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Fünfzehn Jahre in Amerika
Marg. Lenk
Coverbild: © Kvocek / Shutterstock.com
1. Auf nach Westen!
In einer freundlichen Dachwohnung der Stadt Dresden saßen mein lieber Mann und ich an einem eiskalten Januarmorgen beim Frühstück. Im Ofen prasselte ein so gewaltiges Feuer, wie wir es sonst selten anzündeten; aber heute waren wir frostig nach einer unruhigen Nacht. Auch mochte der Kohlenkasten nur leer werden; wir brauchten ihn ja nicht mehr!
Freundlich bestrahlte die Lampe die hübschen, soliden Möbel, die zum Teil aus meinem Elternhaus stammten und mir sehr am Herzen hingen.
O wie liebte ich den alten runden Tisch aus des Vaters Studierstube, auf dessen breitem Fuß ich als Kind gar zu gern lesend oder spielend gesessen!
Aber nun war nichts mehr mein! An jedem Stück hing ein Zettelchen mit dem Namen des neuen Besitzers. Alles, was wir beide auf Erden besaßen, war, in Kisten verpackt, schon nach Hamburg vorausgeschickt. Nur der Schiffskoffer stand noch geöffnet bereit, das Letzte aufzunehmen.
Horch, es klingelt! Wer kommt schon so früh?
Ein Mädchen wollte sich unsere Lampe holen, die sie gekauft.
„Ich komme so zeitig“, erklärte sie, „weil ich den Tag über arbeite. Und abends sind Sie ja nicht mehr da!“
Brennend trug sie die Lampe die düstern Treppen hinab, und wir gaben uns im Halbdunkel eine Weile dem Abschiedsschmerz hin.
Ja, dieser und der nächste Tag waren ein stetes Scheiden, ein stetes Abschiednehmen, so schwer, so tränenreich, dass ich endlich an Leib und Seele ganz erschöpft war.
Vielleicht in guter Meinung, aber mit wenig Klugheit, hatte man mir hie und da eingeredet, ich passe nicht ins fremde Land, ich werde dort unglücklich sein und – o schrecklicher Gedanke! – dadurch auch meinen teuren Mann unglücklich machen!
Auch wollte man uns selbst in den besten, edelsten Freundeskreisen nicht glauben, dass wir an unserm Bestimmungsort St. Louis vollständig geordneten Zuständen und einer gesicherten Existenz entgegengingen. Wohl ließ man die Hafenstädte gelten; wie schnell sich aber auch die Städte im Innern des Landes entwickelt hatten, war weniger bekannt. So zwang man uns einen Empfehlungsbrief an ein New Yorker Bankhaus auf, falls wir verloren und heimatlos in dieser Riesenstadt herumirren würden.
Endlich, am Abend des zweiten Tages, war alles vorbei, und der Zug, der uns von Leipzig nach Hamburg bringen sollte, zur Abfahrt bereit.
Sieh, da erschien plötzlich ein liebes, treues Gesicht an der Wagentür, und zwei riesengroße Pfefferkuchen flogen herein, geschleudert von meiner goldtreuen Freundin Anna Spitzner, die noch einmal von Dresden gekommen war, den letzten Abschiedsgruß zu wechseln.
Kaum war das geschehen, so dampften wir in die Nacht hinaus zur weiten, kalten, mit unzähligen Unbequemlichkeiten belasteten Fahrt. Hätten wir ruhig in unserm Wagen bleiben können, würde sich wohl endlich ein wenig Schlaf eingestellt haben, aber wohl vier- oder fünfmal hieß es: „Umsteigen!“
Zu jener Zeit war Grobheit noch eine wesentliche Eigenschaft jedes Bahnschaffners. Das ist jetzt ganz anders geworden.
O wie ward ich angebrüllt, wenn ich bei sehr mangelhafter Beleuchtung nicht schnell genug die Übergänge passierte oder gar in der Verwirrung stehen blieb!
Mein guter Mann war viel zu bepackt, um mich zu führen, und hatte selbst Mühe, sich durchzufinden. Hatte man atemlos den richtigen Wagen erreicht, so lag wohl ein schnarchender, nicht allzu sauberer Mann auf der harten Bank ausgestreckt.
Zweite Klasse zu fahren, wodurch alle diese Nöte verhindert worden wären, war uns gar nicht eingefallen, war doch mein lieber Mann unter vielen Geschwistern ziemlich dürftig und hart erzogen worden, sodass ihm solch ein Luxus gar nicht in den Sinn gekommen war.
Später ward das ganz anders. O wie liebreich und freigebig hat er auf unsern vielen weiten Reisen für mein Wohlbefinden gesorgt.
Nun endlich kamen wir doch müde und durchgeschüttelt in Hamburg an, wo uns das bescheidene Gasthofstübchen, das wir mieteten, gar lieblich erschien; besonders da die freundliche Wirtin uns gleich heißen Kaffee brachte, ja mir sogar das Bett wärmte und tröstlich zusprach.
Bald lag ich in langem, festen Schlaf, während mein guter Mann an den Einschiffungsplatz ging, um alles Nötige zu besorgen.
Am Nachmittag wanderten wir noch ein wenig in der Stadt umher, waren aber doch zu aufgeregt und im Abschiedsschmerz befangen, um lebhafte Eindrücke von dem Gesehenem zu behalten.
Da über Nacht starker Frost eintrat, freuten wir uns am andern Morgen unserer warmen, wenn auch keineswegs eleganten Pelze und wanderten guten Mutes zum Einschiffungsplatz, dessen Einrichtungen damals noch nicht sehr menschenfreundlich waren.
Mit den Füßen trampelnd, sich in die Hände blasend, lachend, weinend und räsonierend waren die Kajütenpassagiere der „Westfalia“ unter freiem Himmel versammelt.
Endlich, endlich ward die Brücke freigegeben, die die ganze frierende Gesellschaft zu dem kleinen Dampfer brachte, der uns dem Schiff zuführen sollte.
Mit starkem Pusten und dickem, schwarzem Rauch setzte er sich in Bewegung. Die knappe Sitzgelegenheit war von Flinken oder Unverschämten schnell mit Beschlag belegt; wir andern mochten stehen.
Eine Kajüte gab es nicht. Im Sommer wär’s wohl eine Lust gewesen, den immer breiter werdenden Elbstrom hinabzufahren, die grünen Ufer mit ihren Wiesen, Landhäusern und Dörfern, besonders aber das Leben auf dem Fluss zu beobachten; jetzt aber konnte man nichts anderes tun als frieren.
Ein dichter Nebel, der sich noch zuletzt über den Fluss senkte, machte die Sache noch trübseliger. Auch fehlte es nicht an Trauermusik; zwei ganz in rote Wolle gekleidete Kinderchen besorgten sie aus aller Macht, während ihr älteres Brüderchen laut klagte, seine Tränen frören ihm am Gesicht fest.
Indes erhob sich die Sonne höher und höher, bis sie endlich fast plötzlich den Nebel zerriss. Und siehe, da lag vor uns das offene Meer, auf dessen Wogen die „Westfalia“ frisch und blank mit wehenden Wimpeln auf uns wartete.
Jetzt würde man dies gute Schiff verächtlich ansehen, da es nur Mittelgröße hatte, nicht durch Schrauben, sondern noch durch zwei gewaltige Räder getrieben ward und auch weit weniger Eleganz und Luxus in sich barg als die modernen sogenannten Salondampfer.
Uns aber ist dies Schiff das liebste geblieben von allen sechs, die uns über den Ozean getragen haben. Um elegante Einrichtung, feine Bedienung, auserwählte Speisen und allerlei Vergnügungen zu haben, braucht man doch wahrlich nicht zur See zu gehen; man findet es wohl noch besser an Land!
Auf der See suche ich vor allem etwas Romantik, ungezwungenes, schlichtes Leben, Freiheit und hie und da ein kleines Abenteuer. Dies alles fanden wir auf der wackeren „Westfalia“, als wir auf einem sehr schmalen Treppchen zu ihrem Deck emporkletterten, um sie erst nach achtzehn Tagen wieder ganz zu verlassen.
Oben stand der Kapitän im Wettermantel mit spitzer Kapuze und reichte jedem freundlich die Hand. Er war ein Prachtkerl, zu dem man sofort Vertrauen fasste. Von mittlerer Größe, im besten Mannesalter, mit dunkelm, krausem Haar, schönen, glänzenden Augen und sicheren Bewegungen. Auch die männlichen und weiblichen Stewards stellten sich vor und geleiteten ihre Schutzbefohlenen freundlich zu den Kajüten.
Dass mein lieber Mann und ich ein Kämmerlein für uns bekamen, erfreute uns sehr. Ich hatte mich schon recht gefürchtet, mit einer Fremden zusammenschlafen zu müssen. Wie unangenehm, ja wie fast unerträglich das werden kann, erfuhr ich auf einer, aber auch nur einer, unserer späteren Reisen, da meine Schlafgenossin im Bett Heringe verzehrte und den Abfall auf den Boden warf, mein Bett als Garderobe benutzte und die Waschgelegenheit in schauderhaften Zustand versetzte. Wenn sie dann in buntschillerndem Seidenkleid und türkischem Schal auf dem Verdeck herumstolzierte, sah man ihr das freilich nicht an.
Da jede Schilderung der Seekrankheit hässlich ist, übergehe ich die zwei ersten Tage mit Stillschweigen. Sie suchte mich jedoch nur wenig heim und ließ meinen lieben Mann fast ganz frei, sodass er sich schon am zweiten Tage ziemlich hoch oben im Takelwerk häuslich niederließ, ein theologisches Buch aus der Tasche zog und ganz gemütlich zu studieren anfing.
„Rrrrrunter da!“, schrie ihm eine vorbeieilende Teerjacke mit gewaltiger Stimme zu, während ein Steward die vielen r ins Deutsche übersetzte und höflich erklärte, das Aufklettern im Tauwerk sei, um der Gefahr willen, den geehrten Passagieren verboten.
Nun, es gab ja schöne, stille Plätzchen genug, da uns erlaubt war, das Verdeck vom Steuerhäuschen an bis zum Kiel nach Belieben zu durchschreiten.
O wie viele herrliche, unvergessliche Stunden haben wir beide, im milden Wintersonnenschein auf einem Anker im Kiel sitzend, auf dieser Reise verlebt! Abgewendet vom Schiff sahen wir nichts vor uns als das unermessliche Meer und den wunderbar blauen Himmel. Da kamen unsere erregten Seelen zur Ruhe.
Waren wir auch fern von der Heimat und allen, die wir dort liebten, so wölbte sich doch derselbe Himmel über uns, derselbe Gott wachte über uns, derselbe Heiland senkte seinen Frieden wieder in unsere von manchem Sturm erschütterten Herzen.
Wenn ich auf dem ungewohnten Sitz ein wenig unsicher und ängstlich war, schlang mein lieber Mann seinen Arm schützend um mich, tröstete mich auch mit liebreichen Worten, wenn das Heimweh sich regte, sodass wir wieder recht eines Sinnes, ja ein Herz und eine Seele wurden, was in den letzten Wochen höchster Aufregung und Unruhe etwas zurückgetreten war.
Von diesem Sitz auf dem Anker und dem Ausblick aufs unermessliche Meer träume ich jetzt als siebzigjährige Witwe noch in mancher Nacht und suche im Erwachen vergebens nach der stützenden Hand.
Doch ich greife vor. Am ersten und zweiten Tage war’s mir noch nicht zumute, bis zum Kiel zu wandern, und ich war recht froh, als die „Westfalia“ im Hafen von Southampton anlegte, wo uns erlaubt ward, auf einige Stunden an Land zu gehen.
Vorher hatten wir einen schönen Blick auf die liebliche Insel Wight gehabt, die in der englischen Geschichte so oft erwähnt wird.
Zwischen hohen, auch im Winter grünen Baumgruppen sahen wir einen starken Turm emporragen. Gern hätte ich gewusst, ob es wohl Carrisbrooke Castle sei, wo man den unglücklichen König Karl I. dreizehn Monate gefangen hielt, ehe man ihn zum Tode führte. Da die Insel aber sehr groß ist, ja sogar vier Städte enthält, konnte mir niemand Bescheid sagen. Wahrscheinlich war’s etwas ganz anderes!
Dagegen gab’s in Southampton allerlei Romantisches zu sehen. Um den Hafen her waren leider viele Arbeiter beschäftigt, alte, interessante Häuser niederzureißen und sehr langweilige, moderne dafür aufzubauen.
Sämtliche Bauleute trugen hohe Zylinderhüte und taten ihre Arbeit in feierliche Stille.
Die kleine ältliche Verkäuferin in einem Bäckerladen, wo wir einige Brötchen kauften, benahm sich ganz gravitätisch als Lady im Spitzenhäubchen, schwarzseidener Schürze und feingestrickten Halbhandschuhen. Doch bediente sie uns gut und entließ uns mit einem tiefen Knicks, obgleich wir den „Green Dutchman“ gar nicht verleugnen konnten und auch nicht wollten.
Tollkühn pilgerten wir weiter durch alte, winklige Gassen und standen oft entzückt vor Mauern, Häusern und Türmen, die wohl ein gutes Stück englischer Geschichte erlebt hatten.
Das Beste war ein großes Tor mit mehreren Ein- und Ausgängen, von einer engen Gasse auf einen freien Platz führend. Altersschwarz, aber vollkommen wohlerhalten stand es da, ein Andenken an Elisabeths Zeit, wie uns ein Vorübergehender sagte.
Sobald ich das wusste, belebten sich die Bogengänge für mich mit den buntesten Gestalten aus jener so interessanten Zeit.
Was mochten die zwei riesengroßen steinernen Ritter, die im Eingang Wacht hielten, gesehen haben? Ob die stolze Königin wohl selbst an ihnen vorbeigerauscht war im goldgesticktem Sammetkleid, geführt von ihrem Günstling Lester, während der junge eifersüchtige Walter Raleigh unter dem Gefolge einherschritt und, die Faust ballend, auf Rache sann?
Aus fernen, neuentdeckten Ländern heimkehrende Schiffer hatte man vielleicht jauchzend durch dieses Tor geleitet; manch fröhlicher Hochzeitszug war dem nahen, jetzt altersschwachen Kirchlein zugewandelt, aber auch der bleiche, zitternde Verbrecher war vielleicht hindurchgeschleppt worden zum grausamen Tode.
So träumten wir, erwachten aber plötzlich mit dem Gedanken, dass die „Westfalia“ schwerlich auf uns warten würde, wenn wir die Zeit der Abfahrt versäumten.
Nach einigen Irrgängen und Fragen, die uns überzeugten, dass unser Englisch viel zu wünschen übrig ließ, erreichten wir den Hafenplatz, wo das gute Schiff noch ruhig lag, um allerlei Waren und etliche neue Passagiere aufzunehmen. Unter den Letzteren befand sich der ungezogenste Junge, den ich mein Lebtag gekannt.
Aber wir sollten, zu unserer großen Freude, nicht nur eine englische, sondern auch eine französische Stadt zu sehen bekommen, da das Schiff am nächsten Tage einige Stunden in der wunderschönen Bucht von Havre lag.
Bei herrlichem Wetter wanderten wir über den Hafenplatz der lieblich gelegenen Stadt zu.
Sofort fiel uns der Unterschied zwischen englischem und französischem Wesen auf. Statt der Zylinderhüte trugen die Arbeiter hier leichtgestrickte Zipfelmützen in allerlei Farben. Es war ein Lachen, Schwatzen, Hüpfen und Singen; man zankte und prügelte sich, um sich im nächsten Augenblick zu umarmen. Dabei aber ward jede Arbeit mit Lust und Gewandtheit verrichtet.
Da mein Französisch damals noch ziemlich frisch war, konnten wir uns hier besser verständigen und fanden bald die schönsten Straßen der Stadt und den großen Marktplatz.
Dort herrschte ein Leben, so heiter und harmlos, wie ich’s sonst nirgends gesehen. Alles hüpfte, lachte, sang und schrie durcheinander, als handle sich’s nicht um Arbeit und Verdienst, sondern um ein Volksfest.
Der azurblaue Himmel, die milde Luft, die Gemüse und Früchte, die man zum Verkauf ausbot, ja auch die leichten blauen Leinenkittel der Händler ließen uns den Winter ganz vergessen.
Am lebhaftesten ging’s auf dem Fischmarkt zu, und das Geschrei: „Poisson fraix, Poisson fraix“ ward uns fast zuviel. Auch war der Anblick der glänzenden, meist sehr großen Seefische, die in mächtigen Behältern herumschwammen, angenehmer als ihr Geruch.
Dem Marktgewühl entfliehend, traten wir leise in eine geöffnete Kirchtür, fanden aber durchaus keine Kunstwerke darin. Aus einer Seitenhalle klangen helle Kinderstimmen, die für mich immer etwas Anziehendes haben.
Ein junger Mönch hatte viele Knaben und Mädchen zum Religionsunterricht versammelt. Er fragte und belehrte sie so sanft und freundlich, und die Kleinen antworteten mit solcher Lust, dass wir uns herzlich gefreut haben würden, wenn er nur das reine, klare Gotteswort in die zarten Herzen gepflanzt hätte. Leider aber handelte es sich um das Leben und die Taten eines sogenannten Heiligen.
Da die Stadt Havre wegen besonders feiner, kunstreicher Juwelierarbeit bekannt ist, betrachteten wir auch eine lange Reihe von Schaufenstern, die mit solchen wunderfeinen Kunstwerken gefüllt waren.
Besonders die zierlichen Schmucksachen, Kästchen und Körbchen aus bunten Seemuscheln in Gold- oder Silberfassung gefielen uns sehr. Gern hätten wir nur ein einziges, ganz kleines Andenken gekauft; doch war der Preis viel zu hoch für unsere nicht allzu reiche Kasse.
Dennoch nahmen wir ein Andenken mit, das nichts kostete und mir noch heute teuer und wert ist. Es war der Blick aufs sonnenbestrahlte Meer, den wir von einem Hügel in nächster Nähe der Stadt genossen. Vollkommene Ruhe herrschte ringsum; wir sahen nichts als die silberhelle, leicht bewegte Flut, von vielen großen und kleinen Schiffen belebt.
Auch wir sprachen nur wenig, drückten einander die Hand und schauten stiller und hoffnungsvoller in die Ferne. Wäre ich ein Maler, könnte ich jetzt noch das Bild zeichnen, so unauslöschlich hat es sich meiner Seele eingeprägt.
Aber nun schnell zurück zur „Westfalia“, wo es gar nicht still, sondern sehr lebhaft zuging, da noch allerlei Kisten, Säcke und viele lange Eisenstangen herbeigeschleppt wurden, sodass man sich vor Kopfstößen hüten musste.
In der zweiten Kajüte aber war ein neuer Passagier angekommen, ein Yankee, der im Schwadronnieren und Renommieren Großes leistete, während seine Frau, eine Französin, still, bescheiden und etwas gedrückt einherging.
Viel älter und weltgewandter als ich, suchte sie doch bald Verkehr mit mir, da ihr mein mangelhaftes Französisch wohl lieber war als gar keins.
So saßen wir oft strickend und plaudernd beieinander, ohne jemand im Wege zu sein, haben aber doch einmal unsern Kapitän zu gewaltigem Zorn gereizt.
Es geschah gegen das Ende der Reise, wo es viel schlechtes, nasses Wetter gab. Da trugen wir beide, die Französin und ich, gern zwei Feldstühlchen auf den breiten Absatz der Kajütentreppe, um ein ungestörtes Plauderstündchen zu halten.
Wohl hatte uns der Obersteward mehrmals gesagt, das sei eigentlich verboten, dennoch saßen wir an einem düstern Regentage wieder an unserm Plätzchen.
O weh! Da erschien oben an der Treppe die wassertriefende Gestalt des Herrschers; seine Augen funkelten und er stieß ein Brummen aus wie ein gereizter Bär.
Eilige Flucht erschien uns als das Beste; aber die unschuldigen Stühlchen flogen uns, von kräftiger Hand geschleudert, nach und zerplatzten in Stücke.
Der Kapitän war verschwunden, nur der Steward sammelte wehmütig die Trümmer und sagte mit seiner sanftesten Stimme: „I told you so!“
Wir beiden Missetäter hatten etwas Angst vor dem gewohnten Abendbesuch des Erzürnten in unserer zweiten Kajüte, doch er war die Freundlichkeit selbst; nur zuckte es wie ein schlaues Lächeln um seine Lippen, wenn sein Blick uns traf.
Da die ersten Tage der Reise vom herrlichsten Wetter begünstigt waren, herrschte fröhliches Leben auf dem Verdeck. Die Kinder spielten, die Jugend sang und scherzte, die Alten saßen plaudernd zusammen, und man rühmte laut, welch herrliches Vergnügen eine Seereise sei.
Seeluft macht hungrig; darum freuten sich alle ganz kindlich, wenn die Essglocke läutete, und die Mahlzeiten waren meist durch interessantes Gespräch gewürzt.
Freilich fehlte es auch nicht an Neckerei. Beim Frühstück, wo es schwarzes und weißes Brot und dazu noch eine warme Speise gab, waren die Semmeln abgezählt, sodass jeder nur eine nehmen durfte. Da fand sich fast immer ein Schelm, der sich zwei zu Gemüte zog, sodass, wer zu spät kam, leer ausging. Das Schicksal hatte meist ein etwas reizbarer Jüngling, der oft die Frühstücksglocke verträumte.
Sofort begann der Streit. „Wo ist meine Semmel? Ich erkläre, es ist eine Schande! Steward, ich wünsche eine Semmel!“
„Es ist keine mehr da, mein Herr.“
„Und das will ein anständiges Schiff sein, wo es nicht einmal eine Semmel gibt?“, schrie der Beraubte händeringend. „Ich dulde es nicht länger; ich beklage mich beim Kapitän, ich verlasse das Schiff!“
„Aber mein Herr“, begütigte der Steward, „dort liegt ja Ihre Semmel ganz ruhig neben Ihrer Tasse!“
So war es auch; der Räuber hatte sie flink aus der Tasche zutage gefördert.
Ein ähnlicher Krieg entbrannte am Abend wegen eines Herings, der plötzlich unser aller Lieblingsspeise geworden war.
Nach dem Mittagessen machten wir gern einen Besuch im Zwischendeck, um den kleinen in Pelz gehüllten Russenkindern ein paar Äpfel und Nüsse zu bringen. Am Eingang stehend, lauerten sie schon darauf.
Diese Russen waren ein seltsames Völkchen. Fast den ganzen Tag lagen sie wie Seehunde auf dem Verdeck rings um die Wärme ausstrahlenden Dampfessen, ohne irgendeine Beschäftigung. Nie sah ich jemand nähen, stricken oder gar lesen!
Nur wenn ihre Essglocke läutete, stürzten sie hinunter, um die Henkeltöpfe zu holen und in langer Reihe zu dem Koch zu wandeln, der aus großem Kessel Erbsen, Sauerkraut oder dicke Grütze, am Abend aber dampfende Biersuppe verteilte.
Freundlich, harmlos und ganz zufrieden war das seltsame Völkchen. Ob es wohl im fernen Nebraska, wohin es zog, eine gute Heimat gefunden haben mag?
Wir Kajütenpassagiere schauten freilich mehr ins Weite als diese seltsamen Pelzemärtel und fanden gar viel zu bewundern.
Zuerst entzückten uns die schneeweißen Möwen, die ihre Nester freilich in den Felslöchern des Strandes haben, aber den Schiffen sehr weit hinausfolgen und im Fluge gar prächtig aussehen.
Als uns endlich die letzte verlassen hatte, gab es ganze Heere sogenannter Springfische zu beobachten, die, hoch aus dem Wasser emporschnellend, in weitem Bogen in die Flut zurücktauchten.
Einmal rief ein kleiner Junge ganz entzückt:
„O Mama! Sieh doch, sieh! Dort ist ein Springbrunnen auf dem Meere!“
Ja, ziemlich weit vom Schiff entfernt stieg wirklich ein schäumender Wasserstrahl aus den Wellen empor. Bald belehrte man uns, dass dort ein Walfisch sei, der in gewohnter Weise das eingesaugte Wasser wieder ausspritze.
Dadurch ward eine zarte Dame in große Aufregung versetzt, da sie fürchtete, der Walfisch werde die ganze „Westfalia“ auf den Rücken nehmen und im Abwerfen zerschmettern.
Aber das Allerbeste in dieser schönen Reisezeit waren die Abende. nach dem Essen, wenn sich unsere Reisegenossen zu Schach-, Dame- oder Kartenspiel zurechtsetzten, auch wohl rauchten, disputierten oder lasen, schlüpften wir und zwei oder drei Auserwählte noch einmal hinaus aufs Verdeck.
O wie feierlich strahlten Mond und Sterne! Wie geheimnisvoll rauschten die Wellen! Und dort in einer geschützten Ecke hinter einem Kajütenkopf saß der wackere Kapitän mit etlichen Passagieren und einem Schiffsbeamten, der uns besonders wohlgefiel.
Für uns war stets noch Platz, und, zugedeckt mit meines Mannes altem Plaid, lauschte ich als einzige Frau dem geistvollen, oft hinreißenden Gespräch dieser braven Männer.
Meist erzählten sie von ihren Reisen und Abenteuern, nicht in renommistischer Weise, sondern malerisch, begeistert und oft poetisch. Gelegentlich war auch die Rede von allerlei Aberglauben des Schiffsvolks, vom Klabautermann, von Nixen und Meergeistern.
Dann klammerte ich mich beim Hinabgehen fest an meines Mannes Arm, und die Gespenster besuchten mich im Traum noch einmal.
Zuweilen ergriffen auch andere Weitgereiste das Wort, immer aber blieb die Unterhaltung höchst interessant.
Da mein lieber Mann noch keine Abenteuer, weder zu Wasser noch zu Lande, zu berichten hatte, sprach er nur wenig, war bei allen aber wohlgelitten und ward „der kleine Pastor“ genannt, obgleich er ebenso groß war wie der Kapitän.
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Tag der Veröffentlichung: 05.03.2013
ISBN: 978-3-7309-1365-9
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