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Zum Buch + Die Goldstadt an der Klondike-Mündung

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Alaska-Gold

Emil Droonberg

 

Coverbild: © lem/Shutterstock.com

 

 

Die Goldstadt an der Klondike-Mündung

Die Rauchschleppe des letzten diesjährigen Dampfers von Dawson City nach dem Süden war am westlichen Horizonte verschwunden. Aufgesogen von dem grauen Dunst, der dort auf den breiten Wassern des Yukon lag und die Horizontlinie völlig verwischte.

Herbert Escher, der, fast ohne es zu wissen, dem Dampfer nachblickte, auch nachdem dieser schon längst seinem Gesichtskreise entschwunden war, kehrte endlich der Landungsbrücke den Rücken und wandte sich der Stadt zu. Die Stadt, die in weniger als einem Jahre aus ein paar Dutzend armseliger Blockhäuser in das Leben einer Goldsucherstadt gesprungen war, das jetzt in ihren Straßen und noch mehr in ihren Vergnügungsstätten pulste.

Jetzt war sie abgeschnitten von der Außenwelt, diese Stadt an der Mündung des Klondike in den Yukon, abgeschnitten für acht lange Monate. Nur die Flussboote, die den Verkehr zwischen den zahlreichen an den Ufern des mächtigen Stromes emporgeschossenen Ortschaften und Landungsstellen für die Wege nach den Goldfeldern im Innern vermittelten, würden ihren Dienst noch versehen, bis der Winter, der fürchterliche Winter dieses Nordlandes, seine meterdicke Eisdecke auf den Strom legte. Nach der Außenwelt zu gelangen war von jetzt ab keine Möglichkeit mehr, denn bevor ein Schiff nach der langen Stromreise den an der Mündung des Yukon gelegenen Seehafen St. Michaels erreichte, würde die Navigation im Beringmeer durch ungeheure Felder von Packeis gesperrt sein.

Escher musste ein unbehagliches Gefühl niederkämpfen, als er jetzt langsam an dem Flussufer entlang schritt und die lärmenden Szenen des tollsten Lebens und Treibens vor sich sah, die die Ankunft von Tausenden goldhungriger Cheechakos tagtäglich hier immer wieder neu gestaltete. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er sich plötzlich elend einsam fühlte, ohne seine Freunde, die das Schiff dort, dem er so lange nachgeschaut, jetzt nach dem Süden trug. Davy Evans, der König des Klondike-Distrikts, der aber schon längst, das heißt seit Monaten, kein Alleinherrscher mehr hier gewesen war. Andere Könige waren ihm entstanden, niemand wusste wie oder kümmerte sich darum. Man rannte nur immer gegen ihre Macht an bei allem, was man zu unternehmen im Begriff stand. Sie waren auch meist nicht mehr Einzelpersonen, denn das Vermögen des Einzelnen reichte dazu schon nicht mehr aus. Es waren Gesellschaften mit unbeschränktem Kapital, gestützt von Finanzleuten an den Börsen von New York, Chicago und London, die ihre Hand auf alles legten, das namhafte Gewinne versprach.

Aber er hatte Evans ja auch gar nicht als König, sondern als Menschen geachtet. Als das Vorbild des energischen, zielbewussten, willensstarken Mannes. Diese Eigenschaften galten ihm als zu erstrebenswert für seinen eigenen bei seiner Jugend doch noch zu wenig ausgereiften Charakter, um sie bei dem anderen nicht zu schätzen. Freilich ohne die Rücksichtslosigkeit, die der Amerikaner damit verband.

Aber warum denn nicht ehrlich sein gegen sich selbst. Davy Evans mochte ihm Vorbild sein für seine weitere Entwicklung, aber es war doch nicht das Scheiden von ihm, das jetzt dieses niederträchtig wehe Gefühl in ihm erzeugte. Das galt allein dem Mädchen, das zugleich mit Evans und seiner jungen Frau von ihm gegangen war, Eileen Malony.

Er hätte es ja verhindern können. Vielen wäre es als ein beneidenswerter Glücksfall erschienen, der Mann einer reichen Frau zu werden. Aber zu diesen gehörte er eben nicht. Er wollte sich selbst zum Manne machen. Das verlangte sein Stolz. Und auch Eileen, selbst wenn ihr das niemals klar zum Bewusstsein kam, würde in ihrem tiefsten Innern, als Frau, doch nur einen Mann achten können, der sich selbst zu einem solchen gemacht.

Nachdem er sich so seinen Entschluss gewissermaßen in Gedanken noch einmal bestätigt hatte, schenkte er den Dingen um sich her wieder volle Aufmerksamkeit.

Die Stadt bestand in der Hauptsache nur aus einer am Stromufer entlanglaufenden Straße, und diese war dicht mit Menschen gefüllt. Sie lehnten in den Zugängen oder auch Ladentüren der seltsamsten und verschiedensten Bauwerke, die man wohl jemals in einer Straße vereinigt gesehen hat, oder drängten sich gegenseitig von den erhöhten Seitenstegen aus Holzplanken hinunter in den aufgeweichten Lehmboden.

Ein großes Zelt an der Ecke einer kurzen Querstraße diente als Minenbörse, ein großer Schuppen als Tanzhalle. Kleine Blockhäuser lehnten sich dreist und unbekümmert an stattliche, dreistöckige Hotels. Hinter der Hauptstraße lag das Rote-Licht-Viertel und hinter diesem wieder ein großer moskitoverseuchter Sumpf.

Die Menschenmenge in den Straßen zeigte dasselbe bunte Durcheinander, dieselbe Verschiedenheit. Die meisten von ihnen waren große bärtige Männer. Hier das volle, rote Gesicht eines Salonbesitzers unter ihnen, dort das hagere, aschgraue und verlebte eines Spielhalters. Das Spiel war verboten, ebenso wie das Waffentragen, aber niemand kümmerte sich um das Verbot. Auch Frauen waren zu sehen. Selbstbewusst, dreist, rauschend in seidenen Gewändern und eine Wolke von Patschuli- oder Moschusduft um sich verbreitend.

Die flache Strecke am Ufer und die Anhöhen drüben auf der anderen Seite des Yukon an den beiden Ufern des Klondike waren wie ein Heerlager mit Zelten besetzt. Wer sich eilig zwischen ihnen hindurchwinden wollte, geriet immer in Gefahr, über ausgespannte Leinen und Pflöcke zu stürzen.

Jede nachkommende Gruppe von Abenteurern musste ihre Zelte immer weiter draußen aufschlagen. Und jede Stunde brachte neue von ihnen.

Am Ufer lagen die Boote fünf Reihen tief in der lebhaften Strömung. Scows, die großen Lastboote, waren auf den Ufersand gezogen und dienten den Eigentümern als Wohnung. Tausend Öfen verbreiteten den Geruch von Bohnen und Speck. Überall Leben, Bewegung, Flüche, Gelächter.

Eben legte wieder ein Boot mit Neuankömmlingen ganz in Eschers Nähe an. Zwei junge Leute, die anscheinend müßig hier herumlungerten, traten an sie heran.

„Well, Boys, wie sieht’s mit dem Gold hier aus?“, fragte einer der Neuangekommenen, indem er ans Ufer sprang.

Mit einem Ausdruck geringschätzigen Mitleids und nachdem er einen Strahl braunen Tabaksaftes zielgerecht auf eine kleine, eilig über den Sand kriechende Krabbe gespritzt hatte, entgegnete der eine von ihnen:

„Ihr Cheechakos tut am besten, gleich wieder nach Hause zu gehen. Es gibt hier keinen Fußbreit Boden mehr zu belegen. Schon seit Monaten nicht mehr. Was noch übrig ist, ist alles Sumpf. Und wenn ihr etwa denkt, Arbeit zu finden – well, hier sind zehn Mann für jeden Handgriff. Die ganze Sache ist verdammter Schwindel.“

Der Mann hatte nicht so ganz unrecht. Und doch waren der Strom und die Seen, die seinen Oberlauf bildeten, noch für Hunderte von Meilen mit den Booten weiterer Tausende von Neuankömmlingen bedeckt. Und hinter ihnen quälten sich Tausende und aber Tausende andere durch Sümpfe und Moräste, gefoltert bis zum Wahnsinn von Moskitoschwärmen, keuchend und schwankend unter der Last ihrer Ausrüstung, aber unbesiegbar in ihrer Zuversicht und ihrer Entschlossenheit, das Goldland zu erreichen, koste es, was es wolle. Erklommen Pässe und trieben auf Flößen und in roh zusammengezimmerten Booten durch Stromschnellen, versanken in ihren Strudeln und verrotteten im Schlamme der Sümpfe. Aber die Überlebenden drangen vorwärts, unaufhaltsam und mit ungebrochenem Mut, denn dort am Klondike und am Yukon lag das Gold. Mochte das Land die Schwachen morden, wer fragte danach? Es war nur das Land der Starken. Nur die Starken konnten mit ihm kämpfen und Sieger bleiben in diesem Kampfe.

Escher hielt sich nicht auf, um zu sehen, ob die eben Neuangekommenen den Rat befolgten. Er wusste, dass das nicht geschehen würde. Noch nicht. Vielleicht in einigen Tagen. Viele taten es nach einigen Tagen. Taten es, nachdem sie Körper und Geist ermüdet und abgestumpft hatten in immerwährenden Auf- und Abwandern durch die meilenlange Straße mit ihrem fiebernden Leben, ihrem Gekreisch von Grammofonen, dem grellen Rhythmus bachanaler Tanzweisen, die aus den großen Hallen herausschmetterten – und nachdem sie einen tieferen Einblick in die Dinge gewonnen hatten.

Und es waren keineswegs nur die Feigen und Verzagten, die es taten. Viele hatten willig die übermenschlichen Strapazen auf der langen Reise über den Chilcoot-Pass ertragen und wären bereit gewesen, weitere übermenschliche Strapazen auf sich zu nehmen, um das Gold zu finden, das hier lag. Aber sie erkannten, dass sie hier gegen eine Steinmauer gerannt waren. Aller Grund und Boden, der etwas wert war, befand sich längst in festem Besitz, und was man ihnen bot, war nur harte Arbeit, die härteste Arbeit, die sich nur erdenken ließ, für kargen Lohn.

Dabei war das Land ganz in den Händen korrupter Beamten, die ihre Stellung nur durch politischen ‚Pull‘ erhalten hatten und als nichts anderes als eine günstige Gelegenheit zu schneller Bereicherung ansahen.

Das Stimmrecht für alle öffentlichen Angelegenheiten wurde nur an Günstlinge und Helfershelfer gegeben, die es nach erhaltener Weisung ausführten. Schank- und Spielkonzessionen wurden verhandelt. Niemand konnte sein Recht erhalten, ohne den einen oder anderen Beamten zu bestechen. Man musste eine Lizenz erwerben, um nach Gold suchen zu dürfen, einen Handel zu betreiben oder einen Baum zu fällen. Hatte man Gold gefunden und wollte einen aussichtsreichen Claim belegen, so lief man stets Gefahr, dass einem dieser durch ein offenkundiges Betrugsmanöver von den Beamten entzogen und einer Gesellschaft gegen gute Bezahlung in die Hände gespielt wurde.

Jawohl, Strapazen und Gefahren, Blizzards, Sümpfe und Stromschnellen, das alles ließ sich ertragen. Mit dem allen konnte man fertig werden. Die organisierte Korruption entmutigte aber auch manchen Starken, der ein ehrlicher Mann war, und er ging zurück, ohne den Kampf mit ihr aufzunehmen.

„Hello, Escher!“, hörte der junge Mann sich plötzlich in deutscher Sprache angerufen. „Wohin des Wegs?“

Er blickte auf und sah einen langen, hageren, aber doch kräftig gebauten Menschen von ungefähr fünfundzwanzig Jahren vor sich.

„Hello, Schmidt!“, grüßte er ihn.

Er hatte einen leisen, oder eigentlich gar nicht so sehr leisen, sondern im Gegenteil recht bestimmten Verdacht, dass der andere den Namen Schmidt führte, weil ihm der Gebrauch eines richtigen Namens aus irgendwelchen Gründen unbequem geworden war. Das hatte ihn auch bewogen, den Landsmann stets mit einiger Vorsicht zu genießen, doch hatte er in seinem Verhalten nie etwas wahrgenommen, was ein Misstrauen gerechtfertigt hätte. Was immer es also auch sein mochte, das den Mann die Zweckmäßigkeit einer Namensänderung nahegelegt, es war jedenfalls kein völlig verdorbener oder unzuverlässiger Charakter.

„Wo ich hin will, das weiß ich eigentlich selbst nicht recht“, fügte er hinzu. „Ich wünschte, Sie könnten es mir sagen. Ich glaube, ich habe niemals in meinem Leben weniger gewusst, was ich mit mir anfangen soll, als gerade jetzt in diesem Augenblicke.“

„Also komme ich wie gerufen“, stellte Schmidt befriedigt fest. „Kann mir schon denken. Fühlen sich noch ein wenig blau vom Abschiednehmen. „Hab Sie ja mit Miss Malony und den anderen nach der Landungsbrücke gehen sehen. Brauchen mir gar nichts zu erzählen. Kenne das aus eigener Erfahrung. Freilich, ’s ist schon lange her. War noch Pennäler damals. Schöne Zeit. Später kommt’s dann anders.“

Seine Augen nahmen für einen Augenblick einen weicheren Ausdruck an. Aber nur für einen Augenblick. Erinnerungen an die Vergangenheit waren ihm offenbar nicht willkommen. Sein Ton war deshalb auch gleich verändert, als er jetzt hinzusetzte:

„Well, ich denke, wir gehen nach dem Pavillon-Theater. Nichts Besseres, als unter die Leute zu gehen, wenn man sich blau fühlt. Die ‚Katze‘ und die kleine May haben schon ein paar Mal nach Ihnen gefragt.“

„Reden Sie keinen Unsinn, Mensch“, unterbrach ihn Escher etwas ärgerlich. „Was gehen mich die beiden Frauenzimmer an!“

„Well, jeder nach seiner Art“, meinte Schmidt philosophisch, „mir sind immer diejenigen am liebsten, die mich nichts angehen. – Aber kommen Sie. Ich habe meinen Taglohn schon verdient, und auch noch etwas darüber. Habe unten am Flusse drei Ausrüstungen gekauft. Für fünfundzwanzig Cents vom Dollar weniger, als sie in Vancouver gekostet haben. Ich kann sie mit hundert Prozent Nutzen wieder verkaufen. Jetzt ist die Zeit, denen, die wieder fortgehen, ihr Zeug abzukaufen. Denn sie müssen sich sputen, wenn sie noch über die Pässe wollen, bevor sie verschneit sind. Und sie haben ja auch den ganzen Schwindel hier so satt, dass sie froh sind, wenn sie wieder fortkommen. Sie sollten bloß mal hören, wie die über den Klondike und den Yukon fluchen. Da wird sogar Büchsenmilch sauer. – Aber, halt, wo wollen Sie denn hin?“

„Will nur mal nach der Postoffice gehen, um zu sehen, ob Zeitungen oder Briefe für mich da sind.“

Escher hatte sich angeschickt, über die Straße zu gehen, da die Postoffice sich auf der gegenüberliegenden Seite befand. Wie gewöhnlich herrschte ein großer Andrang dort. Bis auf die Straße hinaus standen die Wartenden zwei Mann tief Schlange.

„Schreiben Sie noch Artikel für den ‚San Francisco Examiner‘?“, fragte Schmidt.

„Bisher habe ich fast jede Woche einen geliefert“, entgegnete Escher.

„Es hat keinen Zweck, dass wir uns hier anstellen und stundenlang warten“, erklärte Schmidt, indem er eine Pfeife und Tabak aus der Tasche holte, sie langsam zu stopfen begann und dann anzündete. „Der Postmeister ist ein Gauner, wie alle Beamten hier. Fertigt die Leute absichtlich langsam ab, sodass sie die Geduld verlieren und sich lieber an Mrs Melville wenden. Die besorgt ihnen die Briefe hinten herum und bekommt sie auch, wenn der Postmeister um drei Uhr den Wartenden den Schalter vor der Nase zugeschlossen hat. Sie berechnet einen Dollar für jeden Brief. Die Hälfte davon bekommt der Postmeister. Für manchen ist das viel Geld, aber sie sind wenigstens sicher, auf diese Weise ihre Briefe zu bekommen. Gestern habe ich es erlebt, das ein Vordermann von mir am Schalter nach einem Briefe fragte. Hoffte wohl auf Nachricht von zu Hause. Von Frau und Kindern. Denn er fieberte förmlich vor Spannung, als der Clerk nachsah. ‚Nichts da!‘ Enttäuscht und tief aufatmend ging der Mann fort. Am Nachmittag sah ich ihn wieder. Freudestrahlend. Er hatte seinen Brief. Besorgt durch Mrs Melville für einen Dollar. Der Clerk hatte nicht richtig nachgesehen gehabt. Verfluchte Gaunerbande!“

Zur Bekräftigung dieses Ausspruchs spuckte er in den weichen, aufgewühlten Boden der Straße. Dann fuhr er fort:

„Heute passierte dasselbe mir. Ich hole mir meine Briefe immer selbst. Die meisten sind mir den Dollar nicht wert. Der Clerk, ein ganz unverschämter Bengel, lässt die Briefe durch seine Hände gleiten. Natürlich nichts da. Ich hatte aber schon einen Brief von der kleinen Helen darunter gesehen. Sie kennen die kleine Helen? – Nicht, well, sie ist Tippmamsell bei einem Landagenten. Gehört übrigens zu den sieben törichten Jungfrauen hier in Dawson City, obwohl ich die übrigen sechs bisher noch nicht habe auftreiben können. Mit Ausnahme der May im Pavillon vielleicht. Die könnte man ebenfalls noch mit dazu rechnen, wenn man sich etwas beeilt und keine zu strengen Anforderungen stellt. Von den klugen Jungfrauen gibt’s mehr hier. – Der Blondkopf, die Helen Sanders, übrigens eine Schwedin, gehört aber bestimmt zu den törichten Jungfrauen. Ist vielleicht die allertörichste von allen, dass sie einen Kerl wie mich überhaupt der Beachtung für wert hält.

Well, ich hatte also einen Brief von ihr unter den anderen gesehen, denn ich kenne doch ihre Handschrift, und so fuhr auch meine Hand gleich durch das Schalterfenster und dem Clerk an die Gurgel.

‚Halt, mein Junge‘, hauchte ich ihn an, ‚willst du mir vorlügen, dass kein Brief für Max Schmidt da ist, wo ich ihn doch selbst sehe!‘

Der Kerl war blau geworden im Gesicht, denn ich mochte etwas fest zugepackt haben. Stotterte, dass er den Namen nicht richtig verstanden hätte. – Well, er wird ihn sich jetzt eingeprägt haben, denke ich. Also, wenn Sie sich wirklich eine Stunde oder zwei hier anstellen wollen, so werde ich Ihnen Gesellschaft leisten. Der Kerl kennt mich jetzt, und so haben Sie wenigstens Aussicht, Ihre Briefe zu bekommen. Vielleicht wäre es aber richtiger, die paar Dollars zu zahlen und sich an Mrs Melville zu wenden.“

„Nein, im Gegenteil, ich werde das selbst besorgen. Die Zeit ist für mich nicht verloren. Ich benütze sie, um Studien für meinen nächsten Artikel zu machen. Ich war früher Hilfsredakteur bei dem ‚San Francisco Examiner‘. Dann packte mich, wie so viele andere, das Goldfieber, und ich kam hierher. Seitdem haben die guten Bürger von San Francisco der Vorzug genossen, beinahe jede Woche einen Artikel ‚Von unserem Spezialkorrespondenten Herbert Escher‘ zu lesen. Für meinen nächsten werde ich den Stoff von hier entnehmen. Sehen Sie sich nur die Menschen an, die hier auf Briefe warten. Haben Sie jemals ein so buntes Durcheinander gesehen? Jeder Einzelne fast ein Typus, der Vertreter einer Gattung mit besonderer Einstellung zu den Dingen hier. Und die kann man den meisten vom Gesicht ablesen. Man braucht nichts zu erdenken. Nur das ‚Sehen‘ muss man gelernt haben., so eben, wie ein Zeitungsmann die Dinge sehen muss. Dann drängt sich einem das Material auf.“

Escher fand reichlich Zeit, seine Absicht, hier Milieustudien zu machen, auszuführen, denn es währte länger als eine und eine halbe Stunde, bevor die Reihe vor ihnen am Schalter abgefertigt war. Endlich standen nur noch zwei Männer, augenscheinlich Goldgräber, vor ihnen, deren Kleidung und sonstiges Äußeres verriet, dass sie eben erst aus den Minen gekommen waren. Hungrig, nach Nachrichten von daheim, war ihr erster Gang nach der Postoffice gewesen. Bevor sie aber noch ein Wort an den Clerk richten konnten, schlug irgendwo in dem Raume hinter der Schalterwand eine Uhr Drei, und im gleichen Augenblick rasselte das Fenster mit seiner undurchsichtigen Milchglasscheibe herunter.

Einen Augenblick sahen Escher und Schmidt einander verdutzt an – dann brachen sie beide in ein lautes Gelächter aus.

Im Pavillon-Theater

 

Als Escher mit seinem Begleiter nach einem kurzen Lunch in einem der luxuriösen Restaurants, wie sie seit einigen Monaten zu Dutzenden in die Existenz gesprungen waren, den Weg nach dem Pavillon-Theater einschlugen, brandete wieder das Leben der Goldstadt um sie. Überall in dem Menschengewühl sah man die gar nicht zu verkennenden Gestalten der Goldgräber, die nach monatelanger harter Arbeit und Entbehrung von ihren Claims hereingekommen waren, weil die Einsamkeit und Öde ihnen allmählich unerträglich geworden waren und das Leben hier im Vergnügungs- und Geschäftsviertel von Dawson sie mit tausend verführerischen Stimmen lockte. Man sah es an ihren roten erregten Gesichtern, wie er sie gepackt hatte, dieser Hunger nach dem Leben, nach Glitter und Licht. Häufig genug sah man auch ihre armdicken, fußlangen Lederbeutel mit Goldstaub halb aus der Tasche ihrer Mackinaws hervorlugen. Das war aber immer nur die ‚kleine Münze‘ für die Ausgaben eines in tollem Taumel verlebten und mit schwerer, trunkener Betäubung endenden Tages. Auf der Bank hatten sie noch ein halbes Dutzend und mehr solcher Säcke, jeder zehnmal so groß wie dieser.

Der Rausch des Erfolges füllte die Luft wie ein Fieberhauch, den jeder einsaugen musste. Wert und Unwert hatten ihren Maßstab verloren für die Glücklichen, die schon vor Monaten hier eingetroffen waren und einen guten Claim hatten belegen können.

Und das Fieber, das Delirium, das in ihrem Hirn brannte, sprang auch auf die anderen über. Geld? Jeder warf es fort mit beiden Händen, und es kam doch immer wieder zu ihm zurück in dieser Form oder jener, denn täglich und stündlich floss der goldene Strom von allen umliegenden Claims in dieses Gomorrha am Klondike.

Escher sah einen Mann, den er kannte und den auch sein Begleiter kannte. Sie hatten ihn mehrfach in dem einen oder anderen Lokale der Stadt getroffen und einige Worte mit ihm gewechselt. Es war einer der ‚Großen‘ vom Klondike. Mit einer Anzahl seiner Leute und einem halben Dutzend Eseln bildete er einen ganzen Zug, als er jetzt von der entgegengesetzten Richtung her die Straße entlang kam. Über die Schulter gehangen trug er eine Winchester Rifle, eine nicht ganz unberechtigte Maßnahme, da seine Esel mit Goldsäcken beladen waren.

In der Bank drängten sich die Kunden, um ihr Geld wiegen zu lassen. In Eimern, leeren Petroleumkanistern und jeder Art von Gefäß, wie es gerade zu beschaffen gewesen war, stand der kostbare Staub in Reihen hinter den Zahltischen. Schwitzende Angestellte behandelten ihn mit der Gleichgültigkeit, mit der der Krämer irgendeine Ware abwiegt.

Juweliere verarbeiteten ihn zu monströsen Schmucksachen, die aber den Bestellern und den gepuderten und geschminkten Schönen, für die sie bestimmt waren, als der Höhepunkt eines erlesenen Geschmacks erschienen.

Noch im vergangenen Winter, im Winter von 1897/98, war das hohläugige Gespenst des Hungers durch die zu dieser Zeit noch ganz unbedeutende Stadt geschritten, unter dem Zusammenströmen der Hunderte und Tausende von Abenteurern beim ersten Bekanntwerden der großen Goldfunde. Nicht für das Doppelte ihres Gewichts in Gold konnte man eine Handvoll Bohnen kaufen. Jetzt sah man überall elegant eingerichtete Läden mit Verkaufsartikeln zu fabelhaften Preisen; die Wände der Trinksalons waren mit mächtigen Spiegeln bekleidet, und die Speisekarten wiesen in langer Liste die feinsten europäischen Delikatessen auf. Überall Verschwendung, Zurschaustellung riesiger Vermögenswerte, aber ohne jedes Protzertum. Und überall der Mann, für den das alles hier geschaffen war, der Goldgräber mit seinem Beutel von ‚Staub‘.

Er kam in die Stadt, ungekämmt, mit langem Bart und wilden Blicken. Oftmals zerlumpt und abgerissen, aber immer mit dem Blicke des geheimen Hungers nach dem Leben in seinen Augen. Und wer diesen Blick sah, der hatte die Vision seiner Existenz da draußen in der grauen Öde auf seinem Claim und unter der täglichen Fron seiner schweren Arbeit in Schutt und Schmutz. Sah ihn bei seinen täglichen unveränderlichen Mahlzeiten aus Bohnen und Speck und Flap-jacks. Sah ihn ausgestreckt auf seinem Lager von zerwühlten wollenen Decken, in seiner düsteren Kabine, in der eine einzige flackernde Kerze nur die Bestimmung zu haben schien, die Finsternis um ihn herum deutlich sichtbar zu machen. Sah aber auch den Blick nach der Ecke auf dem Wandbrett da oben, wo die leere Corned-Beef-Dose stand, die seinen gesammelten Goldstaub enthielt.

Welche Träume erweckte dieser Blick in ihm? Welche funkelnden, bunten Bilder ließ er vor ihm erscheinen, von Licht und Farbe, rauschender Musik, schönen Frauen mit wogenden Busen und gleißenden Augen und einem lockenden Duft von Moschus und Patschuli. Das alles gab es dort im Tenderloinviertel von Dawson City. Zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht. Nur ein paar kurze Tagesreisen trennten ihn davon. Und dort oben die Dose, das war die Aladinlampe, die ihm alles verschaffen würde.

Und wenn Geduld, Ausdauer, grimmiges, bulldoggenmäßiges Durchhalten unter geisttötender schwerer Arbeit eine Belohnung verdiente, so hatte er sich mehr als irgendein anderer das Recht erkauft, sich einmal auszuleben, so wie er es verstand.

Das meinten auch die anderen hier in der Stadt. Die Frauen mit den gepuderten und geschminkten Wangen, gefärbten Lippen und Augenbrauen. Die Zutreiber zu den verschiedenen Salons und Tanzhallen und der Bartender mit seinen ‚k. o.‘-Tropfen, die er ihm in seinen Whisky schüttete, sobald der Augenblick sich als günstig erwies.

Freilich, nach ein paar Tagen hatte man wohl Mühe, den Mann wiederzuerkennen. Rasiert und mit frisch geschnittenem Haar, mit seidener Unterwäsche und eleganten Einsatzstiefeln, einem Anzug nach der letzten New Yorker Mode, erinnerte er nur noch wenig an den Mann mit den kotbespritzten Mokassins und zerrissenem Mackinaw. Und er war vermutlich auf dem Wege, eine Verabredung mit einer der Damen des Palast-Theaters oder der Tivoli-Tanzhalle einzuhalten.

Aber nach wieder ein paar Tagen, oder im besten Falle Wochen, war dann in der Regel eine neue Veränderung mit ihm vorgegangen. Nicht unvermutet eigentlich. Und wenn er Zeit gefunden hätte, seinen Kopf von dem einen Rausche erst wieder freizumachen, bevor er in den nächsten halb hineintaumelte, halb sich hineinlocken ließ, so hätte er ja auch das als das unvermeidlich Kommende erwarten müssen. Unangenehm ist es aber in dem einen wie in dem anderen Falle, wenn man plötzlich die Wahrnehmung macht, dass man auf dem Boden seines Beutels von Goldstaub angelangt ist und die Lady, mit der man so viele Flaschen von Champagner zu zwanzig Dollars die Flasche getrunken hat, aus ihren blitzenden Augen jede Erinnerung an einen verloren zu haben scheint …

Escher und Schmidt hatten das Pavillon-Theater erreicht, und ein Hüne von Portier, in reich mit Goldborten besetzter grüner Uniform, öffnete die inneren großen Glastüren vor ihnen und ließ sie eintreten.

Noch vor ein paar Monaten war der Besitzer nur Eigentümer einer recht bescheidenen Bretterbude gewesen, die den Namen Malamut-Salon führte. Jetzt gehörte ihm dieser Palast, der allgemeine Bewunderung erregte. Nicht wegen der Summen, die er gekostet hatte. Das fiel in dieser Stadt allgemeiner unsinniger Verschwendung nicht auf. Aber wegen der unglaublich kurzen Zeit, in der man dieses Wunder geschaffen.

Zur Rechten des großen, von Hunderten von Glühlampen mit Milchglasschliff beleuchteten Vorraums, den sie zunächst betraten, befand sich die lange Bar aus schwerem, rotem Mahagoni mit daran entlanglaufenden blitzenden Messingstangen als Fuß- und Armstützen für die davorstehenden oder sich dagegenlehnenden Gäste. Die Wand dahinter war mit kostbaren geschliffenen Spiegeln verkleidet, vor denen auf einem Marmorsims Reihen funkelnder Flaschen mit Likören standen. Die grüne Farbe des Pfefferminz, die gelbe des Whiskys, hell und klar wie flüssiges Gold in der Lichtflut und deren Widerstrahlung durch die Spiegel aufleuchtend, die grüngelbe des Absinth, die rosenrote irgendeines Likörs für die ‚Ladies‘, bildeten eine Farbenorgie, die jeden Blick unwillkürlich zum Mindestens für einen Moment an sich riss. Hinter dem Bartisch standen die Bartender, in weißen Jacken und Schürzen, mit bewundernswerter Gewandtheit Liköre einschenkend, Cocktails mischend und Gold- und Silberstücke oder Banknoten dafür einstreichend und in den unaufhörlich klingenden Registrierkassen verschwinden lassend.

Die Gäste an dem Bartisch wären eines Studiums für sich wert gewesen, wenn irgendjemand hier Zeit und Neigung dazu gehabt hätte. Männer in würdevollen Gehrockanzügen standen da neben anderen in blauleinenen Overalls, an denen der Schmutz der Arbeit, gegen den sie Schutz gewähren sollten, noch nicht einmal getrocknet war, bartlose junge Burschen neben Männern in grauem Haar. Und alle lachten, lärmten, schrieen oder versuchten mit trunkener Stimme ein Lied zu singen.

Zur Linken, durch eine Balustrade von dem Barraum getrennt, befand sich der Speisesalon mit wohl einem Dutzend grünüberzogener Tische, an denen jede Art von Glückspiel, von Poker, Pharao und Bezique bis zu Roulette und Glücksrädern im Gange war. Dasselbe Gedränge wie vor der Bar herrschte auch um die Spieltische, und die Menge hier war so gemischt wie dort. Goldgräber mit geröteten Gesichtern und erregten Blicken spielten ohne jede Überlegung darauf los, andere wieder mit Vorsicht und Bedachtsamkeit. Viele von ihnen trugen grüne Augenschirme, um ihre Gesichtszüge zu beschatten, die sonst vielleicht ihren Mitspielern über die Karten in ihrer Hand etwas verraten hätten. Überall wurde mit Chips gespielt, die man an einem Seitentische, auf dem eine Waage stand, bei einem ziemlich halunkenhaft aussehenden Individuum einwechseln konnte. Die Ladies, die vereinzelt zwischen den sich hier durcheinander drängenden Männern zu sehen waren, spielten natürlich mit den Chips ihrer Kavaliere, waren aber genau so wütend, wenn sie verloren, als wenn es ihre eigenen gewesen wären.

Da die Herren in Ottawa ihren pflichtgemäßen Anteil von den Bestechungsgeldern erhielten, erfolgte der Betrieb ungestört.

„Wollen Sie spielen?“, fragte Schmidt.

„Hätte beinah Lust dazu“, erwiderte Escher, „denn ich sehe dort als Bankhalter einen alten Bekannten. Er war im Frühjahr, als ich mich auf der Reise hierher befand, Bankhalter in Skaguay. Er hielt dort einen Pharaotisch, und ein Geistlicher, der mit dem Sündenpfuhl dort ein wenig aufräumen wollte, machte die Spielenden mit einem System bekannt, mit dem man unfehlbar nicht in jedem einzelnen Spiel, aber doch an jedem Abend gewinnt. Der Herr hat es offenbar vorgezogen, den Schauplatz seiner ersprießlichen Tätigkeit nach hier zu verlegen.“

„Kennen Sie das System?“, fragte Schmidt. „Dann können wir es ja gleich mal ausprobieren.“

„Das Ausprobieren ist nicht mehr nötig. Es ist zuverlässig. Aber ich erkläre es Ihnen ein andermal. Heute fehlt mir das Interesse am Spiel. Gehen wir lieber mal in die Tanzhalle und sehen, was da los ist.“

Die ‚Katze‘

 

Ein anderer Portier, ebenso gekleidet wir der am Außenportal, öffnete, ihre Absicht erkennend, eine weiße, reich mit Gold verzierte Flügeltür, und sie traten in den Tanzsaal ein.

Wenn schon der Barraum und Spielsalon eine Ausstattung zeigten, die in diesem grimmigen Nordlande, das noch vor weniger als einem Jahre nur die allerdürftigste Lebensführung kannte, entschieden in Verwunderung setzen mussten, so war das hier noch viel mehr der Fall. Er war ebenfalls in Weiß und Gold gehalten. Die Beleuchtung durch ganze Reihen elektrischer Mattglaslampen erfuhr aber eine geradezu märchenhafte Abtönung durch eine Anzahl elektrischer Blumenbuketts und anderer Ornamente mit wunderbarem Farbenwurf.

Rund um den Saal laufend und auf vergoldete Säulen gestützt, befand sich eine Reihe von Logen, wieder in Weiß und Gold und mit heliotropfarbenen seidenen Portieren. Sie waren für die Gäste mit den besonders großen Goldstaubbeuteln und der Bereitwilligkeit, sich von deren Inhalt unter freundlicher Beihilfe der Damen des Hauses zu trennen, bestimmt.

Dem Eingang gegenüber, am anderen Ende des Saales, befand sich eine Bühne, auf der Chansonetten und Varietékünstler auftraten. Auf eine Einheitlichkeit des Programms war freilich kein Wert gelegt, denn während auf der einen Seite der zumeist derbe Geschmack des anwesenden Publikums voll berücksichtigt war, gab es auch hervorragende Darbietungen von Artisten. Sie waren mit der Schar der übrigen Abenteurer in das Land gekommen, hatten aber nach Einsichtnahme in die Dinge die Gelegenheit willkommen geheißen, hier in ihrem Berufe tätig zu sein. Man hatte aber auch unter enormen Kosten Künstler von Weltruf zu einem kurzen Gastspiel nach Dawson kommen lassen. Das konnte man sich leisten.

Escher und Schmidt nahmen an einem Tische in der Nähe des Eingangs Platz, an dem gerade noch ein paar Plätze frei waren.

Eine Zeit lang beobachteten sie das Publikum.

Es bestand zumeist aus Leuten, denen man es ansah, dass sie nach monatelanger Arbeit und Entbehrung in den Goldfeldern da draußen hier hereingekommen waren, hungrig nach Glanz und Flitter, einer bluterhitzenden Tanzweise und dem Anblick eines Frauenkörpers, gekleidet in Stoffe von sinnbetörendem Farbenreiz, der wetteiferte mit dem Rot der Wangen und Lippen und dunklem Glanz der Augen und Brauen, deren Ursprung sie nicht kümmerte.

Mit einzelnen Ausnahmen hatten sie aber alle schon den Lehm und Schmutz des langen Trails abgestreift und die ersten Schliffe der Kultur über sich ergehen lassen. Sie waren meist harmlose, einfache Naturen, die mit gespanntester Aufmerksamkeit den Vorgängen auf der Bühne folgten und zum Teil in kindliches Entzücken darüber gerieten.

Eben sang eine nicht mehr ganz jugendliche, übermäßig geschminkte Frauensperson von handfester, plumper Körperform ein ziemlich banales Couplet, das sie mit völlig ausdruckslosen, automatenhaften Armbewegungen begleitete. Als sie geendet hatte, wurde ihr rasender Applaus zuteil, der aber sicher mehr ihrer prallen Weiblichkeit als ihrer recht mäßigen Kunstleistung galt.

„Ist sie nicht großartig!“, rief ein Miner an ihrem Tische, dessen schwielige Hände ihn als solchen erkennen ließen, mit Begeisterung.

Er war schon die ganze Zeit unruhig auf seinem Stuhle hin und her gerückt und holte jetzt einen gut gefüllten Beutel mit Goldstaub aus einer seiner Taschen heraus. Mit unruhigen Fingern suchte er eine Zeit lang darin herum. Als er einen großen Nugget gefunden hatte, ließ er den Beutel wieder in seine Tasche zurückwandern, wickelte das Stück Gold in ein Papier und erhob sich.

„Hier, Flo, pass auf!“, schrie er mit einer Stimme, die auch eine doppelt so große und unruhige Gesellschaft übertönt hätte. Zugleich warf er das Papier mit dem Nugget auf die Bühne.

Die Sängerin hob es auf, verneigte sich dann mit einem breiten Lächeln, das ein paar Goldkronen in ihrem Munde sehen ließ, warf dem Geber eine Kusshand zu und verschwand dann hinter den Kulissen.

„Mit der habe ich schon manche Flasche Champagner getrunken. Und es wird wohl auch diesmal nicht anders werden“, sagte er zu den Umsitzenden im Tone befriedigter Eitelkeit.

Dass seine Voraussage das Richtige getroffen hatte, erwies sich schon ein paar Augenblicke später, denn in einer Loge über ihnen erschien der vollbusige Oberkörper ‚Flo’s‘. Mit einem verheißenden Lächeln rief sie ihm zu:

„Komm, Jim, lass uns Wiedersehen feiern!“

Mit einem etwas schafsmäßigen, aber vergnügten Grinsen in seinem Gesicht, erhob sich der Mann und folgte der Einladung.

„Die alten Narren sind doch die größten Narren“, bemerkte ein junger Mann, der ebenfalls an ihrem Tische saß. „Der ist doch nicht nur über seine erste, sondern auch über seine zweite Jugend längst hinaus. Sollte mehr Verstand haben, als sich hier abscheren zu lassen wie ein Kamel. Freilich, das ist ja wohl der ganze Zweck, warum er nach Dawson gekommen ist, und so ist die Sache ja all right. Übermorgen, wenn sie ihn ausgeplündert haben, geht er dann ohne einen Cent nach seinem Claim zurück, überzeugt, dass er ‚a hell of a good time‘ hatte. Und wie viele spielen auf diese Weise die Narren! – Mir könnte das nicht passieren. Nicht mehr. Ich habe so viel Geld gemacht, als ich mir vorgenommen hatte, und übermorgen geht’s nach Hause.“

Er trank den Rest seines Cocktails aus und reichte das Glas dem eben vorüberscheitenden Kellner, um es von Neuem füllen zu lassen.

Auch Escher gab ihm seine Bestellung. Schmidt war im Begriff, das Gleiche zu tun, als er plötzlich innehielt. Sein Blick war auf das Gesicht des Kellners gefallen, und irgendetwas darin musste ihm aufgefallen sein. Er war eine noch jugendliche, schlanke Erscheinung von ausgezeichneter Haltung, die hier, wo niemand auf eine solche Wert legte, demjenigen, der in dieser Beziehung etwas kritischer veranlagt war, nicht unbemerkt bleiben konnte.

Auch der Kellner musste plötzlich etwas in Schmidts Gesicht gesehen haben, das ihn stutzen ließ. In seinen Zügen erschien ein Ausdruck der Überraschung, und in seine Wangen schoss ein leichtes Rot.

Beide sahen sich einen Augenblick lang gegenseitig an.

„Mein Gott, Baron, Sie auch hier!“, stieß Schmidt, noch mehr bestürzt als erstaunt, hervor.

Der junge Mann in der weißen Kellnerjacke und der kurzen weißen Schürze zuckte verlegen die Achseln.

„Was wollen Sie? Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich Sie hier treffen würde, nachdem wir zuletzt in Kiel bei der Regatta –“

„Never mind!“, fiel Schmidt ihm ins Wort. Der berührte Gegenstand weckte offenbar keine angenehmen Erinnerungen in ihm. „Wie lange sind Sie schon hier? Ich habe Sie noch gar nicht gesehen.“

„Oh, hier bin ich erst seit ein paar Tagen. Ich habe zuerst einen Claim bearbeitet. Monatelang. Wollte Ausdauer zeigen, weil man mir immer den Vorwurf machte, ich hätte keine. Nun habe ich sie an der falschen Stelle gezeigt. An zehn verschiedenen Orten gegraben, bis hinunter auf die harte Gesteinsschicht. Alles nutzlos. So gab ich’s auf und kam nach Dawson zurück. Versuche jetzt, hier einen ehrlichen Penny zu verdienen. Ungereimt, werden Sie sagen. In einem Lande, wo die unehrlichen Pennies viel leichter zu haben sind. Well, ich werde nicht versuchen, einen Reim darauf zu finden. Habe schon mehrere ungereimte Dinge getan in meinem Leben. Freilich, wenn mich meine ehrsame Verwandtschaft in Deutschland in diesem Kellnerhabit sehen könnte … Übrigens, habe ich mich nicht schon fein hier eingearbeitet? Ich sage Ihnen, es ist ein erhebendes Gefühl, einmal zu sehen, dass es noch so viele andere Dösköppe in der Welt gibt, nachdem man sich so lange für den einzigen gehalten hat. – Die Anwesenden natürlich ausgenommen“, fügte er mit einem spöttischen Kopfnicken nach Schmidt hinüber hinzu.

Seine Sprechweise war etwas abgehackt, aber klar und bestimmt wie bei einem militärischen Rapport.

„Sehen Sie den Kerl da, der an Ihrem Tische saß und den sich die dicke Flo eben in ihre Loge gerufen hat?“, fuhr er dann fort, indem er mit einer leichten Armbewegung dorthin deutete. „Das ist einer von den Dösköppen. Aber wie ich schon sagte, es ist ein beruhigendes Gefühl, zu wissen, dass es noch mehr von der Sorte gibt.“

Eben beugte sich die von ihm als ‚dicke Flo‘ bezeichnete Chansonette noch einmal über die Brüstung und rief:

„Franz!“

Das galt dem deutschen Kellner, der offenbar aus einer ganz anderen Gesellschaftssphäre hier gelandet, um nicht zu sagen gestrandet war.

Dabei hielt sie zwei gespreizte Finger hoch.

‚Franz‘ nickte zum Zeichen des Verstehens.

„Damit fängt’s an“, sagte er, wieder zu Schmidt gewendet. „Eine Flasche bestellt man nicht. Das würde zu langsam gehen. Man beginnt mit zwei. In einer halben Stunde, nachdem er nach drei oder vier weiteren Flaschen vernünftigen Vorstellungen zugänglich geworden ist, bestellt sie für ihn einen Korb. Die Flasche zu zwanzig Dollars“

„Und Sie machen den aufmerksamen, ergebenen Diener, lassen sich von dem Gelichter befehlen und Franz nennen!“, versetzte Schmidt entrüstet, aber im Flüsterton und zwischen den Zähnen hindurch. „Hol’s der Teufel, Baron, ich glaube, es gibt noch abscheulichere Dinge, als draußen in der Einöde nach Gold graben und keins finden.“

Der andere warf einen raschen, prüfenden Blick auf Escher. Er schien einen Verdacht zu haben, dass dieser ebenfalls ein Deutscher sei und sein Gespräch mit Schmidt verstanden hatte. Jedenfalls wurde das Rot der Erregung in seinem Gesicht noch tiefer. Er konnte aber nicht antworten, denn er wurde von verschiedenen Seiten gerufen.

Escher und Schmidt sahen sich eine Weile schweigend an.

„Warum haben Sie mich nicht vorgestellt?“, fragte Escher dann.

„Man stellt einem Kellner nicht die Gäste vor“, erwiderte Schmidt etwas kurz. „Das verbietet die Rücksicht auf die Gäste.“

„Wenn ich nicht irre, nannten Sie ihn aber Baron.“

„Dann tut man’s erst recht nicht. Aus Rücksicht auf den Baron, der ein Kellner ist und von vampierenden Animierfräuleins Franz gerufen wird.“

„Sie kennen den Mann von Deutschland her?“

„Ja. Und Sie können mir glauben, das unverhoffte Wiedersehen in dieser Form hat mir einen verdammt bitteren Geschmack auf der Zunge zurückgelassen. Gott sei Dank, hier kommen unsere Cocktails.“

Während Escher nur bedächtig einen Schluck trank, leerte Schmidt sein Glas auf einen Zug.

„Sie sagten, dass Sie übermorgen Ihre Heimreise antreten wollten. Der letzte Dampfer ist aber schon diesen Morgen gegangen“, wandte sich Escher an den jungen Kanadier, der das ihm unverständliche Gespräch in der fremden Sprache mit einigem Interesse für Ton und Ausdruck mit angehört hatte. Es war ihm nur so viel daraus klar geworden, dass der Gast und der Kellner Landsleute waren.

„Ich weiß“, entgegnete der junge Mann. „Aber ich gehe mit einigen anderen in einem Gasolinboot den Fluss hinauf und dann über den Pass.“

Er brach ab. Eben war eine andere Sängerin auf der Bühne erschienen.

„Die ‚Katze‘!“, rief er erfreut, als ob er sich von dieser Nummer einen besonderen Genuss verspräche.

Auch Escher kannte sie. Es war das junge Mädchen, dessen Max Schmidt ihm gegenüber mehrmals Erwähnung getan hatte.

Ein lebhafter Applaus begrüßte sie bereits, als sie vor die Rampe trat. Es war ein noch junges Mädchen, sicher nicht mehr als achtzehn Jahre alt, kaum mittelgroß mit einem von einer Fülle blonden Haares umrahmten spitzbübischen Kindergesicht und leichten, koboldartigen Bewegungen.

Ihre Augen streiften schelmisch über die Zuschauer, und ihr Lächeln war so bezwingend ansteckend, dass jeder Anwesende von ihr mitgerissen wurde. Sie sang eine Anzahl Verse. Gassenjungeverse. Aber keineswegs gemein, sondern nur verschmitzt, warf dabei ihre hübsch geformten Arme um sich und tanzte ohne alle pedantischen Regeln und nur ihren bizarren augenblicklichen Eingebungen folgend, ausgelassen umher. Sie spielte keine Rolle, sondern war nur für eine kurze Zeit ohne alle Hemmnisse sie selbst.

Was sie sang, waren die nie endenden, weil immer neu hinzugedichteten Verse von Chaste Lucy, der keuschen Lucie, die immer dort, wo sie verfänglich zu werden drohen, eine überraschend harmlos Wendung nehmen.

 

„A maid I am, a maid I’ll be“,

Said Lucy to her mother.

„I said so too“, her mother said,

„But there is you an’ little brother“.

 

Chaste Lucy took me to her room,

No one had yet missed her.

Then we undressed an’ went to bed –

For I am her little sister.

 

„Eine Jungfrau bin ich und bleibe ich”,

Sagte Lucie zu ihrer Mutter.

„Das sagte ich auch“, die Mutter sprach,

„Doch hier bist du und dort ist dein Bruder.“

 

Die keusche Lucie nahm mich mit in ihr Zimmer,

Niemand hatte sie noch vermisst.

Dann entkleideten wir uns und gingen zu Bett

– Denn ich bin ihre kleine Schwester.

 

Aus jedem anderen Munde und von jeder anderen vorgetragen, hätten die Verse wohl völlig ihre Wirkung auf dieses Publikum verfehlt. Sie gab ihnen aber ein solches Leben, prägte die Pointen so schelmisch, dass es vor Vergnügen kreischte.

Nach jedem Verse kam ein prickelnder Kehrreim, bei dem sie dann stets in das Publikum hineinrief:

„Jetzt alle zusammen, boys!“

Als sie geendet hatte und ihre drolligen, koboldartigen Verbeugungen mit Kusshänden machte, raste das Publikum, und Nuggets flogen ihr von allen Seiten zu.

„Schade um das Girl“, sagte der junge Mann, der sich übermorgen auf die Heimreise begeben wollte. „Sie ist verteufelt hübsch und braucht sich auf der Bühne bloß ihre Natürlichkeit zu bewahren, dann kommt ihr keine Kunst gleich. Aber wie verdorben schon in ihrem Alter. Wenn man ihr Bubengesicht sieht, das liebe, dumme, dann möchte man auf ihre Unschuld und Unerfahrenheit schwören, ich habe mir aber schon manchmal gedacht, es gibt kein verdorbeneres Geschöpf in ganz Dawson. Auf jeden Fall ist sie die Gefährlichere als alle die anderen. Bei denen weiß man, was man von ihnen zu halten hat. Und wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Aber die Kleine betört jeden mit ihrem Unschuldsgesicht. Ich glaube, der Teufel hat noch niemals aus einem hübschen Mädchengesicht heraus so gelogen wie aus dem ihren. Man hat sie nicht ohne Grund die ‚Katze‘ genannt. Denn sie hat Krallen, aber sie bringt sie nur zum Vorschein und faucht die unflätigsten Redensarten, wenn sie gereizt ist. Und das ist sie jedes Mal, wenn sie ihren Willen mit Bitten und Liebenswürdigkeit, die sie natürlich immer zuerst versucht, nicht durchsetzen kann. – Well, mir kann sie nichts mehr anhaben. Übermorgen gehe ich nach Winnipeg zurück, beende mein Studium als Rechtsanwalt und heirate das schönste und beste Mädchen, das es auf der Welt gibt. Habe ihr schon geschrieben, dass ich komme, mit so viel Geld, als wir nötig haben.“

„Sie scheinen die ‚Katze‘ ja recht genau zu kennen“, meinte Schmidt lächelnd.

Der andere kratzte sich mit einer Grimasse im Haar.

„Hol der Teufel alle Katzen und die hier zuerst! Ich könnte schon längst zu Hause sein, wenn sie nicht gewesen wäre. Aber ich trage ihr nichts nach. Zweimal hatte ich schon das Geld, und zweimal habe ich mich hier, obwohl ich die Gefahr kannte, zum Narren machen und ausplündern lassen. Und jedes Mal war ich mit dem festen Vorsatz nach Dawson gekommen, nur ein paar Dollars auszugeben und bei der nächsten Gelegenheit die Heimreise anzutreten.“

Er lachte bitter auf.

„Ich hielt mich für so klug“, fuhr er dann fort, „denn in meinem ganzen Leben habe ich die Welt an der Gurgel fassen und schütteln müssen um jeden Cent, den ich brauchte. Keiner ist mir zugefallen ohne Kampf und harte Arbeit. Das hat mich hart gemacht, wie es jeden hart macht. Eine weiche Stelle, wie der junge Siegfried muss ich aber doch noch gehabt haben, und die ‚Katze‘ hat sie auch richtig herausgefunden. Well, es gelingt ihr nicht wieder. Üble Erfahrungen sind nicht so schlimm, wenn man aus ihnen lernt. Jetzt bin ich den vorletzten Tag in Dawson. Ein drittes Mal dürfte es auch mir nicht passieren, dass ich mich zum Narren machen lasse. Zweimal habe ich mir das Geld wieder beschaffen können, ein drittel Mal würde es mir wohl nicht gelingen.“

Die kleine May

 

Wieder begann eine neue Nummer.

Ein junges Mädchen, allem Anschein nach noch etwas jünger als die ‚Katze‘ stand vor der Rampe. Sie war in allem das Gegenteil dieser. Schlank, aufgeschossen. Bleichsüchtig mit dünnen Lippen. Die Augen blickten versonnen und schwärmerisch. Sie sah ebenfalls recht kindlich und unschuldig aus, aber bei ihr hatte man das Gefühl, dass dieser Eindruck nicht log.

„Die kleine May!“, flüsterte Schmidt.

Sie sang mit dünner, aber reiner und angenehm klingender Sopranstimme ein Lied. Das bekannte Lied ‚Darling I am growing old‘, so voll packender Wehmut in seiner Melodie, wie kein anderes in der Welt. Und niemals hätte es jemand mit mehr Wirkung singen können als die kleine May mit ihrer bescheidenen Künstlerschaft. Vielleicht war es auch gerade die in so grotesken Widerspruch mit der ganzen Umgebung stehende Kindlichkeit ihrer Erscheinung, die eine so ersichtlich tief gehende Wirkung auf die in einem rauen und harten Leben selbst rau und hart gewordenen Männer hier erzeugte, denn Escher sah, wie mancher von ihnen sich verstohlen die Augen wischte.

„Es ist ein Skandal, solch ein Kind hier zu so etwas zu missbrauchen“, hörte Escher am Nebentische eine weibliche Stimme sagen. Ein Ton des Abscheus beendete den Satz.

Er blickte sich um. Die Sprecherin war eine ältliche Frau in einem einfachen, dunklen Kleide, die neben einem Mann von athletischem Körperbau saß, der offenbar zu ihr gehörte. Sie mochte ungefähr fünfundvierzig Jahre zählen und zeigte noch die unverkennbaren Spuren früherer Schönheit, obwohl ihr Gesicht, wie ihre ganze hagere und nach Verlust der jugendlichen Form allmählich etwas eckig gewordene Gestalt schon deutlich den beginnenden und vielleicht durch ein inneres geheimes Leiden beschleunigten Verfall verriet.

An ihrem linken Augen war außerdem ein hässlicher blauer Fleck zu bemerken, der von einem Stoß gegen einen harten Gegenstand herrühren mochte – wenn man nicht etwa an eine brutale Misshandlung glauben wollte. In ihren Augen lag auch ein Ausdruck des Gehetztseins, der dauernden Furcht, und als sie sie jetzt auf den Kraftmenschen neben sich richtete, nahmen sie etwas von der Unterwürfigkeit eines Hundes an.

Das Gesicht erweckte in Escher ein sonderbares Interesse. Es war ihm, als ob er irgendeinen bekannten Zug darin entdeckte. Freilich, teilweise Ähnlichkeiten gibt’s ja so viele.

Der Mann war der Typus des echten Bully. Massiv und schwer gebaut, mit breiten Schultern und einem Stiernacken. Sein Kinn war fast viereckig, der Mund grob-sinnlich und mit einem dauernden höhnischen Zug um die Lippen, als ob er jeden herausfordern wollte, um ihn mit seiner brutalen Kraft niederzuzwingen. Dieses Gefühl und Bewusstsein seiner Kraft schien in ihm stets lebendig zu sein, ihn immer wünschen zu lassen, irgendwen oder irgendwas in seine Hände zu bekommen, um es zu zerbrechen – das insolente Gelüst des rohen Kraftmenschen.

Der Mann flößte ihm auf den ersten Blick Widerwillen ein.

Das Verhältnis der Frau zu ihm, die sich in seiner Begleitung befand und jetzt einen schüchternen, furchtsamen Blick auf ihn richtete, als wolle sie erforschen, ob ihre Bemerkung seinen Unwillen erregt habe, war Escher zunächst noch unklar. Der Gedanke, dass sie seine Frau sein könne, erschien ihm bei der augenfälligen Ungleichheit der beiden zu ungereimt. In dem Gesicht der Frau war ein Zug des Leides, den das hektische Rot in ihren Wangen, das keine Schminke war und vielleicht von einer körperlichen Krankheit herrührte, nur noch auffälliger machte. Ganz offenbar fürchtete sie den Mann, fühlte sich ihm gegenüber aber auch völlig willenlos und ganz in seiner Macht. Das Bewusstsein dessen schien aber etwas Befriedigendes, Faszinierendes für sie zu haben, denn in ihren Augen flackerte etwas auf wie Eifersucht, als jetzt die ‚Katze‘ an ihrem Tische vorüberkam und mit einer oberflächlichen Begrüßung die Hand auf die muskulöse Schulter des Mannes legte.

Befand sie sich etwa im Zustande der Hörigkeit? Alle anderen Erklärungen ihres Verhältnisses zu diesem Manne schienen zu versagen.

Von weiteren Beobachtungen wurde er durch Schmidt abgelenkt, der eine bedeutsame Kopfbewegung nach der Loge hinauf machte, in der die dicke Flo einem alten Narren gegenüber ihre erprobten Künste spielen ließ. Dort war ‚Franz‘ eben, wie er es vorausgesagt, mit einem Korbe Champagner sichtbar geworden.

Auch der junge Kanadier hatte seinen Blick dahin gerichtet.

„Diese Girls bekommen Prozente von der Zeche“, bemerkte er. „Wenn eine Flasche noch halbvoll ist, behaupten sie schon, das Zeug sei abgebraust, und verlange eine neue. Oder sie gießen die Hälfte unversehens in die großen Spucknäpfe, die überall herumstehen. Da oben sitzt die dicke Flo allein mit dem alten Esel. Sie lässt keine andere an ihn ran. Er ist ihr Opfer. Erst vor einer kleinen Weile hörte ich sie sagen, es sei so störend, dass der Kellner so oft ab und zu ginge, Jim möge doch lieber gleich einen Korb bestellen. Dass sich in diesem Korbe, wie ich sicher bin, ein halbes Dutzend leere Flaschen befinden, entzieht sich natürlich der Wahrnehmung Jims. Und dann, ein Gentleman bezahlt nicht selbst. Er wirft den Beutel seiner Lady zu, der das Bezahlen Vergnügen macht, und lässt sie herausnehmen, soviel nach ihrer Schätzung die Zeche beträgt.“

Der Schlussvorhang war inzwischen gefallen, und eine Anzahl schwarzer Aufwärter begannen Tische und Stühle beiseite zu rücken, um den Saal für den jetzt beginnenden Tanz herzurichten. Gegen Mitternacht würde die Vorstellung noch einmal beginnen, denn mit Ausnahme von ein oder zwei Stunden des Morgens für die nötige Reinigung wurde der Betrieb hier mit wechselndem Personal ununterbrochen fortgeführt.

Escher und Schmidt mussten ihren Tisch verlassen und an einem anderen unter den Logen Platz nehmen. Auch der junge Kanadier begleitete sie dahin. An einem Tische in der Nähe fand Escher auch den Kraftmenschen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: lem/Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2013
ISBN: 978-3-7309-1872-2

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