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Emil Droonberg

Die Ansiedler in Canada

Coverbild: © Christoph Kadur / Shutterstock.com

 

Der neuen Heimat entgegen

Heimat! Das Wort gehört der Vergangenheit an. In einem Zeitalter, wo die Verkehrsgesellschaften zu Wasser und zu Lande – die Luft nicht zu vergessen! – dafür gesorgt haben, dass jeder, der es sich leisten kann, in einem halben Dutzend Länder sich genauso zu Hause fühlt wie in dem Orte, wo er geboren ist, hat das Wort seine Bedeutung verloren. Es gibt keine Fremde mehr und daher auch keine Heimat.

Man wandert auch heute nicht mehr aus. Man reist nach Amerika, nach Canada und nach Brasilien in der Hoffnung, dort bessere Existenzbedingungen zu finden, aber man tut es nicht mehr mit dem Gefühl, eine Heimat aufzugeben und sich dort eine andere zu suchen. Es ist nicht viel anders, als wenn man nach einem fremden Orte in Deutschland zöge, nur dass die Entfernung etwas größer ist.

Das ist schade. Es war etwas so Schönes um die Heimat. Das wussten am besten alle diejenigen, die hinausgegangen waren in die Welt und die die Erinnerung an die Heimat nie mehr verließ, auch wenn ihnen die Ferne alles gab, was sie erhofft hatten. Die neue Zeit gleicht alles einander an. Sie hat den Chinesen die Zöpfe abgeschnitten und den türkischen Frauen den Schleier genommen; der Rundfunk versorgt uns täglich und stündlich mit Nachrichten aus der ganzen Welt, und der Film führt uns die entlegensten Gegenden im belebten Bilde vor. Wir haben aufgehört, Heimatbürger zu sein und sind Weltbürger.

Schade …

 

Der Dampfer ‚Köln‘, Kapitän W. Kord-Lütgert, vom Norddeutschen Lloyd durchpflügte die Wellen der Nordsee auf seinem Kurse an der Ostküste von England entlang dem Norden Schottlands zu. Er hatte zwei Tage zuvor Bremerhaven mit vierundzwanzig Passagieren zweiter und dreihundert dritter Klasse – die erste Klasse war nicht vorhanden – verlassen und befand sich jetzt auf der Reise nach Quebeck und Montreal.

Während den langen Winter hindurch Canada nur durch die Häfen von Halifax und Saint Johns zu erreichen ist, war dies die erste Reise des Schiffes durch den Saint Lawrence-Golf nach den genannten Inlandhäfen.

Es war im Mai, und die Sonne kämpfte sich mühsam durch die grauen Frühnebel. Eine lebhafte Brise strich kalt und fröstelnd über das Wasser, und wer sich an Deck befand, hatte sich in einen warmen Mantel gehüllt.

Die Passagiere standen in Gruppen an der Reling und schauten nach dem nahen Lande aus, das zu beiden Seiten des Schiffes sichtbar war.

„Das ist Scapa Flow“, sagte ein etwa vierzigjähriger Mann in unverkennbar rheinländischer Mundart zu einigen anderen, indem er nach Norden deutete. „Hier liegen unsere deutschen Schiffe auf dem Meeresboden, die Vizeadmiral von Reuter versenkt hat.“

Der Mann – Karl Presser war sein Name – interessierte sich für alles und liebte es, wie sich am Tage vorher bereits erwiesen hatte, seinen Reisegefährten gegenüber den Informator zu spielen. So hatte er auch an diesem Morgen schon in aller Frühe alle erlangbaren Auskünfte von den Offizieren eingeholt und war glücklich, das, was er erfahren hatte, nunmehr wieder an den Mann zu bringen.

Alle blickten hinüber nach den Orkneyinseln, vor denen die deutsche Flotte damals gelegen hatte, und eine Weile herrschte Schweigen. Jeder malte sich das Bild der deutschen Schiffe aus, die hier mit wehender Flagge in ihr nasses Grab gesunken waren.

Nachdem die Schiffsangelegenheiten besprochen und auch dem Frühstück einige anerkennende Worte gewidmet worden waren, wandte sich die Unterhaltung mehr den persönlichen Angelegenheiten zu.

„Wollen Sie auch Ihr Glück machen in Canada?“, fragte ein junger, schlanker Mann den Rheinhessen.

Er war ein Sachse aus Leipzig; sein Name war Gerhard Mühlberg. Unter den Passagieren nahm er als einer, der schon vor und während des Krieges in Canada gewesen war und bei dem man eine gründliche Kenntnis aller kanadischen Verhältnisse voraussetzte, eine besondere Stellung ein. Er war Kanadier geworden und sechs Monate vorher mit einem kanadischen Pass und einer Aufenthaltsbewilligung für sechs Monate versuchsweise nach Deutschland gekommen und hatte dabei im Stillen die Hoffnung gehegt, dort irgendein Handwerk zu erlernen, was in Canada, wo jeder ein halbes Dutzend Handwerke versteht, ohne auch nur eins davon gründlich zu kennen, auf Schwierigkeiten stößt.

Diese Hoffnung hatte sich aber nicht erfüllt. Er hatte wohl eingesehen, dass er dazu Jahre benötigen würde, die er in seinem Alter nicht mehr gut darauf verwenden konnte. Auch fand er Deutschland nicht mehr so wieder, wie er es verlassen hatte.

Deshalb hatte er seine Wiedereinbürgerung in Deutschland nicht erst betrieben, und da man ihm zu verstehen gab, dass seine Aufenthaltsbewilligung auf keinen Fall verlängert werden würde, und auch seine Mittel zu Ende gingen, hatte er sich kurzerhand entschlossen, nach Canada zurückzukehren.

„Hören Sie mal, Herr Mühlberg“, antwortete Presser jetzt, „ich bin vierzig Jahre alt, und da glaubt man nicht mehr an das Glück. Ich gehe ohne Illusionen nach Canada, bin aber sicher, dass ich das, was ich in Deutschland verlassen habe, auf jeden Fall dort wiederfinden werde. Ich war im Kriege, vom Anfang bis zum Ende. Dann ging ich in das Automobilgeschäft. Das verstehe ich nun gründlich, besonders vom technischen Standpunkt aus. Aber trotz aller Mühe und Unverdrossenheit und trotz aller Sparsamkeit gab es doch kein Vorwärtskommen. Jetzt will ich es in Canada versuchen. Ich habe noch vierhundert Dollar, denn ich bin nicht so dumm, ohne Geld in ein fremdes Land zu gehen. Das gab es früher einmal, aber heute sind die Zeiten anders. Was denken Sie über meine Aussichten?“

„Sprechen Sie englisch?“

„Ich fange an, es zu lernen“, entgegnete Presser ein wenig kleinlaut.

„Die richtige Zeit dazu“, lachte Mühlberg. „Ich habe noch keinen Einzigen getroffen, der sich die Mühe genommen hätte, Englisch vorher zu lernen. Aber beruhigen Sie sich, ich konnte es auch nicht, als ich das erste Mal nach Canada kam. Freilich, ich ging zuerst ‚unter die Deutschen‘. Im Westen, auf der Farm. Da kommt dann eins nach dem anderen. Sie können das nicht tun. Sie müssen versuchen, in Ihren Geschäften Arbeit zu finden. Und da bleiben Sie natürlich am besten im Osten, in Montreal, Toronto oder Hamilton. Für einen Mann, der sein Fach versteht, gibt es da immer Arbeit, und Sie finden auch in jedem Betriebe einen oder mehrere Deutsche, die Ihnen weiterhelfen. Sie haben viel bessere Aussichten als diese beide Herren aus Pforzheim hier.“

Die Gruppe um die beiden herum war inzwischen größer geworden. Man hatte sich um Presser und Mühlberg gesammelt, um sich nichts von dem Gespräche entgehen zu lassen, aus dem man vielleicht noch einiges über canadische Verhältnisse erfahren konnte.

Die ‚beiden Herren aus Pforzheim‘, denen Mühlberg vertraulich zunickte, waren zwei gut beleibte junge Männer, die die Zwanzig kaum überschritten haben konnten. Sie entstammten anscheinend besseren Verhältnissen, denn der eine brachte eine goldene Uhr zum Vorschein, um die Zeit zu vergleichen, als die Schiffsglocke drei Glasen schlug.

„Es sind nämlich Kaufleute“, fügte Mühlberg hinzu.

„Wäre es für Sie nicht besser gewesen, wenn Sie in Deutschland geblieben wären?“, fragte Presser.

„Ich denke nicht“, entgegnete der eine, Fritz Weckerle. „Wir haben uns die Sache reiflich überlegt. Wir waren in Stellung in Pforzheim. Und was hatten wir da für Aussichten? Entweder dort zu bleiben und mit den Jahren kleine Zulagen zu unserem Gehalt zu bekommen oder die Stellungen zu wechseln, bis wir alt und grau wurden.“

„Sie konnten doch auch einmal selbstständig werden“, warf Presser ein, indem er einer Möwe nachsah, die sich eben auf einer Rahe des Vordermastes niedergelassen hatte.

„Das konnten wir natürlich“, antwortete der andere Herr aus Pforzheim, Konrad Werner, etwas spöttisch. „Irgendein kleines Geschäft anfangen, bei dem man hundertmal bedauert, dass man nicht in seiner Stellung geblieben ist.“

„Und Sie glauben, dass das in Canada anders sein wird?“, fragte Mühlberg.

„Wir wissen, dass wir in Canada als Kaufleute und ohne Kenntnis der englischen Sprache keine Aussichten haben, und sind darauf vorbereitet, irgendwelche Arbeit anzunehmen. Wir haben jeder noch gegen hundert Dollar in der Tasche, und wenn die alle sind, haben wir hoffentlich irgendeinen Verdienst gefunden, wenn nicht anders auf einer Farm bei der Ernte. Was uns veranlasst hat, nach Canada zu gehen, ist hauptsächlich der Umstand, dass uns jemand, dem wir vertrauten, gesagt hat, die Aussichten, vorwärtszukommen und selbst ein Vermögen zu erwerben, seien dort größer als irgendwo. Stimmt das?“

„Das ist unzweifelhaft richtig“, bestätigte Mühlberg. „Natürlich sind es immer nur Einzelne, denen es gelingt, aber ihre Zahl ist sicher größer als woanders. Freilich, wenn Sie der Sache nachgehen, so finden Sie fast immer, dass es dieser oder jener günstiger Zufall gewesen ist, der ihnen dazu verholfen hat. Verstand brauchen Sie fast gar nicht dazu. Der Verstand, die Intelligentia, sitzt in den Städten; zu Hunderten. Hat es aber nur selten dahin gebracht, zu wissen, wovon er die nächste Woche leben soll. Überall hören Sie von den Leuten, ‚die Schwein gehabt haben‘, und jeder hofft, dass er morgen oder übermorgen oder doch wenigstens im nächsten Jahre auch an der Reihe sein wird, wenn auch die unmittelbaren Aussichten so dunkel wie möglich sind.“

Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bordwand, stützte sich mit dem Ellbogen auf, und indem er in dieser lässigen Haltung die Umstehenden besser ins Auge fasste, fuhr er fort: „Es wird gut sein, wenn ich Sie vor dem kolossalen Optimismus in Canada etwas warne. Er wirkt ungemein erfrischend auf den Deutschen, der aus einer Atmosphäre des Misstrauens und des Pessimismus kommt und dem man bisher immer nur sagen konnte: ‚Arbeiten und nicht verzweifeln!‘ Es war der beste Rat, dem man dem deutschen Volke geben konnte. Denn Deutschland hat seit dem Kriege doch schon Großes geleistet, und manches, was zuerst wie ein nicht wieder gutzumachendes Unglück aussah, hat sich anders ausgewirkt, als unsere Feinde erwartet haben. Es kann jetzt schon als eine Preisfrage angesehen werden, wer den Krieg gewonnen hat. Der Pessimismus in Deutschland ist in seinem Ausmaße ebenso wenig gerechtfertigt wie der Optimismus in Canada. Dort glaubt jeder an die Zukunft des Landes, jeder spricht von ihr und überzeugt den anderen noch mehr davon, bis er die oft recht trübe Gegenwart vergisst und hofft und hofft. Dabei gehen die Geschäfte dort nicht besser als in Deutschland, alles wird auf Abzahlung gekauft und verkauft, niemand hat bares Geld, denn selbst die reichen Leute sind meist nur ‚landreich‘, das heißt, sie besitzen Grundeigentum, das sie wiederum nur auf Kredit verkaufen können.

Er unterbrach sich, indem er sich eine Zigarette anzündete und ein paar Züge tat. Dann fuhr er fort: „Canada braucht natürlich den Optimismus. Es wäre nicht das, was es heute ist, ohne ihn. Niemand zweifelt daran, dass Canada mit seinen reichen Hilfsquellen und ungeheuren Reichtümern an Holz, Kohlen allen möglichen Metallen, Fischen, Pelztieren und beinah allem, was die Welt braucht, eine große Zukunft hat. Aber Canada ist so groß wie Europa, und die Ziffern, die die Regierung alljährlich veröffentlicht, bedeuten, wenn man sie auf eine so große Landfläche verteilt, für die einzelne Ortschaft sehr wenig. Halten Sie sich immer an das, was heute ist, und spekulieren Sie nicht auf das Morgen. Es kommt unbedingt, aber doch nur sehr langsam, so langsam, dass die meisten es nicht mehr erleben werden. Ich kenne Canada seit zehn Jahren und könnte Ihnen nur eine einzige Stadt nennen, die sich in dieser Zeit in einer irgendwie bemerkenswerten Weise vergrößert hätte. Das ist aber schließlich Nebensache, denn Sie gehen doch nicht nach Canada wegen seiner Zukunft. Ich wollte Sie auch nur vor einer Überschätzung dieser warnen, was vielleicht nicht ganz unnötig ist, da man überall davon sprechen hört und sich leicht ganz falsche Vorstellungen davon macht. Immerhin hat aber Canada noch eine Zukunft, und es gibt nicht viele Länder, von denen man das Gleiche sagen könnte. Ich meine natürlich in wirtschaftlichem Sinne.“

„Sie sind also der Meinung, dass Canada ein gutes Auswanderungsland ist?“, fragte Presser.

„Für den Mann mit etwas Kapital, der sich auf dem Lande niederlassen will, unbedingt. Für diesen ist es sogar weit besser als Amerika, denn dort hat eine ungesunde Spekulation die Landpreise so in die Höhe getrieben, dass der Farmer kaum noch etwas herauswirtschaften kann. Es ist auch ein großer Irrtum, zu glauben, dass sich jeder zum Farmer eigne. Landwirtschaft will genauso gelernt sein wie jedes andere Geschäft. Leute, die in Städten aufgewachsen sind und ihr Leben in Büros oder unter ähnlichen Verhältnissen verbracht haben, sollten das Experiment lieber nicht machen. Bei Ihnen ist das etwas anderes“, wandte er sich unmittelbar an die beiden jungen Männer aus Pforzheim. „Sie sind auch in der Stadt groß geworden und Kaufleute, also zum Farmerberuf nicht erzogen. Aber Sie sind noch jung genug, um umzulernen und sich als Farmer die nötigen Kenntnisse anzueignen. Wenn das geschehen ist, werden Sie auch eine Farm finden, die Sie mit geringen Mitteln bewirtschaften können.“

„Wie viel Kapital, glauben Sie wohl, ist für die Übernahme einer Farm erforderlich?“, fragte Werner.

„Das hängt von vielen Umständen ab. Von Heimstätten brauchen wir gar nicht zu reden. Die bekommen Sie ja allerdings umsonst, aber nicht mehr in Gegenden, wo sie etwas wert sind, ich meine in der Nähe einer Bahnlinie. Auch sonst ist es aus vielen Gründen gar nicht so vorteilhaft, eine Heimstätte zu haben. Sie müssen da die Prärie brechen und haben erst nach zwei Jahren eine Ernte, müssten also auch Kapital haben, um diese Zeit durchzuhalten. Es gibt ja nun auch freilich Leute, die ohne Kapital auf eine Heimstätte gehen. Sie sind dann aber gezwungen, die meiste Zeit Lohnarbeit zu tun, und für das eigne Land bleibt nicht allzu viel übrig. Denn Sie brauchen doch schließlich auch Geräte, Pferde, Saat und wie viel Dinge mehr. Auf Kredit können Sie nicht alles nehmen, selbst wenn Sie es bekommen können, was aber noch gar nicht sicher ist, denn niemand gibt einem Heimstätter gern Kredit. Wie soll er es denn schließlich bezahlen? Mit der geringen Ernte, die er nach zwei Jahren erzielt, wenn er die meiste Zeit auswärts gearbeitet hat? Trotzdem muss ich sagen, dass die meisten Heimstätten gerade auf diese Weise von mittellosen Leuten aufgenommen werden. Früher, ich meine so vor zwanzig und fünfundzwanzig Jahren, war das sogar die Regel. Die Verhältnisse haben sich aber geändert.“

„Wir kennen aber eine Familie, die auch eine Heimstätte aufgenommen hat und die heute reich ist“, war Weckerle ein.

„Ganz recht. Und Sie werden auch noch tausend oder zehntausend finden, denen es ganz in der gleichen Weise ergangen ist. Haben Sie aber schon einmal darüber nachgedacht, was die Leute dafür bezahlt haben, wie sie die besten zehn, fünfzehn und zwanzig Jahre ihres Lebens dafür hingegeben haben, um sie in einem Elend zu verleben, von dem Sie sich gar keine Vorstellung machen können?

Ich kenne Leute, die mit fünfzig Cents und einem Sack Mehl auf ihre Heimstätte gegangen sind, heute aber wohlhabende Leute sind. Ein besonderer Fall kommt mir da gerade in Erinnerung. Er betrifft einen Deutschen, einen Rheinländer, Finsterbusch ist sein Name, der heute ein reicher Mann ist und in der Nähe von Edson eine Farm und eine Silberfuchsfarm betreibt. Die Fuchsfarm ist allein wenigstens hunderttausend Dollar wert. Er hat die Füchse selbst eingefangen und von ihnen gezüchtet. Ich will ja auch wieder nach Edson, denn dort war ich zuletzt, als ich nach Deutschland ging. Vorläufig reicht mein Geld aber nur bis Winnipeg. Dort muss ich Arbeit suchen, bis ich mir so viel erspart habe, um weiterreisen zu können.

Also, Mr Finsterbusch hatte in der Nähe von Edson eine Heimstätte aufgenommen. Es war noch in der Zeit, bevor die Bahn nach Edmonton gebaut war. Edson selbst war auch noch kaum vorhanden. Er saß nun dort auf seinem Lande, in einer Hütte, die er sich aus Grasschollen erbaut hatte, und wusste zuletzt nicht mehr, wie er sich weiterhelfen sollte. Zu essen war kaum noch vorhanden, das bisschen Ernte erst im nächsten Jahre zu erwarten, Arbeit in der Nähe nicht zu haben. Das Einzige war, nach Edmonton zu wandern und sich dort nach Arbeit und Verdienst umzusehen. Das tat er schließlich auch, mit fünfundzwanzig Cents in der Tasche und etwas Brot und gekochten Eiern. Die Frau hatte noch einen geringeren Vorrat Mehl, konnte sich hin und wieder im nahen Muskeg-Flusse einen Fisch fangen und gelegentlich wohl auch eine Schlinge für ein Kaninchen legen. Der Mann brauchte eine Woche, um nach Edmonton zu gelangen, und das war eine Leistung. In Edmonton fand er dann auch schließlich Arbeit für einen Dollar den Tag,“

„Einen Dollar den Tag“, fragte Presser im Zweifel, ob er recht gehört.

„Das war damals“, erklärte Mühlberg. „Heute sind ja die Löhne viel höher. Und auch damals würde er wohl auch mehr bekommen haben, hätte er Zeit gehabt zu warten. Er war aber eben ohne Mittel und musste nehmen, was ihm geboten wurde. Well, er lebte vierzehn Jahre auf seiner Heimstätte unter den größten Entbehrungen, und seine Frau heulte sich fast die Augen aus. Dann erst hatte er so viel Land unter Kultur, dass es ihm mehr brachte, als er zum Leben brauchte. Und wenn Sie erst einmal an diesem Punkte angelangt sind, geht die Ansammlung von Reichtum schnell. Das ist nur ein Beispiel, und jeder Heimstätter könnte Ihnen aus seinem Leben Ähnliches berichten, nur dass sie nicht alle mit dem Reichwerden enden. Das sind aber Dinge, die der Vergangenheit angehören. Heute ist es leichter mit den Eisenbahnen, die man inzwischen gebaut hat, und den Autos, ohne die ein Farmer heute kaum noch existieren kann. Aus diesen und hundert anderen Gründen ist es aber heute nicht mehr möglich, ohne Geld auf eine Farm zu gehen. Eine Familie, die ins Land kommt und eine Farm aufnehmen möchte, braucht wenigstens dreitausend Dollar.“

„Schlechte Aussichten für uns“, bemerkte Weckerle mit einem etwas verlegenen Lächeln. „Wie sollen wir uns jemals dreitausend Dollar von unserer Arbeit sparen, mit den Wintern, wo es meist keine Arbeit gibt, und wo man das wieder aufzehrt, was man im Sommer verdient hat?“

„Das ist nicht so schlimm“, tröstete Mühlberg. „Man findet schließlich auch im Winter Arbeit. Ich habe stets welche gehabt. Aber zu einer Farm können Sie auch auf andere Weise kommen. Sie können eine pachten. Mit soundso vielen Ackern kultivierten Landes, allen Gerätschaften, Haus und Stall und vielleicht sogar Pferden und Kühen. Das geschieht dann meist auf der Grundlage von Ernteraten. Je nach den Verbesserungen, die Sie übernehmen, geben Sie dem Besitzer ein Viertel, ein Drittel oder auch die Hälfte der Ernte als Pachtsumme ab. Das erfordert verhältnismäßig wenig Kapital, aber immerhin so viel, dass Sie bis zur nächsten Ernte leben können. Denn dass Sie auf Arbeit gehen können, um sich bis dahin etwas zu verdienen, ist nicht gut möglich. Die Farm verlangt alle Ihre Arbeitszeit und Arbeitskraft. Dieses Geld aber können Sie sich in ein paar Jahren verdienen. Sie haben inzwischen auch die Farmarbeit gelernt. Wenn ich hier von Farmarbeit spreche, so meine ich damit auch noch die Kenntnis von einem halben Dutzend Handwerken. In der Stadt, wo Sie nur um die nächste Ecke zu gehen brauchen, um einen Handwerker für die nächste Reparatur zu finden, lernen Sie das nie. Auf der Farm müssen Sie das alles selbst tun, denn Sie können für eine unbedeutende Reparatur oder Neuanlage nicht erst Handwerker kommen lassen, womöglich aus weiter Entfernung.“

„Es ist uns gesagt worden, dass auch die Canadian National Railway betriebsfertige Farmen verpachtet“, warf Weckerle ein.

„Stimmt“, antwortete Mühlberg. „Die sucht sich aber ihre Leute aus und verpachtet keineswegs an jeden, der sich darum bewirbt. Das ist auch sehr vernünftig, denn sie hat ein Interesse daran, dass die Leute auf der Farm bleiben und ihr gutes Fortkommen finden. Ihre Bedingungen sind äußerst günstig. Sie verkaufen Ihnen auch eine solche Farm auf jährliche Abzahlungen, und die sind ganz nach der Ernte berechnet. In schlechten Jahren zahlen Sie weniger und bei einer Fehlernte überhaupt nichts, nicht einmal Zinsen. Alle diese Pläne können für Sie aber erst in Frage kommen, wenn Sie verheiratet sind, denn es ist ausgeschlossen, dass Sie als unverheirateter Mann auf einer Farm vorwärtskommen. Sie brauchen aber eine Frau, die auf eine Farm passt, vergessen Sie das nicht.“

„Eine Farm zu pachten, daran liegt mir nichts“, versetzte Weckerle. „Wenn ich eine Farm nehme, dann soll sie mein eigen sein.“

„Das begreife ich“, entgegnete Mühlberg. „Das können Sie aber auch bei einer gepachteten Farm haben. In der Regel werden Sie sich ja auch bei der Verpachtung das Vorkaufrecht auf eine Anzahl Jahre zu einem bestimmten Preise sichern. Wenn Sie dann ein paar leidliche Ernten haben und mit dem Lande zufrieden sind, werden Sie die Farm kaufen können.“

„Und wenn nicht?“

„Dann sitzen Sie natürlich fest, und die Farmerei wird Ihnen so verleidet sein, dass Sie wahrscheinlich in eine Kohlenmine gehen oder bei der Lachsfischerei in Britisch-Kolumbien anzukommen suchen werden. Abgesehen von seiner persönlichen Eignung wird das Schicksal eines Farmers stets durch die ersten drei Ernten entschieden. Sind sie gut, dann ist seine Existenz als Farmer gesichert, und eine vierte und selbst fünfte schlechte Ernte kann daran nicht mehr viel ändern. Sind sie aber schlecht oder auch nur zwei davon schlecht, so kann er sich auf der Farm nicht mehr halten und muss sie verlassen.“

„Und wie sind die Ernten durchschnittlich in Canada?“, fragte Werner.

Mühlberg zuckte die Achseln. „Die Farmer sind fast immer von zu viel Trockenheit bedroht. Aber im Durchschnitt kann man wohl sagen, sind sie gut.“

Die Unterhaltung stockte jetzt für eine Weile. Man sah hinüber zu dem Festlande, wo auf felsigen Ufervorsprüngen geheimnisvolle Forts herüberdrohten.

Auf hoher See


Am nächsten Tage hatte die ‚Köln‘ die Hebriden passiert, und ihr Bug warf jetzt die Wellen des Atlantik auf. Die Hoffnung, dass man, nachdem man die Nordküste von Schottland umfahren, nunmehr in wärmere Breiten gelangen würde, hatte sich bisher noch nicht erfüllt. Das Wetter war womöglich noch rauer geworden, von Südwesten stand eine schwere Dünung, und die Schiffsschraube arbeitete fast die Hälfte der Zeit außer Wasser. Niemand hielt es lange auf Deck aus, sondern suchte in den Gesellschaftsräumen oder sonst wo eine Unterkunft.

Eine Gruppe junger Mädchen und Männer war trotzdem noch in einem Deckspiel begriffen, das in einem Hinundherschieben von Holzscheiten in gewisse, mit Kreide gezeichnete Vierecke bestand, man merkte es ihnen aber an, dass es mehr ein krampfhafter Versuch war, sich unter allen Umständen Unterhaltung zu verschaffen.

Im Rauchzimmer befanden sich andere Gruppen, darunter auch der gesprächige Herr Presser mit seinen Freunden Mühlberg, Weckerle und Werner. Diesmal hatte sich ihnen aber noch Karl Schwerla, ein junger Sportschriftsteller aus München, zugesellt, der sich mit zwei Faltbooten auf der Reise nach Canada befand, wo er in Britisch-Kolumbien auf den Flüssen nach der pazifischen Küste hinunterzufahren gedachte, um Material für seine journalistischen Arbeiten und Vorträge zu sammeln.

Der Decksteward hatte eben das zweite Frühstück, bestehend aus Fleischbrühe und belegten Brötchen, herumgereicht, und man war beschäftigt, es einzunehmen. Seekranke, die darauf verzichten mussten, waren nur wenige vorhanden, denn das Schiff lag gut im Wasser, rollte überhaupt kaum und stampfte nur mäßig.

„Kennen Sie das junge Mädchen dort?“, fragte Schwerla, verstohlen nach einer Gruppe von Frauen und jungen Mädchen blickend, die auf der gegenüberliegenden Seite an Tischen saßen.

„Sie meinen die mit dem Wuschelkopf?“, fragte Presser.

„Ja.“

„Das ist Fräulein Wrobel. Hübsches Mädchen, aber ein unverbesserlicher Flirt. Bei den Passagieren hat sie nur wenig Entgegenkommen gefunden. Wir sind wohl alle zu sehr mit der Sorge für unsere nächste Zukunft beschäftigt, um dafür viel übrig zu haben. Dafür setzt sie aber den Offizieren heillos zu. Die können sich schon aus Höflichkeit nicht so ablehnend verhalten, und das nützt sie aus. Ich glaube, es kommt ihr nur auf die Eroberung an. Wenn ihr die gelungen ist, hört der Mann auf, sie zu interessieren, und sie versucht ihr Spiel mit einem anderen. Nur bei dem Doktor sind alle ihre Künste bisher vergeblich gewesen, obwohl sie sich viel Mühe gegeben hat. Sie ist übrigens Braut und geht nach Canada, um zu heiraten. Ihr Bräutigam ist Architekt in Montreal und verdient fünfundachtzig Dollar die Woche. Sie hat ihn seit vier Jahren nicht gesehen, und in ihren Briefen haben sie sich stets herumgestritten. Wenn die Dinge nicht so gehen sollten, wie sie hofft und er wahrscheinlich auch, lässt sie sich wieder scheiden und verlangt hundert Dollar im Monat Unterhaltsgeld. Mit dieser regelmäßigen Einnahme wird sie dann irgendwie versuchen, das Leben zu meistern, und soweit ich sie bisher kennengelernt habe, wird ihr das keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten.“

„Geht das so leicht mit den Scheidungen in Canada?“, wandte sich Schwerla an Mühlberg.

„Keineswegs“, entgegnete dieser. „Canada hat im Ganzen sehr vernünftige Gesetze. Aber Amerika ist ja nicht sehr weit, und dort wird es den Leuten leicht gemacht. Es gibt Staaten und Städte, die darin geradezu wetteifern. Übrigens ist das jetzt die gewöhnliche Art zu heiraten – wenigstens in den besseren Kreisen, worunter ich die mit den besseren Einkommen verstehe. Es hat auch schon dazu geführt, dass die jungen Mädchen vielfach ganz verantwortungslos in die Ehe laufen. Wenn es nicht geht, lassen sie sich wieder scheiden, verlangen eine möglichst hohe Unterhaltssumme und sind dann für ihr ganzes Leben versorgt. Die Richter wissen das recht gut, aber was wollen sie machen? Sie sind nicht lebenslänglich angestellt, sondern werden für jede Wahlperiode gewählt. Wenn sie auf die Wiederwahl bedacht sind, müssen sie dafür sorgen, dass den Bürgern ihrer Stadt, zu denen auch die Rechtsanwälte gehören, Einnahmen zufließen. Es gibt Städte, die durch besondere Industrien bekannt sind; in Amerika gibt es welche, die die Scheidungsindustrie betreiben.“

Er lehnte sich in seinem Stuhle zurück und schlug die Beine übereinander.

„Ihre Schwester, es ist die mit dem glattgescheitelten Haar, die neben ihr sitzt, ist übrigens ganz anders“, nahm Presser wieder das Wort. „Viel gemütsvoller. Sie glaubt noch an das Leben, ich meine, an die Dinge, die das Leben auch abseits von Tanztees und Jazzmusik wertvoll machen. Ich habe kaum jemals zwei Schwestern gesehen so verschieden voneinander. Sie wird übrigens auch von einem Bräutigam erwartet.“

„Und die auf der anderen Seite?“, fragte Schwerla.

„Das ist Fräulein Richter. Nicht schön, aber ebenfalls Braut. Sie hat ihren Bräutigam nur dreiundeinehalbe Stunde in Deutschland gekannt. Jetzt hat er ihr das Reisegeld gesandt. Wenn die Sache nicht gehen sollte, wird sie inzwischen von Fräulein Wrobel über die Scheidungsmöglichkeiten aufgeklärt worden sein.“

„Und die anderen? Sie reisen alle allein, wie ich glaube.“

„Die gehen hinüber, um in Canada ‚ihr Glück zu machen‘. Für ein junges Mädchen heißt das immer Heirat. Sie sind noch keine Bräute, hoffen aber, es in Canada bald zu werden.“

Die Unterhaltung wandte sich jetzt wieder allgemeineren Dingen zu, und da der Aufenthalt an Deck wenig verlockend war, so fanden sich einige Gruppen von Damen und Herren im Kartenspiel zusammen.

Mühlberg, Presser und Schwerla zogen es trotzdem vor, auf das Deck zu gehen. Es war fast leer. Nur auf dem abgeteilten Achterdeck, wie auch im Bug des Schiffes hatte sich eine Anzahl Passagiere der dritten Klasse eingefunden. Sie boten ein sehr gemischtes Bild. Vorherrschend waren die Angehörigen der osteuropäischen Länder: Polen, Galizier, Tschechoslowaken und andere. Gestalten, wie man sie in den Auswandererhallen der größeren Bahnhöfe, wie Breslau, Berlin, Hamburg und Bremen, täglich sehen kann. Es waren meist Frauen und Kinder, die ihren vorangegangenen Männern nachreisten; aber auch Männer, die ihren einstweilen noch in dem heimatlichen Dorfe zurückgelassenen Familien vorausreisten, weil ihnen ein Bruder oder Schwager oder guter Freund geschrieben hatte, sie möchten nur kommen, denn sie seien in Canada freie Bürger eines freien Landes, das jedem, der arbeiten könne und wolle, eine neue Heimat biete, besser als die, in der sich ihr Leben bisher abgespielt.

Man sah deshalb auch keineswegs sorgenvolle, verdüsterte Gesichter, den Ausdruck stumpfsinnigen Ergebens in eine Zukunft, von der man höchstens eine Änderung, aber keine Besserung der Lage erwarten konnte. Die Leute verleugneten in nichts ihr polnisches oder ruthenisches Dorf, aber sie waren zuversichtlich, hoffnungsfroh. Der Mann, der Bruder, Schwager oder gute Freund hätte ihnen sicher nicht geschrieben, sie sollten kommen, wenn es in dem neuen Lande nicht besser wäre als zu Hause.

Und man konnte sicher sein, dass diese zum Wenigsten auch nicht enttäuscht sein würden, denn sie gingen in die gleichen Verhältnisse, aus denen sie kamen, nur dass in Canada alles aussichtsreicher, freundlicher und besser war und sie selbst freie Menschen, genau so gut und geschätzt wie alle anderen. Sie würden dort ihre Scholle beackern, ihr Vieh auf die Weide treiben und sich mit Landsleuten in ihrer eigenen Sprache unterhalten können, ganz so, wie sie es ihr Leben hindurch in Polen oder Galizien getan hatten. Es war mit ihnen nicht so wie mit vielen Deutschen, die aus den Städten kamen und sich nun in das Farmleben eingewöhnen sollten, das doch schließlich ganz anders ist, als sie es sich vorstellten. Sie waren auch keineswegs ähnlich gekleidet, wenn ihre Kleider auch den dörflichen Schnitt ihrer Heimat zeigten, denn mittellose Auswanderer gibt es heute nicht mehr. Nur die Wohlhabenderen können sich eine Auswanderung leisten.

Die Deutschen, die man schon mehr an ihrer mehr städtischen Kleidung und dem intelligenteren Gesichtsausdruck erkennen konnte, waren ihnen gegenüber in der Minderzahl. Jede Alterstufe von zwanzig bis fünfzig schien vertreten zu sein, und dem Berufe nach mochten sie dem Kaufmanns- und Handwerkerstande angehören, mit zwei oder drei Landwirten darunter. Auch ein junges Ehepaar befand sich unter ihnen. Der Mann war bisher Buchhalter in einer westfälischen Industriestadt gewesen, und die Aussichtslosigkeit dieses Berufes hatte ihm das unabhängige Leben in Canada um so verführerischer erscheinen lassen. Er war vernünftig genug, sich dieses Leben nicht als sorgenlos vorzustellen. Aber es war doch eine Selbstständigkeit mit der Aussicht einer gesicherten Existenz nach einer Anzahl entbehrungsreicher Jahre. Er schien auch energisch und zu jeder Arbeit bereit, aber er hatte Ideen über das Leben eines Farmers. Soweit es in Frage kam, sollte es keineswegs stumpfsinnig verlaufen. Im Allgemeinen ist das wohl der Charakter des Farmerlebens, aber er wollte sich dagegen wehren, bei ihm musste die Bildung zu ihrem Rechte kommen. Kein Tag sollte bei ihm beginnen ohne eine Vorlesung aus einem guten Buche, mit seiner Frau als Zuhörerin. Bücher, die er wie persönliche Freunde verehrte, führte er in genügender Anzahl mit sich. Einstweilen hatte er aber das Studium der Edda zugunsten der Erlernung der englischen Sprache nach der Methode Toussaint-Langenscheidt, wobei er und seine Frau sich gegenseitig überhörten, zurückgestellt. Sie schienen nur bescheidene Mittel zu haben. Lange nicht genug zum vollwertigen Betrieb einer Heimstätte. Er hatte deshalb auch die Reise in der dritten Klasse unternommen, denn, wie er sagte, würden sie jetzt ja doch das Leben von Pionieren führen müssen, und es war schließlich gleichgültig, ob sie schon in Bremen damit anfingen oder erst in Quebeck.

Dann war da noch eine Familie aus einer sächsischen Kleinstadt, mit vier erwachsenen Kindern, drei Mädchen und einem Jungen von fünfzehn Jahren. Sie hatten auch die Reise in der dritten Klasse gewählt, zum Teil wohl aus dem gleichen Grunde wie das junge Ehepaar, zum anderen Teil aber, weil der Unterschied im Fahrpreise bei sechs Personen eine erhebliche Summe ausmachte.

Der Mann stand mit dem Jungen an der Reling und schaute den Möwen nach, die das Schiff noch immer begleiteten.

„Well, Herr Burkhart, wie geht’s? Seekrankheit überwunden?“, redete ihn Mühlberg an.

„Ja, es geht schon wieder. Nur meine Tochter, die Martha, liegt noch. Sie wird aber wohl auch heute aufstehen.“

Sie unterhielten sich nun eine Weile über Schiffsangelegenheiten.

„Sie wollen auf eine Farm gehen in Canada?“, fragte ihn Mühlberg dann.

„Ja.“

„Verstehen Sie etwas von Landwirtschaft?“

„Das sollte ich meinen. Ich habe immer auf dem Lande gelebt. Zuletzt hatten wir einen Gasthof in Postwitz bei Bautzen und nebenbei Landwirtschaft. Es bot sich dann aber eine Gelegenheit, ihn gut zu verkaufen. Immerhin, mit dem Gelde hätte ich in Deutschland nicht allzu viel anfangen können, so gehen wir jetzt nach Canada.“

„Haben Sie schon ein Ziel?“

„Noch nicht. Ich möchte eine Farm haben, wo ich auf die Jagd gehen kann. Ich bin ein großer Jagdliebhaber und habe eine vollständige Jagdausrüstung mit.“

„Glauben Sie, dass Sie auf der Farm viel Zeit zur Jagd haben werden?“

„So viel Zeit hat man immer. Im Winter ist auf einer Farm nicht viel zu tun. Außerdem ist die Zeit auch nicht verloren; man braucht doch Fleisch.“

„Dann wäre freilich der Osten für Sie das Beste. Dort finden Sie alles jagdbare Wild, vom Moose herab bis zum jämmerlichsten Raubzeug. Und die Flüsse und Seen sind voll von Fischen. Aus Amerika kommen jährlich viele Tausende von Sportsleuten, um in den kanadischen Wäldern zu jagen und in den Flüssen zu fischen.“

„Ich habe mir aber sagen lassen, dass die neuen Provinzen, ich meine die im Westen, für den deutschen Ansiedler die besten sind.“

„Das ist unbedingt richtig, wenn Sie die Jagd nicht gerade in den Vordergrund stellen. Der Osten ist altbesiedelt und bietet dem neuen Ansiedler nicht mehr viel. Auch will der Deutsche doch gern Landsleute um sich haben, und das ist in den Farmdistrikten im Osten, die meist von England und Schottland aus besiedelt sind, nur ganz vereinzelt der Fall. Am besten eignen sich die drei Prärieprovinzen, ich meine Manitoba, Saskatchewan und Alberta, für den Deutschen. Und von denen können wir eigentlich Manitoba außer Acht lassen. Sie werden gleich hören, warum. Ich will Ihnen nämlich einen Wink geben, der sehr wichtig ist. Sie können ihn mit vollem Recht ‚das Geheimnis des Erfolges‘ nennen. Er ist nicht das ganze und auch nicht das einzige Geheimnis des Erfolges, aber die unentbehrliche Grundlage dazu. Und wenn Sie ihn beachten, dann ist nicht einzusehen, warum Sie nicht auf einer Farm in einer Anzahl von Jahren zu Wohlstand geraten sollten. Vorausgesetzt natürlich, dass einer fleißig ist und ordentliche Arbeit leistet, was bei den Deutschen – es freut mich, das sagen zu können – meist der Fall ist.“

„Da bin ich doch gespannt“, meinte Burkhart.

„Hören Sie zu! Das Wichtigste ist, dass Sie sich die richtige Gegend aussuchen, in der Sie sich niederlassen. Das wird Ihnen sofort klar sein, wenn ich Ihnen sage, dass es in Canada Gegenden gibt, wie zum Beispiel Manitoba, wo der durchschnittliche Ernteertrag, immer nach Weizen berechnet, denn das ist der Maßstab in Canada, achtzehn Bushel für den Acker beträgt, und andere wieder, wo Sie vierzig und fünfzig ernten. Die Arbeit ist überall dieselbe, aber Sie werden sich leicht ausrechnen können, welchen Unterschied das für den Farmer bedeutet.“

„Woher kommt denn das?“, fragte Burkhart.

„Well, Canada ist ein großes Land und es ist die Bodenbeschaffenheit. Die ist selbstverständlich nicht überall gleich. Im westlichen Ontario fahren Sie siebenhundert Meilen weit mit der Eisenbahn durch Land, wo Ansiedlungen überhaupt nicht möglich sind, denn alles ist Stein, dürftiger Busch und Seen und Teiche. Wenn Sie es sich von Ihrem Abteilfenster aus beschauen, sieht die Gegend wunderhübsch aus, aber für den Farmbetrieb eignet sie sich nicht. Und dann sollte ein Ansiedler möglichst auf Neuland gehen. Die Provinzen in Canada sind nicht alle gleichzeitig besiedelt worden. Mit Manitoba fing die Geschichte an, damals in den Siebziger Jahren, als die deutschen Mennoiten aus Russland einwanderten. Von dort aus schritt die Besiedlung allmählich nach dem Westen und Norden weiter, und es gibt dort Gegenden, die erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit der Besiedlung erschlossen worden sind, weil man erst jetzt Eisenbahnen dahin gebaut hat. Dieses Land ist humusreich und gibt für eine Reihe von Jahren die besten Ernten. Das alte Land in den altbesiedelten Gegenden ist zum größten Teil ausgesogen. Düngung kennt der canadische Farmer nicht, er scheut die Ausgabe dafür. Sie haben Land in Manitoba, das zwanzig und fünfundzwanzig Jahre nicht gedüngt ist und jetzt im Unkraut fast erstickt. Die Sommerbrache, mit der sich die Farmer zu helfen suchen, kann die fehlende Düngung nicht ersetzen. Jetzt halten es viele Farmer für vorteilhafter, es im Stich zu lassen und im äußersten Westen oder Norden Neuland aufzunehmen. Also suchen Sie sich zuerst eine Gegend mit hohen Ernteerträgen aus. Das andere kommt dann nicht von selber, denn von selber kommt überhaupt nichts, aber es kommt.“

„Und können Sie uns solche Gegenden nennen?“

„Ja, denn es sind nicht viele. Da ist zuerst die Grand Prärie, dann die Gegend um Battleford in Saskatchewan und die bei Edson in Alberta. Das meiste übrige Land in Canada ist guter Durchschnitt. Aber warum sich damit begnügen, wenn man etwas Besseres haben kann?“

Die Unterhaltung wurde hier unterbrochen, denn Frau Burkhart mit zwei Töchtern erschien eben auf dem Deck und gesellte sich zu ihnen.

Die Mutter war eine resolute Frau von mehr als vierzig Jahren, ganz vom Schlage der Pionierfrauen, die sich durch Schwierigkeiten nicht aus dem Konzept bringen lassen. Sie musste früher hübsch gewesen sein, denn sie zeigte noch jetzt deutliche Spuren davon. Nur wurde dieser angenehme Eindruck etwas beeinträchtigt durch die lange dünne Mundlinie, die zwischen den Lippen klar und fest geschnitten war und auf einen herrschsüchtigen Charakter deutete, der nicht frei von Selbstsucht war. Sie glich in dieser Beziehung ganz dem Manne, und man konnte, obwohl sonst zwischen ihnen volle Harmonie zu bestehen schien, im Stillen doch den Verdacht hegen, dass es Augenblicke gab, wo die beiden Temperamente aufeinander platzten.

Die jüngere Tochter mochte achtzehn Jahre zählen. Sie war von kräftiger Gestalt und zeigte, ohne plump zu erscheinen, den etwas gedrungenen, aber gesunden Bauerntypus. Sie schien von heiterem Temperament, wenigstens deutete das die ebenmäßige Fülle und die leichte Aufwärtsbewegung ihrer Lippen an den Winkeln an, und ihre taubengrauen Augen, die für gewöhnlich wie die einer Alice aus dem Wunderlande in die Welt blickten, zeigten manchmal einen Ausdruck, der eine unbändige Lust an tollen Streichen verriet.

Ihre Schwester, die zwanzig oder einundzwanzig Jahre zählen mochte, war sehr verschieden von ihr. Sie war größer, ohne dass man sie deshalb als schlank hätte bezeichnen können. Der herbe Mund, die kühlen brennenden Augen, die starken Backenknochen, der kräftige, bei aller Rundung aber doch feingeformte Körper machten sie zu einer Vertreterin uralten Bauernadels. Auf den ersten Blick war sie kaum mehr als leidlich hübsch, aber in den Fältchen dieser kargen Reizlosigkeit blühte eine üppige, majestätische Schönheit.

Die Kleidung der Mutter wie der Töchter war einfach, aber keineswegs bäuerlich. Dazu sind die Dörfer heutzutage doch schon zu nahe an die Städte gerückt.

Mühlberg hatte ihre Bekanntschaft schon am Tage vorher gemacht und stellte jetzt Presser und Schwerla vor. Die jüngere Schwester, Valeska, maß sie ungescheut mit einem Blicke backfischmäßiger Herausforderung, dessen Ergebnis aber zweifelhaft blieb. Die ältere, Mathilde, zeigte sich freundlich, aber zurückhaltend, was bei ihr Gewohnheit schien.

„Wir sprachen eben von der Gegend, wo wir uns niederlassen wollen“, erklärte Burkhart seiner Frau. „Welches ist der Ort, von dem Sie sprachen?“

Die letzte Frage galt Mühlberg.

„Well, ich könnte Ihnen keinen besseren Platz nennen als Edson. Es liegt in Alberta, gegen hundert Meilen westlich von Edmonton. Nicht weit von den Felsengebirgen. Sie können deren Ausläufer von Edson aus sehen. Dort haben Sie alles, was Sie suchen: Wald und Jagd auf Moose, Bären, Wapiti-Kaninchen nicht zu vergessen, die aber eigentlich Hasen sind, denn sie leben nicht in einem Bau, sondern haben ihre Nester über der Erde. Auch der Boden ist gut. Sie finden jedenfalls in Canada keinen besseren, denn vierzig Bushel Weizen auf den Acker sind keine Seltenheit.“

„Wie viel ist ein Bushel?“, fragte Burkhart.

„Sechzig Pfund. Auch zwei Flüsse haben Sie dort, den McLeod- und den Muskeg-River, die Ihnen Fische liefern. Dabei ist das Land auch noch billig dort. Zwanzig bis dreißig Dollar der Acker. Im Winter können Sie oder Ihr Sohn auch trappen gehen, wenn Sie Lust dazu haben. Vielleicht gelingt es Ihnen, ein paar Silberfüchse zu fangen wie Herrn Finsterbusch. Ich denke wirklich, Sie sollten nach Edson gehen. Es gibt natürlich ebenso gute Gegenden auch wo anders, aber die sollen Sie sich erst einmal suchen, und das Herumreisen im Lande kostet Geld.“

„Gibt es dort auch noch Heimstätten?“, fragte Saubert, der Buchhalter aus Westfalen, der hinzugetreten war und das Gespräch mit angehört hatte.

„Die sind schließlich auch noch zu finden. Und wenn Ihnen das gelingt, so ist Edson der beste Platz für Sie, denn in der Nähe sind viele Kohlegruben, und wo die sind, gibt es immer gutbezahlte Arbeit. Es ist dabei gar nicht nötig, dass Sie unter der Erde arbeiten. Es gibt eine Menge Hilfsarbeiten, die eine Kohlegrube nötig hat wie Pfostenschlagen, Kochen, schriftliche Arbeiten und eine ganze Menge mehr. Für einen Heimstätter ist das von großem Wert. Es hilft ihm über die ersten Jahre hinweg.“

„Lass uns nach Edson gehen, Vater!“, rief der Junge mit leuchtenden Augen.

„Dir steckt wohl das Trappen im Kopfe?“, fragte der Vater lächelnd. „Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben, Herr Mühlberg.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Christoph Kadur / Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2013
ISBN: 978-3-7309-1871-5

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