Virginia zur Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges: Ein Landhaus, zahllose Felder, Scharen von Sklaven, nach Hunderten von Köpfen zählende Herden – all das soll der 16-jährige Lionel, Pflegesohn des Gutsherrn Charles Trevor einmal erben.
Leider hat Charles’ Vetter Manfred Trevor andere Pläne. Dieser möchte das Erbe für seinen eigenen Sohn Philipp und sorgt dafür, dass Lionel, obwohl von reinweißer Hautfarbe, aber mit einer Spur afrikanischen Blutes, als Sklave verkauft wird.
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Um 1860, während des amerikanischen Bürgerkrieges saßen auf der Veranda eines stattlichen Landhauses in Virginia zwei Herren bei Kaffee und Zigarre, nur hier und da in eine lebhaftere Unterhaltung verfallend, besonders dann, wenn eine helle Stimme herüberklang.
Um die Ecke sauste ein junger Reiter, ein hochgewachsener dunkler Junge von sechzehn Jahren. „Der Ajax kennt mich noch, Onkel Trevor!“, rief er.
Dann brauste er wieder davon, während der Besitzer des Landhauses, Mr Trevor, ihm lächelnd nachsah. „Ein prächtiger Junge, der Lionel“, sagte er.
Der andere Herr schien seine Antwort sorgfältig zu überlegen. „Seit deine Frau starb, lebst du zu einsam, Charles“, sagte er dann. „Ich glaube, diese Hunde, die Neger, sind oft dein einziger Umgang.“
Der Squire nickte. „Häufig genug“, versetzte er. „Aber ich sehe in den armen Kerlen keine Hunde, Manfred – sie haben es gut bei mir und sie lieben mich aufrichtig.“
Böse flammte es in den Augen des anderen. „Ganz besonders dein Pflegesohn Lionel, nicht wahr, Charles? Weiß der Bursche überhaupt, dass in seinen Adern afrikanisches Blut fließt, dass er dein Eigentum ist, wie das Pferd, auf dem er reitet, oder der Boden, auf dem er sich so selbstbewusst ergeht?“
Mr Trevor nahm die Zigarre aus dem Munde. „Er weiß es nicht, Manfred“, sagte er mit scharfer Betonung, „und ich wünsche auch nicht, dass er es erfährt! Eins will ich dir übrigens bei dieser Gelegenheit sagen“, setzte er dann hinzu. „Lionel und alle meine Sklaven, mehr als zweihundert an der Zahl, sind längst durch testamentarische Bestimmung in Freiheit gesetzt. Sterbe ich, so gewinnt kein anderer Mensch ein Recht auf das Eigentum an ihnen, die ich nur behalte, weil es ihnen bei mir besser ergeht als in einer Freiheit, die hierzulande doch vorläufig nur eine scheinbare sein kann. Vielleicht bringt die nächste Zukunft hierin eine Änderung.“
„Das verhüte Gott!“, rief zornig der andere. „Charles, ich bitte dich, du wolltest deinem Erben die Summe von zweimal hunderttausend Dollar zugunsten dieser Schwarzen entziehen? Wahrhaftig, hättest du Kinder, so würde das nie und nimmer geschehen!“
Der Squire lächelte. „Du irrst, Manfred. Mein Grundsatz steht mir höher als alle persönliche Zuneigung – und überdies, wer sagt dir, dass ich meinen Nachfolger nicht liebe?“
„Ihn – den – den –“
Die Stimme des mageren Herrn schien vor Aufregung zu ersticken, er konnte seinen Satz nicht vollenden, sondern murmelte, als ihn der Squire ruhig fragend ansah, nur ein verwirrtes „Entschuldige, Charles!“ Dann wandte er sich zur Tür, aus welcher in diesem Augenblick ein junger Mensch von etwa siebzehn Jahren, an einer Krücke gehend, hervortrat. „Nun, Philipp“, rief er, „wie geht es dir heute, mein Sohn? Sind deine Schmerzen erträglicher?“
Der schlanke Junge mit dem blassen Gesicht und den mädchenhaft weißen Händen grüßte. „Guten Abend, Papa, guten Abend, Onkel Charles! Oh, wenn ich bedenke, wie ruhig und untätig wir hier sitzen, indes andere, Glücklichere für eine geheiligte Sache ihr Leben einsetzen! Schlacht um Schlacht wird geschlagen, und die Konföderierten gewinnen immer. Wohin soll das führen?“
Sein Vater lachte behaglich. „Zum vollen Siegel“ versetzte er. „Das Banner der Südstaaten ist vom Himmel selbst geweiht.“
Philipp schüttelte den Kopf. „Nimmer!“, bebte es über seine bleichen Lippen. „Nimmer! Wäre ich ein kräftiger Mann, ein Mensch mit gesunden Gliedern, heute noch ließe ich mich für die Nationalarmee anwerben.“
„Pst!“, warnte unruhig der Vater. „Willst du deinen Kopf in Gefahr bringen, Junge? Es wird mit den Abolitionisten wenig Federlesens gemacht.“
Die Augen des kränklichen Jungen glänzten in Begeisterung. „Darauf gebe ich gar nichts!“, rief er mit dem ganzen Ungestüm seiner Jugend. „Und ich glaube sogar, auch du denkst wie ich, Onkel Charles?“
Der Squire reichte ihm lächelnd die Hand. „Ich denke so, Philipp, mein guter Junge“, versetzte er, „ich habe dich lieb tun deiner braven Gesinnung wegen, aber wir müssen über dieses Thema nicht so laut reden. Wenn heute ein Mann, der zweihundert Sklaven besitzt, für die Abolitionisten offen Partei nehmen wollte, so stände von seinem Hause morgen kein Stein mehr auf dem andern.“
„Natürlich! Natürlich!“, bestätigte Manfred Trevor, der Vetter des Gutsherrn. „Das Gefängnis unten in der Stadt fasst kaum noch seine Insassen, es ist ein Schuppen ohne Fußboden oder Dach, die unglücklichen Eingesperrten haben weder Schutz vor den Sonnenstrahlen, noch vor den Regenfluten.“
„Siehst du Papa, dergleichen Gräuel geschehen unter dem Banner der Südstaaten, demselben, von welchem du wähnst, dass des Himmels Segen es begleitet. Fürwahr, Onkel Charles, ich bitte dich, vermache mir keinen einzigen Schwarzen, denn ich würde ihn sogleich laufen lassen und ihm, wenn ich zwei Röcke besäße, einen derselben schenken.“
Das wohlwollende Antlitz des Gutsherrn wandte sich lächelnd zu dem erregten Sprecher: „Ich vermache dir keinen Sklaven, mein guter Philipp, dessen darfst du sicher sein. Dein Onkel sorgt für dich, aber auf andere Weise – durch ehrlich verdientes Geld.“
Es schien, als sei ein Schatten auf die ruhige, edel geformte Stirn herabgesunken. Der Squire schüttelte leicht den Kopf. „Sonderbar“, sagte er, „es ist nun heute schon zweimal von meiner Hinterlassenschaft gesprochen worden! Schickt mir der Tod seine Sendboten?“
„Torheit!“, rief hastig der Vetter. „Bist du abergläubisch, Freund Charles?“
„Ich weiß nicht. Denke an Abraham Lincoln, meinen guten alten Abraham, von dem ich so viel halte. Er glaubt fest an Vorzeichen.“
„Das hat er dir selbst gesagt?“
„Mehr als einmal.“
Mr Manfred Trevor hatte sich wie zufällig abgewandt, seine Augen glühten in düsterem Feuer. „Es tut mir leid, dich verstimmt zu haben, Charles“, sagte er nach einer Pause. „Es geschah unabsichtlich.“
Philipp bot seinem Verwandten die Hand. „Auch von mir, Onkel!“, sagte er mit offenem Blick. „Wirklich, meine Worte waren nur so hervorgestoßen – ihr eigentlicher Inhalt galt der Sache der Neger. Da kommt Lionel!“, setzte er dann hinzu. „Der Glückliche, er ist gesund und voll Kraft! Ich könnte ihn beneiden!“
Der Günstling des Hausherrn kam über den Kiesweg dahergegangen. „Nun, Onkel Charles“, rief er, „hast du den Ajax bewundert? Ich möchte ihn, wenn die Ferien zu Ende sind, nach Richmond mitnehmen!“
„Welch ein Unsinn!“, rief heftig Mr Manfred Trevor.
Der Squire begütigte ihn. „Lionel soll das Pferd haben“, sagte er, „und auch einen Schwarzen als Knecht dabei. Er ist jetzt kein Knabe mehr, sondern muss sich bei Zeiten auf den dereinstigen Plantagenbesitzer vorbereiten.“
Lionel flog dem väterlichen Freunde entgegen und umfasste ihn stürmisch mit beiden Armen. „Onkel Charles“, rief er, „ach du goldener Onkel Charles – den Ajax soll ich wirklich haben? Aber – aber ja, siehst du, auch einen Neger dabei? Der mein Eigentum wäre? Mein Sklave? Das kann nicht geschehen.“
„Bravo!“, rief Philipp. „Bravo, Lionel!“
„Philipp! Philipp!“, warnte Mr Manfred.
„Das kann nicht geschehen!“, wiederholte Lionel. „Onkel Charles, bist du mir böse? Aber ich entsetze mich vor dem Gedanken, dass ein Mensch das Eigentum des anderen sein könnte – ich mag an dieser Schmach meines Landes keinen Teil haben. Lieber, guter Onkel, bezahle für mich in Richmond einen freien Neger, willst du das?“
Der Squire nickte. „Du sollst den alten Ralph mit dir nehmen, Lionel. Er hat deine Eltern gekannt, hat dich selbst als kleines Kind auf den Armen getragen und ist mir mit Leib und Seele zugetan. Seinen Freibrief erhält er vor eurer Abreise.“
„Charles!“
„Nun, Manfred, was wolltest du sagen?“
„Bitte, bitte – es war nur so ein unwillkürlicher Ausruf. Der Sklave Ralph, ein Mann in den besten Jahren, ist fünfzehnhundert Dollar unter Brüdern wert. Willst du diese große Summe der Laune eines Knaben opfern?“
Der ruhige Blick des Gutsherrn trieb das Blut in Manfreds blasses Gesicht. „Ich kann mir diese Freude gestatten“, war die Antwort. „Sowohl Ralph als auch Lionel hängen mit dankbarer Liebe an mir, sie fühlen sich in meinem Schutze glücklich – das ist’s, was mich die materiellen Verluste ganz übersehen lässt. Fünfzehnhundert Dollar haben bei mir einen weit geringeren Wert als die Zuneigung treuer, ergebener Herzen.“
Lionel war während dieser Rede wie der Blitz davongesprungen. „Ich wette, er sucht den alten Ralph“, lachte Philipp, „er will ihm die Freudenbotschaft brühwarm hinterbringen!“
„Um das übrige schwarze Gesindel rebellisch zu machen!“, setzte mit giftigem Tone sein Vater hinzu. „Fürchtest du nicht, dass sie dir das Haus über dem Kopfe in Brand stecken, mein guter Charles?“
Der Squire lächelte. „Meine Neger?“, sagte er. „Nein, Manfred! Ich will den Kopf mit größter Ruhe jedem Einzelnen unter ihnen in den Schoß legen und so sanft schlafen, als wache bei meinem Lager ein Regiment Bewaffneter. Diese Neger sind große Kinder, wie man sie behandelt, so geben sie es zurück. Du darfst mir glauben, dass die, welche von ihren Sklaven verraten oder bestohlen wurden, dies auch verdient hatten.“
Manfred zuckte die Achseln. „Seit wir uns vor fünf Jahren zum letzten Male sahen, hast du dich sehr verändert, Charles. Es ist, als seiest du so vereinsamt, dass du dich den Schwarzen zuwandtest. Deine nächsten Verwandten hast du völlig vergessen.“
Der Squire reichte ihm freundlich die Hand. „Keineswegs, Manfred, allerdings sind mir, seit ich meine Frau verlor, die noch gebliebenen Hausgenossen näher getreten. Lionel ist mir teurer als mein eigenes Kind, das leugne ich nicht.“
Mr Manfred Trevor blieb die Antwort schuldig. Vom Stall her kam Lionel mit einem großen, kräftig gebauten Neger, dem er eifrig zuzureden schien und den er dann lachend am Ärmel der Kattunjacke bis in die Veranda zog. „Onkel Charles“, rief er, „der unkluge Ralph hat sich förmlich entsetzt, denke dir, er will gar keinen Freibrief haben! Er will unter keiner Bedingung dein Haus und deinen Dienst verlassen.“
Der Squire zuckte die Achseln, in seinen Augen lachte der Schalk. „Dann muss Ralph eben hier bleiben“, versetzte er, „aber – der Gaul auch.“
„Oh – wie schade.“
Der Neger schüttelte den Kopf. „Ralph geht mit nach Richmond“, sagte er, „oh ganz gewiss, er geht mit, aber der Freibrief soll hier bleiben. Ralph mag keinen anderen Herrn haben als Mr Charly, den guten Squire.“
„Das sollst du auch nicht, törichter Bursche! Aber wäre es denn nicht besser und angenehmer, gar keinen Herrn zu haben?“
Der Neger sann nach. „Bei Mr Charly will ich bleiben!“ Das war alles, was er auch diesmal zu antworten wusste.
„Siehst du wohl, Manfred!“
Der Squire entließ lächelnd den Riesen mit dem einfältigen Kinderherzen. Die beiden Jungen schlossen sich ihm an, und so kam es, dass die Herren einen Augenblick lang auf der Veranda allein blieben.
Charles legte zutraulich seine breite Hand auf die Schulter des Vetters. „Manfred, alter Junge, lass mich dir eine gut gemeinte Frage stellen, ich möchte es wenigstens gern, aber du musst mir versprechen, nichts krummzunehmen!“
Der andere schien sehr erstaunt. „Ich wüsste nicht, was!“, sagte er.
„Hm! Ich fürchte, du befindest dich in augenblicklicher Geldverlegenheit, Vetter! Ist es so? Dann brauchst du ja nur eine Andeutung, ein –“
Die schnelle Handbewegung seines Verwandten ließ ihn innehalten; Manfred biss sich heftig auf die Lippen. „Du wärest geneigt, mir eine Anleihe zu bewilligen, Charles, ich danke dir wirklich bestens, aber es ist keine Verlegenheit vorhanden. Deine Großmut erhält meinen Sohn auf der Schule, während ich selbst als Privatlehrer gerade genug erwerbe, um mich satt essen und einen anständigen Rock tragen zu können. Das genügt.“
„Wie du willst“, nickte der Squire. „Meine Kasse steht dir immer offen.“
Und als sein Vetter nichts erwiderte, erhob er sich, um in das Haus zu gehen. „Begleitest du mich Manfred? Ich möchte einige Forellen fangen!“
„Danke, danke – dies Stillsitzen liegt mir nicht. Ich schieße lieber ein Raubzeug, das vorher überlistet sein will.“
Er winkte mit der Hand und schlenderte davon, um dann an einem Felsen stehen zu bleiben und starr ins Leere zu sehen. Bittere, hasserfüllte Gedanken mochten es sein, die hinter seiner Stirn einander drängten. Er murmelte halbabgebrochene Laute, der Mann mit der gelben Hautfarbe und dem drohenden Blick. „Warum anderen alles und mir nichts?“
Währenddessen waren Philipp und Lionel auf den Hof hinausgegangen und befanden sich nun unter der Schar der von ihrer Arbeit heimkehrenden Neger.
„Ich gehe noch in die Stadt, Philipp, willst du mit, dann soll Ralph meine Ponys vor den Wagen spannen!“
Philipp schüttelte den Kopf. „Ich danke dir, Lionel, heute Abend nicht mehr. Du reitest auch gewiss lieber deinen Ajax.“
„Ja! Ich will ein Farmer werden und draußen in Wald und Feld meine Tage verleben, immer mit der Kugelbüchse auf der Schulter, halb Squire, halb Trapper, das ist’s, was ich mir wünsche.“
Philipp lächelte. „Was dir jedenfalls auch zuteil werden wird, Lionel, du erbst doch wohl diese Farm.“
Der andere schien betroffen. „Ich?“, sagte er gedehnt. „Aber ich bin nur ein Pflegesohn, kein Blutsverwandter des Onkels – wie sollte ich also erben? Nein, nein, du wirst der Squire und ich muss sehen, wo für mich der Tisch gedeckt ist. Onkel Charles steht mir ja darin bei.“
Die milden Züge des verkrüppelten Jungen trugen in diesem Augenblick einen sinnenden, beinahe trüben Ausdruck. „Lass uns noch keine Pläne bauen, Lionel! Es gibt Leute, die da behaupten, dass sich der Krieg gerade hier entscheiden müsse und dass die Nordstaaten den Sieg behalten werden.“
Das sollen sie ja auch! Ich wünsche den Konföderierten alles Böse!“
„Pst! Ich denke ganz wie du, Lionel, aber wenn sich der Krieg hierher zöge, das wäre doch schrecklich!“
„Dann würde ich sofort eintreten, Philipp! Dich aber brächte ich irgendwo in Sicherheit, du solltest gewiss nicht darunter leiden!“
Der Krüppel reichte ihm die weiße, magere Hand. „Wenn es gilt, schlage ich auch mit den Krücken um mich“, versetzte er. „Aber lieber wäre mir doch der Friede.“
„Master Lionel!“, rief von unten her die Stimme des Sklaven Ralph. „Wollen Sie mitfahren, Sir? Ich muss noch zur Stadt.“
„Gleich! Gleich! Adieu, Philipp, ich will nur einen Freund begrüßen, in etwa zwei Stunden sehen wir uns wieder.”
Er nickte nochmals und sprang dann davon, um mit dem Sklaven zur Stadt zu fahren. Hier begann ein Bild lautesten Durcheinanders. In allen Straßen lungerten Haufen von Soldaten, nicht selten lärmend und betrunken, dazwischen Gesindel, heruntergekommene Subjekte, die, aus allen Teilen der Erde zusammengelaufen, den Truppen folgten, um einen Teil der Beute zu erhaschen.
Hier und da sah man Offiziere hoch zu Ross, Equipagen, in denen über Nacht zu Millionären gewordene Spekulanten sich blähten. Wo das Gesicht eines Bürgers hinter den Fensterscheiben zum Vorschein kam, da sah man düster blickende Augen und gramvolle Züge. Mochte auch die Armee der Südstaaten bis jetzt den Sieg für sich haben – ehe alles entschieden, waren die Kräfte des Landes erschöpft und seine Bürger ruiniert.
„Wohin fährst du, Ralph?“, fragte Lionel.
„Zum Obersten Smith, Sir. Mr Charly muss zehn Ochsen liefern und hundert Bushel Mais – ich soll fragen, zu welcher Stunde das morgen geschehen kann.“
Der Wagen hielt auf dem Markt, und nun verabschiedete sich Lionel von seinem Begleiter. „In zwei Stunden bin ich wieder da, Ralph.“
„Well, Sir, well!“
Und Lionel ging schnellen Schrittes durch die Straßen bis zu einem Hause, dessen Schaufenster ein Eisenwarengeschäft verrieten. Die Tür war geschlossen und von innen mit einer Kette gesperrt; Lionel schüttelte voll Erstaunen den Kopf. Das in einem offenen Laden?
„Wer ist da?“, fragte aus dem halbdunklen Hintergrunde eine Frauenstimme.
„Guten Abend, Frau Neubert! Ich bin es, Lionel Forster von Seven Oaks!“
„Ach – das freut mich ja sehr! Hermann, Hermann, komm rasch herauf!“
Die Kette wurde entfernt und die Tür geöffnet; eine blasse, vergrämt aussehende Frau ließ ihn eintreten, indem sie gleich hinter ihm den Zugang wieder versperrte. „Wie Sie gewachsen sind, Lionel! Beinahe schon ein junger Mann zu nennen! Ach, das ist eine traurige Zeit, in der wir uns wiedersehen!“
„Hoffentlich geht es Ihnen und den Ihrigen gut, Frau Neubert?“
Die blasse Frau trocknete ihre Tränen, sie führte den Gast in das Wohnzimmer, wo zwei Kinder von acht und zehn Jahren still und scheu in einer Ecke spielten, das ganze Haus erschien überhaupt verdüstert und bedrückt. „Gesund sind wir gottlob bis jetzt alle, mein lieber Lionel, aber die bittere Not steht vor der Tür.“
Ehe er zu antworten vermochte, erklangen draußen Schritte, und ein kräftiger Junge von Lionels Alter trat in das Zimmer. „Oh Lionel, Lionel, wie gut von dir, dass du kommst!“
Die beiden waren Seite an Seite durch alle Klassen einer Privatschule der Stadt gewandert, bis dann Lionel nach Richmond zog, während Hermann als Lehrling in das Geschäft seines Vaters trat. Jetzt sahen sie einander zum ersten Male wieder.
„Ich wollte dich bitten, mit mir nach Seven Oaks hinauszukommen“, rief Lionel. „Philipp Trevor ist auch da.“
Frau Neubert und ihr Sohn sahen einander an. „Es geht unmöglich!“ sagte die Mutter. „Du weißt, dass Papa dich braucht.“
„Aber wozu denn, wenn doch Handel und Wandel so sehr stocken, Frau Neubert?“
Ein unmerkliches Zeichen schien dem Jungen Stillschweigen zu gebieten, laut sagte Frau Neubert: „Du könntest ja deinen Vater auf einen Augenblick herbeirufen, Hermann. Lass ihn selbst entscheiden!“
„Mama!“
„Ja, ja, mein Junge. Geh nur!“
Hermann sprang davon. Nach einigen Minuten erschien er wieder und sagte, dass der Vater bitten ließe, ihn zu entschuldigen, Mr Forster möge einen Augenblick mit hinüberkommen zum Lager.
Frau Neubert wechselte die Farbe. „Hat Papa das wirklich gesagt, Hermann?“
„Gewiss, Mama, du darfst mir glauben!“
„Dann gehen Sie nur, Lionel, aber vergessen Sie nicht, dass Ihrer Jugend hier Dinge anvertraut werden, die das Leben und das Eigentum dritter Personen betreffen – wollen Sie mir darauf Ihr Wort geben?“
„Sicherlich, Frau Neubert“, antwortete der Junge voll Verwirrung. „Von mir haben Sie, keinen Verrat zu befürchten.“
„Komm nur, komm nur“, drängte Hermann.
„Ich will auch mit!“, rief der zehnjährige Alfred. „Wo ist Papa denn jetzt eigentlich den ganzen Tag, Mama?“
Frau Neubert hielt das Kind fest. „Papa arbeitet im Garten oder auf dem Lagerboden, Alli, du darfst ihn nicht stören!“
Lionel und Hermann gingen über einen halbdunklen Gang zum Hofe, wo sie im Gewirre hoher Speicherräume verschwanden und dann in einen Schuppen traten. Vor ihnen stand Hermanns Vater, ein kräftiger Mann in der Mitte der vierziger Jahre.
„Es ist mir lieb, dass Sie kommen, Lionel“, sagte er. „Hermann und ich vollbringen ein Werk, dessen Verantwortlichkeit schwer auf mir lastet.“
Er deutete auf den Hintergrund des geräumigen Lagerschuppens, wo die Erde bis zur Tiefe von fünfzehn Fuß mit Schaufeln ausgeworfen war. In der weiten Höhlung flimmerte das Licht einer Blendlaterne und warf seine Strahlen auf eine Anzahl großer, mit Eisenreifen umspannter Kisten, die dicht gedrängt über- und nebeneinander standen. „Sehen Sie, Lionel, das ist das Hab und Gut einer Reihe deutscher Familien“, setzte er hinzu, „viele Tausende an Wert.“
„Aber weshalb vergraben Sie es denn hier im Speicher?“
Manche haben behauptet, der Norden erhalte von uns Mittel zur Unterstützung seiner Zwecke. Man konfisziert und drangsaliert uns. Man nennt die Deutschen, wenn sie nicht ihre Läden von dem umherlungernden Gesindel ausplündern lassen wollen, einfach Abolitionisten und wirft sie ins Gefängnis.“
Lionel erschrak immer mehr. Draußen auf der Farm war von all den Dingen nie die Rede gewesen.
Ein langes Schweigen folgte. Kiste nach Kiste wurde unter vereinten Anstrengungen in den Schoß der Erde befördert und dann die Grube mit Brettern verdeckt. „Morgen kommt der Rest“, meinte Herr Neubert, „ich will dem Himmel danken, wenn alles glücklich geborgen ist.“
„Unsere kostbarsten Sachen sind auch mit hier verscharrt“, setzte Hermann hinzu.
„In jeder Kiste liegt ein Dokument mit dem Namen des Besitzers und einer Liste der vorhandenen Gegenstände, auch die Erklärung, auf welche Weise dieselben in meinen Schuppen gelangten – das sollten Sie wissen, Lionel, denn ich brauche bei einer so schweren Verantwortung die Mithilfe eines verschwiegenen Zeugen. Mein Junge und ich sind täglicher Gefahr ausgesetzt, aber Sie, der Sohn eines Plantagenbesitzers, kommen nicht in die Lage, für einen Abolitionisten gehalten zu werden.“
„Während ich ganz von Herzen ein solcher bin! Philipp ebenso, auch Onkel Charles – dieser wenigstens heimlich. Er ist für seine Schwarzen in jeder Beziehung ein väterlicher Freund.“
Herr Neubert nickte. „Das weiß ich, mein lieber Lionel. Und nun versprechen Sie mir, über das hier Geschehene zu schweigen, geben Sie mir die Hand darauf.“
„Hier, Mr Neubert. Ich will, so wahr mir Gott helfe, Ihr Geheimnis bewahren, gegen wen es auch sei.“
Lionel hatte jetzt größte Eile, ihm blieb keine Zeit, das Abendbrot der Familie zu teilen, sondern er musste, obgleich ihn alle baten, doch nicht fort- zugehen, sich entschließen, ungesäumt das Wirtshaus zur blauen Traube aufzusuchen und mit Ralph den Heimweg anzutreten. „Ich darf wiederkommen, nicht wahr?“, bat er beim Abschied. „Sie sehen alle so blass aus, so gedrückt, selbst Hermann ist verändert – ich will meinen Onkel bitten, ihn für vierzehn Tage mit nach Seven Oaks hinausnehmen zu dürfen. Dort merken wir von den Leiden des Krieges nichts.“
Damit verabschiedete er sich und suchte den Neger auf, mit dem er den Wagen bestieg.
Der Schwarze führte mit sicherer Hand die Zügel. „Weiß wohl, Sir“, sagte er. „Hier in Virginia hält es der eine mit dem Norden, der andere mit dem Süden; überall schlägt das Gezänk hohe Wogen. Wir leben in einer schrecklichen Zeit!“
„Und du möchtest nicht gern deinen Freibrief in der Tasche haben, Ralph?“
Der Neger wiegte den Kopf von einer Seite zur anderen. „Nein“, antwortete er, „nein, Massa Lionel. Ich bin allezeit Mr Charlys Sklave gewesen, schon als wir beide kleine Knaben waren – da trug ich seine Schulmappe, und wenn uns kein Auge sah, spielten wir wie Brüder zusammen! Ich habe es im Hause seiner Eltern und bei ihm selbst gut gehabt, hab’s heute noch gut, also lasse ich auch auf keinen Fall von ihm. Wenn die Union siegt und alle Neger frei werden, dann muss Mr Charly den alten Ralph als Diener behalten – er tut’s auch, dessen bin ich sicher. Seine übrigen Sklaven hat er vor zehn oder zwölf Jahren mit der Farm zugleich gekauft, aber ich bin, soweit wir uns beide erinnern können, sein Eigentum gewesen.“
Lionel sah auf. „Dann hast du also auch meine Eltern gekannt, Ralph?“
Der Neger schien plötzlich wortkarg zu werden. „Ja, Sir“, versetzte er.
„Mein Vater war ein entfernter Verwandter des Onkels, nicht wahr?“
„Ich denke wohl, Massa Lionel.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Weshalb tust du, als sei die Sache ein Geheimnis, Ralph? Ich selbst war bei dem Tode meiner Eltern ein ganz kleines Kind und ich kann mich also aus diesem Grunde an nichts erinnern, aber warum sollte ich nicht fragen dürfen, besonders dich, der doch alle Ereignisse im Hause des Onkels mit durchlebt hat?“
„Gewiss!“, murmelte der Neger. „Ich glaube, da lief eben ein Hase, Master Lionel! Oder waren es sogar zwei?“
„Meinetwegen zehn! War meine arme Mutter eine gute Frau, Ralph? Hatten die. Schwarzen sie lieb?“
Der Alte nickte. „Mrs Jane?“, sagte er halblaut. „Oh, sie war ein Engel, der Tod saß ihr in der Brust, seit Mr Forster so weit fortgehen musste.“
„Mein Vater?“, rief Lionel. „Weshalb verließ er sie?“
Der Neger erschrak. „Er verließ sie nicht, Master Lionel! Nein, nein, es war nur eine notwendige Reise. Ganz gewiss, nur eine Reise.“
„Wohin denn?“, fragte ungläubig der Junge. „Weshalb begleitete sie ihn nicht?“
„Das kann ich Ihnen unmöglich sagen. Vielleicht war sie schon damals zu krank, um sich auf die Reise zu begeben, vielleicht hatten sie auch andere Gründe, aber gewiss ist nur, dass Mr Forster allein fortging.“
„Um niemals wieder zurückzukehren, Ralph?“
„Niemals. Er ist bald danach gestorben.“
„Und meine arme Mutter wurde vor Gram krank, nicht wahr?“
„Ja, Sir, sie folgte ihrem Manne sehr schnell in das Grab.“
Lionel schüttelte den Kopf. „Eine eigentümliche Geschichte!“, sagte er. „Ich sehe da nie so recht auf den Grund, ich kann nicht erfahren, was mein Vater war und ob überhaupt noch Verwandte von ihm leben. Onkel Charles ist mir in dieser Beziehung schon mehrfach ausgewichen, und heute machst du es ebenso, Ralph.“
Der Neger trieb die Pferde zu schnellerer Gangart. „Ich weiß nicht mehr, als das, was ich schon sagte, Sir. Wirklich, da ist nichts zu berichten.“
Trotzdem fasste Lionel den Vorsatz, bei nächster Gelegenheit seinen Onkel um eine eingehendere Auskunft zu bitten. Vielleicht gab es doch noch Briefe oder Bilder, die den Verstorbenen gehört hatten, irgendwelche Erinnerungszeichen, wenigstens ihre persönlichen Papiere. Warum war eigentlich das alles nicht schon längst in seinem Besitz?
Gewiss, er wollte nächstens die Sache zur Sprache bringen.
Jetzt hielt der Wagen …
Er vermochte, als sich die kleine Familie um den Tisch versammelt hatte, kaum zu essen, so sehr beschäftigte ihn das Schicksal der Städter. „Onkel Charles“, sagte er, „du glaubst nicht, wie viel Elend ich in der Stadt gesehen habe! Das Mehl kostet hundert Dollar das Fass! Könntest du nicht, wenn es unmöglich ist, Lebensmittel in die Stadt zu schaffen, doch von den armen Hungernden einige hierher kommen lassen und ihnen ein Obdach geben? Die Greise vielleicht, die kranken Frauen oder verwaisten Kinder!“
Auch Philipp sah auf. „Bitte, Onkel Charles“, sagte er, „gib den Hungernden!“
„Du schweigst!“, gebot heftig sein Vater.
Der Gutsherr lächelte freundlich. „Ihr seid ein paar warmherzige brave Knaben“, antwortete er, „Gott weiß, wie sehr es mich freuen würde, eure Wünsche sogleich zu erfüllen, aber die Besonnenheit verbietet mir aus mehrfachen Gründen jedes Eingreifen in die Verhältnisse der Bedrohten. Unser Land ist blockiert, wir müssen die vorrätigen Lebensmittel sparen, um nicht selbst Mangel zu leiden.“
Lionel schwieg. Er war mit den Ansichten seines Onkels nicht einverstanden, aber er fühlte, dass es unpassend sein würde, jetzt noch eine Gegenrede zu erheben, daher unterhielt er sich mit Philipp, und die beiden beschlossen, wenigstens den Inhalt ihrer Sparbüchsen zur heimlichen Verteilung gelangen zu lassen.
Einige Zeit später langte Hermann an und wurde von beiden Jungen willkommen geheißen. Als sie ins Haus gingen, sahen sie in der Küche einen Mann, dessen Äußeres sehr von dem gewöhnlichen Erscheinen anderer Männer abwich. Ein ledernes Hemd, ebensolche Beinkleider und hohe Schaftstiefel bildeten den Anzug eines noch jugendlichen Mannes. Im breiten schwarzen Ledergurt stak das Jagdmesser, zu beiden Seiten desselben sechsläufige Drehpistolen, deren blanke Griffe im Sonnenlicht funkelten. Neben diesem Manne lehnte an der Wand die Kugelbüchse, während sein Hut, ein grauer Filz von gewaltigem Umfange, vor ihm auf dem Tische lag. Zwei Jagdhunde, jedem Blick, jeder Handbewegung gehorchend, begleiteten den hübschen, stattlichen Jäger.
„Jack Peppers, der Trapper!“, rief Lionel. „Willkommen auf Seven Oaks, Sir!“
Der Fremde dankte höflich. „Ist Mr Charles Trevor zu sprechen?“, fragte er. „Ich möchte ihm gerne eine Mitteilung machen.“
„Über eine bevorstehende Jagd, Sir? Sind Antilopen in der Gegend?“
„Besseres! Viel Besseres!“
„Doch unmöglich ein Jaguar?“
Der Trapper nickte. „Ein schwarzer noch dazu, eine Bestie wie ein Königstiger.“
Lionel klatschte vor Freude in die Hände. „Wo, mein guter Jack? Wo? Wird man zu Pferd die Stelle erreichen können?“
„Ganz bequem“, versetzte der Jäger. „Die Raubkatze ist jedenfalls durch die Truppenbewegungen an der Grenze hierher verschlagen worden; sie hat ihr Lager im Röhricht an den großen Sümpfen, wo der Waldsaum den See streift.“
Als später Mr Charles nach Hause kam, wurde der Trapper vorgelassen und musste seinen Bericht wiederholen. Auch Manfred Trevor horchte auf. „Ein Jaguar? Und unten in der Wildnis an den unübersehbaren Sümpfen? Sollte das eine Treibjagd geben?“
„Gewiss!“, rief der Gutsherr. „Ich kann fünfzig bis achtzig Schwarze stellen!“
Die Nachricht kam wie eine wahre Freudenbotschaft in das Haus. Schon in aller Frühe des nächsten Tages sollte der Jagdzug beginnen, die Dienerschaft musste gleich heute das Zelt des Gebieters instand setzen, die Pferde auswählen, Vorräte zusammenpacken und Waffen putzen, alle Hände waren in fieberhafter Tätigkeit, jeder Bewohner der Farm dachte nur an den schwarzen Jaguar und seinen Pelz, den das Völkchen bald hier und bald dort platzierte, während der wahre Eigentümer denselben noch viele Meilen tief in das Herz der Wildnis hinein, unter Schilf und Röhricht verbarg und sich die weichen Katzenpfoten leckte, als wollte er sie vorbereiten zum Kampfe auf Leben und Tod.
„Hast du eine gute Kugelbüchse für mich, Charles?“, fragte Manfred Trevor. „Ein armer Stadtgelehrter besitzt dergleichen nicht, wie du wohl weißt. Das heißt“, setzte er schnell hinzu, „wenn du gestattest, dass ich dich zur Jagd begleite!“
„Manfred – welche Frage! Da in der Waffenkammer hängen Dutzende von Büchsen aller Art, suche die heraus, welche dir am besten gefällt, und behalte sie gleich ein- für allemal zum Andenken an mich.“
„Wenn ich den Pelz erbeute, so nimmst du ihn doch auf jeden Fall von mir an, Onkel Charles? Ich habe erst heute aus dem Coeur-Ass das Herz herausgeschossen“, sagte Lionel.
Der Gutsherr streichelte das blühende Gesicht seines Lieblings. „Wenn du den Jaguar erlegst, mein Junge, so wird mich das noch weit mehr freuen, als wenn er von mir die Kugel ins Herz bekäme. Aber vorsichtig sollst du sein – was Jack Peppers anordnet, das geschieht bedingungslos.“
Lionel tanzte vor Vergnügen. „Wer hätte sich so etwas Herrliches gedacht!“, rief er. „Nun werden wir also eine ganze Nacht draußen im Zelt verbringen, werden auf Steinen und mit zusammengesuchtem Holze Kaffee kochen, vielleicht einen Hirsch schießen und ihn am Spieße braten! Ich kann mir wahrhaftig nichts Schöneres denken!“
„Ich auch nicht!“, stimmte Hermann voll Begeisterung ein.
Der Gutsherr nickte lächelnd. „Nur die Moskitos werdet ihr über alle Berge wünschen“, sagte er. „In den Sümpfen gibt es Legionen, während unsere Netze jedenfalls zu Hause gelassen werden müssen.“
„Jedenfalls!“, lachte Lionel. „Ach, wenn es erst morgen wäre!“
Abseits von diesen Ausbrüchen einer natürlichen, echt jungenhaften Freude saß Philipp und las ein naturwissenschaftliches Werk; er, der gesetzlich nächste Erbe von Seven Oaks war gleichsam übersehen, während ein ganz Fremder, ein Sohn der verachteten farbigen Rasse volle Kindesrechte genoss und sich mit der Sicherheit des verwöhnten Lieblings im Hause bewegte. Mr Manfred Trevor knirschte heimlich. Es gab ein Wort, das ihn seit diesem Mittag unablässig verfolgte, der Gutsherr hatte es ausgesprochen: „Philipp wird Professor, Lionel dagegen ein einfacher Farmer!“
Seven Oaks war ihm zugedacht, das unterlag keinem Zweifel. Alle diese endlos gedehnten Fruchtfelder, diese Scharen von Sklaven, die nach Hunderten von Köpfen zählenden Herden und stattlichen Gebäude – alles sollte Lionel erben.
„Manfred“, sagte der Gutsherr, „woran denkst du so lebhaft?“
Der Angeredete fuhr auf, als sei in seiner Nähe ein Pulvermagazin in die Luft geflogen. „Ich?“, stammelte er. „Ich? An nichts!“
„Du sahst aus, als wolltest du einen Todfeind erwürgen, Onkel Manfred!“
Mr Trevor zuckte die Achseln. „Den Jaguar!“, versetzte er halb murmelnd. „Den will ich erschießen, ich selbst.“
Von früh bis abends war die Jagdgesellschaft unterwegs gewesen, ohne den Jaguar zu treffen. Nun hatte man sich nach einem kräftigen Essen zum Nachtlager hingelegt. Neben Lionel lag sein Onkel, der vergeblich den Schlaf suchte.
Der Gutsherr sah ihn an. „Hast du mich lieb, Lionel?“, flüsterte er.
„Weshalb fragst du so sonderbar, Onkel? Bin ich denn nicht dein Blutsverwandter? Ach, erzähle mir doch in dieser Stunde von meinen Eltern! Ich weiß nur, dass sie zu deiner Familie gehörten, aber sonst nichts!“
Der Gutsherr versetzte: „Als meine Frau und meine beiden Kinder in einem Jahre starben, da warst du ein kleines Bürschchen – so recht eigentlich das letzte menschliche Wesen, welches mir Gott noch gelassen. Ich habe mein Herz an dich gehängt, Lionel, ich erziehe dich zum Gentleman und hinterlasse dir, wenn mich Gott abruft, meine Farm mit allem, was dazu gehört.“
Lionel fuhr auf. „Nein, Onkel Charles“, flüsterte er, „nein, das darf nicht geschehen. Philipp ist dein gesetzlicher Erbe.“
Der Gutsherr lächelte. „Ich will meinen Neffen auch keineswegs vergessen“, versetzte er. „Philipp, bekommt sechzigtausend Dollar, das ist ein Vermögen, von dessen Zinsen er gut leben kann. Seven Oaks dagegen bleibt dein, unter Brüdern wäre es schon seine halbe Million wert. Und nun höre, was ich dir sagen will, mein Junge! Das Testament ist in meinen Händen geblieben, anstatt bei dem Friedensrichter niedergelegt zu werden, Mr Mason hielt es so für besser, weil die Freibriefe sämtlicher Sklaven mit darin enthalten sind – etwas, das in unseren Tagen böses Blut machen könnte. Sobald ich gestorben bin, muss das Dokument den Behörden vorgelegt werden, es darf um keinen Preis in eine andere als nur deine Hand gelangen, mein Junge!“
Dann wandte sich der Gutsherr plötzlich um. Mr Manfred Trevor, sein Vetter horchte.
„Jetzt nicht“, flüsterte er in das Ohr seines Pflegesohnes. „Schlafe, Lionel – wir sprechen uns morgen.“
Am anderen Morgen blieb Mr Manfred hart an seines Vetters Seite, er machte es ihm unmöglich; dem Jungen auch nur ein einziges Wort zuzuflüstern. Lionel dachte nicht mehr an die Unterredung dieser Nacht, er fragte zum zwanzigsten Male den geduldigen Jack Peppers, wie denn nun die Jagd vor sich gehen werde.
„Der Jaguar lauert jetzt im Röhricht“, antwortete dieser. „Die Treiber haben ihn gestellt und sich dann zwischen den Felsen versteckt. Wenn wir kommen, müssen die Hunde das Wild aufspüren.“
Jetzt schienen die Hunde unruhig zu werden, sie schnupperten am Boden, ihr Fell sträubte sich.
Jack Peppers stand still. „Irgendwo im Schilf lauert die Bestie“, sagte er leise. „Wir müssen uns jetzt trennen“, fuhr er fort, „und zwar so, dass beide Ufer des Wasserarmes besetzt sind. Ich bleibe hier vorn, meine Hunde sollen die Unze heraustreiben.“
Er deutete mit der Hand die Richtung an – leise schleichend suchten die beiden Männer in Begleitung der Jungen jeder für sich hinter einem dicken Stamm die nötige Deckung, und nun begann der Trapper, die Hunde in Bewegung zu setzen. „Vorwärts, Happy, mein gutes Tier! Vorwärts, Carry! Sucht die Katze!“
Er selbst hatte das Gewehr an einen Baumstamm gelehnt und dafür vom Gürtel eine schwere Keule aus Eichenholz gelöst. Den Arm mit einem Schaffell umwickelt, stand er da wie ein römischer Fechter der Vorzeit, vollkommen ruhig, bereit, dem gefürchteten Raubtiere entgegen zu gehen.
„Vorwärts, Happy! Vorwärts, Carry!“
Die Hunde gehorchten, sie drangen in die dichten Schilfmassen hinein, sie suchten mit gesenkten Schnauzen und schienen nach kurzer Frist die Spur gefunden zu haben. Ein wütendes Bellen verriet, dass ihr Todfeind entdeckt war.
Von rechts und links stürzte aufgeschreckt, in voller Todesangst, ein Rudel Wasserschweine kopfüber in die stille Flut, während aus dem grünen Rahmen derselben ein dicker plumper Kopf mit glühenden Raubtieraugen zum Vorschein kam. Ein langer Schweif peitschte wütend die Halme. Der schwarze Kopf sah nach vorn, als suche er den Angreifer, dann ertönten drei Schüsse.
Das Tier sprang hoch empor und fiel auf alle vier Füße zurück, es brüllte vor Wut und Schmerz, blutiger Schaum stand vor dem Maule. Das Rückenfell war gesträubt, die Haltung geduckt, wie zum Sprunge. Noch im Todeskampfe schien es den einzig sichtbaren seiner Angreifer, den Trapper, überfallen zu wollen.
Jack Peppers stand unbeweglich. Die Keule hielt er etwa in Augenhöhe, die Blicke waren fest auf das brüllende Raubtier gerichtet. Carry und Happy bellten immerfort um die Wette – es schien, als dränge sich die Entscheidung des ganzen Unternehmens zusammen in dieser Minute.
Dann wagte der Jaguar den Sprung, welcher ihm so oftmals zum Siege, zur reichen Beute verholfen hatte; er setzte an, um im Fluge den Trapper zu packen und zu Boden zu reißen. Ein breiter Blutstrom drang aus seiner rechten Seite hervor, die große Gestalt schien zu schwanken, zu taumeln, sie berührte in einigen Fuß Entfernung vor dem kühnen Jäger den Boden, und nun war ihr Schicksal besiegelt. Ein wuchtiger Hieb mit der Keule ließ die schlanken Glieder kraftlos zusammenbrechen.
Jack Peppers warf die Keule zur Seite und ergriff die Kugelbüchse, um den Kopf des Jaguars zu zerschmettern. Jetzt war der Sieg errungen – aus den nächsten Gebüschen kamen schon die Neger herbeigelaufen, um in ihrer kindischen Weise den toten Feind zu umtanzen und ihn zu verhöhnen. Auch die beiden Jungen erschienen, endlich Mr Manfred Trevor – wo blieb aber der Gutsherr?
„Onkel Charles!“, rief Lionel.
Keine Antwort.
„Onkel Charles, wo bist du? Wir suchen dich!“
Es blieb wieder alles still, auch der Trapper und Hermann riefen so laut sie konnten, aber ganz umsonst, nichts regte sich, keine Stimme gab Antwort.
Lionels Herz fing an, schneller zu schlagen. „Onkel Manfred“, bat er, „rufe du doch auch! Hast du denn nicht gesehen, wo Onkel Charles Stellung nahm?“
Mr Trevor zuckte zusammen. „Ich?“, rief er. „Ich? Junge, wie kommst du darauf? Wie kannst du dir eine derartige Frage erlauben?“
Lionel wich zurück. „Onkel, du siehst mich so merkwürdig an!“, rief er. „Was hast du nur?“
Statt aller Antwort drehte Mr Trevor das Gewehr mit dem Kolben nach oben und führte gegen den Jungen einen Hieb, der diesen getötet haben würde, wenn nicht Jack Peppers zur rechten Zeit dazwischen gesprungen wäre. „Was tun Sie, Sir?“, rief er, den erbitterten Mann zurückdrängend. „Der junge Herr hat Sie mit keinem Worte beleidigt!“
„Doch!“, schrie Mr Trevor. „Doch! Wie kann er –“
Seine beabsichtigte Rede wurde jählings unterbrochen. Aus einer der entfernteren Partien des Schilfes erklang das laute Geschrei eines Negers, schwarze Hände hoben sich angstvoll in die Luft empor, ein schwarzes Gesicht sah kläglich hinüber zu der Gruppe weißer Männer. „Oh, Mr Charly! Mr Charly! Er ist tot!“
Laut schrie Lionel auf, voll Entsetzen, wie es Worte nicht schildern könnten. „Tot! Barmherziger Gott, er sollte tot sein?“
Hermann war sogleich aufgesprungen und zur Unglücksstätte geeilt, ihm folgten Jack Peppers und Lionel, ebenso die übrigen Neger, nur Mr Manfred blieb an einen Baum gelehnt stehen, während seine Hände leise bebten und sein Gesicht von fahler Blässe überzogen war. Er hielt den Blick gesenkt, in den Mundwinkeln zuckte es unheimlich.
Vergessen war der Jaguar – leise hoben liebevolle Hände die regungslose Gestalt des Gutsherrn vom Boden.
Jack Peppers bog Rock und Hemd zur Seite. Aus einer kleinen blauschwarz erscheinenden Wunde in der Brust sickerte das Blut.
Lionel sank neben dem Körper seines Wohltäters auf die Knie. „Onkel Charles!“, flüsterte er, halb erstickt von Tränen, „Onkel Charles, sieh mich doch noch ein einziges Mal an!“
Und als habe die Stimme des Jungen den Schleier einer todesähnlichen Erstarrung zerrissen, so ging durch die Glieder des Sterbenden ein leichtes Zucken. Die festgeschlossenen Augen öffneten sich langsam, der Blick suchte den des Jungen, sekundenlang – dann heftete er sich fest auf das blasse Antlitz des Mannes, der seinen Platz an dem alten Baumstamm immer noch nicht verlassen hatte, der die Wimper gesenkt hielt, als, wolle er nichts sehen, was um ihn her vorging.
Der Sterbende fixierte ihn unausgesetzt. Über die erbleichten Lippen kam kein Laut, aber das Auge zeigte klares Bewusstsein.
„Mr Trevor“, sagte leise der Trapper.
Jener fuhr auf, er taumelte fast, über die Anwesenden hinweg sah er ins Leere. „Was wollt Ihr?“, kam es hastig und tonlos von seinen Lippen. „Was wollt Ihr?“
„Sir, der Herr scheint Ihnen ein Zeichen zu geben!“
Immer noch hing der Blick des Sterbenden unausgesetzt an seinen Augen, aber Manfred Trevor konnte sich nicht entschließen, näher zu treten oder gar den Verwundeten anzusehen, er schüttelte, nur den Kopf. „Nein! Nein! Wozu auch? Ich habe nicht so starke Nerven!“
„Onkel Charles“, bat Lionel, „was ist es, das du wünschest? Gib mir ein Zeichen!“
Die Brust des Gutsherrn hob sich schwer, wie im lebhaften Verlangen, ein Wort hervorzubringen, vielleicht nur eins, ein einziges, aber kein Laut wurde gehört. Mit äußerster, letzter Anstrengung erhob er die Hand und deutete auf Mr Manfred Trevor, dann umschleierte sich der Blick, matt sank der Arm in das Moos und alles war vorüber.
„Er ist tot!“, sagte leise der Trapper. „Friede seiner Seele!“
„Amen!“, flüsterte Hermann.
Lionel schluchzte laut. Er hatte mit beiden Armen die Brust seines Wohltäters umklammert, er konnte nicht glauben, dass er so jählings für alle Zeit geschieden sein sollte.
„Wir haben hier nichts mehr zu tun“, sagte seufzend der Trapper. „Ach, das ist ein schreckliches Unglück! Ermannen Sie sich, junger Herr, wir müssen jetzt den Heimweg antreten.“
„Wie kam es, dass Onkel Charles erschossen wurde?“, fragte Philipp, nachdem der Tote aufgebahrt worden war.
Mr Manfred zuckte, die Achseln. „Einer der schuftigen Neger natürlich! Die Halunken haben niemals Peitschenhiebe geschmeckt, daher sind sie übermütig geworden. Du bist jetzt der Erbe von Seven Oaks!“
Philipp sah auf. „Ich, Papa? Oh nein!“
„Doch. Ich bin allerdings ein Vetter des Verstorbenen, unsere Väter waren Brüder, doch stehst du ihm in der Verwandtschaft noch um einen Grad näher, denn deine Mutter war seine Schwester. Ich wiederhole dir, du bist der rechtmäßige Erbe von Seven Oaks, natürlich mit der Beschränkung, dass ich als dein Vater bis zu deiner erlangten Volljährigkeit das Vermögen für dich verwalte.“
Philipp schüttelte den Kopf. „Das mag ja alles sein, wie du sagst, Papa, wenigstens dem Gesetze nach, aber doch muss die Farm Lionels Eigentum werden, denn Onkel Charles hätte sie ihm vermacht, wenn –“
Ein flammender Zornblick traf den Jungen. „Unsinn!“, herrschte Mr Trevor. „Lass mich derartige Worte von dir nicht nochmals hören, Philipp.“
„Sie sind aber doch die Wahrheit, Papa! Du kannst unmöglich beabsichtigen, den armen Lionel jetzt schutzlos in die Welt hinauszustoßen.“
Ein höhnisches Lachen verzerrte Mr Trevors Lippen. „Schutzlos?“, wiederholte er. „Nein, mein guter Philipp, das wird nicht geschehen.“
Mr Trevor hatte im oberen Stock sein Zimmer neben dem Schlafgemache des verstorbenen Gutsherrn. Er verschloss die Türen, dann wurde mit der Matratze des Bettes das einzige Fenster im Kabinett sorgfältig verhüllt; Mr Manfred überzeugte sich vom Schlafzimmer aus, dass kein Strahl der Lampe den Garten erreichen könne.
Nun begann eine eigentümliche Szene. Ohne Stiefel auf den dichten Teppichen von Ort zu Ort schleichend, untersuchte Manfred Trevor alle Behälter in den Zimmern seines verstorbenen Vetters, um womöglich das versteckte Testament zu finden. Dies Blatt musste er vernichten, ehe morgen die Behörde einschritt und vielleicht alles auf Lionels Aussagen hin unter Siegel legte.
Hier war der Schrank, in dem die Kleider hingen; Manfreds heiße Fingerspitzen tasteten überall umher. Kein Geheimfach? Kein doppelter Boden?
Nichts, gar nichts.
Noch ein Schrank, eine Kommode – alles leer.
Jetzt kam das Arbeitszimmer an die Reihe. Sämtliche Schlüssel hatten sich in den Taschen des Toten befunden, er öffnete den Schreibtisch und sah hinein. Da lag Geld in einer kupfernen Schale, Gold – Tausende, außerdem Banknoten in Stapeln, ein Buch, in welchem der Stand des Vermögens genau verzeichnet war.
Es griff wie mit Krallen in das Herz des verbrecherischen Mannes. Wenn er das Testament nicht auffand, so war alles verloren, alles; ein Fremder, ein Halbneger erhielt das kolossale Erbteil.
Aber doch! Der kleinste Schlüssel am Ring passte in ein Schloss, das nur der Blick des gewissenhaftesten Beobachters entdecken konnte. Ein Fach sprang auf, ein versiegeltes, umfangreiches Paket fiel in die Hände des Suchenden. „Mein Testament“ stand auf der Vorderseite – endlich war der Schatz gefunden.
Manfred Trevor riss das Siegel ab, er sah heißen Blickes hinein in das eng beschriebene Dokument. Zuerst eine Namensliste von stattlicher Länge –
Himmy und Billy und Lizabeth und Mary, wie die Schwarzen alle hießen: Von Ralph, dem Vertrauten des Gebieters bis zum letzten Stalljungen waren sie für den Fall des Todes ihres Eigentümers durch notarielle Akte in Freiheit gesetzt.
Ein satanisches Lächeln umspielte Mr Trevors Lippen. Nie sollte irgendeines Menschen Auge diese Liste sehen.
Er steckte das Blatt zu sich. Gegen zweimal hunderttausend Dollar! Wer verschenkt sie wie den Cent, den der Bettler am Wege erhält? Wahrlich, er nicht!
Das Testament enthielt die Einsetzung Lionels als Erbe von Seven Oaks. Für Philipp war ein Kapital ausgeworfen, für ihn selbst, den Vetter und Schwager des Verstorbenen nur der Genuss einer lebenslänglichen Rente, während das Vermögen, aus welchem dieselbe bezogen wurde, nach seinem Tode dem Haupterben wieder zufiel.
Mr Trevor schnitt eine Grimasse. „Wahrhaftig, eine fabelhafte Großmut!“, zischte er.
Er ordnete im Pulte jeden Gegenstand, ließ Geld und Banknoten unberührt an ihrem Platze liegen und verschloss das Möbel, um dann die Schlüssel in eine Kassette zu werfen.
Freier atmend schloss er leise die Tür und sank schwer in den Sessel, der vor seinem Bette stand. Die Gefahr war jetzt glücklich abgewendet, allein wohin sollte er mit dem umfangreichen Schriftstück?
Jetzt war die vierte Morgenstunde angebrochen, auf dem Hofe begann es sich zu regen, Tierstimmen wurden laut.
Das Dokument fest gegen seine Brust pressend, lehnte sich Mr Trevor zurück und versuchte zu schlafen …
Am nächsten Tag wurde Lionel vor den Friedensrichter gerufen. Dieser fragte ihn: „Mehrere Neger, die zum Eigentum des Verstorbenen gehören, behaupten, von ihrem Gebieter freigelassen zu sein und stützen sich dabei auf dein Zeugnis. Was weißt du von der Sache? Es ist alles Schwindel, nicht wahr? Die Kerle werden ausgepeitscht und damit basta!“
Lionel schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, Sir“, rief er. „Sie irren! Gepeitscht wurde hier erstens nie ein Neger, nie! Dann aber haben auch die Leute nur gesagt, was wahr ist. Onkel Charles, mein Wohltäter, hat in seinem Testamente mich zum Erben von Seven Oaks eingesetzt und seinen sämtlichen Sklaven die Freiheit geschenkt, nicht allein einigen unter ihnen, sondern allen ohne Ausnahme.“
Da schlug eine rote Lohe über sein Gesicht, er ließ die Hand mit dem Messer schwer auf den Tisch fallen. „Über zweihundert Sklaven sollten freie Leute geworden sein?“, rief er mit heiserem, zornigen Tone. „Weißt du, wo dieses Testament ist?“
Lionel sah ihn ruhig an. „Nein, Sir“, versetzte er, „aber ich weiß, dass es vorhanden ist. Erlauben Sie mir, die Dokumente des Verstorbenen zu durchsuchen!“
„Welcher Notar hat es denn aufgesetzt, Bürschchen?“, fragte er, sich schwer aus dem Schaukelstuhl erhebend. „Weißt du es?“
„Ja, Sir, der Advokat Mr Mason!“
„Gilt bei der Armee als verschollen. Und die Zeugen?“
„Zwei Männer, die sich bei der Fahne befinden.“
Der Friedensrichter lächelte. „Nun“, sagte er, „wir werden ja sehen, wie die Sache steht. Bei der Behörde ist keine letztwillige Verfügung niedergelegt.“
Die beiden von dem verstorbenen Gutsherrn bewohnten Räume wurden gründlich, aber selbstredend ohne Erfolg durchsucht, es fand sich kein Dokument, das Aufschluss gegeben hätte, kein Blatt Papier von Mr Masons Hand. Der Friedensrichter hatte seine gute Laune wieder. Und ohne sich weiter um den Jungen zu kümmern, ging er davon. Philipp Trevor war der Erbe, dessen Vater als Vormund seines minderjährigen Sohnes einstweilen Herr und Gebieter – damit basta!
Die armen Schwarzen, nun war ihr Schicksal besiegelt. Mr Trevor würde keinen einzigen freilassen, so viel stand fest.
Nach der Beerdigung wurde Lionel vor Mr Trevor gerufen. Philipp stand ebenfalls im Zimmer, auch der alte Neger Ralph war anwesend.
„Da bist du ja, Lionel“, sagte die harte Stimme. „Ich habe dir eine Mitteilung zu machen: Dein Vater war der Mulatte Malcolm, der Sklave eines
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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1569-1
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