Gott sei mir gnädig!«, sagte da der Alte, während er einen scheuen Blick umherwarf. »Den Wald kenn’ ich gut genug; wie viele Klafter tief im Erdboden drinnen aber das verwünschte Dorf liegt, das weiß nur Gott – und es geht unsereinen auch nichts an.«

»Das verwünschte Dorf?«, rief Arnold erstaunt.

»Germelshausen, ja –« sagte der Jäger. »Gleich da drin im Sumpf, wo jetzt die alten Weiden und Erlen stehen, soll es vor soundso vielen hundert Jahren gelegen haben; nachher ist’s weggesunken – niemand weiß, warum und wohin, und die Sage geht, dass es alle hundert Jahre an einem bestimmten Tag wieder ans Licht gehoben würde. Ich möchte aber keinem Christenmenschen wünschen, dass er zufällig dazukäme. – Aber zum Wetter noch einmal, das Nachtlager im Busch scheint Ihnen nicht gut zu bekommen. Sie sehen käseweiß aus. Da – nehmen Sie einmal einen Schluck aus der Flasche hier; der wird Ihnen guttun – nur ordentlich!«

»Ich danke.«

»Ach was, das war nicht halb genug – einen ordentlichen, dreimal geknoteten Schluck. So, das ist der echte Stoff; und nun machen Sie, dass Sie hinüber ins Wirtshaus und dann in ein warmes Bett kommen!«

»Nach Dillstedt?«

»Nun ja, natürlich – näher haben wir keins.«

»Und Germelshausen?«

»Tun Sie mir den Gefallen, und nennen Sie den Ort nicht wieder hier, gerade an der Stelle, wo wir stehen. Lassen wir die Toten ruhen, und besonders solche, die überhaupt keine Ruhe haben und immer wieder einmal unversehens zwischen uns auftauchen!«

»Aber gestern ist das Dorf noch hier gestanden!«, rief Arnold, seiner Sinne selber kaum mehr mächtig. »Ich war drinnen – ich habe darin gegessen, getrunken und getanzt!«

Der Jäger betrachtete sich die Gestalt des jungen Mannes ruhig von oben bis unten, dann sagte er lächelnd: »Aber es hieß anders, nicht wahr? Wahrscheinlich kommen Sie gerade von Dillstedt herüber; dort war gestern Abend Tanz, und das starke Bier, das der Wirt jetzt braut, kann nicht ein jeder vertragen.«

Arnold öffnete statt aller Antwort seine Mappe und nahm die Zeichnung heraus, die er vom Kirchhof aus entworfen hatte. »Kennen Sie das Dorf?«

»Nein!«, sagte der Jäger kopfschüttelnd. »Solch ein flacher Turm ist hier in der ganzen Gegend nicht.«

»Das ist Germelshausen!«, rief Arnold. »Und tragen sich so die Bauernmädchen in der Nachbarschaft wie das Mädchen hier?«

»Hm– nein! Was ist denn das für ein wunderlicher Leichenzug, den Ihr da drauf habt?«

Arnold antwortete ihm nicht; er schob die Blätter wieder in seine Mappe zurück, und ein eigenes, wehes Gefühl durchbebte ihn.

»Den Weg nach Dillstedt können Sie nicht verfehlen«, sagte der Jäger gutmütig, denn ein dunkler Verdacht stieg jetzt in ihm auf, dass es im Kopf des Fremden nicht so ganz richtig sein möchte. »Wenn Sie es aber wünschen, will ich Sie begleiten, bis wir den Ort liegen sehen; ich gehe mir so nicht viel aus dem Weg.«

»Ich danke Ihnen«, wehrte aber Arnold ab. »Dort hinüber finde ich mich schon zurecht. Also alle hundert Jahre nur soll das Dorf nach oben kommen?«

»So erzählen die Leute«, meinte der Jäger; »wer weiß aber, ob’s wahr ist?«

Arnold hatte seinen Tornister wieder aufgenommen. »Grüß Gott!« sagte er, dem Jäger die Hand entgegenstreckend.

»Schönen Dank!«, erwiderte der Forstmann. »Wo gehen Sie jetzt hin?«

»Nach Dillstedt.«

»Das ist recht – dort oben über dem Hang kommen Sie auch wieder auf den breiten Fahrweg.«

Arnold wandte sich ab und schritt langsam seine Bahn entlang. Erst auf dem Hang oben, von dem aus er den ganzen Grund übersehen konnte, blieb er noch einmal stehen und schaute zurück.

»Leb wohl, Gertrud!«, murmelte er leise; und als er über den Hang hinüberschritt, drängten sich ihm die großen, hellen Tränen aus den Augen.

Der dreizehnte

Im Hotel de Pologne in P. saß eine fröhliche Gesellschaft von jungen und älteren Leuten am Silvesterabend beisammen, und als die Mitternachtsstunde heranrückte, wurden die leeren Weinflaschen hinausgeschafft, und eine mächtige Bowle dampfte bald inmitten des runden Tisches, ihr süßes Aroma durch das wohl durchwärmte Zimmer sendend. An der einen Wand stand eine gewaltige alte Schlaguhr in ihrem Nussbaumgehäuse, und der Zeiger deutete fast schon auf die zwölfte Stunde.

»Jetzt die Gläser gefüllt!«, rief da ein junger, blühender Mann, ein Arzt, den Schöpfer ergreifend und das dampfende Getränk in die ihm dargereichten Gläser gießend. »Das neue Jahr darf uns auch nicht eine Sekunde Zeit abgewinnen, und wohlgerüstet wollen wir’s empfangen. «

»Halt – da fehlt noch ein Glas!«, sagte der ihm gegenüber Sitzende, ein junger Jurist.

»He, ein Glas her, Kellner!«, rief der Arzt. »Unser Assessor Holler schwimmt sonst trocken ins neue Jahr hinein.«

»Bitte um Verzeihung, Herr Doktor«, verteidigte sich aber der Kellner, »ich habe dreizehn Gläser auf den Tisch gestellt.«

»Dreizehn?«, lachte der Hauptmann von Hisko, der neben dem Doktor saß. »So sind wir wirklich dreizehn heute beisammen?«

»Wahrhaftig!«, bestätigte der Doktor Malwitz, der die Kameraden rasch überzählt hatte. »Dreizehn; und hier neben der Bowle steht auch das fehlende Glas!«

»Würfel her!«, rief da der Hauptmann. »Zum Henker auch; wenn einer von uns dieses Jahr abfahren muss, wollen wir wenigstens wissen, wer es ist.«

»Ja, Würfel! Würfel!«, tobten die lustigen Gesellen, rasch auf den Scherz eingehend. »Wir wollen den dreizehnten auswürfeln!«

»Aber erst den Gruß ans neue Jahr!«, rief mahnend der Doktor. »Die Uhr hat ausgehoben. Geht sie pünktlich?«

»Auf die Sekunde!«, versicherte der Kellner, indem er die verlangten Würfel auf den Tisch legte.

»Also aufgepasst!«

Die Männer waren aufgestanden, und die gefüllten Gläser in der Hand, schauten sie schweigend zur Uhr hinüber, deren Zeiger gerade auf zwölf rückte. In atemloser Stille horchten sie auf den ersten Schlag – und auch draußen auf der Straße schien alles der nächsten Minute entgegenzulauschen.

Da, in demselben Moment, in dem die Uhr zum Schlagen aushob, donnerte ein Schuss vom alten Schloss herüber, und: »Prosit Neujahr! Prosit Neujahr!«, jubelten die Zecher einander fröhlich zu, die Gläser klirrten aneinander, und lautes, wildes Leben schien in dem einen Augenblick die Stadt aus tiefem Schlag geweckt zu haben.

Vom Turm bliesen die Stadtmusikanten einen Choral, der eigen und wunderbar gegen die noch forttönenden Böllerschüsse des Schlosses abstach; auf der Straße, ja aus den Fenstern heraus riefen die Leute einander ihr freundliches »Prosit Neujahr!« auf und nieder. Hell erleuchtete, von Lichtern strahlende Räume wurden der dunklen heiligen, geheimnisvollen Nacht geöffnet. War es doch, als ob jeder das Bedürfnis fühle, in dieser Minute – der Schwelle eines neuen Zeitabschnitts für ihn – nur wenigstens einen flüchtigen Blick zu den Sternen zu werfen, und manches wenn auch rasche, doch tief gefühlte Gebet stieg mit dem einen Blick zum Himmel auf.

Und bleibt es nicht ein wichtiger Abschnitt unseres Lebens, ein Jahr, ein ganzes langes Jahr? – Wie viele zählen wir, selbst von der Wiege bis zum späten Grab? Dem längsten Alter sind es immer nur wenige, und von den wenigen ist ein jedes Jahr ein weiterer Schritt dem Grab entgegen, das vielleicht schon jetzt dicht vor uns liegt. Erleben wir das nächste neue Jahr? – Ist unsere Uhr nicht schon vielleicht in diesem abgelaufen, dass wir den Sand, der uns noch hier zubleiben gestattet, nach Körnern zählen könnten?

Wir wissen es nicht, denn wohltätig verhüllt dichte Nacht der Zukunft Walten unserem fragenden, forschenden Blick. Den Schleier können, sollen wir nicht lüften, und Gott hat das sehr weise eingerichtet. Darum aber erfüllt auch eine solche Stunde unser Herz – wir mögen noch so ruhig dem unbekannten Jenseits dort entgegenschauen – mit einem eigenen, geheimnisvollen Reiz, und unwillkürlich fast stimmt der Moment uns ernst. Nicht allein ein neues Jahr beginnen wir ja auch mit all seinen Sorgen und Freuden, auch von dem alten müssen wir Abschied nehmen, und manches brachte dieses uns doch – ob froh, ob trübe –, auf dem noch die Erinnerung gern verweilt.

Wohl mochten auch manchem der lustigen Schar, während der Choral draußen vom Turm tönte und das Krachen der Geschütze die unmittelbare Nähe der bedeutungsvollen Stunde verkündete, ähnliche Gedanken durch die Seele blitzen. Aber all diese ernsten Bilder schwanden im Nu, als die Mahnung verhallt war und die Gläser frisch gefüllt worden waren.

»Glückauf denn für ein neues, frisches Leben!«, rief der Hauptmann, das seinige hoch schwingend. »Und allen fidelen Kumpanen diesen Becher!«

»Sie sollen leben, hoch!«, jubelten die anderen nach.

»Und jetzt die Würfel!«, fuhr der Hauptmann fort. »Das ist gerade die rechte Stimmung, in der wir uns befinden! Etwas Choral draußen, etwas Böllerschüsse und ringsum erleuchtete Fenster mit glücklichen, fröhlichen Menschen! Dem allen fehlt nur noch das Mystisch-Geheimnisvolle – denn die ganze Sache wird ein klein wenig zu öffentlich getrieben –, und dazu sollen uns die Würfel helfen.«

»Hören Sie einmal, lieber Hauptmann«, sagte da ein anderer der Gäste, ein Buchhändler Merz, der jenem gegenüber saß; »ich dächte, wir ließen das Würfeln sein; es kommt mir beinahe ein wenig wie Frevel vor, und gerade in der Neujahrsnacht –«

»Frevel? Bah!«, lachte aber ein Herr von der Bielden, sein leeres Glas wieder der Bowle entgegenhaltend. »Eine Frage an das Schicksal steht einem jeden frei; ob aber das auch antwortet, ist eine andere Sache! Hallo, Doktor, noch einmal gefüllt! Ihre Mischung ist ganz vortrefflich, und mögen Sie dieses ganze nächste Jahr keine schlechteren Rezepte verschreiben und administrieren! Als Präsident der Versammlung haben Sie aber auch den Vortritt. Fangen Sie an!«

»Und wollen wir wirklich würfeln, wer von uns –«

»Dieses Jahr abfährt?«, unterbrach ihn lachend der Assessor. »Allerdings! Und das braucht nicht einmal aus Übermut zu geschehen. Wir treten dabei gleich jenem albernen Vorurteil der Masse entgegen, indem wir ihr beweisen, wie unsinnig die Furcht vor der Zahl Dreizehn ist.«

»Das ist recht, Holler!«, rief ihm von der Bielden zu. »Wir wollen einen Klub der Dreizehner konstituieren, wie wir hier beisammen sind, und während wir einen auswürfeln, bleibt der zugleich für das ganze nächste Jahr Präsident.«

»So bin ich’s auch zufrieden«, stimmte Malwitz bei. »Der Deutsche tut nicht gern etwas ohne einen Zweck, ohne ein bestimmtes Ziel, und da wir das jetzt glücklich gefunden haben, mögen wir beginnen.«

»Gegen die löbliche Absicht, jenem ungereimten Vorurteil entgegenzutreten, habe ich nicht das Mindeste«, nahm da noch einmal Merz das Wort; »aber wenn wir es so nur nicht auf die verkehrte Weise anfangen. Ich weiß nicht, ob die Herren von jenem Schiffsreeder in Amerika gehört haben, der, um das ebenso alberne Vorurteil gegen den Freitag – besonders bei den Seeleuten – zu zerstören, ein besonderes Schiff zu diesem Zweck bauen ließ. Der Kiel dazu wurde an einem Freitag gelegt, sämtliche Arbeiter bekamen jeden Freitag ihren Lohn, das Schiff musste ebenfalls an einem Freitag vom Stapel laufen, wurde Freitag, getauft und ging natürlich an einem Freitag in See und – wunderlicherweise hat man nie wieder etwas von ihm gehört; ja man weiß nicht einmal, wo und wann es mit Mann und Maus zugrunde gegangen ist. Dass danach jenes Vorurteil natürlich nur noch mehr gefestigt wurde, versteht sich ganz von selbst, und der gute Zweck wurde nicht allein verfehlt, sondern das Übel noch viel schlimmer gemacht, als es je gewesen ist.«

»Das war zwar ein Unglück«, lachte der Hauptmann, »kann uns hier aber nicht passieren.«

»Etwas Ähnliches doch!«, sagte Merz. »Ich setze den Fall, dass zufällig der Ausgewürfelte stürbe – würde die ganze Stadt dann nicht schreien: Seht ihr! Da habt ihr den Frevel! – Und wäre die Dreizehn von da an nicht verpönter als je? Denn dass eine solche Neuigkeit die Runde durch alle Zeitungen machte, können Sie sich denken.«

»Dann beweisen wir ihnen das nächste Jahr, dass es doch blanker Unsinn ist, denn zum zweiten Mal würde nicht gerade der Ausgewürfelte sterben; es wäre sonst ein zu fabelhafter Zufall!«, rief der Assessor.

»Aber es ist doch möglich!«, beharrte Merz.

»Möglich hin, möglich her!«, lachte der Hauptmann, die Würfel ergreifend. »Hiermit mache ich den Anfang, wenn nicht jemand auch unter uns ist, der das alberne Vorurteil fürchtet.«

»Fürchten?«, riefen ein paar andere junge Leute dazwischen. »Das wäre eine Schande! So etwas können Sie doch nicht ernsthaft glauben!«

»Tu ich auch nicht!«, schmunzelte der Hauptmann in seiner wilden, lustigen Weinlaune. »Also wer mit den drei Würfeln hier die niedrigste Zahl wirft, ist der angebliche Todeskandidat für dieses neue Jahr und mag sich sein Vermögen indessen in Rheinwein flüssig machen. Und nun erst die Beschwörung, meine Herren, die bei einer so feierlichen Handlung nicht fehlen darf!«

»Ach, macht keinen Unsinn!«, lachte Merz, der keine Freude an dem Ganzen fand.

»Unsinn?«, entgegnete aber der Hauptmann. »Wir fordern in diesem Augenblick das Schicksal heraus, uns zu beweisen, ob es Vorbedeutungen gibt oder nicht, und eine solche Herausforderung muss auch mit dem gehörigen Ernst betrieben werden. So passt auf, ihr Herren, und folgt mit euren Gedanken meinen Worten, dass der Spruch Kraft bekommt – also:

Aus Licht und aus Schatten, herab und herauf,

Ihr Geister der Luft und der Erde zuhauf!

Ihr, die ihr uns unsichtbar immer umgebt,

Was obenhin flattert, was untenhin gräbt –

Herbei um die Tafel, und mit jenem Geist,

Der neckisch und schmeichelnd die Bowle durchkreist,

Seid Zeugen, seid Zeugen! Wir rufen euch an!

Vernehmt ihn und seid auch gehorsam dem Bann!

Hier fallen die Würfel in heiliger Nacht.

Der, der sie verliert – er ist euer! Habt acht!«

Und mit den letzten Worten schleuderte er die Würfel aus dem Becher auf den Tisch, und dreizehn Augen lagen aufgedeckt.

»Dreizehn – beim Himmel!«, rief Merz überrascht. »Ein wunderbarer Zufall!«

»Aber ein guter Wurf!«, lachte der Hauptmann. »Werft ihn ab, wenn Ihr könnt.«

»Und was der Hauptmann für famose Verse machen kann!«, rief der Weinhändler Selig vom anderen Ende des Tisches. »Das hab ich ihm gar nicht zugetraut. Sonst ist er immer so still, als ob er nicht bis drei zählen könnte, und heute ist er rein wie ausgewechselt!«

»Das macht die Begeisterung, Freund!«, entgegnete der Hauptmann, sein Glas aufs Neue zum Füllen hinüberreichend. »Und nun Sie, Assessor!«

Der Assessor, auf die Laune der Übrigen eingehend, nahm die Würfel und warf elf.

»Der Hauptmann ist abgeworfen; bis jetzt sind Sie es!«

»Von den elf wird mich schon jemand erlösen!«, tröstete sich der Jurist, und der Weinhändler Selig, der eifrig die Würfel wieder im Becher herumgeschüttelt hatte, warf vier!

»Hurra! Selig soll leben!«, jubelte der Assessor. »Der bleibt der Todeskandidat für dieses Jahr!«

»Das wissen wir noch nicht«, brummte der Weinhändler, doch war sein rotes Gesicht um verschiedene Schattierungen bleicher geworden, und wenn er auch nichts äußerte, sah man es ihm doch deutlich an, dass er kein großes Behagen an dem Wurf fand.

Verschiedene andere der Tischgesellschaft versuchten jetzt ebenfalls ihr Glück, und eine Anzahl von Kellnern hatte sich zugleich herbeigedrängt, um dem wunderlichen Würfelspiel zuzuschauen. Über vier warfen aber alle; nur Merz, der Buchhändler, legte die gleichen Augen auf, und der Ruf ging jetzt, dass die beiden stechen sollten.

Merz machte zwar den Vorschlag, sie wollten es zwischen sich beiden lassen, und das Schicksal könne sich nachher einen aussuchen. Dagegen protestierte aber der Hauptmann. Wie er verlangte, sollte es auf das Entschiedenste bestimmt werden, und da ihm die anderen alle beistimmten, so hatten die beiden noch je einmal zu werfen. Alles drängte sich jetzt um ihre Stühle, und Merz sollte anfangen, weigerte sich aber. Selig nahm endlich die Würfel und warf fünfzehn.

»Armer Merz«, sagte er, während ein eigenes, zufriedenes Lächeln über seine Züge flog; »da liegen die drei Fünfer so schön wie gemalt!«

»Bah, die sind abzuwerfen!«, lachte aber Merz, den nichtsdestoweniger ein eigenes, unbehagliches Gefühl überkam. »’s ist freilich Unsinn – die ganze Geschichte, und wenn wir morgen früh wieder zu Verstand kommen, werden wir nicht recht begreifen können, wie vernünftige Menschen etwas Derartiges treiben konnten. Da wir’s nun aber einmal angefangen haben, müssen wir es durchsetzen, und hier also ist mein Wurf – aufgepasst!«

»Fünf – fünf – sechs! Beim Himmel, grad eins mehr! Merzchen, Merzchen, Ihr seid knapp daran hingefahren! Selig, ich erbiete mich, dem Leichenzug beizuwohnen!«, riefen und jubelten die übermütigen Trinker durcheinander. »Also Selig heißt der nächste Kandidat! Zum Henker, das ist auch ein ominöser Name!«

»Unsinn!«, brummte aber der Weinhändler, der in diesem Augenblick vielleicht das beste Fass aus seinem Keller gegeben hätte, um nur nicht gerade der zu sein, den das Los getroffen hatte, der sich aber auch natürlich nicht die Idee eines derartigen Gefühls anmerken lassen wollte. »Ihr tut wahrhaftig, als ob ich dem klapperbeinigen Freund Hein schon mit Haut und Haar verfallen wäre! Heute übers Jahr werde ich euch übrigens mit einem Korb Champagner beweisen, dass die Sache nicht so gefährlich war.«

»Das soll ein Wort sein! Das soll ein Wort sein!«, rief es durcheinander.

Nur der Assessor Holler meinte trocken: »Dieses Versprechen hat ihm die Todesangst ausgepresst. Wenn Selig einen Korb Champagner zusagt, so glaube ich wahrhaftig selber an das Orakel, denn das ist sicher nahe vor seinem Tod.«

Alle lachten. Die Laune war aber durch die vorhergegangene Szene auch fast unnatürlich froh geworden, und während sich Malwitz damit beschäftigte, eine neue Bowle zu brauen – ein Geschäft, das ihm jedes Mal anvertraut wurde –, suchte Selig in einem begonnenen Rundgesang über die Stimmung zu kommen, die sich seiner bemächtigt hatte. Er war in der Tat vollständig nüchtern geworden.

Desto mehr tranken und jubelten seine Genossen, die, sich durch das Fallen der Würfel sicher fühlend, nur die angenehme Seite des Scherzes kennen lernten. Verschiedene Namen wurden in Vorschlag gebracht, wie der neue Klub heißen solle. Einige stimmten für Todeskandidaten, andere für Schwarze Garde oder Schicksalsbrüder und was der tollen Namen mehr waren.

Endlich entschloss man sich auf Malwitz’ Vorschlag, den Namen Dreizehner anzunehmen, von denen sich jeder verbürgte, heute über ein Jahr in dem gleichen Lokal oder an einem sonst vorher durch den jetzigen Präsidenten Selig bekannt gemachten Ort zu erscheinen.

Wie vorher bestimmt worden war, war Selig nämlich durch den niedrigsten Wurf auch zugleich Jahrespräsident der Gesellschaft geworden, und auf einen Antrag des Hauptmanns beschloss man, noch außerdem festzustellen, dass, wenn irgendein Mitglied der Gesellschaft durch Reisen oder Krankheit abgehalten sein sollte, der nächsten Versammlung beizuwohnen, es jedenfalls verpflichtet sei, einen Stellvertreter dafür einzusenden. Nur auf diese Art konnten natürlich die dreizehn vollzählig erhalten werden.

Die jetzt herrschende, fast überlaute Fröhlichkeit war aber doch eigentlich nur eine künstlich gemachte, denn der Stoff, den sie sich zu ihrem Scherz gewählt hatten, blieb zu ernst, wie recht sie auch immer haben mochten, einem blinden Volksaberglauben damit entgegenzutreten. Sie hatten nun einmal an die ehernen Schicksalspforten mit keckem Finger angepocht, und der leise zitternde Widerhall, den das Klopfen gefunden hatte, tönte in aller Herzen nach, wenn sie sich auch geschämt haben würden, es zu gestehen.

Man trank stärker, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre, und schon gegen zwei Uhr, als die dritte Bowle geleert worden war, brachen einzelne auf, nach Hause zu gehen – nicht jedoch, ohne noch vorher verabredet zu haben, die Dreizehner-Verbindung keine nur jährige sein zu lassen, sondern lieber allmonatlich zusammenzukommen und einen vergnügten Abend zu feiern. Im Januar sollte dabei die erste sein, damit die letzte im Dezember auch wieder die dreizehnte würde und dadurch ihrem Zweck noch vollständiger entspräche.

 

Die so konstituierte Gesellschaft der »Dreizehner«, deren keckes Spiel natürlich in den nächsten Tagen die Runde in der ganzen Stadt machte, hielt auch insofern an ihren Statuten fest, dass sie regelmäßig, wie damals bestimmt, in jedem Monat wieder zusammenkam.

So viel jedoch den Winter über davon gesprochen wurde, so sehr verschwamm es – wie alles, was den Reiz der Neuheit verliert – in den Sommermonaten; noch dazu, da viele der Mitglieder in dieser Zeit auf Reisen gingen und es einige Schwierigkeit hatte, Stellvertreter für die Fehlenden zu liefern.

Nichtsdestoweniger blieb die Gesellschaft vollzählig, und kein einziger Gesellschaftsabend wurde versäumt. Aber es war eben zuletzt eine Gesellschaft geworden wie jede andere, und man sprach nicht mehr davon, bis im Spätherbst ein ungeahntes Ereignis die Aufmerksamkeit der Stadt wieder lebhafter als je darauf hinlenkte.

Der Weinhändler Selig und der Buchhändler Merz erkrankten zu gleicher Zeit an einem ganz ähnlichen, sehr hitzigen und bösartigen Fieber, das zuletzt einen sehr gefährlichen Charakter annahm und beide mehrere Tage lang an den Rand des Grabes brachte.

Besonders Selig fantasierte stark und sprach fortwährend davon, dass er dem Tod verfallen sei und nicht wieder aufstehen könne, und die alten Damen der Residenz schüttelten sehr bedeutend die Köpfe und debattierten in besonders dazu zusammenberufenen Kaffeegesellschaften, in denen aber die ominöse Zahl Dreizehn ängstlich vermieden wurde, über das Frevelhafte solcher Wagnisse, mit denen man nicht Gott versuchen und dem Teufel den kleinen Finger bieten solle.

Die beiden Kranken erholten sich aber trotzdem wieder, und Selig mit seiner äußerst kräftigen Konstitution lud, kaum wiederhergestellt, die ganze Gesellschaft der »Dreizehner« zu sich ein, um seine Genesung mit dem bewussten Korb Champagner zu feiern.

Das war am dreizehnten Dezember. Am vierzehnten morgens kam der Barbier zu Herrn Merz, und während er ihn einseifte, fragte er ihn, ob er schon gehört hätte, dass den Weinhändler Selig die Nacht der Schlag gerührt habe und er gegen Morgen verschieden sei.

Die Nachricht war nur zu sehr begründet. Selig, der vielleicht am vorhergegangenen Tag trotz des Verbotes des Arztes ein Glas mehr getrunken haben mochte, als sich mit seiner noch geschwächten Konstitution vertrug, war einem neuen Anfall erlegen, und drei Tage später trug man ihn zu seiner letzten stillen Ruhestätte hinaus.

Die ganze Gesellschaft der »Dreizehner« ging natürlich mit zur Leiche und durfte draußen eine lange Strafpredigt des Geistlichen mit anhören, der ihnen das Sündhafte ihrer »frevlen Gesellschaft« – woraus er es herleitete, weiß ich nicht – vorhielt und sich darüber freute, dass Gott ihnen ein solches Zeichen gegeben habe, das ihnen hoffentlich zur Warnung dienen werde.

An Herrn Merz, der dabei blutrot vor Ärger wurde, richtete er ganz speziell seine Worte, indem er ihm bewies, welch deutlichen Fingerzeig Gott ihm durch seine gefährliche Krankheit gegeben habe. Er trieb es auch in der Tat so arg, dass Herr Merz endlich seinen Hut aufsetzte und den Kirchhof verließ.

Malwitz und der Hauptmann von Hisko gingen zusammen nach Hause, als sie ihrem armen Freund die letzte Ehre erwiesen hatten, und nachdem sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander hingeschritten waren, sagte der Hauptmann:

»Hm– das ist eigentlich eine alberne Geschichte und war Wasser auf des Schwarzrocks Mühle. Wie er die Backen vollnahm!«

»Natürlich!«, bemerkte der Doktor. »Derartige Herren wissen, dass sie niemand unterbrechen darf, wenn die Polizei die Sache nicht als Gotteslästerung betrachten soll, und sie dürfen deshalb reden, was sie mögen. Dass eine solche bei derartiger Gelegenheit an eine andere Person gerichtete Anrede weit eher den Namen Gotteslästerung verdiente, fällt ihnen dabei nicht ein. Übrigens ist die ganze Stadt jetzt voll von unserem Auswürfeln!«

»Das lässt sich denken!«, meinte der Hauptmann, der, die Hände auf dem Rücken, nachdenkend neben ihm herging. »Was Erwünschteres hätte den alten Klatschschwestern auch gar nicht kommen können. Es bleibt aber wirklich ein merkwürdiger Zufall, der noch dadurch verstärkt wird, dass gerade die zwei, die die wenigsten Augen geworfen haben, so gefährlich und zu gleicher Zeit krank wurden und Selig zuletzt gar sterben musste. Armer Teufel! Und er war noch vor wenigen Tagen so glücklich, dass er die böse Krankheit hinter sich hatte!«

»Aber er war selber schuld daran«, behauptete der Doktor. »Ich habe ihn dringend gebeten, keinen Champagner zu trinken, ja ich war sogar noch an dem Morgen, ehe wir zusammenkamen, bei ihm und bat ihn, die ganze Sache aufzuschieben, bis er sich wieder kräftiger fühle. Er hat nicht hören wollen.«

»Glauben Sie, Doktor, dass er sich in seiner Krankheit über das Auswürfeln und sein Resultat etwa geängstigt hat?«, fragte da plötzlich der Hauptmann, indem er stehen blieb.

»Ja«, sagte der Doktor nach kurzer Pause, »ich bin fest überzeugt. Schon seine Fieberfantasien beweisen das, wenn er es mir auch direkt nie eingestehen mochte. Er hat schon das ganze Jahr ein unbehagliches Gefühl gehabt, und ich habe das bei jedem leichten Unwohlsein an ihm bemerkt.«

»So glauben Sie am Ende gar, dass solch ein kindischer Aberglaube mit die Ursache seines Todes gewesen sein könnte?«

»Die Ursache allerdings nicht; dass er aber dazu beigetragen hat, ihm in seiner Krankheit manche trübe Stunde zu machen, ist gewiss. Aufrichtig gesagt wollte ich, wir hätten die Geschichte gar nicht angefangen.«

»Da sie aber einmal angefangen ist«, rief der Hauptmann rasch, indem er seinen Weg wieder an des Doktors Seite fortsetzte, »dürfen wir sie auch jetzt nicht aufgeben– wenigstens nicht dieses Jahr–, wir hätten uns sonst auf das Entsetzlichste vor der ganzen Stadt blamiert und gerade das Entgegengesetzte erreicht, was wir erreichen wollten: den Aberglauben nämlich zu entkräften.«

»Leider sehe auch ich das ein«, bestätigte Malwitz. »Was wir begonnen haben, müssen wir ausführen, bis wir uns mit Ehren zurückziehen können. Übrigens ist es ein altes Sprichwort, dass der Blitz nie zweimal in dieselbe Stelle schlägt, und das zweite Mal wird der Zufall nicht sein so fatales wie neckisches Spiel mit uns treiben.«

»Wenn uns nur nicht einige von der Gesellschaft abspringen!«

»Wenn sie es tun«, sagte der Doktor, dem der Gedanke keineswegs unangenehm schien, »so brauchen wir anderen uns keine Vorwürfe zu machen und – machen zu lassen; aber – ich glaube es nicht. Merz wäre vielleicht der Einzige, und für den tritt leicht ein anderer ein, und für die Stelle des armen Selig hat sich schon Leutnant Vollberg angetragen.«

»Also am Silvesterabend kommen wir im alten Lokal zusammen?«

»Wie immer – um diesmal auch einen neuen Präsidenten zu wählen. «

»So adieu, Doktor! Auf Wiedersehen!«

 

Die verschiedenen Klubmitglieder begegneten einander in dieser Woche nicht mehr – nur der Doktor traf mit einigen zusammen –, da das nahe Weihnachtsfest ihre Zeit in Anspruch nahm und sie großteils an ihre Familien fesselte.

Am 31. Dezember abends vereinigte die zu ihrer Zusammenkunft festgesetzte Silvesterfeier aber alle wieder, und die jungen Leute hatten sogar verschiedene Einladungen zu veranstalteten Bällen abgelehnt, um nur nicht bei den »Dreizehnern« zu fehlen. Es war für sie zur Ehrensache geworden, und keiner wollte den Verdacht gegen sich aufsteigen lassen, dass er durch den eigentümlichen Todesfall des armen Selig von der weiteren Teilnahme an dem unheimlichen Auswürfeln abgeschreckt sei.

Ja manche andere, die durch das Abenteuerliche der Sache angelockt wurden, hatten sich sogar schon zu neuen Mitgliedern vorschlagen lassen, falls einer oder der andere der »Dreizehner« zurücktreten würde.

So saß denn um zehn Uhr abends – der gewöhnlichen Stunde der Zusammenkunft – die Gesellschaft wieder vollzählig um den runden Tisch, und nach einer kurzen Anrede des Doktors über den fehlenden hingeschiedenen Freund herrschte bald wieder die alte gewohnte Fröhlichkeit.

Selbst Merz erklärte dabei, dass er jetzt fest entschlossen wäre, bis zum letzten Mann bei ihnen auszuhalten, weil eben die Kopfhänger die Nasen gar so entsetzlich darüber rümpften. Die Leichenpredigt hatte ihn so erbittert, dass er sich mit Vergnügen noch etwas viel Tollerem als dem Auswürfeln eines Dreizehnten angeschlossen hätte.

So kam Mitternacht heran und mit der Bowle das fröhliche neue Jahr. Aber merkwürdigerweise war die Gesellschaft heute um diese Stunde lange nicht so laut und heiter wie sonst. Auf Verlangen des Doktors hatte der Kellner schon mit den Punschgläsern die verhängnisvollen Würfel gebracht und neben die Bowle gelegt.

Der Hauptmann, der heute weit mäßiger der Flasche zugesprochen hatte als sonst bei ähnlichen Gelegenheiten, nahm sie wieder auf wie das erste Mal, aber er ließ die frühere Beschwörung weg und sagte, sich in kurzer Anrede an die Gesellschaft wendend:

»Meine Herren! Sie alle wissen, wie ernst und traurig unser vorjähriger Scherz abgelaufen ist oder welche Deutung ihm wenigstens der abergläubische Teil des Publikums gegeben hat. Wir sind aber alle hier vernünftig genug, das Schicksal bei dem, was den armen Selig betroffen hat, aus dem Spiel zu lassen, und was früher nur wohl ein toller Silvesterscherz gewesen ist, wird jetzt zum Ernst, da es sich nicht mehr um unsere kleine geschlossene Gesellschaft, sondern um die Zuschauer handelt, die sich durch ihr etwas rasch abgegebenes Urteil daran beteiligt haben. Ob wir es nächstes Jahr noch erneuern, hängt von uns selber ab; dieses Jahr müssen wir aber den dreizehnten wieder auswürfeln, um der so entsetzlich frommen Welt dadurch zu beweisen, was es mit ihren Prophezeiungen für eine Bewandtnis hat. – Wie voriges Jahr will ich auch heute den Anfang machen. Vorher aber bitte ich Sie um Ihr Ehrenwort, den Namen des Ausgewürfelten dem Publikum gegenüber streng zu verschweigen, damit keine unnötigen Neckereien oder Reden vorfallen. Sind Sie damit zufrieden?«

»Ja – jawohl! Das ist recht!«, riefen die Gäste durcheinander. »Es braucht niemand den Namen des dreizehnten weiter zu wissen als wir selber.«

»Schön!«, sagte der Hauptmann. »Es versteht sich dann auch von selbst, dass der Ausgewürfelte nicht wieder Präsident wird, um uns nicht selber zu verraten, und ich schlage deshalb unseren alten Präsidenten Malwitz zum neuen vor. Ebenso werden die Kellner so gut sein und das Zimmer verlassen, bis wir gewürfelt haben.«

Von den Kellnern hatten sich in der Tat schon so viele, wie nur irgend in dem Augenblick abkommen konnten, hier versammelt, um Zeugen dieses eigentümlichen Auswürfelns zu sein. Der eben gemachte Vorschlag kam ihnen deshalb auch nicht im Geringsten gelegen. Der direkten Aufforderung mussten sie aber folgen, und der Hauptmann ging langsam hinter ihnen her und verschloss die Tür.

Die Kellner indessen, nicht gesonnen, sich so ohne Weiteres von einem Geheimnis ausgeschlossen zu sehen, an dem sie alle das größte Interesse nahmen, besetzten, so heimlich es irgend geschehen konnte, die verschiedenen Türen, um dort dem Ausrufen der gefallenen Augen zuzuhorchen und danach vielleicht den erwürfelten dreizehnten zu erraten – aber es half ihnen nichts.

Nur nach dem ersten Wurf rief einer – es war Herr Merz: »Wieder dreizehn – bei Gott!«

»Friede, meine Herren!«, bat aber der Hauptmann. »Sie können sich darauf verlassen, dass an den verschiedenen Türen ebenso viele verschiedene Ohren liegen, wie wir Kellner hier im Zimmer hatten. Ich werde die fallenden Augen notieren.«

Dann war alles ruhig, und das Klappern der Würfel ausgenommen, unterbrach kein Laut, kein Wort die Totenstille im Zimmer. Plötzlich klangen die Gläser wieder, und im selben Augenblick kamen eine Menge neuer Gäste die Treppe herauf, die alle nach dem Zimmer der »Dreizehner« fragten.

»Bitte um Verzeihung«, sagte der Oberkellner, »die Herren haben sich eingeschlossen. Sie würfeln gerade und lassen niemand hinein.«

»Ist schon alles vorüber!«, rief aber der Hauptmann, der sich diese Überraschung ausgedacht und sie eingeleitet hatte, indem er die verschiedenen Bekannten der »Dreizehner« pünktlich fünfzehn Minuten nach zwölf in ihr Lokal bestellte. Sie kamen auch alle gern; denn neugierig geworden, hofften sie natürlich das herausgestellte Resultat dadurch am raschesten zu erfahren.

»Prosit Neujahr! Prosit Neujahr!«, brachen sie jetzt über die kleine Gesellschaft herein, und schon bestellte Bowlen und Gläser erschienen im selben Augenblick, ihnen den Willkommen zuzutrinken. Zu gleicher Zeit öffneten sich die beiden Flügel der einen Tür, und ein dort aufgestellter Musikchor begann seine fröhliche Weise.

»Wir alle fast«, rief da der Hauptmann, »haben heute einen oder den anderen Ball ausgeschlagen, um unsere Gesellschaft nicht zu versäumen; aber darum wollen wir den Leuten in der Stadt doch beweisen, dass die Dreizehner auch lustig sein können. Hurra, jetzt tanzen wir ins neue Jahr hinein!«

»Aber wer wird dieses Jahr der Unglücksvogel?«, fragte eine der Damen, die ihre Neugierde nicht länger bezähmen konnte.

»Das, mein gnädiges Fräulein«, lachte jedoch der Hauptmann. »werden Sie freilich erst am nächsten Silvesterabend erfahren.«

»Am nächsten Silvesterabend? So haben Sie gar nicht gewürfelt?«, fragte die Dame enttäuscht.

»O doch!«, lautete die lachende Antwort. »Aber wir haben auch unser Ehrenwort gegeben, den Glücklichen nicht zu verraten, bis seine Zeit abgelaufen ist. Doch jetzt keine Minute mehr versäumt, denn wir haben den ganzen Abend nachzuholen. Darf ich um Ihren Arm bitten?«

»Aber Sie werden uns doch wenigstens –«

»Zum Tanz, zum Tanz!«, jubelte der Hauptmann, und die »Dreizehner«, denen nichts hätte erwünschter kommen können als diese fröhliche Unterbrechung der letzten Szene, sprangen rasch auf die Damen zu, sodass im nächsten Augenblick, während die Kellner die Tische beiseite rückten, die Paare lustig den Saal durchflogen.

Die neuen Gäste, und besonders die Damen, gaben sich allerdings noch an dem Abend alle nur erdenkliche Mühe, den »dreizehnten« unter den »Dreizehnern« herauszubekommen – aber vergeblich. Die Männer hatten nicht allein ihr Wort gegeben, sondern auch ihr eigenes Interesse dabei, dass ebender Ausgewürfelte nicht im Publikum bekannt würde, und sie hielten sich deshalb allen Anfechtungen zum Trotz tapfer.

Durch diesen eigenen Reiz jedoch, den das Geheimnisvolle gab, wurde die Stimmung auch ganz außergewöhnlich lebhaft, und schon dämmerte im fernen Osten der erste Januar, ehe die fast übermütig fröhliche Gesellschaft nur an den Aufbruch dachte.

 

Waren übrigens die älteren Damen der Residenz schon im vorigen Jahr in Aufregung geraten, als sie von dem »frevelhaften Würfeln« Kunde erhielten, so sollte sich in diesem Jahr ihre Entrüstung noch steigern, als man ihnen nun gar den Namen des sogenannten »Todeskandidaten« vorenthielt.

Am Anfang bezweifelten sie allerdings die ganze unheilige Zeremonie, worin sie noch bestärkt wurden, als sie erfuhren, dass die »Dreizehner« an jenem Abend getanzt hätten – also jedenfalls mehr als dreizehn Personen gewesen sein mussten.

Einige peinlich verhörte Kellner gestanden aber das Faktum, denn die Würfel hatten sie mit ihren eigenen Ohren fallen gehört, wenn sie auch nicht imstande waren, Weiteres darüber zu berichten.

Der eine Kellner, ein junger, durchtriebener Bursche, konnte allerdings einem lockend an die Angel gesteckten Fünftalerschein nicht widerstehen und denunzierte eines der Mitglieder – den Buchhändler Merz – unter dem Siegel des strengsten Geheimnisses als Todeskandidaten.

Bei näherer Beobachtung stellte sich aber heraus, dass Herr Merz im ganzen vorigen Jahr nicht so vergnügt und heiter gewesen sei wie in diesen wenigen Tagen, und der einzige Trost, den die leichtsinnige Verschleuderin des Fünftalerscheins für ihr schweres Geld erhielt, war der, zu wissen, dass Herr Merz keinesfalls der unglückliche dreizehnte sein könne und dass sie der Kellner nichtswürdig betrogen habe.

Es würden übrigens Bände dazugehören, all die verschiedenen Versuche aufzuzählen, die gemacht wurden, die Mitglieder des Klubs einzeln zu bestechen und zu einem Treubruch an ihren Kameraden zu verleiten – doch alle waren vergebens. Das Einzige, was man herausbekam, war, dass Hauptmann von Hisko den Antrag auf tiefes Stillschweigen gestellt und den Übrigen das Ehrenwort darauf abgenommen habe, und darüber schienen die Damen einig, dass der Hauptmann von Hisko der größte nur denkbare Egoist sei.

So vergingen wieder dreiviertel Jahre, ohne dass irgendein auffallendes Ereignis die Bewohner der Residenz erregt oder besonders interessiert hätte – die Politik ausgenommen, die auch hierher ihre Fäden spann und das Lager in verschiedene Parteien teilte. Deutschland begann sich damals einer freisinnigen Richtung zuzuneigen, und Zivil und Militär gerieten dabei einige Male in Konflikte, die aber doch noch immer – einige Schlägereien zwischen Bürgern und Soldaten abgerechnet – so ziemlich gütlich beigelegt wurden.

Die Reibereien hörten jedoch nicht auf, und eines Abends im Theater – es war Anfang Dezember – bekam Leutnant Vollberg Streit mit einem Referendar von Zehlen, der mit einer Herausforderung endigte.

Die Sache war indessen ruchbar geworden, und die beiden Gegner fuhren deshalb mit ihren Sekundanten und einem Arzt zur nahen Grenze, um einander mit einigen Kugeln zu beweisen, dass sie alle beide in ihrem Recht wären.

So unbedeutend die Ursache des Streites freilich gewesen war, so ernst endete dieser. Leutnant Vollberg wurde in die Brust geschossen, und während sich sein Gegner durch die Flucht jeder weiteren Verantwortung entzog, trugen abends eine Anzahl Bauern aus dem nächsten Dorf den Schwerverwundeten in seine Garnison zurück.

Das so fatal abgelaufene Duell zweier in der ganzen Stadt beliebter und geachteter junger Leute machte allerdings schon an und für sich Aufsehen, noch dazu, da man wusste, dass die tiefer gehenden Fragen der Gegenwart die Veranlassung dazu gegeben hatten.

Aber selbst dies wurde durch die rasch verbreitete Kunde in den Hintergrund gedrängt, dass man erfuhr, Leutnant Vollberg gehöre mit zu den »Dreizehnern« und sei jedenfalls der, den in der vorigen Silvesternacht das Los durch die Würfel getroffen habe.

Über sein Schicksal sollten die Bewohner der Residenz, sowenig sie von dem übrigen erfuhren, aber nicht lange im Zweifel bleiben. Die herbeigerufenen Ärzte erklärten die Wunde für unrettbar tödlich; der Verwundete kam auch in der Tat kaum mehr recht zur Besinnung, und am vierten Tag durchlief die Kunde die Stadt, dass Leutnant Vollberg in der letzten Nacht gestorben sei.

Am gleichen Morgen trat Hauptmann von Hisko in Doktor Malwitz’ Zimmer. »Haben Sie es schon gehört, Doktor?«

»Ich habe eben die Nachricht erhalten. Es ist eigentümlich.«

Der Hauptmann schwieg und ging eine Zeitlang mit untergeschlagenen Armen im Zimmer des Doktors auf und ab. Endlich blieb er vor diesem stehen und sagte ruhig:

»Wissen Sie, wer sich am nächsten Silvesterabend von uns auswürfeln wird?«

Der Doktor sah erstaunt zu ihm auf. »Das ist schwer schon jetzt zu bestimmen«, versetzte er endlich achselzuckend. »Sie meinen wohl den, der für unseren armen Leutnant eintritt?«

»Nein«, sagte der Hauptmann, »ich!«

»Sie?«

»Allerdings – und nicht allein das; ich weiß auch, dass ich im nächsten Jahr sterben werde.«

Der Doktor sah den Mann erstaunt an, und jetzt erst fielen ihm dessen blasse Gesichtsfarbe und der ernste Ausdruck seiner Züge wirklich auf. »Sie scherzen, bester Hauptmann«, lachte er. »Wer, um Gottes willen, hat Ihnen diese Torheiten in den Kopf gesetzt?«

»Es ist mehr als das, Doktor«, versicherte ihm jedoch der Offizier, »und Sie trauen mir gewiss zu, dass ich mich nicht vor dem Tod fürchte, aber – ich weiß es!«

»Mein bester Hauptmann«, suchte der Arzt jetzt die Sache in das Scherzhafte hinüberzuziehen, »Ihr eigenes Interesse dabei ganz abgerechnet, dürften Sie das schon nicht einmal unserer Gesellschaft zuleide tun. Wir wollen Sie nicht verlieren.«

»Glauben Sie an Ahnungen, Doktor?«, fragte aber der Hauptmann zurück, ohne auf den Scherz einzugehen.

»Mein lieber Freund«, erwiderte da der Arzt, ebenfalls ernster werdend, »das ist allerdings ein Kapitel, bei dem wir mit unserer einfachen und hausbackenen Vernunft nicht immer durchkommen. Ich kann nicht gerade sagen, dass ich an Ahnungen glaube, aber – ich bin auch nicht imstande, sie ganz abzuleugnen. Dass es Wesen gibt, die wir mit unseren gröberen Sinnen nicht wahrnehmen können, werde ich wenigstens nie zu leugnen versuchen, denn wo nicht der unbedeutendste Raum in der ganzen körperlichen Welt leer und unbenützt liegt, wo jeder Wassertropfen ein kleines, wie in sich abgeschlossenes Heer von Geschöpfen umschließt, können wir nicht gut annehmen, dass der ganze ungeheure, unermessliche Luftraum leer und unbevölkert liegen sollte. Ob aber diese Wesen irgendeinen Einfluss auf uns Sterbliche auszuüben fähig sind; ob sie in unser Leben auf irgendeine Weise eingreifen können und mögen, das ist eine andere Frage, deren Beantwortung vielleicht späteren Generationen vorbehalten bleibt.

Es begegnet uns im Leben allerdings manches Seltsame, manches, was wir nicht gleich fassen und begreifen können, und unser eigener Geist ist dabei ein solches Wunderwerk der Schöpfung, dass wir mit dem noch nicht einmal im Klaren sind. Die Bilder, die er sich ganz unabhängig von unserem eigenen Willen im Traum oder in irgendeiner Krankheit aufbaut, kann er wohl auch einmal im wachenden Zustand bringen. Dass wir diese aber nicht zu sehr die Oberhand über uns gewinnen lassen, das muss unsere Sorge sein, wenn wir nicht – das Schlimmste für uns selber fürchten sollen.«

Der Hauptmann hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und sah, den rechten Arm über dessen Lehne hängend, stier vor sich nieder. Als der Doktor aber schwieg, sagte er lächelnd, ohne jedoch den Blick vom Boden zu nehmen: »Sie meinen, Doktor, dass wir nicht geisteskrank oder – mit einem Wort – verrückt werden mögen.«

»Das Wort geisteskrank ist, glaube ich, der richtige Ausdruck«, bestätigte der Doktor; »wenn auch eine Krankheit den Geist, ein unkörperliches Wesen, natürlich anders affiziert als einen Körper. Wir können dabei aber auch sehr viel selber tun, denn wie wir unseren Körper vor übergroßer Anstrengung oder vor gänzlichem Sich-gehen-Lassen in acht nehmen müssen, so ist es mit dem Geist ebenso der Fall. Frische, gesunde Beschäftigung ist beiden nicht nur nützlich, sondern auch notwendig. Sehr gefährlich ist aber – für Geist wie Körper, denn beide leiden zu gleichen Teilen darunter – eine sogenannte fixe Idee, wenn sie sich an etwas Unwesenhaftes bindet, und das einfachste Mittel dagegen bleibt immer, unserem klaren Verstand sein volles Recht über diese Einbildungen anzuweisen.«

»Und wenn es keine Einbildung wäre?«

»So sagen Sie mir klar und offen, was Sie haben, und ich will Ihnen klar und offen darauf antworten.«

»Bah, es ist Unsinn, Doktor«, rief aber der Hauptmann, von seinem Stuhl wieder aufspringend, »blanker, barer Unsinn, und muss mir jedenfalls im Blut liegen! Aderlassen und Schröpfen täte da vielleicht gut.«

»Sie weichen mir aus.«

»Ich? – Nein. Ich könnte Ihnen aber wahrhaftig nichts Bestimmtes angeben, oder ich müsste Ihnen sonst eine lange begrabene, vergessene und entsetzlich langweilige Geschichte vorher erzählen, wozu ich keine Lust und Sie keine Zeit haben. Was ich Ihnen da sagte, beruht auch mehr auf einem dunklen Gefühl, kann sogar noch immer Täuschung sein, weshalb ich auch erst eine weitere Bestätigung abwarten will. Vielleicht vergeht es wieder.«

»Wenn es aber nicht vergeht?«

Der Hauptmann sah den Doktor rasch und wie erschreckt an.

»Hören Sie, lieber Hauptmann, ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr der Doktor, freundlich seine Hand auf dessen Arm legend, mit ernster, aber teilnehmender Stimme fort. »Ich bin Arzt und darf deshalb aufrichtig und ehrlich mit Ihnen reden, ohne dass Sie meinen Worten einen anderen Sinn unterlegen können.«

»Sie machen eine lange Vorrede!«

»Weil ich Ihnen einen Rat geben will, der – Ihnen vielleicht nicht gefällt, den ich Ihnen aber trotzdem dringend ans Herz legen möchte. Doch ich will mich kurz fassen. Mit diesen Ideen und Fantasien, die sich jetzt in Ihrem Geist festgesetzt haben, möchte ich Sie inständigst bitten – den Dreizehnern nicht wieder beizuwohnen.«

»Doktor!«, rief der Hauptmann, und sein Gesicht wurde aschfahl. »Ich bin Offizier!«

»Missverstehen Sie mich nicht«, sagte der Doktor rasch. »Dass es Ihnen an persönlichem Mut fehlt, irgendeinem Gegner zu stehen, wäre ich der Letzte zu bezweifeln, denn gerade ich habe Gelegenheit gehabt zu sehen, wie kaltblütig Sie vor vier Jahren jenem höchst misslichen Duell entgegengingen und wie ehrenvoll Sie sich dabei benahmen; aber das hier ist etwas anderes. Ist Ihr Geist einmal so aufgeregt, dass Sie sich schon jetzt mit solchen Gedanken herumtragen, so muss unsere mutwillige Gesellschaft die Stärke dieser Gefühle notwendig noch vermehren. Durch unseren Scherz – sagen Sie dagegen, was Sie wollen– sind wir jenem möglichen und von der Menge adoptierten Glauben an eine Geisterwelt feindlich, wenigstens trotzig entgegengetreten, und das können wir mit Leichtigkeit durchführen, solange wir uns selber diese Überzeugung wahren. Räumen Sie aber außerirdischen Mächten nur die geringste Gewalt über Ihren Geist ein, dass dieser sich nicht mehr vorurteilsfrei bewegen kann, so geraten Sie dadurch nicht allein in einen sehr misslichen, nein, auch sehr gefährlichen Konflikt, dem Sie sich nicht aussetzen dürfen.«

»Aber glauben Sie ernstlich, Doktor, dass ich je daran denken könnte, mich dem albernen Aberglauben der Menge mit dem dreizehnten anzuschließen?«

»Sie werden es zwar nie – nicht einmal sich selber – eingestehen, aber Ihre Seele ist nicht mehr frei. Die Ahnung an Ihren Tod im nächsten Jahr – wie anders können Sie es nennen als einen Aberglauben? Lassen Sie dann wirklich zufällig die Würfel für sich nachteilig fallen, und Sie haben in Ihrem Geist die Überzeugung, dass Ihr Gefühl wahr gesprochen hat, nur unrettbar befestigt.«

»Und was täte das?«, meinte der Hauptmann finster. »Ich werde dem, was mir bevorsteht, fest und kaltblütig entgegengehen.«

»Daran zweifle ich keinen Augenblick«, versetzte der Arzt. »Aber sagen Sie sich selber nur, welch trübes, unbehagliches Jahr Ihnen dann bevorstünde!«

»Nicht im Geringsten!«

»Leugnen Sie es, so viel Sie wollen; Sie würden es mit dem besten Willen doch nicht ändern können. Eine solche fixe Idee ist ein gar merkwürdig furchtbares Ding, und wir sollten sie um Gottes willen nicht zu leicht – nicht zu leichtsinnig nehmen!«

Der Hauptmann war wie vorher mit raschen Schritten und fest verschränkten Armen im Zimmer auf und ab gegangen. Endlich blieb er wieder vor dem Doktor stehen und sagte:

»Lassen Sie mich ruhig meinen Weg gehen, Doktor, denn ich fühle mich dem, was ich übernommen habe, gewachsen. Übrigens könnte ich nichts daran ändern, selbst wenn ich wollte. Träte ich jetzt von der Gesellschaft zurück, so erführen es jedenfalls meine Kameraden, und die Neckerei nähme kein Ende; und erführen sie es nicht – ich möchte mir selber nicht den Vorwurf machen können, irgendeiner Gefahr, und sei sie noch so eingebildet, ausgewichen zu sein.«

»Aber bester Hauptmann!«

»Reden Sie mir nicht dagegen, Doktor, so gut Sie es auch meinen. Ich bin fest entschlossen.«

»Dann allerdings wäre jedes weitere Wort nutzlos. In dem Fall aber tun Sie mir die Liebe, und arbeiten Sie ernstlich an sich, diesen unseligen Gedanken loszuwerden. Sie sagen selber, dass es Unsinn sei; geben Sie sich auch Mühe, ihn als solchen zu betrachten. Der Zufall hat uns überdies schon jetzt zwei Mal einen wunderlichen Streich gespielt.«

»Der Zufall? – Ja«, sagte der Hauptmann nachdenklich, »es kann nur ein Zufall gewesen sein! – Nein, Doktor«, unterbrach er sich aber plötzlich lachend, »sehen Sie mich nicht so besorgt an; die Sache ist lange nicht so schlimm, wie Sie denken. Diesem Zufall zum Trotz wollen wir wieder einen ganz fidelen Silvesterabend feiern und dann doch einmal sehen, ob die toten Würfel noch einmal den Rechten treffen. Komisch bliebe es freilich immer.«

»Mir kommt jetzt die ganze Sache beinahe vor«, meinte der Doktor, »als ob wir mit uns selber Komödie spielten; denn während wir das Ganze sämtlich für Torheit halten, betreiben wir es doch so ernst wie möglich. Aber es kann nichts weiter helfen – wir müssen es durchführen; die Stadt ist übrigens voll davon.«

»Das ließ sich denken«, bemerkte der Hauptmann gleichgültig; »und es war nur Wasser auf ihre Kaffeemühlen. – Die ganze Gesellschaft geht doch wieder mit zur Leiche?«

»Dadurch bestätigen wir aber nur, dass er wirklich der Ausgewürfelte war.«

»Bah, als ob das nicht schon ohnedies jedes Kind auf der Straße wüsste! Überdies würde unsere Gesellschaft doch wohl mit jedem Mitglied gehen.«

»Sie haben

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Oliver Denker /Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 17.10.2013
ISBN: 978-3-7309-5573-4

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