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Am Nelsonstrom
Emil Droonberg
Coverbild: © Red monkey / Shutterstock.com
1. Die Fußspur auf der Klippe
Mit sengender Glut brannte die Sonne auf die Tausende von Geviertmeilen von Muskeg hernieder, der sich mit geringen Unterbrechungen nördlich und südlich des Nelsonstromes weit in das Land hinein dehnte, und lag in blendendem Widerschein auf den grauen, schlammigen Wassern, die sich träge der Hudsonbai zuwälzten.
Ich saß auf einem breiten Streifen festen Sandes, der hier das Nordufer des Stromes bildete, und beobachtete müßig meinen Gefährten, einen alten Siouxindianer, der nur wenige Schritte von mir entfernt auf einem über das Wasser hinausragenden Baumstumpfe hockte, beschäftigt, einige Fische für unsere Abendmahlzeit zu angeln. Der Hauptteil meiner Aufmerksamkeit war aber in Anspruch genommen durch die Abwehr der Moskitoschwärme, die wie dicke braune Wolken höllischen Unheils die Luft erfüllten.
Sie sind der Fluch des kanadischen Nordens und Alaskas, diese Moskitos. Und leider trägt auch der Umstand, dass man die unausgesetzten und unerhörten Quälereien nur durch das schönere Geschlecht dieser Ausgeburt der Hölle erleidet, nicht das Geringste zu ihrer Milderung bei.
Der männliche Moskito ist ein völlig harmloses Geschöpf, das nur Nektar und Ambrosia aus den Blumen saugt, sich aber im Übrigen ausschließlich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert. Seine bessere Hälfte zeigt aber blutsaugerische Amazoneninstinkte von dämonischer Verruchtheit.
Das Seltsamste dabei ist, dass diese Quälgeister nicht etwa nur eine Plage der tropischen Länder sind, wie vielfach angenommen wird, sondern dass sie im Gegenteil noch viel schlimmer in den kalten und kältesten Zonen auftreten.
In Sibirien wie in Kanada und Alaska kommen sie zum Vorschein, sobald der Schnee weggetaut ist. Dann brütet die Tundra mit ihren Sümpfen solch unglaubliche Massen von ihnen aus, dass sie die Luft wie Rauchschwaden füllen und Rentiere, Pferde, Schlittenhunde und oft genug auch die Menschen buchstäblich zu Tode peinigen.
In Alaska versuchen die meisten Tiere das Waldes ihnen dadurch zu entfliehen, dass sie, wie zum Beispiel die Herden Hunderttausender von Karibus, immer gegen den Wind ziehen, gleichviel wohin, oder dass sie immer weiter nach Norden, bis an die Schneegrenze, abwandern. Aber auch das hilft meist nicht sehr viel, denn der unerbittliche Feind folgt ihnen bis auf die höchsten Berge und dort bis über die Vegetationslinie hinauf. Die Moskitos töten Wapitis und Hirsche, indem sie über diese unglücklichen Geschöpfe in solchen Massen herfallen, dass sie ihre Körper leer saugen von Blut. Bären werden rasend vor Qual, erblinden unter den Stichen ins Auge, verkriechen sich bis zur Nasenspitze im Schlamme der Sümpfe und verhungern dort oft lieber, als dass sie es wagen, herauszukommen. Tiere, die der Quälerei nicht erliegen, zeigen ein von dem eingedrungenen Gifte völlig verfärbtes Fleisch, und selbst das Mark in den Knochen ist in Blut und Wasser zersetzt. Männer, die unter keiner Entbehrung, keiner Anstrengung und keiner Erschöpfung zusammengebrochen wären, findet man oft unter der unausgesetzten, Tag und Nacht währenden Qual mit ihren Nerven so weit fertig, dass sie weinen vor hilfloser Wut.
Die Idylle, die dieser Sommernachmittag, den wir hier in voller Muße am Ufer des gewaltigen Stromes verbrachten, für uns hätte sein können, war also nicht ganz ohne Beeinträchtigung.
Mein indianischer Gefährte schenkte der Moskitoplage übrigens viel weniger Beachtung. Das konnte er um so eher, als die Indianer darunter zwar ebenfalls zu leiden haben, aber doch nicht in dem Grade wie die Weißen. Vielleicht sind sie durch die dauernde Aufnahme des Moskitogiftes in ihr Blut bis zu einem gewissen Grade gegen die Moskitostiche immun geworden.
Wir waren vor zwei Tagen nach einer mehr als dreiwöchigen Kanureise von Winnipeg über den langen Winnipegsee und das sich an diesen anschließende System von Wasserläufen hier eingetroffen. Ich hatte die Reise im Auftrage des Chefredakteurs der ‚Daily News‘ unternommen. Von The Pas, im nördlichen Manitoba, nach Port Nelson, an der Mündung des gleichnamigen Stromes in die Hudsonbai, wurde nämlich eine Bahn gebaut, und die Partei, der das Blatt gehörte und die zu der augenblicklichen Regierung in Opposition stand, glaubte Gründe zu der Annahme zu haben, dass diese oder doch eine Gruppe von ihr nahestehenden Politikern die günstige Gelegenheit zu einem umfangreichen ‚Graft‘ benutzt hatten. Der Chefredakteur hatte mir daher den Vorschlag gemacht, nach Port Nelson zu reisen, die Zweckmäßigkeit des ganzen Projektes an Ort und Stelle zu prüfen und eine Reihe von Artikeln darüber zu schreiben. Er hielt es für ratsam, eine politisch ganz und gar unbescholtene Person, wie mich, mit dieser Aufgabe zu betrauen, damit diese Berichte nicht von vornherein als parteipolitisch voreingenommen verdächtigt werden konnten. Trotzdem schien er überzeugt, dass seine Partei ausnahmsweise diesmal auch bei einer solchen Art von Berichterstattung auf ihre Kosten kommen würde. Und in der Tat mussten einige seltsame Umstände, auf die er mich im Einzelnen aufmerksam machte, wenn sie sich bewahrheiteten, den Bau der neuen Linie in einem recht merkwürdigen Lichte erscheinen lassen.
Mein Gefährte, der Sioux, war ein alter Bekannter von mir. Er war der Häuptling der Touchwood Hills Reservation in der Provinz Saskatchewan und trug den etwas sonderbaren Namen Dead Body, also ‚Leichnam‘, den er einem Ereignis aus dem letzten Indianeraufstande im Jahre 1885 verdankte. Das Indianische Amt in Ottawa hatte ihm durch den Agenten, dessen Aufsicht seine Reservation unterstand, mitteilen lassen, dass er und sein Stamm die Touchwoodberge verlassen müssten. Man sei aber bereit, ihnen ein gleich großes Stück Land an der Hudsonbai anzuweisen, über dessen genaue Lage man Vorschläge von ihnen in Erwägung ziehen würde. Einen bestimmten Grund für diese Maßnahme hatte man ihm nicht genannt; es war ihm aber bekannt, dass die umwohnenden Farmer die Regierung schon seit langer Zeit drängten, das Land, das sie als Weide für ihr Vieh benötigten, freizumachen.
Da die Sioux nicht zu den Vertragsindianern gehören, sondern erst im Jahre 1876 nach dem blutigen Gefecht gegen die amerikanischen Truppen unter General Custer am Little-Big-Horn-Flusse als Flüchtlinge aus den Vereinigten Staaten nach Kanada gekommen waren, hat sie die kanadische Regierung immer nur im Lande geduldet und niemals irgendwelche Verpflichtungen gegen sie anerkannt. Es blieb Dead Body daher auch nichts anderes übrig, als sich der Entscheidung zu fügen, denn sie ergab sich aus dem Umstande, dass die Farmer bei der Wahl Stimmen abzugeben hatten, er und sein Stamm aber nicht.
Ich hatte ihn zufällig auf dem Indianischen Amte in Winnipeg getroffen, wohin ich gegangen war, um vor meiner Abreise einige Karten einzusehen. Da er eine Reise nach der gleichen Gegend vorhatte, beschlossen wir sofort, sie zusammen zu unternehmen.
Wie alt Dead Body eigentlich war, habe ich niemals ganz genau feststellen können, denn darüber war er sich selbst im Unklaren. Er berechnete sein Leben nicht nach Jahren, sondern nach den bedeutsameren geschichtlichen und sonstigen Ereignissen, die er miterlebt hatte. Danach musste er sich jetzt etwa in der Mitte der Siebzig befinden. Seine Kleidung war die übliche der Indianer, die in Kanada auch heute noch vielfach von ihnen getragen wird. Sie bestand aus engen, hirschledernen Beinkleidern mit breiten blauen Streifen an den Seiten, ebensolchen Mokassins, blaugestreiftem baumwollenem Hemd und grauem Filzhut mit breitem flachem Rande. Das lange und nur ganz wenig ergraute Haar fiel in zwei Zöpfen über seine Schultern herab.
Es lag eine gewisse Tragik in seiner Erscheinung, hervorgerufen oder doch zumindest auffälliger gemacht durch die Unbeweglichkeit der wie aus Erz gegossenen Züge seines kupferbraunen faltigen Gesichts und den fast stets in die Ferne gerichteten Blick seiner dunklen Augen, der nach dem Lande zu suchen schien, das die in die Wildnis vordringende Zivilisation seinem Volke geraubt hatte. Er war ein völlig einsamer Mann, und die letzte Überlebende seines Geschlechts, seine Enkelin Minnehaha, befand sich als Nonne im Kloster zu Lebret.
Außerdem gehörte noch ein Halbblut zu uns, das ich in Selkirk als Guide angeworben hatte. Über seine Eignung dazu konnte ich mich freilich nur auf die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Angaben stützen, und schon in den ersten Tagen unserer Reise fand ich Veranlassung, in diese einige Zweifel zu setzen. Augenblicklich weilte er in unserem Lager, das wir eine halbe englische Meile stromabwärts in einer Waldlichtung aufgeschlagen hatten, wo er mit den mannigfachen Lagerarbeiten beschäftigt war.
„Dein Stamm wird einen guten Tausch machen, wenn er hier eine Reserve erhält“, bemerkte ich zu meinem Gefährten in der Siouxsprache, die ich ziemlich gut beherrschte. „Der Boden ist vorzüglich hier. Und hast du die vielen Tierspuren gesehen?“
„Meine Augen waren offen und haben gesehen, was mein weißer Bruder gesehen hat“, erwiderte er.
„Das gibt also gute Aussicht für das Trappen im Winter, während in den Touchwood Hills, wie du mir oft geklagt hast, die weißen Farmer alles leer getrappt haben.“
Eine Antwort erhielt ich nicht sogleich, denn in diesem Augenblick erfolgte ein heftiger Ruck an der Angelschnur, die er eiligst einzuholen begann. Ein Hecht von wenigstens drei Pfund erschien zappelnd über dem Wasser. Er tötete ihn, indem er den Kopf des Fisches gegen einen Baumstamm schlug, und warf ihn dann mit einem gutberechneten Wurfe zu zwei anderen von nahezu gleicher Größe, die er bereits gefangen hatte und die zum Schutze gegen die Moskitos und Fliegen an einer schattigen, durch ein paar Steine abgegrenzten Stelle im Wasser lagen.
„Hast du gesehen, von wie vielen Bäumen die Rinde dicht über dem Boden abgenagt ist?“, nahm ich das Gespräch wieder auf. „Es muss also eine Menge wilder Kaninchen hier geben. Und wo die sind, gibt’s Marder und Wölfe und Luchse. Da liegen auch Bärentrauben, obgleich kein Strauch in der Nähe ist. Die kann nur ein Bär hierher verschleppt haben. Dort ist übrigens seine Fährte in den Sand eingedrückt: der breite Fuß mit den fünf Zehen. Der Kerl ist jedenfalls auf den Baum geklettert, auf dem du sitzt, denn die Rinde ist zernagt.“
„Mein weißer Bruder hat ein scharfes Auge“, entgegnete Dead Body etwas spöttisch über meinen Hinweis auf so augenfällige Dinge, „wenn er noch etwas genauer beobachtet hätte, müsste er auch die Nerz- und Waschbärenfährten bemerkt haben.“
„Ich sehe eine Waschbärenspur“, versetzte ich, nachdem ich mit meinen Augen der Richtung seiner Blicke gefolgt war und die betreffende Stelle des Ufers ein Weilchen betrachtet hatte. „Sie ist bereits eingetrocknet, aber doch deutlich. Das Tier ist in der vergangenen Nacht hier gewesen und hat Hummer oder Krebse geangelt.“
Der Indianer hatte seine Angelschnur längst wieder in Ordnung gebracht und ausgeworfen. Er blickte jetzt noch einmal auf die Fährte, als ob er meine letzte Bemerkung nachprüfen wollte. Ich begann sie daher zu begründen:
„Du weißt, dass der Waschbär die Eigenschaften der Tiere, die auf den Zehen laufen wie die Katze, mit denen der anderen, die auf den Sohlen gehen wie der Bär, verbindet. Wenn der Waschbär steht oder langsam geht, setzt er seine Füße mit der ganzen Sohle auf den Boden. Wenn er aber schnell läuft, berührt er den Boden nur mit den Zehenspitzen. Hier ist die ganze Sohle zu sehen. Das beweist, dass er mindestens langsam gegangen ist. Da der Eindruck aber sehr deutlich ist, so kann man annehmen, dass er längere Zeit unbeweglich auf derselben Stelle gestanden hat. Aus der Richtung der Spur geht außerdem hervor, dass sein Rücken dabei dem Wasser zugekehrt war. Zu der Zeit, wo er sich hier befand, wird es dicht bis an die Spur herangereicht haben. Zu welchem anderen Zwecke würde er sich aber wohl längere Zeit unbeweglich mit dem Rücken gegen das Wasser stellen, als um zu angeln? Es gelingt nicht oft, einen Waschbär dabei zu beobachten. Einmal hatte ich aber doch dazu Gelegenheit. Es war am Rande einer Lagune. Dort sah ich einen Waschbär, der seinen Schwanz in das Wasser hängen ließ. Krabben und Hummer waren in der Lagune genug vorhanden, das wusste ich. Sonst hätte er die Stelle wohl kaum gewählt. So dauerte es denn auch gar nicht lange, bis sich eine große Krabbe in dem Schwanze festgekniffen hatte. Als er das merkte, sprang er mit einem Satze auf, schleppte sie hinter sich, vielleicht vier oder fünf Schritte vom Wasser fort, und als sie dann ihren Halt fahren ließ und eiligst wieder nach dem Wasser zurückflüchten wollte, hatte er sie auch schon in seinem Maul, und zwar so geschickt, dass sie ihm mit ihren Scheren nichts anhaben konnte. Übrigens liegt dort auch ein Stück Krabbenschale. Das wird ein Rest der Mahlzeit sein, die er sich geholt hat.“
Die Stille um uns wurde plötzlich von einem der nahen Uferfelsen herab durch den Ruf einer Spottdrossel unterbrochen. Fast im gleichen Augenblicke flog ein Tannenzapfen dicht an meinem Kopfe vorüber.
Ein kurzes helles Lachen folgte dem Wurfe.
Überrascht sprang ich auf und blickte nach der Richtung, aus welcher der Tannenzapfen gekommen war, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sich die Büsche auf der Felsenklippe hinter einer menschlichen Gestalt schlossen.
Ich blickte auf Dead Body und sah, wie er seine Angelschnur einzuziehen begann.
„Komm!“, rief ich. „Wir sind offenbar hier belauscht worden und müssen sehen, wer es war. Die Sache sieht zwar nur aus wie ein Scherz, aber ich dachte, wir befinden uns hier in einer ganz menschenleeren Gegend. Wenn wir aber doch Nachbarn haben, so möchte ich ihre Bekanntschaft machen.“
Wir schritten nach der Klippe, von der herab das Lachen erklungen war, umgingen diese aber erst am Fuße in entgegengesetzten Richtungen, bevor wir sie erstiegen, um nach möglichen Spuren Ausschau zu halten. Das blieb aber vergeblich. Der unbekannte Beobachter hatte keine besonderen Schwierigkeiten gehabt, seine Spuren zu verbergen, denn die Felswände bestanden fast aus nacktem Gestein, und nur in einigen Ritzen und Nischen kämpfte niedriges Gestrüpp um ein dürftiges Dasein.
Als wir zuletzt auf der Höhe der Klippe von nahezu entgegengesetzten Seiten anlangten, konnten wir beide dort keine Spur der Anwesenheit eines menschlichen Wesens entdecken, obwohl kaum zwei oder drei Minuten vergangen waren, seit ich, allerdings nur in ganz unbestimmten Umrissen, die menschliche Gestalt zwischen den Büschen hatte verschwinden sehen. Dass ich mich nicht getäuscht hatte, wurde übrigens durch einige abgebrochene Zweige von Erlenbüschen bewiesen, deren Bruchstellen erst nach ungefähr zwei Stunden eine rote Färbung annehmen. Die Bruchstellen waren noch weiß.
Ein Ausruf des Indianers unterbrach mein weiteres Suchen. Er deutete auf eine kleine muldenartige Einsenkung in dem Gestein, die zum Teil mit weicher und ziemlich feuchter Erde angefüllt war. In dieser zeigte sich deutlich der Abdruck eines kleinen, schmalen, mit einem Mokassin bekleideten Fußes. So weit und so scharf wir aber auch die Umgebung mit unseren Blicken absuchten, denn der Gipfel der Klippe war nur von geringem Umfang, es blieb die einzige Spur, die wir zu entdecken vermochten. Und doch hatte ich das Gefühl, dass irgendwoher ganz in der Nähe ein paar spähende Augen jeder unserer Bewegungen folgten.
„Es ist die Spur einer Squaw“, sagte ich zu meinem Begleiter.
Er nickte nur und zeigte dann nach der Stelle, an der sich die große Zehe in die Erde eingedrückt hatte. Der Mokassin war hier ausgebessert gewesen. Die Spuren davon konnte ein geübtes Auge deutlich erkennen.
Wir hatten unseren Rückweg nach dem Lager angetreten.
Schon von Weitem schimmerte uns das graue Segeltuch unseres Zeltes durch den hier nicht sehr dichten Wald entgegen. Ich war froh, seinen Schutz aufsuchen zu können, denn zwischen den Zweigen der Balsamtannen und den schlanken Birkenstämmen hindurch zeigte sich die Sonne bereits tief am westlichen Himmel, und die Moskitos begannen daher, ihren Gewohnheiten entsprechend, zu einer unerträglichen Plage zu werden. Der Aufenthalt in einem Raume, wo man vor ihren Angriffen geschützt war, hatte daher entschieden etwas Verlockendes.
Das Zelt war größer, als es für drei Personen unbedingt nötig gewesen wäre, und besaß auch zwei große mit Moskitogaze verschlossene Fensteröffnungen, die bei Regenwetter durch außen angebrachte Schutzdecken aus Segeltuch dicht gemacht werden konnten. Ich hatte mir hierbei einen gewissen Luxus gestatten können, da wir im Kanu reisten und ein paar Pfund Mehrgewicht nicht viel Unterschied machten. Wir waren darin wenigstens einer von Moskitos nicht gestörten Nachruhe sicher.
Im Innern hatte unser Guide, Jim Kennedy, aus frischen Tannenzweigen mit darüber gebreiteten wollenen Decken drei Lagerstätten errichtet.
Er empfing uns mit der ihm eigenen Würde, die ihm zwar gestattete, mich als Gleichberechtigten zu behandeln, ihn aber auf Dead Body mit einer Geringschätzung blicken ließ, zu der er sich aufgrund des Umstandes berechtigt glaubte, dass in seinen Adern einige Tropfen weißen Blutes flossen.
Am meisten fiel an ihm seine Größe von sechs Fuß drei Zoll auf, die aber im Verhältnis zur Breite seines Körpers stand. Seine Gesichtszüge mit den hohen Backenknochen, der lederfarbenen Haut und der Masse dicken schwarzen Haares, die das Gesicht umrahmte, verrieten deutlich den Halbblutindianer. Das Unschöne dieser Zusammenstellung milderten aber beträchtlich ein paar gutmütige braune Augen, die mit der Furcht, die man, wie er mir erzählt hatte, seiner herkulischen Körperkräfte wegen überall im Lande vor ihm hegte und die ihm auch bereits den Titel ‚terrible Jim‘ eingebracht hatte, etwas im Widerspruch zu stehen schienen. Die Bewegungen seines massigen Körpers waren ziemlich ungelenk, zumal da jedes einzelne Glied eine ausgesprochene Neigung verriet, seinen eigenen Bewegungsgesetzen zu folgen.
„Was!“, rief er empört, als Dead Body ihm die mitgebrachten Fische überreichte. „Ist das dein ganzer Fang, Rothaut! Und dazu brauchst du den ganzen Nachmittag? By gosh! Ich will mit einem Strick und einem krummgebogenen Nagel daran in der Hälfte der Zeit doppelt so viel fangen. Na, lass gut sein, old boy! Wenn wir mal Zeit haben, werd’ ich dir zeigen, wie man so etwas macht.“
Er hatte sich der Krisprache bedient, die die Sprache seiner indianischen Mutter war und die auch Dead Body gut kannte, da er lange Zeit Kristämme als Nachbarn gehabt hatte. Ich selbst beherrschte die Krisprache schon lange, während ich mich mit der Siouxsprache erst in der letzten Zeit vertraut gemacht hatte.
Ohne wohlweislich eine Antwort hierauf abzuwarten, verließ er das Zelt, um draußen an unserem Feuerplatz die Fische zur Abendmahlzeit herzurichten. Nach einer halben Stunde saßen wir vor einem frugalen Abendbrot mit einem Appetit, den auch die selbst jetzt noch drückende Hitze nicht dämpfen konnte.
„Ich denke wir werden morgen nach dem Arbeitercamp fahren müssen, das wir vorgestern, als wir den Fluss herunterkamen, drüben am anderen Ufer liegen sahen“, bemerkte ich zu meinen beiden Gefährten, mich ebenfalls der Krisprache bedienend, da Dead Body nur ein paar Worte Englisch verstand. „Ich halte es wenigstens für ein Arbeitercamp, denn wie käme wohl ein Dorf von wenigstens fünfzehn Häusern hierher, die verschiedenen Zelte, die wir sahen, gar nicht zu rechnen?“
„Jim muss das wissen“, meinte Dead Body.
„Du dummer Indianer denkst wohl, es ändert sich nichts in einer Gegend? Ich weiß nur, dass das Camp noch nicht da war, als ich das letzte Mal in der Gegend hier war. Vielleicht ist es ein Posten der Hudsons Bay Co.“
„Das glaube ich nicht“, entgegnete ich, „denn York-Faktorei an der Mündung des Hayes ist zu nahe, und es läge gar kein Grund vor, hier einen zweiten Handelsposten einzurichten. Nein, es kann nichts anderes sein als ein Arbeitercamp. Drüben auf dem südlichen Ufer wird die Strecke für die Hudsonbaibahn gebaut. Wo aber das Hauptquartier für die Bauarbeiter ist, da gibt’s auch Stores. Das interessiert uns augenblicklich am meisten, denn unsere Proviantvorräte sind gehörig zusammengeschmolzen.“
„Ich wundere mich, dass uns noch niemand besucht hat“, meinte Jim. „Gesehen müssen sie uns im Camp haben, als wir vorbeifuhren, denn es war noch ganz hell.“
„Sie haben uns wohl für Arbeiter gehalten, die nach Port Nelson gehen“, erwiderte ich. „Dort werden die Hafenanlagen gebaut. Aber sag mal, Jim, was für Indianerstämme leben denn hier herum?“
„Es sind ein paar Reservationen von Kris hier und Ojibways“, erklärte er, „und wahrscheinlich auch einige irreguläre Stämme, aber man weiß niemals, wo man die findet. Sie bleiben nur so lange in einer Gegend, als sie Nahrung finden, und das ist hier oben im Norden eine verdammt unsichere Sache. Die Karibuherden kommen zu Wintersanfang hier herunter. Aber sie können so dicht vor eurer Shanty vorbeiwandern, dass ihr tagelang nichts anderes hört als das Knacken ihrer Kniegelenke, oder auch so weit entfernt, dass ihr während des ganzen Winters nicht ein einziges Tier seht.“
„Es müssen Indianer hier in der Nähe sein“, erwiderte ich. „Wir haben eine Mokassinspur gesehen – die Spur eine Squaw.“
„Vielleicht war es die Spur einer Weißen, die tragen ja auch oft Mokassins.“
„Ein weißes Mädchen in dieser Gegend wäre noch viel sonderbarer“, war meine Antwort. „Nein, es war die Spur einer Indianerin. Die flache Sohle ließ darüber keinen Zweifel.“
Wir hatten inzwischen unsere Mahlzeit beendet. Ich steckte mir eine Pfeife an, dann stand ich auf und trat ins Freie. Wie lange mir freilich die Moskitos den Aufenthalt hier draußen gestatten würden, war fraglich. Andererseits wollte ich aber den schönen Sommerabend nicht im Zelte verbringen und war eben im Begriff, Jim aufzutragen, einige Smudges rund um das Camp anzuzünden, um den Aufenthalt im Freien einigermaßen erträglich zu machen, als mein Auge auf einen Zweig fiel, der gerade gegenüber dem Zelteingang und nur drei oder vier Schritte davon entfernt in der Erde steckte. Das obere Ende war gespalten, und in dem Spalt steckte ein zusammengefalteter Zettel.
Überrascht schritt ich darauf zu.
Das Ganze zeigte unverkennbar den Charakter des Absichtlichen, worauf auch die gewählte gebüschfreie Stelle deutete, die es sicher machte, dass der Zettel in kürzester Zeit gesehen werden musste. Ich wunderte mich nur, dass ich ihn nicht schon bemerkt hatte, als ich mit Dead Body von unserem Ausflug zurückgekehrt war. Wahrscheinlich hatte er sich da noch gar nicht hier befunden, war vielmehr erst gebracht und in dieser auffälligen Weise befestigt worden, während wir, mit unserer Abendmahlzeit beschäftigt, im Zelte weilten. Unwillkürlich blickte ich mich um und prüfte die Umgebung. Nichts war zu sehen, was auf die Anwesenheit eines fremden Menschen deuten konnte. Kein Zweig bewegte sich in den Büschen. Ich nahm ihn jetzt auf und faltete ihn auseinander. Verwundert las ich die folgenden Zeilen:
„Ihr Vorhaben ist bekannt. Die Leute hier sind aufgebracht gegen Sie – und mit vollem Recht. Wenn Sie Ihr Leben schätzen, wie wir vermuten, so kehren Sie sofort dahin zurück, woher Sie gekommen sind. Diese Warnung erfolgt nicht in Ihrem Interesse, sondern wir haben nur den Wunsch, eine rasche Tat zu verhindern, für die dann vielleicht ein Mann büßen müsste, der wahrscheinlich besser ist als Sie.“
Was war das?
Die Warnung war offenbar für mich bestimmt und hing wohl mit dem Auftrage zusammen, der mich hierher geführt hatte.
Unsere Ankunft hier war also nicht so unbeachtet geblieben, wie ich vermutet hatte. Wer aber wusste etwas über den Zweck meiner Reise? Ich hatte nicht einmal zu Dead Body und dem Guide davon gesprochen.
Lag hier nicht etwa ein Irrtum vor und verwechselte man mich mit einem anderen? Ich las die Warnung noch einmal.
Es war kein Zweifel, dass sie für mich bestimmt war, und es ließ sich auch begreifen, dass der Zweck meines Hierseins, wenn er bekannt war, in gewissen Kreisen recht gemischte Gefühle auslösen würde. Aber wie konnte irgendeine Menschenseele hier davon Kenntnis haben? Überholt hatte uns niemand auf der Reise. Wir hatten nur in einem der Flussläufe nördlich vom Winnipegsee zwei Indianer in ihrem Kanu getroffen, die nach dem Norwayhause, einem Posten der Hudsons Bay Co., wollten und die entgegengesetzte Richtung verfolgten.
Ich fand keine Erklärung für die Sache.
Die Leute aufgebracht über mich, nachdem ich erst zwei Tage hier war, und noch bevor ich noch einen von ihnen zu Gesicht bekommen hatte?
Das bewies jedenfalls, dass mein Kommen und sein Zweck schon vorher bekannt gewesen waren. Hier? Wo hier? Wo kam der Zettel her?
Der einzige Platz, wo hier eine Gruppe von Menschen zusammenlebte, war das Arbeitercamp sechs oder sieben Meilen stromaufwärts, und so beantwortete sich diese Frage von selbst.
Freilich, auch in Port Nelson befand sich ein Arbeitercamp. Aber Port Nelson lag dreißig Meilen weit westlich, und es war unwahrscheinlich, dass die Warnung dorther kam. Zu berücksichtigen war allerdings, dass sich dort die Unternehmer oder die in ihrem Golde stehenden Leiter der Arbeiten befanden. Ich konnte mir vorstellen, dass die ein Interesse an meinem Hiersein und vielleicht Grund hatten, unliebsame Enthüllungen zu fürchten.
Das lieferte zwar eine Erklärung für einen gewissen Grad von Feindseligkeit, die mir von den Ingenieuren und Arbeitern vielleicht entgegengebracht wurde, aber nicht für den verächtlichen Ton der Warnung. Der Schreiber und nach seiner Meinung auch die Leute, von denen er sprach, schienen keineswegs das Gefühl zu haben, sich im Unrecht zu befinden und Enthüllungen zu fürchten. Die Rolle des Bösewichts im Stück spielte nach ihrer Meinung unbedingt ich.
Ich prüfte den Zettel noch einmal. Er war in klarem, korrektem Englisch geschrieben, und die Schriftzüge verrieten eine Mädchenhand. Das machte die Sache noch rätselhafter. Wenn ich mir den Wortlaut vergegenwärtigte, so war kein Zweifel, dass auch darin ein weiblicher Einschlag zum Ausdruck kam. Kein Mann hätte eine Warnung und noch dazu eine Warnung, die sicher bitter ernst gemeint war, in dieser Weise abgefasst.
Mit einem raschen Entschlusse kehrte ich in das Zelt zurück und wandte mich an Jim.
„Hast du heute hier irgendeinen Fremden gesehen?“, fragte ich ihn. „Irgendjemand war hier und hat eine Botschaft gebracht, die er an einem Zweige draußen befestigte.“
„Das ist nicht möglich“, erklärte Jim mit Bestimmtheit, „ich habe das Camp keine Minute verlassen.“
„Es ist kein Zweifel an der Sache. Jemand hat sich hier herangeschlichen und den Zettel zurückgelassen. Ich möchte wissen, wer es war und woher er kam. Sehen wir, ob wir irgendwelche Spuren finden!“
Wir begaben uns hinaus und begannen die Umgebung der Stelle, an der ich den Zweig mit dem Zettel entdeckt hatte, abzusuchen. Spuren waren genug vorhanden, aber es waren vermutlich unsere eigenen. Das niedrige trockene Gras machte sie jedenfalls ganz undeutlich.
Dead Body hatte sich von mir und Jim etwas entfernt, und ich bemerkte, wie er in immer größeren Spiralen das Camp umwanderte, bis er plötzlich aus der Richtung, die nach dem Flussufer führte, wo wir am Nachmittag verweilt hatten, einen Ruf hören ließen. Wir eilten nach der Stelle und fanden ihn zur Erde geneigt, aufmerksam das niedrige Gestrüpp prüfend, das zwischen den weißen Balsamtannen, Espen und Silberfichten hier den Boden bedeckte. Er zeigte auf einige geknickte Baumzweige und niedergetretene Kräuter, die eine zwischen den Büschen hindurchführende Spur andeuteten.
„Du hier gegangen, Jim?“, fragte er.
„Ich, nein“, erklärte dieser mit einem überlegenen lauten Lachen, „Rothaut, du bist dümmer als ein Gopher. Siehst du denn nicht, dass das eine Bärenfährte ist? – Diese Indianer sind wahrhaftig zu dumm“, fügte er dann zu mir gewandt hinzu, „mit Dead Body als Guide kämst du nicht weit!“
Der Boden war ziemlich trocken und zwischen den Büscheln zähen Grases und Kräutern dick mit Fichtennadeln bestreut. Mit großer Aufmerksamkeit konnte man einige Spuren erkennen, aber sie waren bei Weitem nicht deutlich genug, um die Entscheidung, ob sie von einem Menschen oder einem Tier herrührten, leicht zu machen.
Dead Body beantwortete die Bemerkung des Halbblutes nur mit einem Anflug eines Grinsens, und daraus ersah ich, dass unser Freund sich wieder einmal als Woodsman eine derbe Blöße gegeben hatte. Wir verfolgten die Fährte eine ziemliche Strecke weiter durch das Gebüsch. Dann lichtete sich plötzlich das Gebüsch, und auf dem harten trockenen Sandboden war nichts mehr zu erkennen. Der Indianer richtete sich aus seiner gebückten Stellung auf und deutete mit dem ausgestreckten Arme nach der Richtung des Flussufers.
„Squaw!“, sagte er.
Ich war überrascht, denn die Erscheinung auf der Klippe hatte ich mit dem Zettel gar nicht in Verbindung gebracht. Es war so unwahrscheinlich, dass sich hier in dieser Wildnis eine Indianerin mit genügender Schulbildung finden sollte, um eine solche Warnung zu schreiben. Sie konnte also nur die Botin gewesen sein. Wer aber war der Urheber?
Wieder musste ich an den ausgesprochen weiblichen Charakter der Schriftzüge denken, und in dieser Verbindung erschien es mir nicht mehr so befremdlich, dass nicht ein Mann, sondern ein indianisches Mädchen mir die Botschaft zugestellt hatte.
„All right!“, sagte ich zu meinen Gefährten gewendet. „Wir brauchen die Fährte nicht weiter zu verfolgen. Gehen wir nach dem Zelte zurück! Ich habe etwas mit euch zu besprechen.“
Ich saß auf einem Koffer, und Dead Body und Jim hatten sich auf ihren Lagerstätten ausgestreckt.
„Ich habe soeben“, begann ich meine Mitteilungen, „von unbekannter Hand eine Warnung erhalten. Das zeigt in erster Linie, dass unsere Anwesenheit hier nicht unbemerkt geblieben ist, und in zweiter Linie, dass es hier herum Leute gibt, die mit unserem Hiersein nicht einverstanden sind. Was das bedeutet, kann ich im Augenblick noch nicht sagen. Eins scheint aber sicher zu sein: Wenn die gewöhnlichen und mehr harmlosen Mittel nicht ausreichen sollten, mich von hier fortzutreiben, so wird man sich keinen Augenblick besinnen, wirksamere Maßregeln zu ergreifen. Das macht es mir zur Pflicht, euch jetzt vollständig ins Vertrauen zu ziehen, denn es scheint, als ob unser fernerer Aufenthalt hier nicht mehr ohne Gefahr sein wird. Und ihr solltet wenigstens klar in der Sache sehen.
Ihr wisst, dass jetzt hier eine Bahn gebaut wird, die den langen und teuren Eisenbahntransport für den Weizen aus den Prärieprovinzen nach den Verschiffungsplätzen im Osten abkürzen und verbilligen soll. Wenn man hier an der Hudsonbai einen Verladeplatz einrichtet, so spart man fast tausend Meilen Landweg. So weit leuchtet die Sache ja ein. Bedenklich dabei erscheint nur, dass die Hudsonbai der Eisverhältnisse wegen nur drei Monate im Jahr schiffbar ist und auch dann nur noch für Fahrzeuge von einer ganz besonderen Bauart, wie für die Polarmeere überhaupt. Diese Schwierigkeit wird sich aber überwinden lassen. Bei der Aufgabe, die mich hierher geführt hat, handelt es sich um etwas ganz anderes.
Wie euch bekannt ist, wurde der Bau von der früheren Regierung unternommen. Als Endpunkt der Bahn und als Hafenplatz hatte diese Fort Churchill bestimmt. Und da Fort Churchill einen guten, natürlichen Hafen besitzt, der nur ausgebaut zu werden braucht, schien man mit dieser Wahl das Richtige getroffen zu haben. Die Parteigänger der früheren Regierung hatten daher an der ursprünglich geplanten Bahnstrecke und um Fort Churchill herum rechtzeitig und bevor noch das allgemeine Publikum von dem Plane erfuhr, großen Landbesitz erworben. Das schien eine große Spekulation zu sein, denn mit der Fertigstellung der Bahn musste das Land sehr wertvoll werden.
Und da kamen neue Parlamentswahlen. Die Regierungspartei erlitt dabei eine Niederlage, und die Oppositionspartei kam ans Ruder. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung war, dass sie den Bahnbau zunächst einstellen ließ, mit der Begründung, dass die Zweckmäßigkeit des ganzen Planes erst noch einmal genau nachgeprüft werden müsse.
Das geschah auch, und zwar mit dem überraschenden Ergebnis, dass nach Verlauf von einigen Wochen bekanntgegeben wurde, die Bahnlinie müsse nach Port Nelson verlegt werden. Natürlich hatten die Anhänger der neuen Regierung die Zeit wahrgenommen, sich in gleicher Weise Land an der neuen Linie zu sichern. Port Nelson liegt allerdings südlicher, und in einem Lande mit so langen und strengen Wintern ist das von großer Bedeutung. Aber es hat einen ganz versandeten Hafen und kann nur durch dauernde und kostspielige Baggerarbeiten für einen beschränkten Schiffsverkehr nutzbar gemacht werden.
Die ‚Daily News‘, die ich hier vertrete, sind Organ der früheren Regierungspartei, jetzt also in der Opposition, und ich soll hier feststellen, ob diese plötzliche Änderung des ganzen Projektes vom praktischen und wirtschaftlichen Standpunkte aus wirklich gerechtfertigt war oder etwa nur dem Zwecke dienen sollte, die Mitläufer der eigenen Partei zu belohnen und die der anderen zu bestrafen.
Dass alle diejenigen, die an der Wahl Port Nelsons als Endpunkt der Bahn und Hafenplatz Interesse haben, meine Aufgabe hier nicht gerade mit günstigen Augen ansehen, ist begreiflich. Dass sie aber zu direkten Feindseligkeiten übergehen würden, überrascht mich doch etwas.
Ich hatte in Winnipeg den Zweck meiner Reise geheim gehalten, aber man scheint doch Kenntnis davon erlangt zu haben. Wozu hätte denn schließlich eine Regierung ihre geheimpolitische Polizei? Man muss es auch für ratsam gehalten haben, meine bevorstehende Ankunft hier durch einen Funkspruch nach Port Nelson zu melden, vermutlich mit ein paar Warnungen und Verdächtigungen meiner Absichten.“
„Glaubst du, dass man uns hier überfallen wird?“, fragte Jim, als ich geendet hatte, und seine Stimme klang etwas unsicher.
„Das wäre nicht das Schlimmste“, entgegnete ich. „Einem offenen Angriff kann man begegnen, aber den werden sie nicht wagen. Mit so plumpen Mitteln arbeitet man in solchen Fällen nicht. Viel wahrscheinlicher ist es, dass uns gelegentlich ein Unglück zustoßen wird, das dann aussehen wird, als ob es sich auf eine ganz natürliche Weise ereignet hat. Das ist das Unangenehmste: auf der Hut sein vor Gefahren, die man nicht kennt, und die jede Stunde und jede Minute eintreten können.“
„Ganz richtig“, stimmte Jim bei, „und obwohl du ganz ruhig sein kannst, den ich bin gewöhnt, die Augen offen zu halten, wäre es doch das Beste, wenn wir wieder umkehrten. By gosh! Ich bin gewiss ein mutiger Mann, aber was kannst du machen, wenn jemand aus dem Busche auf dich schießt oder sonst eine Teufelei ausführt? Wir sollten sie nicht noch mehr reizen und gleich morgen unser Camp abbrechen und zurückgehen. Es ist nur gut, dass sie dir noch eine Warnung geschickt haben, und du solltest dich danach richten.“
„Wie ist das denn“, fragte ich, „hattest du mir nicht gesagt, niemand würde sich in einem Camp, das unter dem Schutze Jim Kennedys steht, mit bösen Absichten zu nähern wagen?“
„Natürlich habe ich das gesagt, und es ist auch so“, gab Jim unbefangen zu, „aber die wissen ja nicht, dass ich hier bin. Und wenn sie aus dem Hinterhalt schießen und uns vielleicht auf eine Weise umbringen, die aussieht wie ein zufälliger Unglücksfall, so kann auch ich nichts dagegen tun.“
„Was meinst du, Dead Body?“, wandte ich mich an den Indianer.
„Ich bin hierher gekommen“, erwiderte er nach einer kurzen Pause, „um das Land zu beschauen. Ich habe es getan, denn unsere Reise war lang und hat mir alles gezeigt, was ich sehen wollte. Willst du morgen zurückkehren, so gehe ich mit dir. Willst du bleiben, so werde ich auch bleiben.“
„Du hast es gehört, Jim“, sagte ich. „Dead Body und ich bleiben hier, und du wirst daher wohl allein zurückkehren müssen.“
„Ich? Allein?!“, rief er in schrillem Protest. „Das kannst du nicht verlangen. Man würde sofort denken, ich ginge, um Hilfe herbeizuholen, und ich käme nicht weit. Allein gehen? Auf keinen Fall! Aber alle zusammen sollten wir gehen, das wäre das Beste. Glaubt mir’s!“
„Du magst recht haben“, entgegnete ich. „Aber die Aufgabe, die mich hierher geführt, ist noch nicht erledigt, und es ist eine meiner Gewohnheiten, mich weder durch Drohungen noch Gefahren von dem abhalten zu lassen, was zu tun ich mir vorgesetzt habe. Auch jetzt denke ich nicht daran, diese Gewohnheit zu ändern.“
„All right, Sir! Wie du willst. Dann bleibe ich also auch. Mir dürft ihr’s aber nicht anrechnen, wenn uns etwas zustößt.“
„Schon recht“, entgegnete ich. „Wenn jemand Streit mit uns wünscht, so kann er davon mehr bekommen, als ihm lieb ist. Ich denke übrigens, wenn wir morgen unseren Besuch in dem Arbeitercamp machen, werden wir schon etwas näheren Aufschluss über die Lage hier erhalten. Wer geht mit mir? Denn einer muss hier im Camp bleiben.“
„Was hältst du für das Gefährlichere?“, fragte Jim.
„Darüber gibt’s wohl keinen Zweifel“, war meine Erwiderung. „Gegen mich richtet sich die Erbitterung hier. Es ist daher klar, dass der, der mit mir geht, die meiste Aussicht hat, unangenehme Überraschungen zu erleben.“
„Wenn das so ist, dann gehe ich morgen mit dir“, erklärte Jim mit einer unerwarteten Bereitwilligkeit. „Dead Body ist zu alt und bleibt besser hier. Ich zweifle ja nicht an seinem Mut, aber in solchen Fällen muss man sicher gehen, weißt du!“
„Oh – uff – oh – oh – uff!“
Ich erwachte und rieb mir die Augen. Der Morgen war voll angebrochen, und die Sonne strahlte hellgolden in das Zelt. Das Stöhnen kam von Jims Lagerstätte. Dead Body musste wohl bereits aufgestanden sein, denn seine Lagerstätte war leer. Er kam aber schon mit einem dampfenden Kessel von draußen, noch bevor ich die Ursache des Stöhnens hatte feststellen können.
Das war ungewöhnlich, denn die Bereitung der Mahlzeiten gehörte zu Jims Obliegenheiten.
„What is the matter with you?“, fragte ich ihn.
„Krank!“, stöhnte er. „Kann nicht aufstehen! Oh! Uff – der Schmerz!“
„Wo hast du Schmerzen?“, fragte ich, indem ich in meine Kleider fuhr und an sein Lager trat.
„Hier – und hier – und hier!“
Er zeigte auf vier oder fünf verschiedene Stellen.
Ich legte ihm die Hand auf die Stirn. Die Temperatur schien ganz normal zu sein, geradezu beneidenswert normal und frisch. Auch der Puls war ruhig und voll, und ebenso wenig zeigte die Zunge irgendetwas Besonderes. Die Schmerzen, so erzählte er, seien gegen Morgen ganz plötzlich aufgetreten, und eine Untersuchung, die ich vornahm, ergab, dass verschiedene Stellen nicht nur des Leibes, sondern auch des Rückens unter dem Drucke der Hand äußerst schmerzempfindlich waren, denn er schrie mehrere Male laut auf.
„Well, Jim“, sagte ich, „augenblicklich kann ich nicht feststellen, was dir fehlt, aber ich denke, einige Stunden Ruhe würden die Sache wohl in Ordnung bringen.“
„Das meine ich auch“, stimmte er bei. „Aber du wolltest doch nach dem Arbeitercamp fahren.“
„Das werde ich auch tun, und da du krank bist, wird Dead Body mit mir gehen müssen. Du wirst wohl allein bleiben können?“
„Sicher!“, entgegnete er mit Überzeugung. „Ich brauche nichts als Ruhe. Ihr könnt mir ja etwas zu essen hier an mein Lager stellen.“
„Zu essen!“, rief ich. „Du darfst nichts essen. Heute sicher nicht, denn ich bin mir noch nicht darüber klar, was dir fehlt, und es könnte schädlich sein, wenn du etwas isst. In zweifelhaften Fällen ist es immer am Sichersten, wenn der Kranke nichts genießt. Auf jeden Fall werde ich dir aber ein paar Pulver zurechtmachen, denn es scheint mir, dass bei dir eine schlimme Krankheit im Anzuge ist.“
„Meinst du wirklich?“, fragte er erschrocken.
„Es scheint ganz so“, bestätigte ich mit einer sehr ernsten Miene, indem ich ihm gleichzeitig ein Brechmittel aus meiner Reiseapotheke zurechtmachte und ihm eine Dosis davon eingab, da ich ziemlich sicher war, dass er das Mittel in alle Winde verstreuen würde, sobald wir den Rücken wendeten. Ich hatte deshalb die eine Dosis auch so reichlich bemessen, dass sie ihm genügend zu schaffen machen würde.
„Meinst du nicht, Sir“, fragte er schüchtern mit einem Blicke auf den Indianer, der eben mit den Bestandteilen eines herzhaften Frühstücks im Zelte erschien, „dass man dem Magen etwas anbieten sollte?“
„Nichts da!“, entschied ich. „Keinen Bissen den ganzen Tag. Nur die Pulver darfst du nehmen. Jede Stunde eins.“
Die strikte Weisung dieses Rates hätte ihn bis zum Abend umgebracht, aber ich war sicher genug, dass wir unseren Kranken bei der Rückkehr wieder wohl und munter finden würden.
Ich setzte mich mit Dead Body zum Frühstück nieder, während Jim fortfuhr, zu stöhnen.
Mit Dead Body hatte ich mich über unsere Fahrt rasch genug verständigt, und so brachen wir gleich nach Beendigung des Frühstücks auf.
Ich hatte gefürchtet, dass wir unser Kanu würden tauen müssen, wie es auf Flüssen mit starker Strömung meist nötig ist. In der Nähe des Ufers fanden wir aber Stauwasser, gewissermaßen eine Rückströmung, die wir zu unserem vollen Vorteil ausnützten. So glitten wir in unserem Kanu mit einer Geschwindigkeit von wenigstens vier englischen Meilen in der Stunde an diesem Ufer dahin.
Es war ein Sommermorgen, der all die kristallene Klarheit der Luft zeigte, wie man sie im nördlichen Kanada antrifft. Der Sonnenglanz lag mit goldenem Flimmer auf dem Ufergestein und brach sich in den Tautropfen, die wie funkelnde Diamanten in den Büschen wilder Rosen hingen, welche die Niederungen der Uferlandschaft mit ihrer üppigen Blütenpracht ausfüllten. Sie wechselten ab mit Streifen von Urwald, aus denen Balsamtannen von oft hundert Fuß Höhe ihre schlanken Wipfel in den goldenen Äther hoben.
Fast an jedem Punkte des Ufers, an jeder Krümmung oder Einbuchtung, zeigte sich die Tierwelt des Nordens. Biber und Bären waren zwar nicht zu sehen, aber man konnte das eigentümliche ‚Plang‘ der einen und das Brummen der anderen hören. Mehr als einmal zeigten sich in dem weichen Sande des Ufers die Spuren von Rentieren. Vögel flatterten zu Hunderten umher: Königsfischer, Fliegenfänger, Marksauger mit ihrer gelben Brust, Rotkehlchen, Krähen, Spechte und Schneehühner.
Niemals schien mir das Geschrei der Möwen eine solche Lebensfreude ausgedrückt zu haben, und ich glaubte, niemals eine so balsamische, erfrischende Luft geatmet zu haben, wie sie hier über die breite Fläche des Stromes strich.
Wir hatten unser Kanu zwei Stunden lang gepaddelt, als zwischen den Büschen auf der gegenüberliegenden Uferseite die Bretterbuden und Zelte des Arbeitercamps auftauchten. Das Vordringen der Zivilisation in der Wildnis wurde hier noch weiter durch einen Landungssteg, an dem eine Motorbarkasse von beträchtlicher Größe vertaut lag, gekennzeichnet, während fast an jedem der Pfähle, die den Steg trugen, Boote und Kanus festgebunden lagen.
Wir schwenkten vorsichtig durch die starke Strömung in die Mitte des Flusses und legten dann an der Seite des Landungssteges fest, da die Front ihrer ganzen Länge nach von dem Motorboot eingenommen war, und sprangen an Land.
Ein Blick über das Dorf, das vor vielleicht einem Jahre hier entstanden war und von dem nach einem weiteren Jahre wahrscheinlich keine Spur mehr vorhanden sein würde, zeigte doch nicht so sehr den Charakter des Vorübergehenden, wie man hätte vermuten sollen. Der nordische Winter, den es augenscheinlich durchgemacht und den es wahrscheinlich bestimmt war, ein zweites Mal zu überdauern, hatte solidere kräftigere Bauten nötig gemacht, als man sonst in einem Camp dieser Art findet. Die meisten Häuser waren derbe Holzbauten, und selbst die vier oder fünf großen Unterkunftshäuser für die Arbeiter bestanden nur zum Teil aus Segeltuch. Dass aber auch Fremde hier nicht ganz unbekannt waren, bewies eine, dem Landungssteg gegenüberliegende und durch eine Reihenfolge von Hudsonbaistürmen bedenklich aus ihren geraden Linien gedrückte Bretterbude mit der stolzen Bezeichnung:
Boarding House
Meals at all Hours.
Ein Chinese, in weißer Jacke und Schürze, stand an der Türe, rauchte mit sichtbarem Behagen eine Zigarette und schaute aus seinen schief geschlitzten Augen die am Flusse entlang führende Straße hinunter, die allerdings zu dieser Stunde wie ausgestorben erschien.
Daneben stand ein anderes Holzgebäude, über dessen Eingang in Buchstaben, die ihr Vorhandensein zweifellos der Kunstfertigkeit des Besitzers verdankten, zu lesen war:
W. Barlow
General Store
Etwas abseits von den übrigen, am Ende des Camps, standen zwei oder drei Häuser besserer Bauart, die wahrscheinlich den Ingenieuren oder Kontraktoren als Wohnung dienten.
„Es wird am besten sein“, wandte ich mich an meinen Begleiter, „wenn du hier bei dem Kanu bleibst. Ich weiß dann, wo ich dich finde, wenn ich die Einkäufe gemacht habe.“
Er nickte. Das in dieser Gegend immerhin ungewöhnliche Bild des Arbeitercamps hatte in seinen unbeweglichen Gesichtszügen nicht den leisesten Anflug von Interesse aufleben lassen; auch das Kreischen einer Arbeitslokomotive irgendwo in der Ferne schien keinen größeren Eindruck auf ihn zu machen.
„Mein Bruder wird mich hier finden“, sagte er nur.
Ich wandte meine Schritte dem Store zu und trat durch die aus einem mit Fliegengaze überspannten Rahmen bestehende Tür ein. Es war ein ziemlich großer Raum. Hinter einer aus starken Bohlen zusammengeschlagenen Ladentafel lagen, auf Regalen wohlgeordnet, alle die hundert und tausend Dinge, die die Kunden eines Hinterwaldstores in ihm zu finden erwarten, von Hoffmannstropfen und Vanilleessenz, die im Notfalle die Stelle von Whisky vertreten müssen, bis zu Stiefeln und Schießwaffen.
Einige Haufen von Fellen im Hintergrunde bewiesen übrigens, dass Mr Barlow in Bezug auf seine Kundschaft nicht nur auf das Camp selbst angewiesen war, sondern dass auch die umwohnenden indianischen Trapper und wohl ebenso Eskimos die Gelegenheit benutzten, hier die Ergebnisse ihrer Winterarbeit gegen die Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens einzutauschen. Und was ein Indianer in der Stimmung, die der ungewohnte Besitz von Geld und der ebenfalls nicht allzu häufig sich ihm bietende Genuss von ein paar Flaschen Vanilleessenz in ihm erzeugt, zu den Annehmlichkeiten des Lebens rechnet, richtet sich ganz nach der Menge und Art der Ladenhüter, die ein Storebesitzer loszuwerden wünscht.
„Hallo“, rief er mir zu, „das ist ein neues Gesicht.“
„Sind neue Gesichter hier so selten?“
„Vielleicht nicht, aber sie kommen dann meist in Partien auf den Regierungsdampfern durch die Bai – und ich habe gar nicht gehört, dass ein Schiff in Port Nelson angekommen ist.“
„Wohl möglich. Ich bin auch nicht mit dem Regierungsdampfer gekommen, sondern im Kanu über den Winnipegsee.“
„Sie sind also einer von den Ingenieuren?“
„Keineswegs. Ich habe nichts mit den Bauten hier zu tun, sondern bin nur ein einfacher Reisender. Mein Camp befindet sich einige Meilen flussaufwärts. Aber ich brauche Proviant und wollte sehen, was ich hier finde.“
„Kalkuliere, ich habe so ziemlich alles, um Sie zu versorgen.“
„All right!“, entgegnete ich und begann mich im Store umzusehen.
Der Inhaber mochte kaum etwas anderes erwartet haben und ließ mich gewähren. Man hat niemals Eile in diesen westlichen Stores. Während ich mit der Besichtigung einiger Fischernetze und Angelgeräte in einem dunkleren Teile des Stores beschäftigt war, wurde die Tür von Neuem geöffnet, und ein junges Mädchen stürmte herein.
Sie mochte etwa zwanzig Jahre zählen und trug das übliche außerordentlich kleidsame Kostüm der Cowgirls, mit dem breitkrempigen grauen Hute, dem kurzen, aus weichem Hirschleder gefertigten und in Fransen auslaufenden Rock, den hohen Gamaschen und einer rotseidenen Bluse. Um den Hals hatte sie nach Cowgirlart ein buntseidenes Tuch geschlungen, unter dem eine aus geschliffenen Achatsteinen bestehende Kette hing, die eine goldgefasste Bärenklaue als Anhängsel trug.
Das Gesicht war frisch und ungemein anziehend. Nicht regelmäßig und von keinem bestimmten Typus und umrahmt von weichem, blondem Haar, in dem sich ein paar kleine Ohren mit mattgoldenen Ringen zu verstecken versuchten. Eins von den Gesichtern, die man gern ansieht, und die man stets wieder sofort vergisst, aber nur, um in der Erinnerung dann wieder nach ihnen zu suchen wie nach einer verlorenen Melodie.
Sie war offenbar von einem Ritt gekommen, denn sie hatte ihre Stulpenhandschuhe auf den Ladentisch geworfen, und ein Pony, das ich zuerst nicht bemerkt hatte, stand, durch die Gazetür deutlich sichtbar, draußen angebunden an der Stange, die für solche Zwecke vor dem Store angebracht war.
„Good morning, Onkel Barlow!“, rief sie lustig. „Wie geht’s?“
„
Good morning, Maud!
„Alter Mann!“, rief sie. „Ich wünschte, ich wäre ein Mann. Nicht ein alter Mann, gewiss nicht – nein, um mein bisschen Jugend will ich mich nicht beschummeln lassen –, aber ein Mann. Ich sage dir, Onkel Barlow, ein junges Mädchen ist das nutzloseste, überflüssigste Ding, das es in der Welt geben kann.“
„Ist das auch Mr Cutlers Meinung?“, fragte Mr Barlow mit einem bedeutsamen Augenzwinkern.
Ich konnte von meinem Platz aus bemerken, wie sich die Wangen des jungen Mädchens mit einem lebhaften Rot färbten.
„Was geht mich Mr Cutlers Meinung an?“, entgegnete sie. „Ich habe ihn nicht danach gefragt und interessiere mich auch nicht dafür. Und höre, Onkel Barlow – wenn du etwa auch anfangen willst, mich zu necken“, fügte sie grimmig hinzu, indem sie ihm ganz nahe an den Leib rückte und mit dem Zeigefinger vor seiner Nase herumfuchtelte, „dann kratze ich dir die Augen aus. Ich tue es wirklich! Sie sind sowieso hässlich. Aber ich wollte mir nur deine Schokoladenvorräte ansehen. Du solltest dich lieber darum kümmern, Onkel Barlow! Du bist damit schrecklich weit hinter der heutigen Zeit zurück. Maple Buds sind so ziemlich das einzig Vernünftige, was man von dir kaufen kann.“
„Ich habe ja auch gefüllte Schokolade“, verteidigte sich Mr Barlow.
„Yes, eine oder zwei Schachteln, dann hört’s aber auch gleich auf!“, fuhr das Mädchen fort. „Tabak und Zigaretten hast du hier genug, aber mit Schokolade ist es bei dir jämmerlich bestellt.“
„Unsere Arbeiter haben sich eben immer noch nicht daran gewöhnt, Schokolade anstatt Tabak zu kauen, wenn sie abends nach der Arbeit vor dem Bunkhause sitzen, obwohl ich zugeben muss, dass das ein hübsches Bild abgäbe. Aber einstweilen ziehen sie noch Tabak und Zigaretten vor.“
„Desto schlimmer für sie“, war die überzeugte Antwort. „Die Feinheiten des Lebens gehen ihnen auf diese Weise verloren. Well, never mind! Gib mir ein Viertelpfund Maple Buds! – Oder warte, ich nehme gleich ein halbes Pfund.“
Ich war mir nicht darüber klar geworden, ob mich die Neuangekommene die dem Storebesitzer eine anscheinend wohlverdiente Standrede über die Vernachlässigung seiner Schokoladenabteilung hielt, bemerkt hatte oder nicht. Während sich Mr Barlow aber jetzt daran machte, das Verlangte auf der in der Mitte des Ladentisches angebrachten Waage abzuwiegen, wandte sie sich herum und ein überraschtes: „Oh!“ entfuhr ihr, als ihre Blicke auf mich fielen.
Ich machte ihr eine Verbeugung, die mir als die geeignetste Art erschien, von ihrem überrascht fragenden Blick höflich Kenntnis zu nehmen. Ein kaum bemerkbares hochmütig abweisendes Neigen des Kopfes war die ganze Anerkennung, die mir dafür zuteil wurde. Dann drehte sie mir wieder den Rücken zu, als sei ich nur ein Schatten gewesen, der während eines kurzen Augenblicks ihren Weg kreuzte.
Mr Barlow hatte die kleine Szene augenscheinlich mit viel Vergnügen beobachtet.
„Der Gentleman ist ein Fremder“, sagte er erklärend, „der ein paar Meilen flussaufwärts sein Camp hat.“
„Well“, war die von einem Achselzucken gegebene Antwort, „wir können niemand hindern, hierher zukommen.“
„Was soll das heißen, Maud?“, fragte der Storebesitzer in unverkennbarer Überraschung. „Es ist doch sonst nicht deine Gewohnheit, gegen Fremde unhöflich zu sein.“
„Unhöflich?“, erwiderte sie in demselben hochmütig abweisenden Tone. „Well, ich bin gewissermaßen hier zu Hause und könnte es mir schließlich leisten, wenn ich es gerade mal wünschte. Aber nicht jeder Fremde würde mir Interesse genug dazu einflößen.“
Mr Barlow schien noch mehr verblüfft.
„Ich wusste gar nicht, dass du gegen Fremde so voreingenommen bist.“
„Vielleicht war ich es auch bisher nicht. Aber man kann ja doch seine Meinung einmal ändern – meinst du nicht?“
„Junge Mädchen wenigstens nehmen dieses Vorrecht sehr häufig in Anspruch. Aber ich verstehe trotzdem nicht, was in dich gefahren ist, dass du einen Fremden beleidigst.“
Mr Barlow hatte sich noch immer nicht von der Überraschung gegen seine launenhafte Kundin erholt. Er stand hinter der Ladentafel, die Schokoladentüte in der Hand, die er ganz vergessen hatte, zu schließen und seiner jungen Verwandten – denn eine solche musste es ja sein, da sie ihn Onkel nannte – zu überreichen.
„Bitte, ich sprach nur von Fremden im Allgemeinen“, verteidigte sie sich.
„Auch das war bisher nicht deine Gewohnheit. Was haben sie denn im Einzelnen oder als Klasse getan, sich deine Gunst so vollständig zu verscherzen?“
„Oh, well, never mind! Wir wollen annehmen, dass es in der Luft liegt.“
„Das muss wohl so sein“, gab Mr Barlow zu, der inzwischen seine Fassung so weit wiedergefunden hatte, um die Tüte endlich zu schließen und seiner Kundin einzuhändigen, die ihm dafür einige Silbermünzen auf den Ladentisch zählte.
„Übrigens hatte ich gedacht“, fügte er mit einem lustigen Augenzwinkern fort, „du könntest die Hitze besser vertragen. Der Gentleman hier …“
Er machte eine halb unwillkürliche Handbewegung nach mir, die das junge Mädchen veranlasste, ohne auf seine herausfordernde Bemerkung über die Temperatur zu zeichnen, sich mit geheuchelter Überraschung umzudrehen und mich mit einem unverkennbar feindseligen Blick zu messen.
„Oh“, sagte sie gedehnt, „der – Gentleman ist noch hier? Well, ich sprach natürlich nur im Allgemeinen. Im Einzelnen kommt es natürlich auf den Fremden selbst an. Manche sieht man recht
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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1535-6
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