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Emil Droonberg
Das Erbe des Prospektors
Coverbild: © Amplion / Shutterstock.com
Eingang
Es war zehn Uhr vormittags.
Der von Osten kommende Zug der Canadian-Pacific-Eisenbahn lief in die kleine Station Morrissey in den Felsengebirgen ein.
Ich raffte mein geringes Gepäck zusammen und sprang als einziger Fahrgast, der hier den Zug verließ, über die wenigen Stufen am Ende des Wagens auf den Bahnsteig. Es waren nur vier Personen, die den Zug hier erwarteten: ein Mann, der ihn bestieg, um irgendwohin nach dem Westen zu reisen, der Stations- und der Postagent, beide barhäuptig und in Hemdsärmeln, und ein alter Mann mit langem, grauem Haar und ebensolchem Schnurrbart, der von vielem Pfeifenrauchen stellenweise braun gefärbt war. Gekleidet war er in eine an den Ärmeln mit Fransen besetzte weiche Lederjacke von indianischer Arbeit, feste Corduroyhosen und hohe, gelbe Schnürschuhe, die in diesem Jahre – es war im Juni – sicher noch nicht geputzt worden waren.
Er kam auf mich zu und streckte mir freundlich die Hand zum Gruße entgegen, die ich nahm und schüttelte.
„Da sind Sie ja“, rief er. „Well, well, well. Sind es zehn Jahre, dass wir uns nicht gesehen haben? Mir ist, als ob es erst gestern gewesen wäre. Und wie viel liegt doch dazwischen!“
Ich erwiderte seine herzliche Begrüßung und fasste seine Erscheinung einen Moment lang scharf ins Auge.
Er hatte recht, es waren über zehn Jahre, dass wir uns nicht gesehen hatten. Damals war ich oben in dem Städtchen Morrissey, das zwei Meilen von der einsamen Station in einem Bergtale liegt, Zivilgefangener und er militärischer Wachtposten gewesen. Manche stille Nachtstunde hatten wir zusammengesessen. Er erzählte dann aus seinem Prospektor- und Trapperleben, und in solchen Stunden hatte er mir berichtet, was ich in meinem Buche „Das Gold der Nebelberge“ wiedererzählt habe. Wir hatten uns damals auch verabredet, sobald der Krieg zu Ende und ich wieder ein freier Mann sein würde, eine Reise nach den Nebelbergen zu unternehmen, um das Lager von Placergold aufzusuchen, auf dem ein geheimnisvoller Fluch lasten sollte, der bereits einem jungen Indianer und zwei weißen Prospektoren Unglück und den Tod gebracht hatte.
Dieser Plan konnte aber nicht verwirklicht werden, denn der Krieg dauerte viel länger, als wohl irgendjemand geahnt hatte. Ich wurde nach einiger Zeit mit einigen anderen Gefangenen in das Lager bei Vernon übergeführt und am Ende des Krieges nach Deutschland ‚abgeschoben‘. Noch unter der von der Presse betriebenen Kriegshetze hatte man in Kanada ein Gesetz herausgebracht, nach dem diejenigen, die während des Krieges interniert gewesen waren, zwanzig Jahre lang das Land nicht wieder betreten durften. Als man dann aber wieder nüchtern geworden war, hauptsächlich, weil es allmählich durchsickerte, dass die Geschichten von den von den Deutschen angeblich begangenen Gräueltaten von verlogenen, gut bezahlten Propagandisten erfunden worden waren, öffnete man den ehemaligen deutschen Internierten die Türen Kanadas wieder, die man zuerst in heiliger Empörung über die ‚Hunnen‘ hinter ihnen zugeschlagen hatte.
Es geschah aber zu spät für meine Absicht, mit Warren die geplante Expedition nach den Nebelbergen zu unternehmen, denn ich war sicher, dass er diese längst mit einem andern Partner ausgeführt hatte. Das Warten auf mich war doch zu aussichtslos gewesen.
Es war dann auch nicht vor dem Jahre 1929, dass ich Kanada wieder besuchen konnte.
Gleich nach meiner Landung schrieb ich ihm von Montreal aus einen Brief, auf den ich in Edmonton eine Antwort vorfand. Sie enthielt die Mitteilung, dass er die Reise nach den Nebelbergen mit einem anderen Begleiter unternommen und glücklich zu Ende geführt habe. Was er dabei erlebte, wollte er mir erzählen, wenn ich ihn in Morrissey besuchen würde. Da ich mich ohnehin auf der Reise nach der britisch-kolumbischen Küste befände, sei das kein Umweg für mich, und die Gelegenheit, alte Erinnerungen aufzufrischen, würde mir gewiss willkommen sein. Die tote Stadt Morrissey, deren einziger Einwohner er sei, würde dann für einige Tage wenigstens einen Zuwachs von hundert Prozent aufweisen und die stattliche Zahl von zwei Einwohnern besitzen. Ich sollte ihm meine Ankunft melden, damit er mich von der Bahn abholen könne.
Der Brief war mehr bemerkenswert durch das, was er verschwieg, als durch das, was er sagte.
Warren hatte also die Reise nach den Nebelbergen gemacht und vermutlich die Goldschlucht auch aufgefunden. Für einen alten Prospektor, in dem sich das Auffinden entlegener Örtlichkeiten längst zu einem sechsten Sinn ausgebildet hatte, war das mithilfe der Wegeaufzeichnungen, die er dem sterbenden Goldsucher in der vereisten Hütte am Stikine-River verdankte, so gut wie eine Selbstverständlichkeit.
Hatte er aber das Gold gefunden und aus der Felsenschlucht fortgeholt?
Das war für mich das Wichtigste, aber gerade darüber enthielt der Brief kein Wort. Der Umstand, dass er sich in der toten Minenstadt niedergelassen hatte, anscheinend um dort den Rest seiner Tage zu verbringen, schien dagegen zu sprechen. Warren war aber ein Sonderling. Das einsame Leben als Trapper und Prospektor, das er so lange geführt und das nur hin und wieder durch einen mehr oder weniger langen Aufenthalt in der Zivilisation unterbrochen worden war, bis er einen neuen stillen Teilhaber gefunden hatte, der seine Verproviantierung für die nächste Reise übernahm, hatte ihn dazu gemacht. Es gibt keinen alten Prospektor, den Jahrzehnte eines solchen Lebens nicht zum Sonderling gemacht hätten. Die Wahl seines seltsamen Wohnsitzes war also kaum verwunderlich, selbst unter der Annahme, dass er jetzt ein Vermögen besaß. Seine einsiedlerischen Gewohnheiten konnten sehr wohl eine solche Macht über ihn erlangt haben, dass gerade der Aufenthalt in dieser von Gott und den Menschen verlassenen Stadt den größten Reiz auf ihn ausübte. Alte Prospektoren sind in jeder Beziehung unberechenbar. Man kann von ihnen nicht dieselbe Denkweise erwarten wie von Leuten, die ihr ganzes Leben mit und unter den Menschen verbracht haben. Es wäre durchaus verständlich gewesen, wenn die Aussicht, mit vielem Gelde in der Stadt zu leben, für ihn in seinem Alter etwas Unbehagliches gehabt hätte, während für ihn nicht das geringste Seltsame darin lag, sich fern von den Menschen in der Einsamkeit dieser toten Stadt zu vergraben.
Ich wusste aber, dass ich brieflich nicht viel mehr von ihm erfahren würde. Seine Reise nach den Nebelbergen war vermutlich so voll von Erlebnissen gewesen, dass er die Unmöglichkeit einsah, sie mir brieflich zu berichten. Deshalb begann er gar nicht erst damit.
Ich entschloss mich daher kurz, was ich vielleicht aber auch ohnehin getan hätte, ihn in seiner Abgeschiedenheit aufzusuchen, und gab ihm den Tag meiner Ankunft in Morrissey bekannt.
Und nun sah ich ihn vor mir. Er schien in all der Zeit kaum um einen Tag gealtert zu sein, war genau so lang und sehnig wie früher, nur dass das Haar, das er damals unter dem Zwange der militärischen Disziplin kurz geschnitten trug, jetzt lang über seinen Rücken hing.
Er hatte ein Ford-Auto bei sich, eine alte Karre, die er bei einem Althändler für fünfzig Dollar gekauft haben mochte. Aber auch das ließ keine Schlüsse auf seine gegenwärtige finanzielle Lage zu. Er würde sich in einem eleganten Auto wahrscheinlich gar nicht wohlgefühlt haben, und außerdem hätte ein solches Ansprüche an Reinhaltung gestellt, die er nicht zu erfüllen geneigt war.
Er forderte mich auf, das Auto zu besteigen, und nahm selbst am Steuer Platz, das ich ihm gern überließ, denn ich fürchtete, es könnte Eigenschaften entwickeln, mit denen man vertraut sein musste, um Unheil zu vermeiden. Mit einigen Hebeldrücken und anderen geheimnisvollen Maßnahmen brachte er es schließlich auch in Gang, und wir rollten die ansteigende Straße nach Morrissey hinauf.
Nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir die ersten Gebäude der Stadt: die Baracke, die während des Krieges als Verwaltungsgebäude gedient hatte, jetzt aber leer stand; ihr gegenüber das große zweistöckige Gebäude, das in den Zeiten, in denen die Minen hier im vollen Betrieb gewesen waren und reges Leben in der Stadt geherrscht hatte, ein Hotel gewesen war und das später die Gefangenen beherbergt hatte, und einige andere Gebäude.
Es waren große Lichtungen hier in den Wald geschlagen worden, die aber zumeist schon wieder mit Gestrüpp und niedrigem Baumbestand bewachsen, stellenweise aber auch nur mit einem frischgrünen Pflanzenteppich bedeckt waren, aus dem unzählige Sommerblumen in den zarten blassen Farben des Hochgebirges hervorleuchteten. Um sie herum stand der dichte Bergwald, und über alles hinweg ragten ringsum in der Ferne die weißen von der Sonne vergoldeten Häupter der Gletscher in das kristallklare Blau des Himmels.
Es war ein paradiesisch schönes Stück Landschaft, nicht beklemmend oder beengend, denn die einschließenden Gletscher waren genügend weit entfernt und hinderten den Ausblick nicht, aber voll Weihe und Frieden – weil die Menschen fehlten. Zum ersten Male verstand ich jetzt, wie ein Mensch sich in dieser Einsamkeit abschließen konnte, und fragte mich, ob der alte Prospektor damit nicht doch das bessere Teil erwählt habe.
Gleich darauf befanden wir uns in der Stadt, die, abgesehen von einigen verstreut abseits liegenden Hütten und Baracken, eine einzige Straße mit überraschend gut gebauten Häusern bildete. Sie waren natürlich jetzt im Verfall, denn niemand bemühte sich, diesen aufzuhalten. Sogar den einzigen Wächter, der sich noch während meiner Gefangenschaft dort befunden, hatte man zurückgezogen. Die Dinge, die in den Häusern geblieben, mochten sich diejenigen holen, die etwas damit anfangen konnten. Allzu viele waren das nicht, denn außer einigen in der näheren oder ferneren Umgebung lebenden Siwash-Indianern hatte sich in der Gegend, die nur wenig landwirtschaftliche Möglichkeiten bot, niemand angesiedelt.
Die ungepflasterte Straße war zolltief mit feinem, mehlartigem Staub bedeckt, auf den die Sonne herabglühte und den die Räder unseres Autos in ganzen Wolken emporwühlten. Die Häuser zu beiden Seiten zeigten schadhafte Dächer, an einzelnen waren die Fensterläden herabgefallen oder hingen nur noch an einer verrosteten Angel. Die Fenster fehlten meist ganz oder zeigten zerbrochene Scheiben. Und doch wirkte das Ganze nicht wie ein Bild der Verwüstung, sondern wie das einer in hundertjährigem Schlafe liegenden Märchenstadt, die nur auf den kühnen Helden wartet, der sie wieder aufweckt. Auch ein paar Katzen fehlten nicht, die behaglich schnurrend auf Fenstersimsen und Türschwellen saßen, gelegentlich aber aufsprangen, um eine vorwitzige Maus zu erhaschen. Aus diesem träumerischen Dasein wurden sie plötzlich aufgeschreckt durch das Gebell zweier Hunde, die um eine Hausecke stürmten und auf unser Auto losstürzten, während ein Pferd in einer Fenz hinter demselben Hause den Kopf hob und neugierig nach uns ausschaute.
„Zwei von meinen Schlittenhunden und das Pferd, das mich lange Zeit auf meinen Wanderungen als Prospektor begleitet hat“, erklärte Warren. „Ich gebe ihnen hier das, was man so das Gnadenbrot nennt, obwohl der Name vielleicht nicht richtig ist, denn sie haben es sich reichlich verdient. Haben gearbeitet, gehungert und unglaubliche Strapazen und Gefahren durchgemacht, sodass ich fast vergessen habe, dass es Tiere sind. Das kittet zusammen. Wir kennen uns, sind Freunde, sind es geworden in einem harten Leben. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber einer würde für den andern sein Leben hingeben. Und mehr als einmal wäre das auch bei einem Haar geschehen. – Wollt ihr wohl ruhig sein, ihr verdammten Biester, und euch betragen, wie es sich für Hunde in euerm Alter geziemt!“
Der Zuruf hatte nur geringe Wirkung. Die Hunde begriffen wohl, dass der Eindringling in diese Einsamkeit ein Freund war, aber seine Erscheinung hatte sie doch so aufgeregt, dass sie fortfuhren, das Auto in wilden Sprüngen zu umtanzen.
Gleich darauf hielten wir vor dem Hause, aus dessen Hofraum die Hunde hervorgeschossen waren.
„Well, hier sind wir angelangt“, sagte Warren, „und als Oberhaupt der Stadt heiße ich Sie willkommen und ernenne Sie gleichzeitig zum Ehrenbürger. Das heißt also, Sie brauchen keine Steuern zu bezahlen. Wie gefällt Ihnen das?“
„Ausgezeichnet. Das Steuerzahlen war immer mein größter Kummer.“
Nachdem Warren das Automobil in den Hofraum gelenkt hatte, traten wir in das Haus ein, das sich in einem durchaus bewohnbaren Zustande befand, wahrscheinlich dank der Ausbesserungsarbeiten, mit denen Warren seine Tage ausfüllte. Es war ein geräumiges Haus, das sogar ein oberes Stockwerk mit mehreren Schlafzimmern aufwies, die allerdings jetzt leer standen und in denen des Nachts, wie ich mich bald zu überzeugen Gelegenheit hatte, der Wind geheimnisvollen Zugang fand und darin rumorte wie eine Schar Unfug treibender Kobolde.
Die Einrichtung war mehr als einfach und nicht viel anders, als man sie in einer Trapperhütte zu finden erwarten konnte. Sie genügte Warren aber augenscheinlich, denn sie enthielt alles, was er an Bequemlichkeiten vom Leben forderte, und machte auch auf mich, dem das Leben in einer solchen Hütte nicht fremd war, einen ganz anheimelnden Eindruck. Es ist erstaunlich, wie wenig der Mensch zu seiner Behaglichkeit braucht, in einer Umgebung, wo er nicht genötigt ist, Freunden und Bekannten eine elegante Wohnungseinrichtung vorzuführen.
Ich blieb zwei volle Wochen bei Mr Warren, und sie gehören zu den angenehmsten und friedvollsten, die ich mich erinnern kann jemals verlebt zu haben. Schon am ersten Tage hatte ich ihn über das Ergebnis seiner Reise nach den Nebelbergen befragt, aber keine Auskunft darüber erhalten.
Er wolle mir alles lieber im Zusammenhang erzählen, sagte er, und nicht mit dem Ende beginnen!
Das tat er auch, und wenn wir abends auf dem freien Platze vor dem Hause saßen, der früher ein Vorgarten gewesen sein mochte, und ein Stück frisches Holz um das andere in das Feuer schoben, um durch den Rauch die Moskitos zu vertreiben, erzählte er von den seltsamen Dingen, die er auf dieser Reise erlebt hatte.
Ob es die Glut des Sonnenuntergangs war, die um die Häupter der Gletscher webte und sich in wunderbarer Farbenspiegelung auf den weißen Schneefeldern brach, oder das Heulen der Wölfe in den umliegenden Wäldern, in denen das Leben der Nacht erwachte, das Geschrei einer Eule, das von Zeit zu Zeit schrill die Luft zerriss und für eine kurze Zeit den Gesang einer Oriole zum Schweigen brachte – ich weiß es nicht, aber seine Erzählung bewegte mich fast noch mehr als jene erste vom Gold der Nebelberge, der ich in jener Winternacht in der Gefangenschaft gelauscht hatte.
Ich erzähle jetzt wieder, was ich von ihm hörte, aber ich fürchte, es wird mir nicht gelingen, in dem Leser, der sie in der Zivilisation, inmitten der politischen Streitigkeiten, der wirtschaftlichen Nöte und der Unruhe unseres modernen Lebens vernimmt, denselben Eindruck zu erwecken, den ich da oben auf der einsamen Höhe des kanadischen Felsengebirges empfing.
Sacramento. Cal. USA.
Der Verfasser
Lionel Gordon saß am Rande des Flusses, der, von einer unbekannten Quelle in den Catskill-Gebirgen im Norden von Britisch-Kolumbien kommend, hier die Landschaft durchströmte, und beobachtete den Kork seiner Angelschnur, der auf dem langsam fließenden Wasser auf und nieder tanzte.
Es war im Juni, und die Sonne stand hoch am Himmel. Ihr Widerschein lag auf dem Wasser, das in seinem sandigen Bett dahinströmte und manchmal die dunklen Körper von Fischen sehen ließ, wenn sie über eine bis auf den Grund erleuchtete Stelle dahinglitten. Um ihn lag die Einsamkeit der nordischen Wildnis, mit altem Waldbestand und großen Lichtungen. Abgesehen von einigen wenigen Prospektor- und Trapperhütten, die sich hier und dort in der Gegend finden mochten, gab es nur zwei Niederlassungen in der Nähe: einen Handelsposten der Hudson-Bai-Kompanie und weiter entfernt in den Bergen ein Dorf von Sioux-Indianern.
Die Ufer des Flusses waren mit tausenderlei kurzen, zähen Kräutern bewachsen, aus denen Blumen in allen Farbschattierungen herausleuchteten. Zwischen ihnen und an den Rändern des Flusses zeigten sich Regenpfeifer, trillernde Wasserläufer und ein paar Möwen. In der Luft zogen Habichte und Geier ihre Kreise, und zwischen den Baumkronen flatterten Eisvögel, deren Schatten ihnen im Wasser folgte. Eine Wachtel führte ihre Jungen aus dem Gestrüpp des Ufers zum Trinken, und im Schilfe schnatterten wilde Enten. An einer Stelle wusch ein Waschbär einen unvorsichtigen Frosch, den er erhascht hatte, und nicht weit davon tauchte eine Moschusratte aus dem Wasser empor und strebte dem Lande zu mit einer Muschel, die sie sich vom Grunde geholt hatte.
Und als Gordon – er war noch jung und mochte die Dreißig kaum erreicht haben – einmal den Kopf wandte und flussabwärts sah, erblickte er auf dem Uferrand ein rotbraunes Bündel Pelz, ungefähr so groß wie eine sehr lange Katze mit kurzen Füßen. Es lag ganz still, wie tot. Irgendein Zugehöriger zur Wieselfamilie, der sich an Fischen satt gefressen hatte und jetzt lang ausgestreckt dalag, um in der Sonne zu schlafen.
Zu schlafen? Nein, so töricht konnte er nicht sein, sich an einer Stelle zum Schlafen hinzulegen, wo er den Blicken aller seiner Feinde ausgesetzt war. Der Angler schöpfte daher Verdacht; er zog seinen Feldstecher hervor und stellte ihn ein. Der Schläfer war ein Nerz, wie er bereits vermutet hatte. Aber sein Schlaf war Verstellung, das bewiesen seine glänzenden roten Augen. Warum lag er aber dann hier, mit seinen kleinen Läufen ausgestreckt, als ob er tot wäre?
Gordon sah umher, ob etwa eine Moschusratte unvorsichtig in seinen Bereich gelangt war.
Nein.
Aber da oben in der Luft schwebte ein Habicht, zog Kreise, sank herab und stieg wieder höher. Schweigend, wie drohendes Unheil, und ohne dass ein Flügelschlag zu hören gewesen wäre. Es war aber klar erkennbar, dass seine Aufmerksamkeit einer bestimmten Stelle am Flusse galt, der Stelle, wo der Nerz lag. Sein reiches orangefarbenes Gefieder verriet, dass er noch ein junges Tier war. Ein alter Habicht hätte seine Absichten nicht so deutlich erkennen lassen, er wäre vorsichtiger gewesen und hätte sich auf zu große Wagnisse nicht eingelassen. Ein junger Habicht hat noch nicht gelernt, dass Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit ist. Deshalb sehen wir auch viel mehr junge, rötliche Habichte in unsern Museen als alte graue Tiere, die viel zu schlau sind, dem Sammler ins Garn zu gehen.
Immer niedriger zog der Habicht seine Kreise, bis er plötzlich mit einer Geschwindigkeit aus der Luft stieß, der das Auge nicht folgen konnte. Seine Fänge hätten sich im nächsten Augenblick in den Körper des Nerzes geschlagen, wenn dieser nicht plötzlich mit einem Sprunge auf seinen vier Läufen gestanden hätte, seine spitzen Zähne in den Hals des Habichts gegraben. Vor Schreck versuchte der Habicht aufzusteigen und stieß verzweifelt gegen den Nerz. Die Last war aber zu groß, er sank mit ihr sofort wieder nieder, und Raubtier und Raubvogel stürzten zu Boden. Sie rollten auf dem sandigen Boden übereinander, und der Habicht schlug mit seinen Schwingen auf den Nerz los, um ihn abzuschütteln. Einmal war der Nerz oben, das andere Mal der Habicht, der vergeblich versuchte, seinen Hals aus dem tödlichen Griff zu befreien. Im nächsten Augenblick ging aber ein Zucken durch seinen Körper, dann lag er tot auf dem Rücken.
Anstatt sich aber nun mit ein paar Schlucken des roten, warmen Blutes zu begnügen und seine Beute dann liegen zu lassen, wie es sonst die Gewohnheit der zur Wieselfamilie gehörenden Tiere ist, schleppte der Nerz sie in das Gebüsch. Das bedeutete, dass er Junge hatte, die Unterricht im Vogelfangen erhalten mussten mit dem toten Habicht als Lehrmittel.
Inzwischen hatte sich ein Barsch an der Angel gefangen. Gordon legte ihn in seinen Korb, in dem sich schon vier oder fünf Fische befanden, befestigte einen neuen Köder an der Schnur und warf die Angel wieder aus.
Als er nach einiger Zeit einen Blick flussaufwärts richtete, wo sich ein kleiner Wasserfall befand, sah er einen dunklen, runden Kopf sich aus dem Wasser heben. Er hielt sich regungslos, denn er sah, wie das Tier nach ihm schaute. Einen Augenblick, dann tauchte es wieder unter.
Hatte er es verscheucht?
Nein, denn gleich darauf kam der Kopf wieder zum Vorschein, gefolgt von drei kleineren runden Köpfen. Ein Fischotterweibchen, das seine Jungen das Schwimmen, Tauchen und Auffinden der unter Wasser befindlichen Zugänge zu seiner Höhle lehrte. Langsam und kaum merkbar wandte Gordon den Kopf, um sie zu beobachten. Er sah, wie sie untertauchten, gleich darauf eine Strecke stromauf, dicht an dem Wasserfall wieder zum Vorschein kamen und dort eine Weile in dem klaren, kalten, spritzenden Wasser spielten. Dann schwamm die Mutter, gefolgt von ihren Jungen, nach dem Ufer, wo diese im Übermut ihres jungen Lebens sofort auseinander liefen. Sie achteten kaum auf den zischenden Warnlaut, mit dem die Mutter sie zur Vorsicht mahnte, denn das Land birgt Gefahren für Ottern. Die kleinen Füße strampelten über den Sand, und mehr als einmal rannten sie zusammen und purzelten eins über das andere.
Plötzlich blieb die Mutter stehen und untersuchte mit ihrer stumpfen Nase etwas am Boden. Ein schriller, pfeifender Ton rief die Jungen hinzu, die nun ebenfalls wissbegierig die Stelle beschnupperten. Das wiederholte sich noch zwei- oder dreimal an anderen Stellen nahebei. Es musste etwas Beunruhigendes sein, das sie da aufgefunden hatten, denn mit einem neuen zischenden Warnlaut lief die Mutter ihren Jungen voran, in das Wasser zurück, wo sie gleich darauf unter der Oberfläche verschwanden.
Gordon holte seine Angel ein. Er hatte genug gefangen für seine augenblicklichen Bedürfnisse und war sehr gespannt, zu sehen, was eigentlich die Otter in Unruhe versetzt hatte. Den Angelstock zusammenlegend und den Korb mit den Fischen an den Gurt über die Schulter hängend, verließ er den Platz und schritt auf die Stelle zu.
Zu seiner Verwunderung sah er hier drei frische Mokassinabdrücke in dem feuchten Sande. Sie konnten erst vor ganz kurzer Zeit entstanden sein, denn die Oberfläche des Sandes war hart und trocken, die Eindrücke aber feucht. Das war seltsam. Es musste hier jemand gegangen sein, ohne dass er ihn bemerkt hatte. Vielleicht gerade zu der Zeit, als er den Kampf des Nerzes mit dem Habicht beobachtet hatte. Warum hatte der Mann aber nicht selbst seine Anwesenheit zu erkennen gegeben? In dieser Einsamkeit wäre das doch ganz natürlich, eigentlich selbstverständlich gewesen. Oder hatte er ihn ebenfalls nicht bemerkt? Das war nicht gut anzunehmen. Es wollte Gordon mehr scheinen, als ob der Mann, wer immer er auch sein mochte, ihn wohl gesehen und gerade aus diesem Grunde sich so schnell wie möglich wieder unsichtbar gemacht hatte.
Warum aber?
Er war doch erst ein paar Tage in dieser Gegend, war mit seinem Partner, Edward Warren, auf der Reise nach einer Gruppe von Bergen, die nur einigen wenigen bekannt war und die man als die Nebelberge bezeichnete, weil ihre Gipfel meist in Nebel gehüllt waren, hierher gekommen, und sie hatten für einige Zeit in der Nähe ihr Camp aufgeschlagen. In diesen Nebelbergen sollte sich nämlich eine Schlucht mit einem Goldlager befinden, von dem Warren durch einen sterbenden Prospektor, den er in einer Hütte am Stikine-River aufgefunden, Kenntnis erlangt hatte. In dem Indianerdorf lebten Personen, die das Geheimnis dieser Schlucht genau kannten, das Gold aber für verflucht hielten und sich deshalb nicht einmal in seine Nähe wagten. Immerhin hatte es Warren für ratsam gehalten, diese Personen auszuforschen, um zu sehen, wie weit sich die Angaben des sterbenden Prospektors bestätigten. Aus diesem Grunde hatten die beiden beschlossen, sich zunächst einige Zeit hier aufzuhalten, denn es war sicher, dass ihnen die Auskünfte, die sie in dem Indianerdorf zu erhalten hofften, nicht auf dem unmittelbaren Wege von Frage und Antwort gegeben werden würden.
Gordon war in dem Orte, in dem Warren zuletzt eine Zeit lang gelebt hatte, Bankangestellter gewesen und hatte viele Unterredungen mit dem alten Prospektor gehabt. Schließlich war es diesem auch gelungen, ihn von der Wahrheit seiner abenteuerlichen Mitteilungen zu überzeugen, und er hatte aus einem kleinen Vermögen zweitausend Dollar für die Reise und die nötige Verproviantierung aufgebracht. Zuerst waren sie mit dem Schiff nach dem Stikine-River gereist und hatten dann von dort aus ihre Wanderung mit Packpferden fortgesetzt.
Das waren aber keine Gründe, weshalb jemand es für nötig halten sollte, sich vor ihm zu verbergen. Und doch, je länger er darüber nachdachte, um so mehr wollte es ihm scheinen, dass gerade sein plötzlicher Anblick für den Mann die Veranlassung gewesen war, sich schleunigst zurückzuziehen.
Er sah sich nach weiteren Spuren um. Es waren keine vorhanden, nur die drei, die er zuerst erblickt hatte. Der übrige Boden war steinig oder mit kurzem Gras bewachsen, das sich nach einem flüchtigen Tritt sofort wieder aufrichtete. Ein indianischer Spurenleser hätte vielleicht noch weitere entdeckt, ihm war das unmöglich. Dagegen zeigten die sichtbaren drei Abdrücke noch etwas, das ihm weitere Schlüsse ermöglichte.
Einer dieser Abdrücke war nach dem Flusse gerichtet, die beiden andern aber führten von ihm hinweg. Sie waren also im Kommen und Gehen entstanden. Da sie aber alle den gleichen Feuchtigkeitsgrad aufwiesen, so unterlag es keinem Zweifel, dass zwischen Kommen und Gehen nur eine ganz kurze Spanne Zeit gelegen hatte. Das erklärte den Umstand, dass er niemand bemerkt hatte, was unbedingt der Fall gewesen wäre, wenn der Mann längere Zeit hier verweilt hätte. Und es schien seine ursprüngliche Annahme zu bestätigen, dass er in dem Glauben, völlig unbeobachtet zu sein, hierher gekommen war und sich sofort wieder nach den Büschen auf der Uferhöhe gewandt hatte, als er hier zu seiner Überraschung einen Menschen gesehen.
Es musste also jemand sein, der Ursache hatte, sich vor anderen nicht sehen zu lassen. Das wäre überall und zu jeder Zeit verdächtig gewesen, wurde in dieser Einöde, wo sich doch jeder freute, einem andern Menschen zu begegnen, geradezu zum Rätsel.
Es blieb auch ein solches. Wenigstens fand Gordon keine Lösung dafür als die eine, dass der Mann Grund hatte, seine Anwesenheit hier geheim zu halten. Und das ließ allerlei Schlüsse zu. Er beschäftigte sich indessen nicht damit, solche zu ziehen. Sie konnten ohnehin kaum etwas mit seiner Person zu tun haben, sondern nur der zufälligen Anwesenheit eines Menschen gelten.
Mit einigen hastigen Schritten erstieg er die Anhöhe, an die sich oben ein breiter Waldstreifen anschloss, hinter dem, wie ihm der Durchblick verriet, wieder freies ebenes Land lag. Als er den Wald durchquert hatte und auf der anderen Seite auf eine Lichtung hinaustrat, um zunächst Umschau zu halten und sich über die Richtung, die er einschlagen musste, klar zu werden, hielt er seine Schritte überrascht an, denn er sah etwas, auf das er hier nicht im Geringsten vorbereitet war. Nicht weit von ihm stand ein junges Mädchen und schaute aufmerksam in die Ferne. Es hatte ein etwas längliches Gesicht mit regelmäßigen Zügen, ganz verschieden von denen der Frauen im Norden, deren Leben und Denken sich innerhalb des beschränkten Kreises der täglichen Bedürfnisse einer Hinterwaldfamilie bewegten. Auf diesem Gesicht lag der Ausdruck eines regeren Geisteslebens, der es selbst in seiner Regelmäßigkeit oder vielleicht gerade wegen dieser außerordentlich fesselnd erscheinen ließ. Die Haut war frisch und rein und von der Luft gebräunt. Sie stimmte in ihrer Farbtönung in einer seltenen Weise mit dem glänzenden, kastanienbraunen Haar überein, das in langen Flechten zu beiden Seiten des Gesichts zurückgestrichen und hinten zu einem Knoten geschürzt war. Ein Cowboyhut mit flacher, breiter Krempe, der etwas schräg auf ihrem Kopfe saß, hielt ihr Gesicht in einem leichten Schatten, der aber nur bis zu den frischen, roten Lippen reichte, die halb geteilt waren und eine Reihe schöner Zähne erkennen ließen.
Das bis an die Knie reichende Waschkleid von rosa Kaliko, das sie trug, ließ die Linien ihres schlanken, aber doch vollen und geschmeidigen Körpers gut hervortreten. Die Füße waren mit Mokassins bekleidet, an die sich, zum Schutze gegen die Insekten im Grase, lange, weiche Ledergamaschen von indianischer Arbeit schlossen.
Gordon blieb reichlich Zeit, jede Einzelheit ihrer Erscheinung wahrzunehmen, denn sie hatte ihn nicht bemerkt.
Einen Augenblick lang kamen ihm die Fußspuren am Flusse in Erinnerung.
Hatte er die Lösung des Rätsels hier gefunden?
Kein anderer Mensch außer ihm und diesem Mädchen schien sich in der Gegend zu befinden, und sie trug Mokassins. Das war aber allgemeiner Brauch hier, und es wollte ihm scheinen, dass die Fußspuren im Ufersande auf einen viel plumperen Fuß deuteten, als das Mädchen dort vermutlich besaß.
Es war sicher nicht die Tochter eines Ansiedlers, ganz abgesehen davon, dass seines Wissens solche in der Gegend gar nicht lebten. Sie stammte augenscheinlich aus Verhältnissen, denen Kultur nicht fremd war, wenn auch die Wildnis eine vertraute Umgebung für sie schien.
Er hätte sich nicht darüber Rechenschaft geben können, warum er zunächst wieder in den Schatten des Waldes zurücktrat. Vielleicht war es, weil er eine Ahnung hatte, wer das Mädchen sein mochte, und er sich erst über sein Verhalten ihr gegenüber klar werden wollte. Es waren nur ein paar Schritte gewesen, die er in den Wald zurückgetan, denn es lag keineswegs in seiner Absicht, sich zu verbergen und das Mädchen von einer Deckung aus zu beobachten. Er stand so, dass ein zufälliger Blick der Fremden nach dieser Richtung ihn ihr sofort gezeigt hätte. Aber dieser Blick erfolgte nicht. Sie war viel zu sehr mit den Dingen beschäftigt, die auszuführen sie einen Ritt hierher unternommen hatte, denn in einiger Entfernung war, wie Gordon bemerkte, ein Pferd von unzweifelhafter Rasse angepflockt, das sich zwischen den zähen Nordlandkräutern die süßen Gräser heraussuchte.
Und es war auch nicht schwer zu erkennen, welcherart diese Beschäftigung war. Zwei Kästchen von eigenartiger Form, die neben ihr im Grase lagen, ließen keinen Zweifel darüber. Die obere Seite eines jeden war mit einer Glasscheibe versehen, der Boden fehlte indessen bis auf eine Leiste an der schmalen Wand. In einer geöffneten Jagdtasche, die daneben lag, befand sich neben einer Thermosflasche und einer Aluminiumdose, die wahrscheinlich einen Imbiss barg, eine Büchse, von der der Deckel abgeschraubt war und die ein weißes Pulver enthielt, das nichts anderes als Mehl sein konnte; eine Flasche mit einer hellbraunen Flüssigkeit und ein Kompass in einem Holzgehäuse, dessen Deckel geöffnet war.
Die Kästchen wiesen mit Bestimmtheit darauf hin, dass das Mädchen sich auf der Bienenjagd befand.
Damit stimmte auch die Jahreszeit überein. Es kommt zwar vor, dass Bienenjäger schon im Frühjahr Bienennester suchen und ihres Honigs berauben, aber doch nur im Falle der Not, wenn sie dringend Zucker brauchen und andere Quellen für solchen, wie die verschiedenen Arten der Ahornbäume und schwarze Birken mit ihren stark zuckerhaltigen Säften, nicht vorhanden sind. Denn der wenige Honig, den sie in dieser Zeit noch in den Nestern finden, ist alt und dunkel und hat nicht das Aroma des frischen Honigs. Das Frühjahr dient daher immer nur zur Vorbereitung der Sommerjagd.
Die Auffindung der Nester in dieser Zeit ist nämlich leichter, denn die Blüten und Blumen enthalten dann noch keinen Nektar, und die Bienen werden daher eher von dem Köder angelockt. Auch haben die Bäume dann noch wenig Blätter und versperren die Aussicht nicht, wenn man den Flug einer Biene verfolgen will, wie das für die Auffindung eines Nestes nötig ist.
Natürlich gehört dazu auch eine Kenntnis der Örtlichkeit, wo man Bienen findet. Man muss also beobachten, wo sie umherfliegen, um die zeitigen Blumen und Blüten aufzusuchen. Sobald der Saft in den Zuckerahornbäumen wieder zu fließen beginnt, was in dieser Gegend Ende März oder in den ersten Tagen des Aprils der Fall sein mochte, muss man die Plätze aufsuchen, wo Zuckerahorn und Birken wachsen. An allen Stellen, wo der Saft durch Risse oder Löcher in der Rinde auftritt, findet man Bienen, die ihn aufsaugen. Und wenn solche Stellen nicht vorhanden sind, ritzt man den Baum selbst an. Auch nach Stinkkohl kann man Ausschau halten, denn es sind keineswegs immer nur die gut riechenden Blumen, die die Bienen anziehen. Später kommen die Weidenkätzchen, dann blühen die Buchen und die Ahornbäume, danach die Akelei und die Brennenden Herzen, die alle von den Bienen aufgesucht werden. Von den Brennenden Herzen sammeln sie allerdings nur den Blütenstaub, da ihre Zungen zu kurz sind, um den Nektar zu erreichen, der aber von den Hummeln aufgesogen wird.
Wenn die Jahreszeit vorrückt, wird das natürlich anders. Da gibt es Clematis und Löwenzahn, Zuckerschotenbaum und Tulpenbaum. Der Zuckerschotenbaum enthält freilich nur in Zwischenräumen von mehreren Jahren Nektar, aber aus den großen Blüten des Tulpenbaumes kann man ihn manchmal mit dem Löffel schöpfen.
Während der Sommerzeit gibt es dann ein richtiges Übermaß von Süßigkeiten für die Honigmacher: Bruchwutz und Borretsch, Ochsenzunge und weißen Klee, den Petersstrauch, die Goldrute, das Mutterkraut, die Wolfsmilch, Sonnenblumen, Lindenblüten und hundert andere.
Im Herbst wieder gibt es Katzenkraut, eine eigentümliche Pflanze, deren Geruch Katzen in einen richtigen Rausch versetzt; Astern und verschiedene andere spätblühende Pflanzen. In einigen Arten der Goldrute finden sie Nektar, bis der erste Schnee fällt.
Das alles war Gordon bekannt, und es hatte deshalb auch nur eines Blickes bedurft, um ihn die Beschäftigung des Mädchens erraten zu lassen.
Jetzt ging sie nach dem Platze, wo die beiden Kästchen und ihre Jagdtasche lagen, und entnahm der letzteren ein Porzellannäpfchen, das sie aus der Flasche mit der hellbraunen Flüssigkeit füllte. Der Farbe nach zu urteilen war das entweder verdünnter Honig oder Sirup, dem sie vermutlich, um sein Aroma zu verstärken, einen Tropfen Anisöl oder auch irgendein anderes ätherisches Öl zugesetzt hatte. Im Notfall dient schließlich auch Zuckerwasser als Köder: Die Bienen nehmen ihn auf eine Meile Entfernung und darüber wahr.
Dabei hob sie, wie unter einer magnetischen Anziehung, den Kopf und wurde des Fremden ansichtig. Der Anblick überraschte sie so sehr, dass ihre Hände mit dem Näpfchen und der Flasche in der Luft schweben blieben. Als er den Blick bemerkte und jetzt aus dem Walde heraustrat, ruhten ihre Augen einen Moment lang auf ihm.
Sie war sehr erstaunt, denn es war keiner der vereinzelten Trapper, die in einem Umkreise von hundert Meilen lebten und im Frühjahr und Herbst nach dem Store der Hudson-Bai-Kompanie kamen, um ihre im Winter erbeuteten Felle zu verkaufen oder nach einem in halbem Müßiggang verbrachten Sommer sich mit Vorräten für den Winter zu versehen. Obwohl der Mann die übliche Kleidung der Hinterwäldler trug, nämlich feste Hosen mit Hüftgürtel, die in hohen, gelbbraunen Schnürstiefeln steckten, gelbes Hemd, dessen Kragen am Halse offen stand, und grauen Filzhut, der dem des Mädchens ähnlich war, zeigte er in seiner ganzen Haltung, dass er aus der Zivilisation kam. Er war von langem, schlankem Wuchs und hatte ein angenehmes Gesicht, das, vermutlich infolge seines jetzigen Aufenthalts in der Wildnis, die Ansätze eines braunen Vollbartes trug. Sein Körper zeigte die gefälligen Bewegungen eines Mannes, der gewohnt ist, ihn in Zucht zu halten, was man bei denen, die dauernd in der Wildnis leben, oft vermisst. Er war entweder ein Sportsmann, die aber nur selten so weit nach Norden heraufkamen, oder ein Regierungsbeamter, der hier eine Aufgabe zu erledigen hatte.
Die offenbare Überraschung des jungen Mädchens lieferte Gordon den Beweis, dass die Fußspuren nicht von ihr herrührten, denn dann wäre sie auf die Anwesenheit eines Fremden vorbereitet gewesen.
Er schritt auf sie zu und lüftete den Hut, wie er es in dem Orte seiner letzten Banktätigkeit einer Dame gegenüber getan hätte.
„Ich darf mir wohl gestatten, Sie zu begrüßen“, sagte er etwas unsicher. „Es ist so ungewöhnlich, eine junge Lady hier in der Einsamkeit anzutreffen.“
„Das ist in diesem Falle nicht so verwunderlich“, erwiderte sie mit einem leichten Lächeln. „Mein Vater ist der Faktor der Hudson-Bai-Kompanie. Unser Store ist nicht mehr als eine Meile oder zwei von hier entfernt.“
Sie besann sich jetzt auf ihre Flasche mit dem Köder und das gefüllte Näpfchen, verschloss sie wieder und stellte sie in die Tasche zurück, während sie das Näpfchen in einen der Kästen auf die Leiste setzte und sich dann nach einer Biene umschaute.
Er erwiderte: „Das habe ich mir gedacht. Sie sind also Miss Clifford?“
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, fragte sie etwas verwundert, obwohl es gar nicht so verwunderlich war, denn der Name eines Faktors der Hudson-Bai-Kompanie ist stets auf Hunderte von Meilen in der Runde bekannt.
„Oh, ich habe ihn gehört“, entgegnete er ausweichend. „Well, ich heiße Lionel Gordon.“
„Sind Sie ein Regierungsmann? Ich meine Vermesser oder Geologe.“
„Ich bin Prospektor, und meine geologischen Kenntnisse sind einstweilen noch sehr mangelhaft. Ich muss mich in dieser Beziehung ganz auf meinen Partner verlassen. Wir haben unser Camp da unten, hinter der kleinen Anhöhe am Bache.“
Diese Auskunft veranlasste das junge Mädchen, einen neuen forschenden Blick auf den Mann vor ihr zu werfen.
„Prospektoren kommen selten in diese Gegend“, sagte sie. „Ich meine damit nicht, dass sich nicht eine Menge wertvoller Metalle hier finden. Im Gegenteil, wir haben hier große Lager von Eisen, Kupfer, Blei, Silber, Arsenik und anderem. Sie finden sie verzeichnet in den geologischen Karten, die das Bergbauamt herausgibt. Nur kann man sie noch nicht abbauen, denn die Transportkosten würden höher sein als der Marktpreis. Wollen Sie nun noch neue dazu auffinden? Es wäre möglich, aber was nützt es Ihnen?“
„Wir sind nur auf der Durchreise hier. Unsere Absicht ist, weiter nach dem Norden zu gehen.“
„Damit wird die Sache aber doch noch viel aussichtsloser.“
„Nein, denn wir suchen nicht nach Golderz, sondern nach Placergold, das wir selbst auswaschen können. Und das wird im besten Falle nicht so viel sein, dass wir es mit unsern Packpferden nicht auch selbst wegschaffen könnten.“
Die Antwort schien einen plötzlichen Verdacht in ihr zu erwecken, denn sie warf einen neuen prüfenden Blick auf den jungen Mann. Dieser musste sie aber doch wohl von der Unwahrscheinlichkeit ihres Verdachts überzeugt haben, denn wie in Antwort darauf, und ohne dass sie sich dessen bewusst zu sein schien, schüttelte sie den Kopf. Gordon sah die Bewegung, sie sagte ihm aber nichts.
Das Mädchen wandte sich jetzt ihrer Arbeit wieder zu, blickte aufmerksam umher, bis sie eine Biene bemerkte, die über einer Wolfsmilchblüte schwebte. Sie schritt darauf zu und deckte den Kasten mit dem offenen Boden über das Insekt, indem sie ihn gleichzeitig unten mit der flachen Hand verschloss.
Die Biene flog gegen den Glasdeckel, schwirrte dort eine Weile beunruhigt umher, ließ sich dann aber auf dem Rande des Näpfchens mit dem Köder nieder und begann ihn aufzusaugen.
Einige Schritte von ihnen entfernt lag ein Steinblock. Auf diesen setzte Miss Clifford den Kasten und holte dann etwas Mehl aus der Büchse in der Jagdtasche, worauf sie schnell wieder zu dem Kasten ihrer Gefangenen zurückkehrte.
Sie zog die in Falzen bewegliche Glasscheibe heraus und streute von der Prise Mehl zwischen ihren Fingern etwas auf die Biene. Darauf trat sie zur Seite, ließ sich in halb liegender Stellung in das Gras nieder und stellte ihren Feldstecher ein. Diese Stellung ermöglichte es ihr, den Flug der Biene gegen den hellen Hintergrund des Himmels besser zu verfolgen, während sonst vielleicht Bäume oder andere dunkle Gegenstände ihn zeitweise unsichtbar gemacht hätten.
Auch Gordon stellte seinen Feldstecher ein und sah, wie die Biene, nachdem sie sich vollgesogen, aus dem Kasten aufstieg, eine Weile hin und her flog, um sich ihre Richtung zu suchen, und sich dann in immer weiter gezogenen Kreisen höher in die Luft hob. Mit einer Plötzlichkeit, die sie für einen Augenblick unsichtbar machte, strich sie dann in einer geraden Linie ab.
Miss Clifford warf rasch einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nach der Zeit, die bis zur Rückkehr der Biene verstreichen würde, konnte sie die Entfernung des Nestes abschätzen, denn die Bienen fliegen in der Regel in fünf Minuten eine Meile und brauchen ungefähr zwei Minuten, um ihre aufgesammelten Vorräte von Nektar und Blütenstaub im Neste abzulegen. Dann blickte sie der Biene durch ihren Feldstecher nach, bis sie sie nicht mehr sehen konnte. Die Stelle, wo sie sie aus dem Gesicht verloren hatte, prägte sie sich ein und holte dann ihren Kompass herbei, um sie genau festzustellen.
Die Biene war in westlicher Richtung auf einen Wald zugeflogen. Bienen fliegen aber nicht durch einen Wald, sondern stets über ihn hinweg. Nur in der Nähe ihres Nestes trifft man sie im Walde. Hier war das Gelände günstig und daher anzunehmen, dass sie in annähernd gerader Richtung weiterfliegen würde. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Wo das Land so rau und zerrissen ist, dass es Luftzug verursacht, weicht sie dem aus und sucht die windfreie Seite eines Waldes oder Berges auf. Auch wenn sie an einen Teich oder See kommt, biegt sie ab, denn aus irgendeinem Grunde fliegen Bienen nicht gern über eine größere Wasserfläche.
„Das Näpfchen da, in dem Sie den
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 02.04.2013
ISBN: 978-3-7309-1875-3
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