Auf dem Kirchturm von Arabba läutete gellend die Sterbeglocke. Es war ein schwüler Sommerabend und hinter Pordoi stiegen gelbe Gewitterwolken auf, die sich langsam ausgebreitet und schon den halben Himmel verschlungen hatten. Die Wiesen des Talgrundes bekamen dadurch eine herbstlich fahle Färbung, die mit dem Weiß der hier und dort verstreuten Häuser und dem herben Dunkelgrün der Tannen an den Berghängen seltsam kontrastierte. Die Vögel flogen aufgeschreckt nahe am Erdboden hin; es sah aus, als ob sie eiligst einen Unterschlupf vor dem Gewitter suchen wollten. Aus dem Hause des Wirtes Antonio Siorpaës drängten sich die Leute.
„He, ist er tot?“, fragte Dallagiacomo, der mit einigen anderen wartend draußen gestanden hatte, und zwinkerte lustig mit den Augen. „Wird Barbara sich freuen.“
„Mausetot. Branadura ist bei ihr.“
„Jetzt schon? Kann er nicht warten, bis Antonio kalt ist?“
„Lasst ihn nur! Ihr müsst nicht immer lästern.“
„Lästern? Als ob es zu viel gesagt wäre – das ganze Dorf versündigen sie.“
„Und Don Giuseppe?“
„Ist schon zurück mit dem Allerheiligsten. Da ist alles in Ordnung. Antonio ist versehen und gut versehen noch dazu – und wenn er keine Todsünde auf dem Gewissen hat, wird er nicht lange im Fegfeuer brennen müssen.“
„Schwatzt nicht so“, sagte der alte Endrizzi, der sich immer kratzte, „schwatzt nicht so!“ Und dann bekreuzigte er sich und begann das Vaterunser. Jetzt nahm sogar Dallagiacomo den Hut vom Kopf, spuckte aus, sah von einem zum andern und stimmte, da er alle die Lippen bewegen sah, in das Beten der andern ein.
Aller Stirnen waren ernst gerunzelt; die Augen trüb, wie erloschen, suchten den Himmel ab, der immer fahler geworden war, zugleich mit der heraufsteigenden Nacht. Die Felsen des Pordoi leuchteten weiß und kalkig wie eine ungeheure, verwitterte Beinpyramide. Die Glocke läutete immer noch fort. Aber abseits von den andern, an den geschwätzig rauschenden Brunnen gelehnt, stand Constantino Bernardi, presste den zerlumpten Hut an die Brust, hatte das hagere Gesicht mit den weißen Bartstoppeln zum Himmel erhoben und dachte daran, dass der Weltuntergang nicht mehr fern sein konnte. Irgend etwas Besonderes ging vor, das merkte man an allem. Schon dieser Frevel, dass Branadura dem sterbenden Siorpas, mit dessen Weib er nun in das zehnte Jahr buhlte, die Augen zudrückte, konnte nicht ungestraft bleiben. Mit heimlicher Freude sah er die Wetterwand wachsen. Gott war lebendig und kannte aller Menschen Tun und Denken. Herr, recke aus deine starke Hand und zertrümmere das Haus derer, die deinen Namen schmähen!
Dallagiacomo trat zu ihm. „He, Constantino! Dass du ihn ordentlich rasierst, damit es eine schöne Leiche gibt. Man ist nicht mehr so zufrieden mit dir wie in den früheren Zeiten. Dem alten Gasparo hast du auch die halben Haare auf der Backe stehen lassen – hat ausgesehen wie dein Hund, seit er die Räude hat.“
Bernardi wandte ihm sein finsteres Antlitz zu: „Dreckkerl! Spare deinen Spott! Ich werde dich auch noch rasieren, wenn du auf dem Schragen liegst, dich und alle die anderen – ich sage dir, der Ruchlose wird sein Blut verlieren und seiner Augen Licht, und wer dem Himmel ins Antlitz speit, soll nicht sein Leben
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013
ISBN: 978-3-7309-5080-7
Alle Rechte vorbehalten