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Emil Droonberg
Minnehaha, Lachendes Wasser
Coverbild: © Rvector / Shutterstock.com
1. Der Schneesturm
Es war ein wenig einsam, während eines echten kanadischen Blizzards in einer keineswegs geräumigen Höhle zu sitzen und das Feuer zu bewachen, aber es ließ sich ertragen.
Ich hatte vor Weihnachten eine größere literarische Arbeit vollendet, mit der ich monatelang so angestrengt beschäftigt gewesen war, dass mir kein freier Gedanke für irgendetwas anderes blieb. Und als ich das Manuskript an den Verleger abgesandt hatte, fühlte ich mich so leicht und frei wie ein Primaner, der eben seine Schulbücher in die Ecke geworfen, um sie für drei oder vier freie Ferienwochen nicht wieder anzusehen.
Freilich, es war Winter – kanadischer Winter. Und wenn erst ein trockener Frost von dreißig oder vierzig Grad unter Null mit seinen Mark und Bein durchschneidenden Winden die Natur in seine starren Fesseln gelegt hat und alles Leben ringsum erstorben zu sein scheint, so ist dieses Gefühl der göttlichen Freiheit doch nicht so ganz unbeschränkt.
Da aber der kanadische Winter nirgends so öde ist wie in den Städten, wo sich nur auf die Straße wagt, wer das nicht vermeiden kann, und wo die langen Monate, die man in den meist überhitzten Häusern zubringen muss, fast wie aus dem Leben herausgeschnitten erscheinen, so hatte ich mich rasch entschlossen, bevor ich eine neue Arbeit begann, einige Wochen in den Bergen von Rocanville Fallen stellen zu gehen.
Ich hatte bereits früher, aber zur Sommerszeit, auf einer Reise durch Saskatchewan diese nicht übermäßig hohen, aber landschaftlich recht schönen Berge flüchtig durchstreift, hatte die Biber beobachtet, deren Dämme der Reisende durch das Fenster sehen kann, wenn sein Zug mühsam von Rocanville nach Tantallon hinaufkeucht – Stationen der Canadian Pacific Eisenbahn, die beide aus kaum mehr als den Bretterbuden der Stations-Agenten bestehen. Damals hatte ich auch die kleine Höhle entdeckt, in der ich mich nunmehr für einige Wochen häuslich eingerichtet hatte und in der mich jetzt ein wütender Schneesturm festhielt. Als mich vor etwa zwei Wochen der Zug – als einzigen Passagier – mit einem Bündel von wollenen Decken, Proviant, Kochgeschirr, Gewehren, Fallen, Schneeschuhen und anderen unentbehrlichen Dingen mehr abgesetzt hatte, erwartete mich dort bereits auf vorherige Verabredung ein Farmer aus Esterhazy mit einem Packpferd. Wir hatten einige Mühe, meine etwas bunte Sammlung von Ausrüstungsgegenständen, trotzdem ich mich auf das Allernotwendigste beschränkt hatte, kunstgerecht zu ‚verstauen‘, aber schließlich war uns das doch zur beiderseitigen Zufriedenheit gelungen. Das Packpferd schien allerdings anderer Meinung zu sein, denn es wandte mehrmals den Kopf und betrachtete die auf seinen Rücken getürmte Ladung mit misstrauischen Blicken.
Das half aber nichts. Nach einer halben Stunde war alles erledigt, und unser Marsch in die Berge hinein begann. Der Farmer, ein biederer Deutsch-Russe, und ich gingen zu Fuß. Von einer Unterhaltung, außer einigen gelegentlichen Brocken, war nicht die Rede, denn der beständig auf und nieder führende Weg nahm alle unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.
Glücklicherweise lag nur wenig Schnee, und er war in der grimmigen Kälte trocken und lose wie aufgeschichteter Staub. Es war Abend, als wir unser Ziel, die Höhle, erreichten. Das Abladen meiner Ausrüstung ging schnell vonstatten, und als wir die einzelnen Stücke nach der Höhle gebracht hatten, sandte ich meinen Begleiter aus, trockenes Holz zu holen. Ich lieh ihm hierzu meinen Tomahawk, ein ausgezeichnetes Werkzeug von nicht viel mehr als dreihundert Gramm Gewicht, mit dem man selbst Stämme von hartem Holz fällen konnte.
Nach seiner Rückkehr legte er ein Feuer an, das bald lustig prasselte, und ich bereitete unser Abendbrot. Es bestand aus gebratenem Speck, am Feuer geröstetem Brot, von dem ich einen kleinen Vorrat mit mir genommen, und in Schneewasser gekochtem Kaffee.
Wir langten beide tüchtig zu. Für meinen Begleiter war es inzwischen zu spät geworden, noch an diesem Tage zurückzukehren. Wir machten es uns daher für die Nacht bequem. Das Pferd musste allerdings im Freien bleiben. Das war ihm aber offenbar nichts Neues, und mit einer tüchtigen Portion Hafer im Leib – für den Durst gab es genug Schnee –, einer Decke übergeschnallt und angebunden im Windschutz eines ziemlich dichten Gebüsches, stand es jedenfalls besser als tausend andere seiner vierfüßigen Genossen auf der Prärie.
Vor den Eingang der Höhle hingen wir eine wollene Decke, und da wir das Feuer im Vordergrunde angelegt, so hatten wir, als wir uns dahinter in unsere Decken wickelten und auf den aus aufgeschichteten Tannenzweigen hergestellten Lagerstätten zum Schlafe ausstreckten, eine ganz erträgliche Temperatur.
Am nächsten Tage, nachdem er noch einen Stapel Holz für meinen Feuerungsbedarf geschlagen hatte, verließ mich mein Farmer, und ich war nunmehr allein in der frosterstarrten kanadischen Wildnis, deren tiefes Schweigen nur in der Nacht unheimlich durch das Geheul der Wölfe belebt wurde.
An Schießwaffen hatte ich außer meinem Colt-Revolver meine 303 Savage Rifle für einen gelegentlichen Schuss auf einen Elch oder einen Wapitihirsch, und meine doppelläufige 12-Kaliber-Schrotflinte, die mir meinen Fleischbedarf in der Form von Buschhasen, wilden Enten und Birkhühnern liefern sollte, mitgenommen. Die Jagd war diesmal aber nicht der Hauptzweck meines Ausfluges, sondern das Fallenstellen und die damit verbundene Beobachtung des Tierlebens. Gelegenheit zu beiden war genug vorhanden. Die zahlreichen Spuren von Füchsen, Wölfen, Mardern, Waschbären, Ottern, Luchsen und anderen Pelzträgern, die ich im Sommer hier angetroffen, hatten mir das damals deutlich verheißen und mich eben deshalb meine Reise hierher machen lassen. Die Biber waren vor meinen Fallen sicher. Nicht nur, weil ihr Fang durch die Jagdgesetze verboten ist, sondern weil diese Gesetze viel zu vernünftig und notwendig sind, als dass ich durch ihre Übertretung mich an der Ausrottung einer so prächtigen Tiergattung hätte beteiligen mögen.
Ich hatte ungefähr dreißig Fallen in einem verhältnismäßig kleinen Umkreise aufgestellt und machte jeden Morgen meine Runde, um die einzelnen in Abständen von zwei oder drei Tagen zu besuchen. Selbstverständlich nahm ich dabei jedes Mal Bedacht darauf, meine Spuren und besonders die von den Tieren so gefürchtete Menschenwitterung wieder zu beseitigen. Über die Spuren und Fallen streute ich frischen Schnee, und zwar mithilfe eines Tannenzweiges; denn die Berührung mit den Händen hätte ihn zusammengeballt, was die mißtrauischen Tiere gewiss von der Stelle ferngehalten hätte, auch nachdem meine Witterung längst verflogen war. Und um diese möglichst zu verdecken, ließ ich entweder ein paar Tropfen einer nach eigenem Rezept aus Fischöl, Moschusrattenfleisch, Bibergeil und dem Inhalt der Harnblase einer Wölfin bereiteten ‚Witterung‘ darauf fallen oder zog ein frisch abgezogenes Tierfell mit der inneren Seite darüber her.
Meine bisherige Ausbeute bestand aus zwei schönen Wolfsfellen, auf die ich besonders stolz war, da die Wölfe im Allgemeinen viel zu schlau sind, um selbst in die bestgelegte Falle zu gehen, vier grauen Fuchs-, drei Otter- und drei Marderfellen.
Es war inzwischen viel Schnee gefallen, und ich musste meine Wanderungen stets in Schneeschuhen machen. Heute hatte ich meinen beabsichtigten Rundgang aber nicht beenden können. Nachdem ich kaum zwei oder drei Fallen besucht, hatte ich in einiger Entfernung und abseits von dem Trail, dem ich zu folgen hatte, eine Schar Raben bemerkt, die aufgeregt, mit schweren, aber geräuschlosen Flügelschlägen und heiserem Gekreisch über einer bestimmten Stelle des Waldes zirkelten, manchmal langsam und wie zögernd in das Baumgewirr hinabstießen, meist aber nur, um gleich darauf wieder mit einigen laut protestierenden „Krah! Krah!“ wieder über den Baumwipfeln aufzutauchen.
Das bedeutete etwas Ungewöhnliches. Die Geheimnisse der Wildnis werden fast immer von Raben und Krähen ausgeplaudert, und wenn ein Jäger oder Trapper sie an einer Stelle sich sammeln sieht, so geht er stets darauf zu, sicher, dass er dort etwas sehen kann, was des Sehens wert ist.
Das tat auch ich. Abweichend von meiner ursprünglichen Richtung schritt ich vorsichtig und geräuschlos über den weichen, losen Schnee der Stelle zu, die sich meiner Schätzung nach in der Nähe einer der mannigfachen Windungen des Qu’Appelle-Rivers befinden musste. Die Luft war dick und unsichtig, und ein manchmal hörbares dumpfes Grollen in den oberen Schichten hätte mich auf heranziehendes böses Wetter aufmerksam gemacht, auch ohne dass eine gehörnte Eule von irgendwoher aus dem Walde ihr hohles, unglückverheißendes Pfeifen hätte hören lassen.
Ich hatte nur meine Schrotflinte bei mir, die ich schussbereit in die Hand nahm, während ich zugleich meine an meinem Leibgurt hängende Revolvertasche öffnete, um auch diese Waffe notfalls zur Hand zu haben.
Noch während meines Näherkommens schien sich die Schar der Raben vermehrt zu haben. Ihr Geschrei wurde immer lauter und dreister. Da der Wald hier keineswegs dicht war, konnte ich sehen, wie der eine oder andere sich auf einen Baumast niederließ und mit gespreizten Flügeln und weit abwärts gestrecktem blauglänzendem Halse ein galgenvogelmäßig höhnendes „Krah! Krah!“ nach unten schrie.
Bald konnte ich auch durch das ziemlich unterholzfreie Gebüsch hindurch eine der zahlreichen schlangengleichen Windungen des Qu’Appelle-Rivers erkennen, freilich nur daran, dass er sich wie eine glatte, freie Schneestraße hier durch die Landschaft wand. Nur an einer Stelle, wo sich ein kleiner Fall gebildet hatte, rollte sein Wasser dick und ruhig wie ein biegsamer Eisfilm in eine darunter offengebliebene teichartige Ausbuchtung.
Nicht weit von deren Rande konnte ich jetzt eine dunkle Form auf der weißen Schneedecke sich bewegen sehen. Was es war, vermochte ich nicht zu erkennen, aber das Gebaren der Raben machte es unzweifelhaft, dass dieses der besondere Gegenstand war, der ihr lärmendes Interesse wachgerufen hatte. Wahrscheinlich war es ein Tier, das nach einem Kampfe mit einem andern hier am Verenden lag, denn die Bewegungen waren unsicher, kraftlos, langsam.
Als ich bis auf etwa ein Dutzend Schritte herangekommen war, erkannte ich einen großen, braunen Bären, der hier im Schnee lag. Er musste, wie das ja vorkommt, seinen Winterschlaf unterbrochen haben, wohl in der Absicht, zunächst einmal den infolge des langen Fastens knurrenden Magen zu füllen.
Ich war im Zweifel, was ich tun sollte. Meine Schrotflinte und mein Revolver waren keine sehr geeigneten Waffen für den Kampf mit einem Bären. Dass er wahrscheinlich verwundet war, machte keinen Unterschied. Ein verwundeter Bär ist bedeutend gefährlicher als ein unverwundeter, und manch unerschrockener oder unvorsichtiger Jäger, der sich einem Bären näherte, den er irrtümlicherweise für tot gehalten, hat seine Voreiligkeit schon mit seinem Leben oder einer fürchterlichen Verkrüppelung bezahlen müssen.
Aber doch musste ich sehen, was die Sache bedeutete. Inzwischen war die Luft noch undurchsichtiger geworden. Sie begann sich mehr und mehr mit feinem Schneestaub zu füllen, den ein scharfer Wind in leichten Wolken umherzuwirbeln begann.
Ich kannte diese Anzeichen. Es waren die Vorboten eines Blizzards, und das Einzige, was man vernünftigerweise diesen drohenden Anzeichen gegenüber tun kann, ist, so schnell wie möglich ein schützendes Obdach zu suchen. Auf keinen Fall aber wollte ich den Platz verlassen, ohne mich überzeugt zu haben, was die Szene eigentlich bedeutete. Vorsichtig und langsam, aber doch schneller, als es unter andern Umständen gerechtfertigt gewesen wäre, setzte ich einen Fuß vor den andern.
Da sah ich, dass zwei Raben den Bären sogar auf dem Boden halb umflatterten und halb in dem weichen Schnee schwerfällige Sprünge um ihn herum machten, während ein dritter sich auf dem zottigen Fell seines Rückens niedergelassen hatte und dreist und vorwitzig zu einem Angriff vorging.
Ein Brummen, das aber kaum mehr ein Brummen, sondern ein unbeschreiblich jammervolles Grunzen oder Stöhnen der Qual und des Schmerzes war, und eine ungeschickte Bewegung ließen ihn diese Absicht indessen wieder aufgeben.
War es dies, oder hatten die Raben mich erspäht, dass sie jetzt mit einem schrillen Kreischen wieder aufflogen? Freilich nur bis zu den nächsten Baumwipfeln, wo sie sich mit dem ihnen eigenen wiegenden Schwung auf ein paar Ästen niederließen und ihr dämonisch triumphierendes Spottgelächter ertönen ließen, das die aus den Hügeleinschnitten herausfauchenden Windstöße aufnahmen und verschluckten.
Der Vorgang hatte mich aber von der völligen Gefahrlosigkeit meines Unternehmens überzeugt. Rasch die letzten paar Schritte machend, trat ich aus dem Buschwerk auf den gestrüppfreien Uferstreifen heraus und betrachtete den Bären.
Das Erste, was mir auffiel, war sein schrecklich verunstalteter Kopf. Das linke Auge hing aus der Höhlung heraus, und diese selbst war von einer Kruste gefrorenen Blutes umgeben. Das Maul und die Lippen waren unförmlich verschwollen, und die Innenhaut, soweit sie sichtbar war, glasig rot entzündet. Die Schwellung war derart, dass sie wie ein Knebel das Gebiss auseinandergezwungen hatte und das Tier das Maul nicht schließen konnte. Eine Anzahl der tückischen Stacheln eines Stachelschweines, die aus diesen blau verschwollenen Lippen und dem Zahnfleisch herausragten, ließen mich sofort erkennen, was hier geschehen war.
Vom Hunger getrieben, musste der Bär unüberlegterweise einen Angriff auf ein Stachelschwein unternommen haben, der wie immer zuungunsten des Angreifers abgelaufen war. Das Stachelschwein führt dabei den Verfolger immer bis zu dem nächsten umgestürzten Baum, unter dem es seinen Körper verbirgt, sodass nur der Schwanz frei bleibt, den es dann wütend um den Kopf des Angreifers schlägt, wenn dieser unvorsichtig genug ist, sich ihm zu nähern. Die mit kleinen Widerhäkchen versehenen Stacheln dringen dann in seine Zunge, seine Lippen und sein Gesicht und bleiben darin stecken.
Vor wie langer Zeit das hier geschehen war, konnte ich natürlich nicht feststellen. Zweifellos hatte der Bär aber versucht, mit seiner Pranke die Stacheln zu entfernen, was die Sache nur verschlimmert hatte. Ob diese wirklich, wie vielfach behauptet wird, einen Stoff enthalten, der bösartige Entzündungen hervorruft, habe ich niemals genau feststellen können. Tatsache ist, dass die Tiere, denen ein solches Unheil zustößt – auch Jagdhunde, denen die sorgsamste Behandlung zuteil wird –, fast immer dabei zugrunde gehen.
Auch der Bär hier war nahe am Verenden. Mehrere Fische, die um ihn herum im Schnee lagen und die er wohl aus der offenen Stelle des Flusses am Fuße des Wasserfalles mit seinen Pfoten herausgeschleudert, zeigten, dass er sich hatte Nahrung verschaffen wollen. Es war ihm aber unmöglich gewesen, sie zu verzehren, und inmitten des vor ihm liegenden Überflusses hatten Hunger und wahnsinniger Schmerz ihn allmählich aller Kräfte beraubt. Das Auge mochte ihm von Raben in einem Momente stumpfer Bewusstlosigkeit ausgehackt worden sein.
Als er mich plötzlich vor sich stehen sah, wandte er mir mit einer schwerfälligen Bewegung des Kopfes das eine ihm verbliebene Auge zu. Noch einmal leuchtete es gelb-grün darin auf – dann aber kam ein Blick unbeschreiblichen Jammers in dieses Auge –, ein Blick bittender Hilflosigkeit.
Ich ergriff meinen Revolver. Ein-, zwei-, dreimal zerriss sein in den fauchenden Windstößen merkwürdig resonanzloser Knall die Luft – dann war es geschehen: Der Bär hatte ausgelitten.
Es war aber auch die höchste Zeit für mich, den Rückweg anzutreten. Die vor dem Winde herfliegenden Schneewolken waren beängstigend dick geworden, und ich hatte nahezu fünf Kilometer zurückzulegen. Außerdem war ich fast einen Kilometer weit von meinem Trail abgewichen und hatte mich zu ihm zurückzufinden. Das war keine leichte Aufgabe in der immer trüber werdenden Atmosphäre und bei der Eile, die unbedingt nötig war. Ich hätte wohl die Spuren meiner Schneeschuhe wieder zurückverfolgen können, aber sie waren bereits zum Teil durch treibenden Schnee wieder verwischt, und sie zu suchen, hätte mich zu lange aufgehalten. Da ich aber in meiner Abweichung eine ziemlich gerade Linie eingehalten hatte, so berechnete ich die Richtung entlang der Reihe meiner letzten sichtbaren Spuren, prägte mir einen besonders geformten Baum in der Nähe der Stelle ein, wo ich auf meinen Trail treffen musste, und schritt mit einer Eile vorwärts, von der ich annahm, dass ich sie fünf Kilometer weit würde durchhalten können. Ich fand auch den Trail, musste aber zu meiner berechneten Eile noch beträchtlich zulegen, denn die Luft füllte sich immer dichter und dichter mit den kleinen staubförmigen Eiskristallen, die unter dem lauten Geheul der Windsbraut gegen das Gesicht schlugen, dass es schmerzte wie unter Peitschenhieben. Die keuchende Lunge war nicht imstande, den Atem auszustoßen unter dem fürchterlichen Druck, den der inzwischen zum Sturm angewachsene Wind ihm entgegenstellte.
Es war ein Glück, dass ich in der Nähe meiner Höhle bereits jeden Baum und Strauch genau nach seiner Form kannte, denn der Wirbel des Eisstaubes war inzwischen so dicht geworden, dass ich die Hand nicht vor den Augen sehen konnte und mich die letzten fünfzig Schritte buchstäblich an den Bäumen und Sträuchern nach der Höhle zurücktasten musste. Ein Umsinken im Schnee wäre mein Tod gewesen, denn in weniger als einer Minute wäre ich unter einer dicken Schneedecke verweht worden.
Jetzt saß ich sicher in der Höhle und bewachte das Feuer, das immer und immer wieder durch die hereindringenden Windstöße mit ihren Wolken von Schneestaub wie in einer Explosion aufloderte. Die wollene Decke, die den Eingang verschloss, hatte selbst durch den geringen Widerstand, den sie den Schneeböen leistete, eine Schneewehe verursacht, die wie eine feste Wand die Decke überkleidete und mich vollständig von der Außenwelt abgeschnitten hätte, wenn ich mir nicht öfters künstlich an der einen Seite einen Ausweg offengehalten hätte.
Das Holz, mit dem ich das Feuer unterhielt und von dem ich vorsorglich für ähnliche Fälle eine reichliche Menge aufgestapelt hatte, war durch das lange Lagern in der Nähe des Feuers so trocken geworden, dass es fast ohne Rauch brannte. Mit der Lagerstatt im Hintergrunde, dem verschiedenen Kochgeschirr in einer Ecke, den an der Wand lehnenden Schneeschuhen, meinen zwei Gewehren und einigen Kleidungsstücken, die an Pflöcken an der Wand hingen, nahm sich die Höhle in dem roten Feuerschein ganz wohnlich aus.
Eine Zigarette rauchend, saß ich auf meiner Lagerstatt und horchte auf das Sturmgebrüll. Meiner Uhr nach musste es vier Uhr nachmittags sein. Draußen war das natürlich nicht zu erkennen. Dort war alles mit unglaublich feinem Schneestaub in solchen Massen angefüllt, dass die häufigen Windstöße darin keine Lücke schufen, sondern nur den einen Erfolg hatten, die Massen von diamantharten Eiskristallen dichter zusammenzuschieben und sie mit Wucht gegen alles zu schleudern, was sich ihnen hindernd in den Weg stellte.
Ich hatte eben meine Zigarette zu Ende geraucht, legte meine pelzgefütterten Fausthandschuhe an und nahm einen derben Knüppel zur Hand, um wieder einen meiner periodischen Versuche zu machen, den Ausgang aus meiner Höhle offenzuhalten. Ein Versuch, der mich natürlich jedes Mal selbst im Augenblick mit einer Schneekruste überdeckte und Wolken von Schneestaub in die Höhle eindringen ließ. Der vordere Teil war schon ganz davon bedeckt. Dort lag der Schnee trocken wie Sand und schmolz nicht einmal in der Nähe des Feuers.
Ich hatte kaum ein paar kräftige Schläge gegen die sich draußen auftürmende Schneewand geführt, als ich plötzlich innehielt und in das Sturmgetöse hinaushorchte.
„Help!“
Allmächtiger Gott! Es war keine Täuschung, da draußen war ein Mensch, und ich musste ihm Rettung bringen.
Schnell griff ich nach meinem Revolver, trat vor die Höhle und schoss ihn ab, um dem nach Hilfe Rufenden anzuzeigen, dass er gehört worden sei. Dann nahm ich das Seil, das mir früher zur Befestigung des Packsattels gedient hatte, und band es mit einem Ende an einem schweren Holzblock fest. Es sollte mir als Leitseil dienen, denn ohne ein solches wäre es unmöglich gewesen, den Weg nach der Höhle zurückzufinden. Schnell griff ich dann nach den Schneeschuhen, schlüpfte mit den Fußspitzen in das als Fußrast dienende Netz, und ohne mir erst Zeit zu nehmen, sie mir an den Füßen festzubinden, trat ich hinaus in den tobenden Blizzard.
„Help!
Halb verweht vom Sturm klang es an mein Ohr. Der Ruf kam aus nordöstlicher Richtung, und ich schritt, stets das Seil hinter mir auslegend, darauf zu.
„All right!“, schrie ich aus Leibeskräften, und wieder kam die halberstickte Antwort: „Help!“
Sie leitete mich nach der ziemlich steilen Wand eines Hügels, nicht weit von meiner Höhle. Mir stockte der Atem. Wenn mein Seil nicht ausreichte! Ich kannte seine Länge nicht genau, aber wenn der nach Hilfe Rufende sich etwa außerhalb seiner Reichweite befand, war er verloren. Das Seil gehen zu lassen, wäre Wahnsinn gewesen. Die wirbelnden Massen von Schneesturm hätten es im Augenblick verweht, und anstatt dem Verirrten Hilfe zu bringen, wären zwei Menschenleben geopfert worden.
Die Rufe hatten aufgehört, mich zu leiten, und gleichzeitig bemerkte ich mit Entsetzen, während meine Lunge nach Atem keuchte, dass ich das Ende des Seiles in der Hand hatte. Ich fühlte, wie kalter Schweiß meine Stirn bedeckte und mir über den Rücken lief. Sollte ich hier vielleicht, nur zehn oder zwanzig Schritte entfernt, einen Mitmenschen zugrunde gehen lassen?
„Halloh!“
Ich lauschte. Schwächer als früher, aber doch erkennbar näher, kam wieder der Ruf: „Help!“
Mein unwillkürlich umhertastender freier Arm traf zur Rechten die Zweige eines Baumes, und im Nu blitzte ein Gedanke durch mein Gehirn. Ich band das Ende meines Leitseiles in ziemlicher Höhe an einen starken Ast fest. Zehn bis zwanzig Schritte konnte ich nun vielleicht noch tun, wenn ich sie abzählte und mir ihre Richtung genau einprägte. Der Baum war eine Landmarke, die ich aus so kurzer Entfernung wohl wieder auffinden konnte.
Ich rief von Neuem, aber es kam keine Antwort mehr. Kam ich schon zu spät?
Mit Vorsicht schritt ich vorwärts, nachdem ich mir zuerst die Richtung meiner Schritte eingeprägt hatte, und begann zu zählen – eins – zwei – drei.
Ich rief wieder –
Keine Antwort.
Plötzlich stießen meine Schneeschuhe an ein Hindernis, und ich sank in den weichen Schnee. In demselben Augenblick hatte ich aber auch das Hindernis erfasst und emporgehoben. Es war ein Bündel dicker, wollener Kleider, aber ein schwaches Stöhnen, das daraus hervordrang, verriet mir, dass ein Mensch darin steckte, der noch am Leben war. Ich prüfte nicht weiter. Sekunden waren kostbar, und ich wandte meine Schritte zurück.
Meine Last war nicht übermäßig schwer. Der Verirrte schien ein Knabe zu sein.
Einen – zwei – drei Schritte – vier – fünf – – – dreizehn –
Allmächtiger Gott! Wo war der Baum? Hatte ich mich doch verirrt? Ich hatte doch dreizehn Schritte gezählt. Oder waren es elf? Oder fünfzehn? In dem Augenblick, als ich über das halbverwehte Bündel Menschheit stürzte, war mir die genaue Anzahl der Schritte aus dem Gedächtnis geschlüpft.
Oder hatte ich eine kleine Wendung vollführt und eine falsche Richtung eingeschlagen? Ein wiederholtes Stöhnen aus dem Kleiderbündel heraus ließ mich ohne Überlegung drei oder vier weitere Schritte vorwärts machen–und jetzt streifte ich Baumzweige.
War es der richtige Baum?
Ich suchte nach dem Seil.
Eine Minute atemloser Spannung –
Hier war es. Ich hatte mich also doch nicht verrechnet. Nur hatte ich unter meiner Last in dem Sturm, der uns fast von der Erde zu wehen schien, kleinere Schritte gemacht, und das hatte mich zu der Annahme verführt, ich hätte meine Landmarke verfehlt. Ich legte meine Bürde jetzt halb über meine rechte Schulter und tastete mich vorsichtig mit der linken Hand an dem Seil entlang.
Nach einigen Minuten erreichte ich die Höhle, und ein Seufzer der Erleichterung entfuhr mir, als ich die Decke am Eingang, die ich erst in einem Schneehaufen suchen musste, wieder hinter mir verschloss. Mochte der in ungeschwächter Wut draußen forttobende Blizzard den Eingang jetzt immerhin verschließen – ich quälte mich nicht mehr darum. Auf irgendeine Weise würde ich schon wieder hinausgelangen, wenn das nötig war, und bis dahin sorgte das poröse Gestein der Wandungen für genügende Lufterneuerung.
Ich hatte meine Bürde auf die Lagerstatt im Hintergrund gelegt und nahm mir nur noch Zeit, meine Schneeschuhe abzustreifen und das von eindringenden Windstößen arg zerzauste Feuer wieder zu beleben, dann wandte ich mich meinem Schützling zu.
Als ich die kapuzenähnliche Umhüllung des Kopfes zurückschlug, schaute ich in das braune, von langem schwarzem Haar umrahmte Antlitz eines jungen indianischen Mädchens, dessen große runde Augen verwundert auf mir ruhten.
Wäre die rotbraune Hautfärbung nicht gewesen, man hätte die junge Indianerin für eine Angehörige der kaukasischen Rasse halten können, denn ihrer Gesichtsbildung fehlte der gewöhnliche Typus der Indianerrassen mit den breiten, wie Ecken hervorstehenden Backenknochen. Der Schnitt des Gesichtes war zierlich und regelmäßig, und sie sah aus wie eine plötzlich zum Leben erweckte Bronzefigur einer griechischen Schönheit, ein Eindruck, der noch durch das keineswegs indianisch hartsträhnige, sondern weiche und wellige Haar verstärkt wurde.
Jetzt lag freilich ein Ausdruck des Schmerzes auf diesem überraschend anziehenden Gesicht.
„Mein Fuß“, sagte sie in englischer Sprache und mit einer überaus wohlklingenden Stimme. Sie machte eine Bewegung mit dem Fuße, der aber sofort ein leises Stöhnen des Schmerzes folgte, und ich begann ohne Zögern, den pelzgefütterten Mokassin aufzuschnüren und vorsichtig abzustreifen.
Ein kleiner, wohlgeformter Fuß kam zum Vorschein, der aber im Knöchelgelenk eine beginnende Schwellung zeigte und etwas schief zum Unterschenkel stand. Ich begann zu untersuchen, was aber trotz aller Vorsicht, die ich dabei anwandte, nicht ohne wiederholtes schmerzhaftes Stöhnen abging. Gebrochen war der Fuß offenbar nicht, aber aus dem Gelenk gesprungen, und ich machte mich sofort daran, ihn wieder einzurenken, was mir auch mit zwei oder drei energischen Drehungen, die von einem deutlichen Knacken, aber auch von einem lauten Schrei aus dem Munde der jungen Indianerin begleitet waren, gelang.
„Du hast deinen Fuß verrenkt“, erklärte ich ihr dann, mich ebenfalls der englischen Sprache bedienend, „aber die Sache ist jetzt wieder in Ordnung. Freilich, ein paar Tage wirst du hier bleiben müssen, bis er wieder ganz heil ist.“
Ich nahm etwas Whisky und begann das Gelenk vorsichtig zu massieren, was ihr augenscheinlich große Erleichterung brachte. Dann legte ich mithilfe eines in zwei Stücke gerissenen Sandtuches, da mir das Ganze für diesen Zweck zu groß erschien, einen nassen Umschlag um das Gelenk, den ich warm bedeckte, und wandte mich der jungen Indianerin wieder zu.
„Well, wie fühlst du dich jetzt?“
„Besser, viel besser.“
Nachdem ihre Augen dann noch eine Weile forschend auf mir geruht hatten, fügte sie hinzu: „Ich kenne dich.“
„Du kennst mich?“
„Ja, du bist Dr. Werner aus Winnipeg. Ich habe deinen Namen gehört, als du in Lebret warst, vorigen Sommer.“
Es war richtig. Lebret ist eine Missionsanstalt des Oblatenordens mit einem angrenzenden kleinen Nonnenkonvent und einer Erziehungsanstalt für Töchter katholischer Ansiedler, sowie einer Schule für indianische Kinder beiderlei Geschlechts, die hier nicht nur in den Elementarfächern, sondern auch die Mädchen in den Haushaltskünsten und die Knaben in allen möglichen Handwerken unterrichtet werden. Ich war im Sommer dort gewesen, um meinen Freund, Baron von Amerhorst, zu besuchen, der früher preußischer Offizier war, dann aber die bunte Uniform des Dragonerleutnants mit der Soutane des Oblatenordens vertauscht hatte und sich in Lebret auf seine Priesterweihe vorbereitete.
Wir hatten unsere Mahlzeiten in dem allgemeinen Speisesaal, zusammen mit den indianischen Zöglingen, eingenommen. Für die Patres und zwei oder drei Ordensbrüder war auf einem Podium eine besondere Tafel hergerichtet, und wir wurden dort von ein paar indianischen Mädchen bedient. Unter diesen, dessen begann ich mich jetzt wieder zu erinnern, befand sich dasselbe junge Mädchen, das jetzt ein Zufall, den ich noch immer nicht verstehen konnte, mitten in einem kanadischen Blizzard in meine Höhle geführt hatte.
Ihr von dem gewöhnlichen Indianertypus so abweichendes Gesicht und die zierliche geschmeidige Figur, die sich nicht weniger als dieses von den meist recht plumpen, robusten Körpern der Indianerinnen unterschied, waren mir schon damals aufgefallen. Auf eine Bemerkung, die ich darüber zu meinem Freunde machte, hatte dieser lächelnd mit einem: „Jawohl, aber sie sind nicht alle so“, erwidert.
„Es ist übrigens eine Häuptlingstochter“, fuhr er dann fort, „eine Sioux und Enkelin von Dead Body, von dem Sie gehört haben werden.“
Ich hatte nicht nur von Dead Body gehört, sondern war mehrmals mit ihm in Southey, wohin er manchmal aus seiner Reservation in den Touchwood Hills kam, um Einkäufe zu machen, zusammengetroffen. Er war einer der merkwürdigsten Erscheinungen, die mir jemals zu Gesicht gekommen waren. Sein Name Dead Body – früher hatte er wohl einen anderen geführt – stammte aus der letzten, von Riehl angestifteten Indianerrevolution. In einem Gefecht in der Nähe des Forts Qu’Appelle war Dead Body als tot auf dem Kampfplatze zurückgeblieben, später aber von seinen Stammesangehörigen nach deren Lager gebracht worden, um mit allen Ehren und den üblichen indianischen Begräbniszeremonien bestattet zu werden.
Als diese nach zwei oder drei Tagen im vollen Gange waren, war Dead Body, der bis dahin bewusstlos und mit allen Anzeichen des Todes dagelegen hatte, wieder zum Leben erwacht und schließlich trotz seiner schweren Wunden von dem Medizinmanne seines Stammes, dessen Ruf sich dadurch rasch verbreitete, gesund gepflegt worden.
Als ich ihn kennenlernte, musste er schon 70 oder 75 Jahre zählen, war aber noch ziemlich rüstig. Und obwohl er ein echter Indianer mit einem unauslöschlichen Hass gegen alle Bleichgesichter war, hatte er es doch über sich gewinnen können, in einem schwarzen Missionarskittel, den er, Gott weiß wo, aufgegabelt und augenscheinlich mit unsäglicher Mühe jahrelang vor dem Verfall bewahrt hatte, einherzustolzieren. Dass sein Cowboyhut aus grauem Filz, seine langen schwarzen Zöpfe, seine hirschledernen Hosen und gleichen Mokassins damit nicht ganz übereinstimmten, schien ihn weiter nicht zu stören. Unsere Unterhaltung, wenn auch recht freundschaftlich – ich glaube tatsächlich, dass ich bei ihm in besonderer Gunst stand –, war freilich immer ziemlich lückenhaft gewesen, da er nur ein paar Brocken Englisch sprach und mir damals die Siouxsprache noch ziemlich fremd war. Ich versuchte immer, ihm das meiste in der Krisprache verständlich zu machen, die ich recht gut beherrschte und von der er einige Kenntnisse hatte, da sein Stamm lange Jahre hindurch Kriindianer als Nachbarn gehabt hatte.
Das alles kam mir im Augenblick in die Erinnerung.
Aber wie kam das Mädchen von Lebret hierher , eine Entfernung von etwa hundert englischen Meilen?
„Ich bin nicht mehr in Lebret“, erklärte sie auf meine Frage. „Ich bin achtzehn Jahre und jetzt wieder in der Reservation.“
Das erklärte allerdings ihre Anwesenheit in dieser Gegend, denn die nächste Reservation, und um die konnte es sich nur handeln, begann kaum sechs oder sieben Meilen von hier. Wie sie aber in dem Schneesturm hierher kam, wo sich weit und breit keine menschliche Behausung befand, war mir noch immer ein Rätsel.
„Wie ist dein Name, litte woman?“, fragte ich sie.
„Minnehaha“, war die Antwort.
„Das heißt so viel wie Lachendes Wasser?“
Sie nickte.
„Bist du nicht eine Christin?“, fragte ich etwas überrascht, denn an den indianischen Kindern, die bis zum siebzehnten Jahre in den Missionen oder Industrieschulen, wie sie genannt werden, erzogen werden, während welcher Zeit sie jedes Jahr nur eine Ferienzeit von vier Wochen daheim in ihrer Reservation verbringen dürfen, nehmen die meisten den christlichen Glauben und damit einen andern Namen an, bevor sie am Schlusse ihrer Schulzeit nach ihren Reservationen entlassen werden.
Es ist den Leitern der Schule nicht erlaubt, eine zu lebhafte Beeinflussung nach dieser Richtung hin zu üben. Die indianischen Eltern tun während der kurzen Ferienzeit auch ihr Bestes, den Kindern gegen jeden solchen Gedanken Schrecken einzujagen, da sie ja dann nach dem Tode die Eltern, die sich in einem andern Himmel befinden, nicht wiedersehen würden. Die geistige Atmosphäre, in der die Kinder so viele Jahre leben, bleibt aber nicht ohne Wirkung, und neun von zehn nehmen den christlichen Glauben an.
„Ich bin katholisch“, antwortete sie, „und in der Schule nannte man mich Mary. Aber in der Reservation …“ Sie brach ab, und erst nach einer Weile fügte sie leiser hinzu: „Sie sind furchtbar böse auf mich – und wollten den Christengott wieder aus mir austreiben.“
„Well, Minnehaha“, sagte ich, und ich weiß nicht recht, warum ich den indianischen Namen gebrauchte, „das wirst du mir alles später erzählen und auch wie du in diesem Blizzard – hör nur, wie es weht – hierher gekommen bist. Aber erst wollen wir etwas Kaffee kochen, und du wirst wohl auch hungrig sein. Versuche eine Viertelstunde zu schlafen, dann werde ich alles fertig haben.“
Ich schürte das Feuer an, hing einen Kessel mit Schnee gefüllt darüber und traf alle Vorbereitungen zu einer herzhaften Mahlzeit für meinen Schützling.
Die Augen der jungen Indianerin folgten jeder meiner Bewegungen, aber sie sprach kein Wort. Erst als ich ihr den dampfenden Kaffee reichte und sie den frisch-duftenden Trank zu schlürfen begann, wobei der Bann der Kälte, der ihren Körper umfangen hatte, sich in einigen wohligen Schauern löste, sagte sie: „Das ist gut.“
Sie aß dann von dem gebratenen Speck, den Kartoffeln und dem Biskuit mit dem gesunden Appetit der Jugend, der durch einige überschlagene Mahlzeiten verstärkt worden ist.
„Well, Minnehaha“, bemerkte ich nach einer Weile, „wie fühlen wir uns jetzt? Besser, ich wette. Und was machen wir nun? Fühlst du dich müde? Willst du schlafen? Oder wollen wir uns unterhalten? Das hat aber Zeit. Du kannst mir morgen erzählen, wie du in diesem Wetter hierher kommst – oder auch übermorgen, denn dass du mit deinem Fuß vor einer Woche hier wegkommst, daran ist nicht zu denken.“
„Ich bin nicht müde“, erklärte sie.
„Das heißt also, wir wollen uns unterhalten. Wie ist dein Fuß?“
„Besser, aber er schmerzt noch.“
Ich ordnete die Felle und Decken so, dass der verletzte Fuß höher zu liegen kam, um das Blut aus dem kranken Gelenk abzuleiten, was ihr sichtlich Erleichterung brachte.
„Und nun sage mir um Gottes willen, wie du in diesem Blizzard, allein und zu Fuß hierher kommst? Du hast doch in dieser Einöde nichts verloren, und wenn du nur eine Viertelstunde weiter entfernt gewesen wärest, hätte ich deine Rufe nicht gehört, und du wärest umgekommen.“
„Gott hat mich geführt“, erwiderte sie mit ruhiger kindlicher Gläubigkeit. „Ich wusste, dass er mich retten würde, weil ich ihn nicht verlassen habe.“
„Was meinst du damit?“
„Ich bin vergangene Nacht aus der Reservation weggelaufen. Unser Medizinmann hatte entdeckt, dass ich Christin bin und es dem ganzen Stamm verraten.“
„Aber kommt denn das nicht oft vor, wenigstens bei den Zöglingen der Industrieschulen?“
„Oh ja, aber das Christentum hält bei den meisten nicht lange vor. Sie geben nach einiger Überredung ihren Glauben wieder auf, oder wenn sie hartnäckig sind, wird ihnen das Leben so schwer gemacht, dass sie davongehen – nach den Städten. Und das fürchtet der Indianer. Denn was hat er in den Städten und unter den Weißen? Er muss die niedrigste Arbeit verrichten, und die Schlechtesten unter den Weißen glauben immer noch, dass der Indianer, weil er eine rote Haut hat, tief unter ihnen steht. In der Reservation dagegen ist er sein freier Herr, arbeitet nur, wenn er will, und niemand verachtet ihn. – Mit mir war’s aber etwas anderes. Mich wollten sie im Stamme behalten, weil ich eine Häuptlingstochter bin, obwohl mein Vater seit einem halben Jahre tot ist. Und wohl auch aus einem andern Grund wollte man mich im Stamme behalten.“
Die letzten Worte sprach sie nur zögernd und mit leiser Stimme.
„Und wie hatte man entdeckt, dass du Christin bist?“
„Schi-pi-ku-pi-neß, unser Muskick-ki-ki-ni-ni, hatte mich eines Abends belauscht, als ich mein Gebet verrichtete, wie es uns die guten Väter von Lebret gelehrt haben.“
„Wie konnte Schi-pi-ku-pi-neß aber wissen, dass du zum Christengott und nicht zu dem Großen Geist deines Volkes, ich meine zu Kitschi-Manitu, betetest?“
Ein überlegenes Lächeln über meine Unkenntnis einer so einfachen Sache umspielte ihre Lippen. Ich fühlte mich aber keineswegs zerknirscht darüber, denn schließlich ist es recht wenig, was uns über die Religion und die religiösen Gebräuche der Indianer bekannt ist.
Es gehört zu den merkwürdigen Gebräuchen der Indianer, selbst unter sich nur selten über religiöse Dinge zu sprechen. Und die gleiche scheue Zurückhaltung üben sie auch in Bezug auf ihren Namen. Ein Indianer, nach seinem Namen gefragt, wird ihn fast niemals nennen, ebenso wenig würden dies sein Weib und seine Kinder tun. Eine Nennung seines Namens, selbst in der feierlichsten Weise, würde als eine Art Versündigung gegen die geheimnisvolle Naturkraft, zu der dieser Name in direkter Beziehung steht, und als eine unverzeihliche Beleidigung gegen den meist alten und weisen Indianer, der ihm den Namen verliehen hat, angesehen werden. Wahrscheinlich würden der Indianer oder sein Weib den Fragesteller an ein anderes Mitglied des Stammes verweisen. Und selbst dann ist häufig noch ein gut Teil Diplomatie erforderlich, den Namen zu erfahren, obwohl diese Rücksichten der Pietät in der Hauptsache nur für die eigene Familie Geltung haben. Dieser große Respekt erklärt sich durch die Umstände, unter denen ein indianisches Papoose seinen Namen erhält.
Meist wird der Medizinmann oder irgendein anderer hervorragender Indianer mit der Wahl des Namens betraut. Denn nach indianischer Anschauung steht der Mensch unter dem Schutz einer besonderen Naturkraft oder eines Naturereignisses, das durch den Namen angedeutet werden soll, und dessen Gunst er sich später durch verschiedene Opfer zu erhalten bestrebt ist, da er ihre Vermittlung in seinem Verkehr mit Kitschi-Manitu benötigt, der viel zu erhaben ist, als dass man zu ihm direkt beten dürfte.
Der Medizinmann, oder wer immer das Amt der Namensgebung übernommen hat, beobachtet nun die Naturereignisse in den ersten Lebenstagen des Kindes. Wenn ein Gewittersturm losbrechen sollte, würde das Papoose wahrscheinlich ‚Vier-Himmel-Donner‘ oder ‚Blitz-aus-den-Wolken‘ genannt werden. Wenn irgendein Vogel vor dem Sturm vielleicht mit einem Warnungsschrei über den Camp geflogen wäre, würde der Name wahrscheinlich lauten ‚Des-schwarzen-Habichts-Warnung‘ oder ,Der-Vogel-der-vor-dem-Sturm-kommt‘. Auf diese Weise erklärt sich auch der Name des berüchtigten Siouxhäuptlings Regen-ins-Gesicht, der mit seiner Bande die Truppe des Generals Custer bis auf einen einzigen Mann niedermetzelte, der wie durch ein Wunder entkam und die Kunde von dem entsetzlichen Ereignis nach dem Hauptquartier brachte.
Später, wenn irgendein bedeutsames Ereignis das rechtfertigt, kann der Indianer seinen Namen ändern, wie im Falle meines Freundes ‚Dead Body‘. Den neuen Namen kann er dann ohne Scheu gebrauchen. Diejenigen Indianer, die im steten Verkehr mit den Weißen stehen, verlieren wohl zum Teil die Ehrfurcht vor ihrem Namen, und das war gewiss auch der Grund, weshalb die junge Indianerin mir den ihren so bereitwillig genannt hatte.
„Der Indianer betet nicht selbst zu Kitschi-Manitu“, erklärte sie auf meine Frage.
„Wer tut es denn“, fragte ich, „der Medizinmann? Denn ihr habt doch keine Priester.“
„Nicht immer der Medizinmann“, war die Antwort. „Irgendein Indianer, von dem wir glauben, dass er bei Kitschi-Manitu mehr angesehen ist als der Bittsteller. Und der veranstaltet dann einen Opfertanz. Aber auch er betet nicht zu Kitschi-Manitu direkt. Er betet zu dem Schutzgeist des Bittstellers, der dann die Bitte vor Kitschi-Manitu bringen soll. Mein Schutzgeist war der des lachenden Wassers. Du musst wissen, dass ich am Qu’Appelle-River geboren bin und davon meinen Namen Lachendes Wasser habe. Und dann, kein Indianer, selbst wenn er am Sterben wäre, würde wagen, mehr als einmal oder zweimal im Jahre Kitschi-Manitu mit Bitten lästig zu fallen. Und ich habe mein Gebet zum Gott der Christen und zur Jungfrau Maria täglich verrichtet.“
„Und dabei hat euer Muskick-ki-ki-ni-ni dich beobachtet?“
Sie nickte.
„Das ist aber doch kein Grund, von dem Stamme wegzulaufen“, sagte ich.
„Oh, du verstehst das nicht“, klagte sie. „Schi-pi-ku-pi-neß war wütend, als er merkte, dass ich Christin geworden war, und drohte mir mit seiner bösen Medizin, die alle fürchten, und sagte, er müsste den Stamm zu einem Opfertanz zusammenrufen, damit der Christengott aus mir wieder ausfahre. Du musst wissen, dass der Stamm jetzt keinen Häuptling hat, seit mein Vater tot ist. Und derjenige wird Häuptling sein, der mich zur Squaw bekommt. Ein Mitglied einer Häuptlingsfamilie kann aber niemals Christin sein. – Und Regen-ins-Gesicht ist ein schlechter Mensch, der trinkt und stiehlt und seine Squaw schlecht behandelt, und ich fürchte mich vor ihm“, fügte sie anscheinend ganz zusammenhanglos hinzu.
„Wer ist Regen-ins-Gesicht?“, fragte ich etwas überrascht. „Das war doch der Häuptling, der mit Sitting Bull und Crazy Horse die Sioux gegen General Custer führte und ihn und seine Soldaten niedermachte?“
„Ich meine seinen Sohn. Der Name gilt bei uns Sioux noch so viel, dass man seinen Sohn als Papoose in den Regen gehalten hat, damit er den Namen mit Recht weitertragen konnte. Regen-ins-Gesicht gehört eigentlich nicht zu unserem Stamme. Er ist aus den Staaten, wo er bei dem Stamme seines Vaters lebte, nach Kanada geflüchtet, weil man ihn drüben als Pferdedieb aufhängen wollte.“
„Aber warum fürchtest du dich vor ihm? Was kann er dir tun? – Pferde kann er hier wohl kaum stehlen, denn die Farmer haben wenige, und die Rotröcke würden ihm bald auf den Pelz kommen, wenn er etwa eins oder das andere mitgehen heißen wollte.“
„Das ist es nicht“, sagte sie leise und zögernd.
„Also was ist es denn?“
Sie wandte ihr Gesicht ab, um meinem Blicke auszuweichen.
„Er will mich zur Squaw haben“, erklärte sie, „um Häuptling unseres Stammes zu werden.“
„Will dich zur Squaw haben?“, fragte ich verwundert. „Aber sagtest du nicht eben, er habe schon eine Squaw und behandelte sie schlecht?“
„Ja, aber wenn er Häuptling ist, kann er mehrere Squaws haben. Es gibt welche, die fünf oder sechs haben.“
„Well, das sagt mir nun aber noch immer nicht, wie du in diesem Blizzard hierher kommst. Dass dich Regen-ins-Gesicht zur Frau haben möchte, ist mir begreiflich. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn auch noch andere rote Gentlemen den gleichen Wunsch hegten. Aber schließlich ist das doch wohl eine Sache, bei der du auch noch ein Wort zu sagen hast. Deswegen brauchst du doch nicht davonzulaufen. Hast du keine Mutter mehr?“
„Oh ja, aber die wird von Muskick-ki-ki-ni-ni vollständig beherrscht. Regen-ins-Gesicht ist der Sohn seiner Schwester, und er möchte ihn zum Häuptling haben. Aber das ist nicht der Hauptgrund. Schi-pi-ku-pi-neß ist viel zu habsüchtig, als dass er sich um seine Verwandten viel kümmerte. Aber Regen-ins-Gesicht gibt ihm immer Geld und Whisky –“
„Whisky? – Wo bekommt er denn Whisky her? Es steht doch strenge Strafe darauf, einem Indianer Whisky zu verkaufen.“
„Ich weiß nicht, wo er ihn herhat“, erwiderte sie nachdenklich, „und weiß auch nicht, wo er das Geld herhat, aber er hat beides reichlich, und ich habe ihn und Schi-pi-ku-pi-neß schon oft betrunken gesehen. Deshalb tut der Muskick-ki-ki-ni-ni, was Regen-ins-Gesicht will. Er hat dem Stamme gesagt, dass Kitschi-Manitu uns wieder zu einem großen Volke machen würde, wenn ich die Squaw von Regen-ins-Gesicht würde. Du weißt, Sir, die Indianer glauben, dass Kitschi-Manitu ihnen seinen Willen im Traume kundgibt. Ich weiß aber, dass Schi-pi-ku-pi-neß das bloß erfunden hat. Ich glaube ihm überhaupt nichts. Er ist ebenso schlecht wie Regen-ins-Gesicht.“
„Und was sagt deine Mutter dazu?“
„Oh, sie weiß, dass Regen-ins-Gesicht ein schlechter Mensch ist, der seine Squaw schlägt, und dass er auch mich misshandeln würde, aber sie sagt, was Kitschi-Manitu verlangt, das muss man tun. Ich wäre eine Sioux, und es wäre meine Pflicht, den Stamm groß und blühend zu machen. Und wenn ich ihr sage, dass Kitschi-Manitu gar nicht existiert, dann ist sie ganz entsetzt, läuft davon und verbleibt so lange in einem anderen Tipi, bis ich sie mit vielen Bitten wieder zurückhole. Für heute hatte Schi-pi-ku-pi-neß den Opfertanz angesagt, an dem alle hervorragenden Stammesmitglieder teilnehmen sollten, und bei dem Schi-pi ku-pi-neß den Christengott
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 18.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1533-2
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