In H., einer nicht unbedeutenden Stadt Deutschlands, hatte sich vor einer längeren Reihe von Jahren ein kinderloses Ehepaar niedergelassen und einen der freundlichsten Grundbesitze der Stadt angekauft. Niemand wusste eigentlich, woher die beiden Leute stammten; während sie aber für eine der wohlhabendsten Familien der Stadt galten und in H. auch weiter keinen Geschäften oblagen, sondern hier nur ihr Geld verzehrten, waren sie allgemein geachtet und geliebt, denn sie taten Gutes, wo sie nur konnten, und kein wirklich Hilfsbedürftiger verließ je ungetröstet ihre Schwelle. Sonst verkehrten sie aber nur wenig oder gar nicht mit anderen Leuten; sie kamen in keine Gesellschaft, sie sahen niemand bei sich, und ein alter Diener mit weißen Haaren, der ihnen aufwartete, besorgte allein ihre Aufträge außerhalb.
Nur das weibliche Dienstpersonal mieteten sie sich in der Stadt, wechselten aber ziemlich häufig damit, da sich das junge Volk nicht mit den Launen der Alten abfinden konnte oder mochte. Ob ihnen nun diese Einsamkeit selber zu peinlich wurde oder ob sie es für Sünde hielten, ihr Vermögen nach ihrem Tod zerstreut zu sehen und niemandem zugute kommen zu lassen – kurz, eines Tages entschlossen sie sich, ein fremdes Kind, und zwar ein Mädchen, zu sich ins Haus zu nehmen, zu adoptieren und in dessen Heranwachsen dann ihre eigene Jugend wieder vor sich aufblühen zu sehen. Anregung dazu hatte nicht allein ihr stilles Leben, sondern auch ein kürzlicher Unglücksfall gegeben, bei dem die Eltern eines kleinen fünfjährigen Mädchens durch einstürzendes Gebälk in ihrer eigenen Stube erschlagen wurden, während das Kind wie durch ein Wunder gerettet schien. Die arme kleine Waise hatte jetzt niemand weiter, der sich um sie kümmerte, und die beiden alten Leute beschlossen, sie zu sich zu nehmen.
Von der Zeit an kam ein neues Leben in das Haus; es war ordentlich, als ob das Eis getaut wäre, das bis dahin ihre Herzen umschlossen gehalten hatte, und mit der freundlicheren Betriebsamkeit im Inneren zeigten sich die guten Folgen auch mehr nach außen im Verkehr mit ihren Nachbarn.
Leider dauerte das nicht lange. Ein Scharlachfieber, das in der Stadt furchtbare Verheerungen unter den Kindern anrichtete, erfasste auch Luischen, das angenommene Kind der alten Leute, und zwei Tage später saßen sie trostlos und weinend an dem kleinen Bettchen, auf dem, mit Blumen geschmückt, die Leiche des Kindes lag. Das war ein schwerer Schlag – besonders für die arme Frau, die ihre kleine Pflegetochter in der kurzen Zeit so liebgewonnen hatte, dass sie glaubte, das Herz müsse ihr brechen bei dem Verlust. Sie konnte sich auch gar nicht zufrieden geben und wurde selber so krank, dass ihr Gatte das Schlimmste fürchtete. Um dem zu begegnen und dem Rat der Ärzte folgend, reiste er ungesäumt in die nur wenige Meilen weit entfernte Residenz, ging dort in das Waisenhaus und nahm sich von da ein anderes kleines, freundliches Mädchen mit ins Haus, das etwa das Alter hatte wie das verstorbene.
Es war aber fast, als ob das Schicksal aus irgendeinem Grund den alten Leuten zürne und ihnen auch die letzte Freude, den letzten Trost rauben wolle, den sie sich verschaffen konnten. Eine Zeitlang ging alles vortrefflich; die alte Frau erholte sich wieder und gewann das neu mitgebrachte Kind fast ebenso lieb, als sie das erste gehabt hatte; aber nicht lange, so fing es ebenfalls an zu kränkeln, und trotz der Kunst und Sorgfalt zweier Ärzte – der besten, die dort zu bekommen waren – starb es nach kurzem Krankenlager.
Von da an blieb das Haus wieder verschlossen, viele lange Monde lang, und Stubenmädchen und Köchinnen, die gewissermaßen die Kette bildeten, durch die die alten Leute noch mit der übrigen Welt in Verbindung standen, erzählten draußen, ihre Herrschaft ginge herum wie Gespenster, und das Haus selber gliche mehr einem Leichenhaus als der Wohnung menschlicher Wesen.
Das dauerte diesmal eine ganze Weile. Der alte Herr hatte sich zwar erboten, ein drittes Kind ins Haus zu nehmen, aber seine Frau hatte ihn um Gottes willen gebeten, das nicht zu tun. Der Himmel wolle es nicht; er habe ihnen Zeichen genug gegeben, und was sie zwei Mal jetzt mit den beiden kleinen, unschuldigen Wesen in Krankheit und Tod durchgemacht hatten, würde sie zum dritten Mal nicht überstehen können.
Ein halbes Jahr war hiernach verflossen, ohne dass sich die beiden alten Leute auch mehr als dann und wann einmal an einem recht schönen Tag auf der Straße gezeigt hätten. Dabei gingen sie in tiefer Trauer, erwiderten aber freundlich jeden Gruß und besuchten dann gewöhnlich den Gottesacker, auf dem ihre beiden Pflegekinder nebeneinander schlummerten. Woher der Name kam, wusste niemand, aber im Volksmund hießen sie die »Waiseneltern«, und selbst die Kinder wagten nicht, über ihre etwas altväterische und fremde Pracht zu lachen, sondern zogen, wenn die beiden stillen Leute an einem Trupp kleiner lärmender Burschen vorübergingen, ehrfurchtsvoll ihre Kappen ab und hörten mit dem Spielen auf, bis sie vorüber waren.
Indessen kam der Winter mit seinen rauen Tagen; die beiden Alten ließen sich gar nicht mehr draußen sehen und wären schon fast von ihren Mitbürgern vergessen worden, wenn nicht plötzlich ein wunderliches, tolles Gerücht über sie die Stadt durchlaufen hätte.
Es gibt nichts so Tolles und Unwahrscheinliches, dass es nicht gleich beim ersten Auftauchen auch einzelne Gläubige fände, die es weitertrügen. Sosehr sich aber die Bewohner von H. anfangs dagegen sträubten, etwas für wahr zu halten, das sie in dem müßigen Kopf irgendeiner alten Kaffeeschwester entstanden glaubten, so sahen sie sich doch bald durch mehr und mehr an den Tag kommende Einzelheiten genötigt, ihre letzten Zweifel schwinden zu lassen, und es stellte sich endlich als vollkommen begründete und erwiesene Tatsache fest, dass die beiden alten Leute daheim in ihrer Wohnung statt des früheren Kindes eine Puppe, etwa von der Größe eines achtjährigen Mädchens, aufgeputzt hätten und sie vollkommen behandelten wie ein lebendiges Kind.
Das Stubenmädchen, das auch zugleich bei Tisch die Aufwartung hatte, kündigte bald darauf seiner Herrschaft, von der es sonst auf das Beste und Freundlichste behandelt wurde, den Dienst, weil es die Bedienstete vor Grauen und Entsetzen nicht länger im Haus aushalten konnte. Es war ihr, wie sie draußen erzählte, zu unheimlich, ein lebloses und doch wie lebendig aussehendes Kind so zu bedienen, als ob es Geist und Seele hätte, und die Beschreibung, die sie von dem ganzen Treiben in dem Haus gab, ließ bei den Nachbarn und den übrigen Bewohnern von H. denn auch bald nicht mehr den geringsten Zweifel über den Geisteszustand der beiden alten Leute selber.
Die Puppe war der Beschreibung des Mädchens nach ein »schrecklich natürlich aussehender Balg«, Gott weiß, aus was gemacht, aber mit einem Wachskopf und Glasaugen, die sie herüber- und hinüberdrehen und auf- und zumachen konnte »wie ein natürlicher Mensch«. Dabei hatte sie ordentliche Kleider, Nachtjacken zum Schlafen, Morgenanzüge und »gute« Kleider zum Ausgehen. Mittags saß sie mit am Tisch, abends lasen ihr die Alten stundenlang vor, und dann wurde sie zu Bett gebracht, und die Mutter sang sie in den Schlaf.
Dabei verschwor das Mädchen seine Seligkeit, dass die Puppe im letzten Jahr wenigstens fünf Zoll gewachsen wäre, und die Madame hätte ihr auch die Kleider und Höschen unten ausgelassen wie bei einem natürlichen Kind. Alles hätte sie dabei aushalten wollen, das Bedienen und das Aufwarten, selbst das Schlafen im Zimmer, das die Madame einmal acht Nächte lang von ihr verlangt habe, wie das Scharlachfieber in der Nachbarschaft wütete und sie fürchtete, dass ihr Luischen es auch bekäme,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 05.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2606-2
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