Zu der Zeit, da der große Kaiser Friedrich Barbarossa über das deutsche Land herrschte, hauste am Strande der Donau der tapfere Ritter Hermann von Bärenstein auf seiner Burg, die wie ein Adlernest auf steilem Felsen thronte.
So rau wie seine Wohnung war auch der Ritter selbst; er begnügte sich nicht, im Dienste des Kaisers ehrlichen Krieg zu führen und in Friedenszeiten der Jagd obzuliegen oder im Turnier die Lanze zu brechen, sondern lag auch immer mit seinen Nachbarn in Fehde, überfiel Reisende und Kaufleute und war der Schrecken der ganzen Umgegend. Viel unschuldig Blut klebte an seiner Hand. Da er aber seine Freveltaten immer mit geschlossenem Visier und unter allerhand Vermummung vollbrachte, konnte ihm niemand etwas anhaben.
Ganz anders gesinnt war seine Gemahlin, die sanfte, freundliche Mathilde. Stille waltete sie im Burgfrieden, sorgte für Kinder und Gesinde und betete fleißig in der kleinen Burgkapelle, die der wilde Ritter niemals betrat.
Wenn sie einmal den mühsamen, steilen Waldpfad hinab ins Tal stieg, so geschah es nur, um armen, kranken Landleuten zu Hilfe zu kommen oder einige Mal im Jahre in dem Kloster am Flussufer zu beichten und ein Heiligenfest mitzufeiern.
Schon oft hatten des Ritters Blicke lüstern auf den stattlichen Klostermauern geruht; er hätte gar zu gern einmal die wohlgefüllte Schatzkammer des Abtes ausgeräumt und die schönen Kühe, die auf den Klosterwiesen weideten, in seine Ställe getrieben. Aber trotz seiner Wildheit hatte er eine große Liebe und Verehrung für seine fromme Gemahlin und scheute sich, so nahe vor ihren Augen eine Gewalttat zu begehen. Dazu kam, dass der Abt ein ritterlicher Herr war, der das Schwert ebenso gut zu führen wusste wie den Abtstab; auch unter den Mönchen waren tapfere Gesellen, wohl imstande, ihren Besitz zu verteidigen.
Vier Kinder hatte Gott dem ungleichen Ehepaar auf dem Bärenstein gegeben. Bernhard, der Älteste, ritt schon mit Schwert und Schild an des Vaters Seite und war ihm in allem ähnlich.
Zwei Töchterlein wuchsen unter der Zucht der Mutter heran, aber das Licht ihrer Augen war Fridolin, der Jüngste. Dieser liebliche Knabe zeigte zum großen Verdruss des Vaters von klein auf ein stilles, sanftes, träumerisches Wesen und hatte mit den blauen Augen und blonden locken der Mutter auch ihr frommes Gemüt geerbt.
Nur im Gehorsam gegen den Vater übte er sich in ritterlichen Künsten; er wäre gar zu gern in die Schule des Klosters gegangen, um sich später ganz dem Dienste des Gottes zu weihen.
Aber davon wollte der Vater nichts wissen.
„Nimmermehr soll einer vom Bärenstein ein Kuttenträger werden“, sagte er und hielt den Knaben in der kurzen Zeit, die er daheim verlebte, immer strenger zum Waffenwerk an.
Bis vor Kurzem hatte Fridolin bei allen seinen Spielen und Übungen einen treuen Gefährten gehabt, das verwaiste Söhnlein eines ritterlichen Dienstmannen. Frau Mathilde hatte es aus der Taufe gehoben und zog es gesondert von den wilden Trosskindern mit ihrem Knaben auf. Der kleine Lutz war ein hübscher, lustiger Junge, legte zeitig kecken Mut und ritterlichen Sinn an den Tag und war dem etwas älteren Herrensohn in treuer Liebe ergeben.
Aber Lutz war von seiner sterbenden Mutter dem Kloster abgelobt worden, und als er zehn Jahre alt war, kam ein ernster Mönch in langem, grauem Gewand und führte den munteren Knaben fort aus der unbeschränkten Freiheit des Burgfriedens in die strenge Zucht der Klosterschule.
Während er nun dort mühsam die lateinische Sprache lesen und schreiben lernte und die Rute des lehrenden Bruders oft genug auf seinem Rücken tanzte, ward Fridolin immer ernster und nachdenklicher. Das wilde Treiben der Knechte und Buben auf dem Burghofe verletzte sein zartes Gemüt. Mehr und mehr zog er sich davon zurück und schloss sich der Mutter und den Schwestern an.
Die Mutter war in einem Kloster sorgfältig erzogen worden und wusste gar innig und lebhaft zu erzählen von Adam und Eva im Paradiese, vom frommen Joseph und dem königlichen Hirtenknaben David.
Am meisten aber sprach sie zu den Kindern von Jesu, dem Sohne Gottes, und den großen Wundertaten, die er in der Zeit seines Erdenlebens vollbracht.
Sie erzählte auch von der frommen Kaiserin Helena, welche die heiligen Stätten, da Jesu Fuß gewandelt und sein Leib im Grabe gelegen, so ehrfurchtsvoll bewahrt und köstlich geziert hatte. Dann waren die ungläubigen Türken gekommen und hatten das Heilige Land erobert, ihren Halbmond überall aufgerichtet und die frommen Pilger geängstigt und gequält, bis Gott durch den edlen Ritter Gottfried von Bouillon den Christen wieder den Sieg gegeben hatte und das Kreuz von Neuem auf der Zionsburg und der Grabeskirche funkelte.
Die beiden Mädchen, Hildegard und Anna, hörten der Mutter gerne zu, während die Spinnrädchen sich lustig drehten; war aber die Arbeitszeit vorbei, so liefen sie leichtherzig davon, um zu spielen.
Fridolin dagegen bewegte das Gehörte still und ausdauernd in seinem Herzen. Oft schlich er sich in die Burgkapelle, kniete unter der silbernen Lampe, die die Mutter täglich selbst mit Öl füllte, vor dem Altar nieder und betete inbrünstig, das Gott ihm die Gnade verleihen möge, die Stätten zu betreten, wo der Herr sein Erdenleben verbracht und sein Blut zum Heil der Welt vergossen hatte.
Gern nahm er in der Abendkühle Hildegards Harfe in die Hand, auf der er schon lieblich zu spielen wusste. Dann setzte er sich auf die Steinbank unter der Linde neben dem Burgbrunnen, griff in die Saiten und begann mit zarter Stimme, halb singend, halb erzählend, die biblischen Geschichten zu wiederholen, die sein Herz bewegten. Dann verließen die Kinder der Dienstmannen ihr wildes Spiel und setzten sich lauschend zu seinen Füßen, die Mägde hielten in ihrer Arbeit inne und blickten andächtig auf den kleinen Sänger.
„Unser Herrensohn wird gewiss einmal ein Heiliger werden“, flüsterten sie untereinander.
„Jawohl, ein Heiliger!“, sagte die alte Schaffnerin kopfschüttelnd, „aber nicht auf Erden, sondern im Himmel. Solch zarte Blümlein wie unser Fridolin gedeihen nicht lange in diesem rauen Boden, sie werden beizeiten ins Paradiesgärtchen versetzt.“
So sehr sich auch die Mutter über den frommen Sinn ihres Sohnes freute, so erfüllte sie doch seine große Zartheit und sein vorzeitiger Ernst oft mit Sorge, und sie begrüßte die Vakanzzeit der Klosterschule stets mit Freuden, wo es Lutz gestattet war, einige Wochen auf der heimatlichen Burg zu verleben.
Seltsam nahm sich die kleine, kräftige Knabengestalt in dem langen Mönchsröcklein aus, das er nur gar zu gern abwarf, um auf die Pferde zu klettern, den Knechten Waffen putzen zu helfen und die reichbeladenen Obstbäume des Burggartens zu plündern.
Im kindlichen Spiele hüllte sich dann Fridolin gern in das geistliche Gewand, nahm einen Stab und stellte einen frommen Pilger dar, während Lutz als Gottfried von Bouillon die Stadt Jerusalem eroberte, die von den Trosskindern mit vielem Geschrei verteidigt ward.
Sie verstanden es wirklich ganz gut, wilde Sarazenen darzustellen. War der Krieg zu Ende, so stellten sie alle Kreuzritter vor, zogen zahm und ehrbar hinter Fridolin in das verfallene Gartenhäuschen, bekränzten es singend mit grünen Zweigen, und Fridolin krönte den neuen König von Jerusalem mit einem Blumenkranz.
Der kleine Klosterschüler kehrte nie ohne Murren und Klagen in die Schule zurück, und des Abschiednehmens von Knappen und Buben, Pferden und Hunden war kein Ende.
„O, wenn ich wie du wäre“, sagte er zu Fridolin, der ihm stets das Geleite gab bis an die Grenze des Burgfriedens, „ich käme den ganzen Tag nicht vom Ross. Lanzenstechen und Schwertschwingen wollt’ ich lernen, dass mir’s keiner zuvortät! Jüngst erzählten uns die Klosterknechte von dem großen Turnier, das Herzog Leopold angestellt hat. Heidi, muss das eine Lust gewesen sein, so aufeinander loszufahren wie der Donner! Und nun soll ich ein Mönch werden, Psalmen singen und mit krummem Rücken hinter dem Buch sitzen!“
„Und wenn ich wie du wäre“, entgegnete Fridolin, „so käm’ ich den ganzen Tag nicht vom Buch! O, was muss es für eine Lust sein, alles selbst lesen und verstehen zu können, was in der Heiligen Schrift und in den alten Geschichtsbüchern geschrieben ist! Wie herrlich muss es sein, im Klosterfrieden Gott zu dienen, den Armen Gutes zu tun und den Kranken zu helfen, wie Jesus tat, da er auf Erden wandelte! Und nun soll ich ein Ritter werden und Wunden schlagen, wo ich nur heilen und segnen möchte!“
„Schade, dass wir nicht miteinander tauschen können“, fuhr Lutz fort, „dann wär’ uns beiden geholfen. Ich hab dem Vater Egbert mein Leid geklagt; er ist immer freundlich gegen uns Jungen. ‚Lutz‘, sagte er, ‚sei zufrieden und gib dich drein: Gottes Wille ist allezeit gut.‘ So will ich nun auch lustig sein, so gut es geht; Spaß haben wir genug in der Schule, und die Knechte im äußeren Hofe lassen mich auf den Pferden reiten. Bald sind auch die Äpfel und Birnen im Schulgarten reif.“
„Gottes Wille ist allezeit gut; so sagt auch die Mutter, wenn mich der Vater zu dem leidigen Waffenwerk zwingt. So will ich gehorsam sein, so gut ich kann. Vielleicht zeigt mir Gott noch einen Weg, wie ich ihm dienen kann im Ritterkleid. Leb wohl, lieber Lutz; hier ist die Ehrenscheide.“
Ein langer kalter Winter war vergangen. Einsam und eingeschneit waren die Burgbewohner lange Zeit gewesen. In träger Ruhe oder unmäßigem Trinken und Spielen hatte der Ritter mit seinen Knappen die letzten Wochen verbracht, dann war er wieder ausgezogen, um Beute zu suchen.
Für Fridolin, der nun zwölf Jahre alt war, war’s eine schwere Zeit gewesen. Oft hatte ihn der Vater einen Weichling und ein Muttersöhnchen genannt und ihn hart gescholten, wenn er sich ungeschickt zu den Diensten anstellte, die er ihm im Stalle, in der Waffenkammer oder beim Trinkgelage leisten sollte.
„Es ist der letzte Winter, den der Bube zu Hause verlebt“, hatte er noch beim Abschied gesagt. „Ich will den Scharfensteiner bitten, dass er ihn ein paar Jahre in die Zucht nimmt. Solange er sich am Kleid der Mutter festhält und die Schwestern ihm die Tränen abtrocknen, wird nimmermehr ein rechter Edelknabe aus ihm.“
O, wie schwer ward der Mutter der Gedanke an die nahe Trennung, und wie bangte dem Knaben vor dem finstern Ritter von Scharfenstein! Aber beide schwiegen still, denn sie wussten, dass es nicht zu ändern war. Nur selten durfte ein Knabe auf der väterlichen Burg heranwachsen; die Sitte gebot, dass er unter fremder Zucht das Ritterhandwerk lernte.
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
An einem milden Frühlingsabend war Fridolin allein auf dem Burghof. Das Gesinde arbeitete auf dem Felde, die Kinder waren alle mit hinausgelaufen und die Mutter und Schwestern rüsteten die Abendkost.
Die geliebte Harfe im Arme, trat der Knabe an eine niedere Stelle der Mauer, von wo der Berg steil abfiel und man weit hinaus ins Land sehen konnte, auf den breiten glänzenden Strom und die dunklen Tannenwälder, zwischen denen das junge Laub der Birken in zartem Grün schimmerte.
Dort setzte er sich unter einen großen Fliederbusch, in dessen Zweigen ein Finkenpärchen sein Abendlied zwitscherte. Lange schaute er träumerisch hinaus, dann rührte er leise die Saiten und begann zu singen:
„O ihr Vöglein
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1582-0
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