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ZUM BUCH

Benno wird von seinem hartherzigen Onkel, einem Hamburger Senator, wegen eines geringfügigen Vergehens nach Rio verbannt, flüchtet dort und schließt sich einem um sein Vermögen gebrachten Kunstreiter bei der Suche nach dem gestohlenen Schatz an.

Was Benno findet, ist etwas ganz anderes …

 

Coverbild: Macrovector / Shutterstock.com

 

 

EINS

Es war im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts. Über die grünbelaubten Wälle der alten Hansestadt Hamburg schlenderte eine Anzahl halberwachsener Knaben, die sämtlich einer der Oberklassen des Gymnasiums anzugehören schienen. Einer aus der Schar überragte um Kopfeslänge seine jugendlichen Genossen; seine blauen Augen lachten lustig in die Welt hinein, das rosige Gesicht zeigte Kraft und liebenswürdige Offenheit zugleich. Das war Benno Zurheiden, der Neffe des gleichnamigen Großkaufmanns und Senators, in dessen Haus der Knabe erzogen wurde.

Jetzt blieb er plötzlich horchend stehen. „Auf dem Heiligengeistfelde geht irgendetwas vor“, rief er. „Ich sehe Laternen und höre eine Stimme, die fortwährend zu befehlen scheint.“

„Auch Hammerschläge“, setzte ein anderer hinzu.

„Und da wieherte eben ein Pferd.“

„Wenn es Kunstreiter wären!“

Das Wort elektrisierte alle. Die Knaben stürmten hinaus und sahen dann rechts hinter dem breiten Stadtgraben eine Szene, die ihr lebhaftestes Interesse erregte. Gelb und blau angestrichene, mit Fenstern und Schornsteinen versehene Wagen standen im Hintergrunde einer hölzernen, noch im Bau begriffenen kreisrunden Bude, die jedenfalls als Zirkus dienen sollte; mehrere Pferde, ein Esel und allerlei sonstige Vierfüßler waren an Pflöcke gebunden, während einige Affen, in rote Lappen gehüllt, trübselig auf dem Deckel einer großen Kiste hockten und offenbar den milden Sommerabend für ihre Neigungen noch zu kühl fanden. Kinder tummelten sich zwischen den Wagen im Gras; mehrere Männer, mit Beilen und Hämmern versehen, arbeiteten eifrig an den Wänden der Bretterbude, die bis zum nächsten Abend nicht allein fix und fertig dastehen, sondern auch, mit allerlei fadenscheinigem Aufputz behangen, als Schauplatz der Eröffnungs-Galavorstellung dienen sollte.

Bennos Blicke überflogen neugierig die von einigen Blechlaternen ziemlich ungenügend beleuchtete Szene. „Prachtvolle Pferde!“, flüsterte er. „Ach, wenn der Rappe mein Eigentum wäre!“

Benno deutete auf den angepflockten Esel. „Der Graue ist jedenfalls darauf abgerichtet, seinen Reiter, sobald er ein bestimmtes Zeichen erhält, in den Sand zu werfen – ich möchte einmal die Sache probieren.“

Nun näherten sich alle Knaben den arbeitenden Männern, besonders dem, der als Anführer aller Übrigen den Bau zu leiten schien.

„Guten Abend, meine jungen Herren!“, grüßte er, die Pfeife sekundenlang aus dem Munde nehmend. „Wollen Sie sich die Pferde einmal ansehen? Kommen doch morgen sämtlich zur ersten Vorstellung, he?“

„Das wissen wir noch nicht“, versetzte Benno. „Was ist es denn mit dem Esel, Herr Direktor, macht er Kunststücke?“

Der Mann mit dem pechschwarzen Haar und der südlich-braunen Gesichtsfarbe schmunzelte: „Kunststücke? Der da? Ich glaube nicht. Es ist der eigensinnigste und bösartigste Esel, den man jemals sah; noch nie gelang es einem Reiter, sich auf seinem Rücken im Sattel zu halten.“

Benno erklärte: „Ich möchte die Sache doch einmal probieren!“

„Sehr gern“, lachte der fahrende Gaukler. „Geben Sie ein Trinkgeld, junger Herr?“

Benno reichte dem Manne vier Schillinge. „Was zahlen Sie, Herr Direktor, wenn ich Ihren Esel auf und ab reite, ohne in den Sand gesetzt zu werden?“

„Tausend Taler!“, versetzte mit vieler Würde der braune Geselle. „Sie können meine Ankündigung täglich auf allen Zetteln lesen.“

„Holen Sie gefälligst das Geld aus dem Kasten, Herr!“

Die Kunstreiter lachten; der Direktor sattelte den Esel und brachte ihn herbei, dann nahm er aus der Kiste eine kurze Lederpeitsche, mit der er herausfordernd klatschte. „So, Rigolo, mein Tierchen, nun sei einmal recht liebenswürdig gegen den hübschen, jungen Herrn, recht sanft und nachgiebig, hörst du!“

Moritz und die übrigen Knaben flüsterten miteinander. „Nimm dich in acht, Benno!“, sagte einer. „Das Tier sieht böse aus.“

„Lammfromm ist es, ein abgetriebener, schlecht gefütterter Bursche. Passt auf, wie ich ihn regieren will!“

Er gab das Zeichen, und Rigolo setzte sich in langsamen Trab. Der Graue schien harmlos wie ein zahmes Hündchen zu sein.

Aber Benno ließ sich keineswegs täuschen, er beobachtete auf das Schärfste jede Miene und jede Bewegung des Direktors, der sich nach den Schritten des Esels im Kreise drehte und fortwährend mit der Peitsche dieselbe Figur beschrieb, ein leichtes Heben und Senken durch die Luft. Der Gaukler wollte einen glänzenden Sieg feiern, daher ließ er dem Knaben Zeit, sich für sicher zu halten. Und jetzt! Wie zufällig, nur sekundenlang hob sich die Peitsche kerzengerade empor, im gleichen Augenblick stieg mit plötzlichem Ruck, der Esel, sodass Benno unfehlbar in den Sand gepurzelt wäre, wenn er sich nicht auf diesen Fall vorbereitet hätte. Wie eiserne Schrauben pressten seine Muskeln die Weichen des Tieres; es war genötigt, sich zu seiner eigenen Rettung schleunigst wieder auf alle vier Füße zu stellen.

Der Direktor verzog das Gesicht. „Sie haben einen famosen Sitz“, sagte er. „Am Ende bleibt es Ihnen vorbehalten, den eigensinnigen Rigolo doch noch zu zähmen.“

Benno nickte, er klopfte den Hals des Esels. „Möglich“, antwortete er kurz. „Weiter, mein gutes Tier!“

Die Peitsche des Direktors hob und senkte sich schneller, dann stieg sie urplötzlich wieder in die Luft empor und das Spiel von vorhin geschah zum zweiten Mal. Rigolo konnte weder seinen Reiter absetzen noch sich selbst zu Boden werfen.

Das Tier zitterte jetzt am ganzen Körper, es schlich zu seinem Pflock und war zu keinem weiteren Schritt mehr zu bewegen.

Benno sprang zu Boden. „Jetzt meinen Lohn, Herr Direktor!“, rief er mit lachender Stimme. „Sie sind alle Zeugen, dass mich Rigolo nicht abwerfen konnte.“

Der Mann mit der Peitsche war blass bis in die Lippen. „Mein Zirkus ist noch nicht eröffnet“, stammelte er. „Es war also mit den tausend Talern –“

„Nur ein Scherz natürlich. Aber dennoch beanspruche ich einen Lohn, Herr Direktor!“

„Welchen, junger Herr?“

„Sie sollen mir versprechen, den armen Rigolo nicht zu schlagen!“

Ein Blitz brach aus den Augen des braunen Gesellen, um seine Lippen schwebte ein zufriedenes Lächeln. „Und das ist alles?“, rief er.

„Das ist alles!“

„Topp! Schlagen Sie ein – ich mag Sie leiden, junger Herr! Welch einen famosen Kunstreiter würden Sie abgeben.“

Benno lachte. „Viel Ehre!“, sagte er gutgelaunt.

Während die jugendliche Schar jetzt nach verschiedenen Richtungen auseinander ging, hatte Benno im Sturmschritt die innere Stadt durchmessen und nach einer Viertelstunde den Alten Wandrahmen erreicht. Hier lag noch dunkler und schwärzer in der umgebenden Finsternis das Haus seines Onkels, das hohe alte Haus von holländischer, den massiven Giebel der Straße zukehrender Bauart. Der Messingklopfer an der eisenbeschlagenen Doppeltür trug einen Drachenkopf, und die Scheiben der Fenster waren in Blei gefasst.

Benno schlüpfte in den schmalen, dunklen Gang, der das Zurheidensche Erbe von dem Nachbarhause trennte; geräuschlos schlich er bis auf den Hof und klopfte hier leise an ein beleuchtetes Kellerfenster. „Ich bin es, lass mich hinein.“

Das Licht verschwand und bald danach wurde die Hoftür vorsichtig geöffnet. Ein älterer Mann begrüßte freundlich den Knaben, dem er liebkosend die Schulter klopfte. Na, wo bist du denn heute gewesen, mein Junge? Du siehst mir ja gar nicht so recht vergnügt aus.“

Benno seufzte. „Harms“, sagte er, „ich möchte gern noch ein halbes Stündchen mit dir plaudern.“

„Nun, dann komm nur mit; die alte Margarete ist doch noch nicht zu Hause. Was fehlt dir denn aber, Junge?“

„Gar nichts. Ich dachte nur so zufällig heute Abend an allerlei Dinge, fremde und eigene. Erzähle mir ein wenig von meinem verstorbenen Vater!“

Der Diener schien zu erschrecken, er nahm die Pfeife aus dem Munde und sah sinnend vor sich hin. „Von deinem Vater, Benno? Ach, das war ein gar lieber Herr.“

„Das sagtest du mir schon häufig, Harms, die Großmutter hat mir auch zuweilen sein Porträt gezeigt und jedes Mal dabei sehr geweint, aber Näheres, Genaueres konnte ich weder von ihr noch von dir erfahren. Es gibt mit Bezug auf meinen Vater irgendetwas, das verschwiegen oder bemäntelt werden muss.“

Harms schüttelte den Kopf. „Ganz und gar nicht. Damit du dir nicht allerlei Geschichten zusammengrübelst und am Ende deinen armen Vater für einen schlechten Menschen hältst, will ich dir lieber reinen Wein einschenken. Seit drei Jahrhunderten haben die Zurheidens hier in Hamburg fleißig auf dem Kontorbock gesessen und gerechnet und geschrieben, dass ihnen die Finger knackten. ‚Zurheiden und Söhne‘ hieß die Firma, alle waren Kaufleute und Schiffsreeder, bis dein Vater kam, der hatte andere Absichten, und das war sein Verbrechen. Er konnte kein Geld festhalten, er liebte den Sonnenschein und das frohe Lachen, während sein Bruder nur an den Gewinn dachte, an Zahlen, Zahlen und immer wieder Zahlen. Da vertrugen sich die beiden denn sehr schlecht, das kannst du wohl denken, sie sind auch schließlich in Unfrieden auseinander gegangen.“

„Mein Vater starb also nicht hier im Hause?“

Harms sah wie zufällig zur Seite. „Nein“, sagte er einsilbig.

„Aber was war er dann, was betrieb er?“

Der Diener zuckte die Achseln. „Hat hier studiert, dort studiert – sehr viel Geld verbraucht.“

Benno fuhr mit der Hand über die Stirn. „Harms“, fragte er, „war mein Vater ein Verschwender?“

Der Alte nickte. „Das war er, Junge. Ein guter, herrlicher Mensch, ein treuer Freund und durch und durch ehrenwerter Charakter, aber das Geld schien zwischen seinen Fingern förmlich zu schmelzen. Basta. Nun geh hinauf und sieh nach an der gewohnten Stelle, ich habe dir da eine Hand voll Pflaumen versteckt.“

Benno erhob sich. „Du meinst, ich soll gar nicht erst ins Wohnzimmer gehen, Harms?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Nein, mein Lämmchen, nein, ich glaube, das Wetterglas steht heute auf Sturm.“

„Meinetwegen?“, fragte unruhig der Knabe.

„Das wohl nicht, aber die beiden alten Leute scheinen aufgeregt, sie wechseln allerlei scharfe Redensarten; weshalb wolltest du dich also hineinmischen?“

„Sicherlich nicht. Gute Nacht, Harms!“

Der Knabe stieg die Stufen bis zur ersten Etage empor und blieb plötzlich vor der Tür des Wohnzimmers stehen. Er hatte gehört, dass drinnen jemand seinen Namen aussprach, der Senator selbst sogar.

„Weshalb weinen Sie, Mama?“, hatte der Senator gesagt. „Ist es Bennos wegen?“

Und dann antwortete eine leise, kaum verständliche Frauenstimme: „Weshalb sollte ich Bennos wegen weinen, Johannes? Ist er nicht ein guter, prächtiger Junge? Aber du liebst ihn nicht, du verfolgst noch in dem schuldlosen Kinde das Andenken des Vaters, den deine Härte, deine Unduldsamkeit in den Tod getrieben hat.“

Der Senator lachte spöttisch. „Vorwürfe?“, sagte er in scharfem Tone. „Wahrhaftig, man könnte mit größerem Rechte behaupten, dass das Andenken des Verstorbenen bis zu dieser Stunde die Gegenwart mit allerlei Verdrießlichkeiten erfüllt. Und nun weiß ich denn auch schon, weshalb Sie weinen –es ist heute Theodors Geburtstag, nicht wahr, Mama?“

Ein Schluchzen erklang drinnen im Zimmer.

Der Senator ging immer auf und ab. „Ich liebe ihn nicht, den Jungen“, begann er endlich wieder in demselben scharfen, unfreundlichen Tone. „Ich liebe ihn nicht, das sagen Sie mir, als sei es ein Unrecht, eine Versündigung sogar. Natürlich, wenn man eine Anklage schmieden will, so ist jedes Mittel das richtige. Aber wie lange meine Geduld diesen Zuständen gegenüber noch andauert, das weiß ich nicht. Gestern begegnete mir Bennos Klassenlehrer, der –“

„Der dir doch von dem Knaben nur Gutes gesagt haben kann!“

„Das weiß ich noch nicht, Mama. Wenigstens in meinem Sinne nicht. Benno lernt spielend seine Aufgaben, er ist der Primus der Klasse, er bleibt nie eine Antwort schuldig, aber er neigt zum Leichtsinn. Jede Torheit seiner Genossen hat er angestiftet, jeder dumme Streich ist ihm willkommen. Einen Menschen, der so zum Leichtsinn neigt, kann ich im Kontor nicht brauchen. Ich denke, den Jungen in fremde Hände zu geben.“

Ein erstickter, unverständlicher Laut klang von den Lippen der alten Frau.

„Sie sollten sich nicht so unnötig aufregen, Mama! Gute Nacht jetzt, ich schicke Ihnen das Mädchen.“

Er ging zur Klingel, und Benno huschte geräuschlos die Treppen hinauf in sein eigenes Zimmer. In seinem Kopfe wirbelten die Eindrücke dieses Abends bunt durcheinander. Immer wieder dachte er an seinen Vater, an die bittere Verachtung, mit welcher der Senator von ihm gesprochen, und an den tiefen Groll, der offenbar seine Seele erfüllte. Wieder sagte sich Benno, dass hier ein Geheimnis, ein böses, trauriges Geheimnis zugrunde liegen müsse …

In der Klasse wurde am folgenden Morgen nur von den Kunstreitern gesprochen; jeder der Knaben wollte den Zirkus besuchen, beinahe in jedem vornehmen Hause der Stadt war Ramiro selbst gewesen und hatte mit größter Zungengeläufigkeit seine Eintrittskarten zum Verkauf angeboten. Wieder wurde Benno gefragt: „Nimmt denn dein Onkel keine?“

Und der Knabe schüttelte den Kopf. „Einen Menschen wie den Kunstreiter lässt er überhaupt nicht vor.“

„Du gehst mit uns!“

Benno schüttelte den Kopf. „Nein! Das ist unmöglich.“

Dennoch wuchs, je weiter der Tag vorrückte, die Sehnsucht nach dem Anblick der Vorstellung. Diese schönen Pferde, wie sie wohl dahinfliegen würden unter dem rauschenden Applaus der Menge!

Pferde waren Bennos große Leidenschaft.

Ich kann doch immerhin nach St. Pauli gehen, dachte er. Weshalb nicht? Es ist mir nie verboten worden.

Dann verließ er geräuschlos das Haus.

Zahlreiche Jungen hingen an den Pfählen des Zirkus und versuchten einen Einblick in die Wunder des umschlossenen Hofes zu erlangen, bis sich hinter den Brettern plötzlich ein mit einer riesigen Peitsche bewaffneter Arm drohend erhob.

Der Arm mit der Peitsche war mit fleischfarbenem Trikot bekleidet, und als zufällig sein Eigentümer einmal über die Planke sah, da begegneten Bennos und Señor Ramiros Blicke einander aus nächster Nähe.

Der Direktor grüßte. „Hier nebenan ist die Seitenpforte, junger Herr! Bitte, treten Sie näher.“

Bennos Herz schlug schneller. Er sollte also mehr sehen, als alle, die später an der Kasse bezahlen würden – die Kunstleistungen der Truppe und ihr privaten Leben zwischen den bunten Wagen, den Packkisten und den Tieren.

Er müsste kein geweckter und lebensfroher Junge von sechzehn Jahren gewesen sein, wenn ihn dieser Gedanke nicht unwiderstehlich angezogen hätte. Die Mütze abnehmend, fragte er: „Wünschen Sie mich zu sprechen, Herr Direktor?“

„Ganz notwendig sogar. Bitte!“

Die Pforte wurde von innen geöffnet.

Ramiro drückte ihm kräftig die Hand. „Willkommen!“, sagte er. „Wie heißen Sie eigentlich?“

Benno nannte seinen Namen. „Was wollten Sie mir mitteilen, Herr Direktor?“, fragte er.

„Etwas sehr Wichtiges. Kommen Sie aber zunächst mit mir, ich möchte Sie der Frau Direktorin und meiner Tochter vorstellen.“

Benno folgte dem vorausschreitenden Manne und begrüßte höflich eine Gesellschaft von Personen, die da in gar sonderbarer Weise zwischen den Wagen ihr Wesen trieb.

Bei der milden Wärme des Abends vollzog sich das gesamte Leben und Treiben des fahrenden Völkchens draußen im Freien. Da sah man Schlangenmenschen in schuppigem Gewande, den Athleten in schäbigem Trikot mit noch schäbigerem Samtputz und den weiß angestrichenen Hanswurst mit Zipfelkappe. Ein Mädchen im Gewande einer Spanierin schälte eifrig Kartoffeln, und eine Riesendame in Purpurseide – sechs Fuß hoch – rührte in dem über einem qualmenden Holzfeuer aufgehängten Kessel. Dazwischen spielten Kinder; gelehrte Ziegen mit vergoldeten Hornspitzen weideten friedlich das zertretene Gras, während ihr Genosse, der buchstabierende Pudel, in einer Ecke lag und einem längst abgenagten Knochen vergeblich noch ein genießbares Fäserchen zu entreißen suchte.

„Mir ist ein genialer Gedanke gekommen!“, sagte an Bennos Seite der Direktor, „ein Gedanke, so recht meiner würdig!“

Die löffelschwingende Riesendame probierte ein Tröpfchen des Gemisches. „Prosit!“, rief sie. „Das für deinen Einfall, Ramiro!“

Nun lachten alle. „Ich danke dir, Juanita, meine Gemahlin!“, versetzte mit elegantem Aufschwung der Kunstreiter, „ich danke dir, obgleich mir dein Glückwunsch anstatt in edlem Weine in ganz gemeiner Grütze zugetrunken wird. Und nun urteile selbst, Frauchen, wie dir meine Idee gefällt. Nicht wahr, Kinder, es werden tausend Taler demjenigen versprochen, der dreimal auf Rigolos Rücken die Bahn zu durchreiten vermag?“

Madame Juanita seufzte ein wenig. „Versprochen!“, wiederholte sie in gedehntem Tone. „Ja!“

Die Übrigen lachten, nur Ramiro blieb bei seinem unerschütterlichen Ernst. „Wohlan“, fuhr er fort, „es werden sich wie gewöhnlich einige Wagehälse melden und bei der zweiten Tour in den Sand fallen. Soweit wäre alles nur das Altgewohnte, jetzt aber kommt mein Vorschlag. Sie, junger Herr, treten ganz plötzlich durch eine Nebentür, anscheinend aus der Mitte des Publikums in die Bahn hinein und –“

„Um Gottes willen!“, rief Benno. „Ich sollte vor aller Augen den Esel besteigen? Wohin denken Sie, Herr?“

„Still! Es ist ja noch etwas ganz Besonderes, ganz Unerwartetes dabei. Nachdem Männer und Knaben in den Sand gepurzelt sind, erscheinen Sie als altes Weib mit ungeheurer Haube, geschminktem Gesicht und einer riesigen Küchenschürze. Als Peitsche gebrauchen Sie einen Schaumlöffel oder einen Besen. Ist das nicht ein großartiger Gedanke?“

Madame Juanita, der Athlet und der Schlangenmensch klatschten vergnügt in die Hände.

Nun erhielten Bennos Wangen eine ziegelrote Färbung, auch die Nasenspitze bekam ihren Klecks, dann folgten dicke kohlschwarze Augenbrauen, und als unser Freund in einen vorgehaltenen Spiegel sah, glaubte er sein eigenes Gesicht nicht mehr erkennen zu können.

„Jetzt die große Haube!“, befahl Ramiro. „Es ist doch eine vorhanden? Und eine Küchenschürze?“

Ein junges Mädchen brachte beides, auch das aus buntem Stoffe gefertigte und vielfach mit Flecken von anderer Farbe ausgebesserte Frauenkleid.

Benno warf den Rock ab und die Ausstaffierung begann. Wie lachten der Athlet und der Schlangenmensch, wie hüpften die Kinder vor Vergnügen! Dann kam eine Likörflasche zum Vorschein, die aus der Hand des Direktors von Mund zu Mund wanderte. „Auf gutes Glück für die Vorstellung!“

Draußen vor der Tür hatte sich längst die schaulustige Menge versammelt. Bei den verheißungsvollen Klängen der Trompete stürzte sie sich gleich einer plötzlich entfesselten Wasserflut in das Innere der Holzbaracke.

Benno war hinter den Vorhang zurückgetreten, sodass er alles überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Da kam seine ganze Klasse angerückt, Mann für Mann, alle mit freudestrahlenden Gesichtern. Sie unterhielten sich laut miteinander und mehrere Male hörte Benno seinen Namen, der immer in bedauerndem Tone ausgesprochen wurde. „Wäre er doch hier! Man muss über seine Witze so herzlich lachen!“

Allmählich füllte sich der Zirkus bis auf den letzten Platz. Ramiro schmunzelte vor Vergnügen. Das Geschäft blühte augenscheinlich.

Dann kam die erste Nummer. Pierrot machte seine Dummheiten, fiel zwischen zwei Stühle und bekam schmähliche Prügel; die Affen schossen Pistolen ab und trommelten, die Ziegen standen mit allen vier Füßen auf Tellern, die ihrerseits auf Flaschenhälsen balancierten. Nach dem Schlangenmenschen und den Clowns kam Rigolo an die Reihe.

Heute wedelte er freundlichst mit dem Schweife und schien so harmlos wie ein zahmes Schoßhündchen.

Die Knaben stießen einander an und ermutigten sich gegenseitig; der Direktor bot lächelnd, als handle sich’s um eine Anzahl Strohhalme seine tausend Taler aus, und in der Ecke hinter dem Vorhang faltete Madame Juanita vor Entsetzen die Hände. „Wenn einer dieser kecken jungen Schlingel den Widerstand des Esels besiegen würde? Was dann?“

Vorläufig sah es allerdings nicht danach aus. Moritz Dehnhardt, Bennos intimster Freund hatte sich zum Ritt gemeldet und war auf das heimliche Zeichen hin schmählich in den Sand gesetzt worden; dann folgte Hermann Bärenberg, den ein gleiches Schicksal ereilte, und nach ihm fand keiner mehr den Mut, sich der Tücke des grauen Vierfüßlers anzuvertrauen. Señor Ramiro streckte den Arm aus. „Will niemand von den Herrschaften mehr sein Glück versuchen? Tausend Taler, wer den Esel dreimal um die Bahn reitet. Tausend Taler, meine Herrschaften!“

Das war Bennos Stichwort, er wusste es, und der ganze Übermut seiner sechzehn Jahre erwachte. Das Kleid an beiden Seiten fassend, bald laufend, bald stehen bleibend, begab er sich in die Reitbahn und sah ringsumher, als sei er unsicher, ob man das Wagnis erlaubt finden werde oder nicht. Madame Juanita hatte ihm den großen Grützelöffel in die Hand gedrückt, und so bewaffnet näherte er sich dem Esel, der vor Schreck ein lautes: „Jaa! Jaa!“ hören ließ, worauf er schleunigst Reißaus nahm.

Ein unaufhörliches Gelächter des Publikums begleitete diese Flucht, von der jeder Einzelne annahm, dass sie sorgfältig einstudiert sei. Stöcke und Füße trommelten in ohrenzerreißendem Getöse auf den Bretterboden; der Esel wurde stürmisch gerufen.

„Rigolo heraus! Rigolo heraus!“

Pedrillo hatte ihn draußen eingefangen und brachte jetzt den Widerstrebenden zurück. Der Direktor hielt ihn am Zügel, bis Benno den Sitz gewonnen hatte, und nun begann der Ritt durch den kreisrunden Raum, wieder mit allen Zeichen der entsetzlichsten Angst des Esels, wieder mit seinem kläglichen Geschrei, das indessen von dem tobenden Gelächter der Zuschauer vollständig übertönt wurde.

Rigolo sah den erhobenen Peitschenstiel und schüttelte den Kopf, während Bennos Klassenkameraden in ein lautes Hurra ausbrachen. Sie mochten in den Frauenkleidern ihren kecken Primus erkannt haben; ein betäubender Lärm verkündete die ungeheure Heiterkeit, von der sie beseelt waren, aber auch zugleich die Gefahr, in der Benno während dieses Triumphzuges schwebte.

„Er ist es!“, hörte er zischeln. „Er ist es!“

„Hurra, Benno, Hurra!“

„Dakapo!“, schrien zahllose Stimmen. „Dakapo!“

In dem Durcheinander von Stimmen lenkte Benno den Esel zur Ausgangstür, wo ihn der Athlet in Empfang nahm, während unser Freund seine ungeheure Haube vom Kopf riss und in einem Stalleimer das erhitzte Gesicht von der darauf haftenden Farbe reinigte. Ein zweites Mal das Kunststück zu probieren, wagte er nicht; die Kameraden hatten gar zu unvorsichtig seinen Namen genannt.

„Morgen Abend folgt die Fortsetzung, nicht wahr?“, lächelte der Schlangenmensch. „Sie waren der Glanzpunkt der Vorstellung.“

Aber Benno schüttelte energisch den Kopf. „Es ist ganz unmöglich“, sagte er. „Ich habe von vornherein ausgemacht, dass sich die Sache nicht wiederholen dürfe. Wahrhaftig, Madame, besäße ich Geld, so würde ich es Ihnen für Ihr krankes Kind mit Vergnügen geben, aber nochmals den Esel reiten kann ich nicht.“

Dann reichte er nacheinander den verschiedenen Gliedern der Truppe zum Abschied die Hand, bat den Direktor zu grüßen und ging zur Pforte, um sich schleunigst auf den Heimweg zu machen. Er wandte sich in der Absicht, im Sturmschritt die Langereihe hinab zu laufen und dann rechts ab im weiten Bogen das Altonaer Tor zu umgehen. Da tauchte plötzlich hinter ihm ein älterer Mann auf. Es war Herr Mählmann, im Kontor von Zurheiden und Söhnen seit länger als einem Menschenalter das Faktotum, die rechte Hand des Chefs, ebenso menschenfeindlich und übertrieben sparsam wie Herr Johannes, ebenso abgeneigt aller Lebensfreude wie dieser.

Er zog das Kinn ganz in die Halsbinde hinein, stellte den Stock energisch auf das Pflaster.

„Na, Mosjö!“, sagte er. „Was sind denn das für Geschichten? Wie kommen wir gegen Mitternacht hierher nach St. Pauli? He?“

„Meine Uhr zeigt zwanzig Minuten über zehn.“

Herr Mählmann stieß wieder seinen Stock auf das Pflaster. „Nun?“, fragte er. „Wissen etwa der Herr Senator, dass wir uns um diese Zeit vor den Toren der Stadt befinden? Wie steht es damit, he?“

Benno hatte jetzt dem Unvermeidlichen gegenüber die verlorene Fassung wiedererlangt. „Herr Mählmann“, antwortete er möglichst ruhig, „ich habe mich auf einem Ausgange mit meinen Kameraden ein wenig verspätet, das ist alles. Vor das Tor zu gehen, wurde mir niemals verboten.“

„Auch zu dieser Stunde? Was? Jedenfalls werde ich dem Herrn Senator Mitteilung machen. Muss die Geschichte melden, geht nicht anders. Und nun vorwärts!“

Benno seufzte heimlich. Er wusste, fühlte, dass ihm Böses bevorstand; beinahe mit Grauen sah er etwas später die dunklen Umrisse des Hauses am Alten Wandrahmen vor seinen Blicken auftauchen.

Stunden vergingen, ehe er einschlief, um dann verworrenes Zeug zu träumen. Am anderen Morgen schmerzte sein Kopf, aber trotzdem ging er zur Schule. So im Hause ganz allein dazusitzen, das hätte er nicht ertragen.

Ein langer, banger Tag! Aber die Stunden vergingen, und endlich musste der Heimweg angetreten werden.

Vor der Tür stand Harms; das gute alte Gesicht schien heute sehr unruhig. „Du“, raunte er, „der Senator hat nach dir gefragt, du sollst gleich zu ihm kommen. Was bedeutet denn das, Junge?“

Benno legte die Schulbücher auf einen Tisch, umsogleich in das Wohnzimmer zu gehen.

Als er die Tür öffnete, sah er seinen Onkel mitten in dem großen Raume auf und ab gehen, während die Großmutter im Lehnstuhl am Fenster saß und mit unruhigem Blick ihren Enkel erwartete. Der linke Arm der mehr als achtzigjährigen Dame war gelähmt, er lag auf der breiten Kante des Stuhles.

Bei Bennos Eintritt sagte die Greisin: „Johannes, sprich freundlich mit dem armen Jungen.“

Der Senator zuckte die Achseln. „Ich werde gerecht urteilen, Mama“, versetzte er. „Das ist mehr als alle Freundlichkeit.“

„Komm einmal hierher“, wandte er sich dann zu dem Knaben. „Ich möchte von dir eine Aufklärung haben. Mählmann sagt mir, er habe dich gestern Abend gegen halb elf Uhr vor dem Millerntore getroffen. Verhält sich das so?“

„Ja, Onkel.“

„Ah! Und wo warst du zu dieser späten Stunde gewesen?“

„In – einem Zirkus auf dem Heiligengeistfelde, Onkel!“

Der Senator horchte plötzlich auf. „Was ist das? Bei Kunstreitern oder dergleichen? Natürlich gab dir Harms das dafür notwendige Geld?“

„Harms weiß bis zu dieser Stunde von der ganzen Sache nichts.“

„Nun gut! Also wer gab dir das Geld?“

„Niemand – ich habe kein Eintrittsgeld bezahlt. Der Direktor, oder vielmehr – ich – kam zufällig in den Zirkus, Onkel.“

„Ach, dann zählen vielleicht diese Vagabunden, denen man mit der Hetzpeitsche den Weg zeigen sollte, zu deinen persönlichen Bekanntschaften? Der Sohn des Hauses Zurheiden ist in das Seitenpförtchen geschlüpft, steht mit den Gauklern von der Landstraße auf intimstem Fuße, macht ihnen freundschaftliche Besuche, wie?“

„Ich bin im Ganzen zweimal dagewesen, Onkel.“

„Und wozu, wenn man fragen darf? Gedenkst du dich zum Kunstreiter ausbilden zu lassen?“

Benno sah festen Blickes von einem der beiden alten Leute zum anderen. „Großmama“, sagte er dann, „ich will Ihnen alles gestehen. Einmal, ein einziges Mal habe ich auf dem Esel geritten, mehr nicht. Es war natürlich nie meine Absicht, aber die Leute baten mich so inständig, sie hofften auf eine erhöhte Einnahme – für ein todkrankes Kind – und da – ließ ich mich überreden, aber –“

„Herr des Himmels!“

Jetzt war es der Senator, welcher einen Schrei hervorstieß, er trat seinem Neffen näher, er legte schwer die Rechte auf dessen Schulter.

„Du hast in der Vorstellung mitgewirkt? Du hast – o nein, nein, es ist unmöglich!“

„Vergib es mir, lieber Onkel! Ich sagte ja schon, dass –“

Aber der Senator unterbrach ihn. „Genug, genug, jetzt ist meine Geduld vollständig erschöpft. Nur noch eins will ich wissen, ob du nämlich –“

„Höre mich doch an, Onkel! Es war –“

Eine herrische Bewegung schnitt ihm das Wort ab. „Erspare mir diese schimpflichen Einzelheiten, Bursche! Du hörst, dass ich nur eins noch erfahren will, das aber auch unbedingt. Wurdest du für deine Leistungen als Hanswurst bezahlt? Hast du Geld erhalten?“

„Aber, Onkel, ich –“

„Antworte mir! Hast du Geld erhalten? Ja oder nein?“

„Natürlich nicht. Die ganze Sache dauerte zehn Minuten. Ich ritt auf –“

Beleidige mein Ohr nicht!“, donnerte der Senator. „Ich habe jetzt genug gehört, du kannst das Zimmer verlassen.“

Benno näherte sich dem erbosten Manne. „Willst du mir nicht diesmal noch verzeihen, Onkel?“, sagte er mit bebender Stimme. „Ich verspreche dir, von jetzt an mit mehr Überlegung zu handeln.“

Zurheiden schüttelte den Kopf. „Nein!“, antwortete er mit hartem, kaltem Tone. „Nein, denn du hast meinen Namen, mein ganzes Haus auf das Tödlichste beschimpft. Nein! Denn solche Versprechungen sind keinen Pfifferling wert. Dein Vater gab sie zehnmal, zwanzigmal – und fiel in den Leichtsinn, in Schuld und Schande doch ebenso häufig wieder zurück.“

Benno hätte trotz aller Furcht, aller Aufregung des Augenblickes doch bei diesen Worten fast gelächelt. „Onkel“, sagte er, „glaubst du, ich habe die Absicht, ein Kunstreiter zu werden?“

„Warum nicht?“, war die gehässige Antwort. „Dein Vater tat Schlimmeres.“

Benno fuhr plötzlich auf, sein Gesicht war von dunkler Röte bedeckt. „Schmähe mich, Onkel!“, sagte er etwas hastig. „Schmähe mich, aber nicht meinen toten Vater! Und vor allen Dingen sage mir, was es ist, das du ihm so bitter vorwirfst. Ich bin wohl jetzt alt genug, um darüber Näheres zu erfahren.“

„Schweig!“, gebot mit ausgestreckter Hand der Senator. „Du hast zu gehorchen, weiter nichts. Dein Vater war ein Unwürdiger, über dessen Andenken man aus Großmut schweigt, das mag dir genügen.“

Benno richtete sich höher auf. „Das ist eine Unwahrheit, Onkel Johannes“, rief er mit energischem Tone. „Andere Leute sprechen von meinem armen Vater mit der größten Achtung, ja mit Liebe sogar.“

Der Senator nickte; in seinen Augen glühte Zorn. „Andere Leute“, wiederholte er. „Fremde, Fernstehende, das ist sehr wohl möglich, denn im Hause Zurheiden galt es bisher als Gesetz, dritten Personen gegenüber von Familienangelegenheiten durchaus zu schweigen. Es weiß daher auch nur ein sehr kleiner Kreis von Eingeweihten, was dein Vater seinem Charakter nach war, besonders aber auch, bis zu welchen Übertretungen – um mich gelinde auszudrücken! – er herabgesunken ist. Alle diese Dinge sollst du heute erfahren, denn du hast mich herausgefordert, du hast –“

„Johannes!“, rief vom Fenster her die alte Dame, „Johannes, um Gottes willen, was sagst da? Nichts soll das unglückliche Kind erfahren. Nichts, ich

verbiete es.“

Ihr Sohn zuckte die Achseln. „Es muss sein“, antwortete er in hartem Tone. „Ich bin kein Knabe, um mir Befehle geben zu lassen – selbst wenn es meine eigene Mutter betrifft!“

„Sieh hin, Benno“, wandte er sich dann zu seinem Neffen, „der linke Arm deiner Großmutter ist gelähmt, nicht wahr?“

Die Greisin hatte sich von ihrem Sitz erhoben und ging jetzt zu dem Knaben, der mit pochendem Herzen ängstlich und todesblass dastand.

Die alte Dame ergriff seine Hand und wollte ihn mit sich fortziehen. „Komm, Benno, komm – dein Onkel ist außer sich, er weiß nicht, was er spricht.“

Der Senator vertrat ihr den Weg. „Siehst du den herabhängenden Arm deiner Großmutter, Benno? Nun, wohl, es war das Messer deines –“

„Du sollst schweigen, hörst du, du sollst es! Hast du das vierte Gebot vergessen, Johannes? Deine Mutter befiehlt dir zu schweigen.“

„Aber ich will nicht gehorchen, ich kann es nicht! Noch in seinem Kinde möchten Sie Ihren Lieblingssohn mir vorziehen und ihn schonen, obwohl doch die Tat zum Himmel schreit. Oder war es etwa nicht Theodors Messer, von dem Sie getroffen wurden?“

„Großmama“, fragte Benno die weinende alte Dame, „Großmama, ist das wirklich wahr?“

Sie streichelte mit ihrer Hand sein kaltes weißes Gesicht. „Es ist wahr, mein armer Junge, es ist wahr, aber nie und nimmer so lange ich atme, werde ich glauben, dass mein Kind mit Absicht die Waffe gegen mich erhoben hatte. Der Stoß traf unglücklicherweise meine Schulter.“

Bennos Augen schienen größer geworden, selbst seine Lippen waren blass. „Und auf wen zielte mein armer Vater?“, fragte er kaum verständlich.

„Auf seine Mutter“, betonte Zurheiden. „Ich sagte es dir ja schon.“

„Das ist nicht wahr, Johannes. O Gott im Himmel, es ist nicht wahr!“

Und die Greisin taumelte, sie würde hart zu Boden gefallen sein, wenn nicht Bennos kräftige Arme ihr zur Stütze geworden wären. Er trug die leichte Last der Achtzigjährigen zum Sofa und hob unter ihren Kopf ein Kissen.

„Sie wird doch nicht gestorben sein, Onkel“, sagte er ganz verwirrt. „Sich nur, wie blass sie ist!“

Der Senator zog die Klingel, und als ein Dienstmädchen erschien, befahl er ihr, der alten Dame beizustehen. „Hilf deine Großmutter in ihr Zimmer tragen“, fügte er bei, „und dann komm wieder hierher.“

Benno tat, wie ihm gesagt worden war.

Ängstigen Sie sich nicht, junger Herr!“, flüsterte ihm draußen das Dienstmädchen zu. „Es hat nichts zu bedeuten, der Atem stellt sich schon wieder ein.“

Benno eilte zurück in das Wohnzimmer, wo sein Onkel am Fenster stand und auf die Straße hinabsah.

Endlich wandte der Senator den Kopf. „Du wiederholst also ausdrücklich dein früheres Eingeständnis, Benno? Du gibst zu, dich an der Schaustellung im Zirkus beteiligt zu haben?“

„Ja. Ich mag nicht lügen.“

„Das würde dir auch wenig helfen, denn ich hätte den Vagabunden, der die Truppe anführt, sogleich auf das Polizeiamt zitieren und vernehmen lassen – jetzt ist das unnötig geworden. Was dich selbst betrifft, so erfährst du demnächst meine weiteren Entschlüsse. Vorläufig genüge dir, dass du das Haus nicht mehr verlassen darfst, selbst nicht, um zur Schule zu gehen.“

Benno erschrak heftig. „Du willst mich doch nicht aus der Klasse nehmen, Onkel?“, fragte er ganz bestürzt.

„Geh! Wir haben kein Wort mehr miteinander zu sprechen.“

Der Knabe verließ das Zimmer.

Benno legte sich in das Bett, halb betäubt, kaum fähig zu denken.

Da kam ein leiser Schritt die Treppen herauf; mit den Schuhen in der Hand schlich sich Harms herbei. „Wachst du noch, Benno?“, flüsterte er.

Benno streckte ihm die Hand entgegen. „Ach, wie gut, dass du kommst, Alter!“

Harms setzte sich an das Bett und sagte gutmütig lächelnd: „Nun werden wir noch ein Stündchen schwatzen, was, du?“

Und Benno nickte. „Erzähle mir von meinem Vater. O Harms, welche entsetzlichen Dinge habe ich da hören müssen!“

Der Alte unterbrach ihn. „Ja, ja“, sagte er, „ich weiß das alles. Gerade aus diesem Grunde kam ich hierher.“

Benno fuhr auf. „Harms“, flüsterte er, „warst du denn damals schon im Hause? Hast du das alles mit erlebt?“

„Ja, alles, mein Junge. Ich kam hierher, als ich meine Zeit bei den Hanseaten abgedient hatte, war aber schon, soweit meine Erinnerung zurückreicht, mit dem Hause Zurheiden bekannt gewesen und hier aus- und eingegangen. Bei dem verstorbenen alten Herrn, deinem Großvater, hatte das alles ein anderes Aussehen, da lebte man noch wirklich und freute sich seiner Tage. Die Herrschaften hielten Equipage, im Sommer wohnten sie zu Blankenese oder Eppendorf, es wurden Gesellschaften gegeben und man ging auch selbst in andere Häuser. Na, damals war mein Vater hier Kutscher, und dadurch ist es gekommen, dass ich mich all meiner Lebtage als halb und halb zum Hause gehörig betrachtet habe. So lange wir drei kleine Buben waren, der Herr Senator, dein armer Vater und ich, haben wir vergnügt miteinander gespielt.“

Benno seufzte. „Erzähle mir von meinem Vater, Harms!“, sagte er in beinahe ängstlichem Tone. „Hat er wirklich – wirklich –“

„Pst! Nur keine Überstürzung. Nachdem der Herr Senator für gut gefunden hat, dir das Letzte zuerst zu sagen, soll ich dir nun den ganzen Hergang der Unglücksgeschichte genau auseinandersetzen, du! Deine Großmutter hat es so befohlen.“

„Sie schickt dich also zu mir?“

„Ja. Die arme alte Dame ist vor Schreck und Kummer ganz krank, sie kann daher nicht selbst mit dir sprechen und schickt mich an ihrer Stelle.“

„Erzähle!“, drängte Benno. „Erzähle! Natürlich ist mein Vater kein Mörder, der Messerstich galt nicht seiner Mutter?“

Harms schüttelte den Kopf. „Denke doch nicht daran, mein Junge! Aber nun lass dir alles berichten. Ganz ohne Schuld ist die Frau Großmama nicht, daher muss sie auch jetzt so schwer büßen. Ihr jüngster Sohn galt ihr von jeher bedeutend mehr als der ältere; was Theodor erreichen wollte, das gelang ihm, was er Tolles und Leichtsinniges anzettelte, das entschuldigte sie, und so viel Geld er auch verschleuderte – von ihr konnte er heimlich immer neuen Vorrat erhalten. Sie hat ihm Tausende und aber Tausende hingegeben, obgleich sie wusste, dass er alles in den Wind werfen würde. Aber da half kein Bitten, kein Zureden; Theodor war als Kind kränklich gewesen, mehr als einmal hatten ihn die Ärzte schon ganz aufgegeben, während Johannes von jeher eine kräftige Gesundheit besaß. Daher kam es denn wohl, dass dieser ihr weniger am Herzen lag, als der, um dessen Erhaltung sie sozusagen fortwährend kämpfen musste. Für ihren Jüngsten hätte die arme Frau zu jeder Frist das Leben dahingegeben.“

Benno seufzte. „Und wie vergalt er ihr diese innige Liebe, Harms?“

Der Alte war sehr ernsthaft geworden. „Er hatte eine böse Leidenschaft, dein Vater“, sagte er nach längerer Pause, „eine, die Unsummen verschlang, und der er nicht entrinnen zu können schien. So viele Versprechungen er auch gab, so sehr ihn die Reue auch quälte, es war alles vergeblich.“

Bennos Blicke suchten die des alten Dieners. „Waren es die Karten, Harms? Spielte mein Vater?“

Ein Kopfnicken antwortete ihm. „Du hast er erraten, Junge. Keinen schlimmen Gedanken hegte Theodor Zurheiden, er war fleißig und gütig und so klug wie nur einer, aber den Karten konnte er nicht widerstehen – sie wurden denn auch schließlich sein Unglück.“

„Verschweige mir nichts, Harms, ich bitte dich darum.“

„Nein, nein, du sollst alles erfahren. Sieh, du weißt ja aus manchen Erzählungen anderer, wie sehr in Hamburg die Verhältnisse durch den Krieg gelitten hatten. Nun, auch das Haus Zurheiden war in großen Verlust gekommen, Herr Johannes arbeitete Tag und Nacht, um sich über Wasser zu halten und die Ehre der Firma aus diesen Wirrnissen unbeschadet hervorgehen zu sehen. Er war von jeher ein ganz anderer Mensch als sein jüngerer Bruder. Er dachte nur an das Geldverdienen, an den Glanz nach außen. Beständig erwog er, ob auch jede seiner Bewegungen, seiner Handlungen der Würde des Hauses Zurheiden genügend angemessen sei, beständig fragte er: ,Was werden die Leute dazu sagen?‘

Theodor nahm dergleichen Dinge durchaus auf die leichte Achsel, ja, er lachte seinen Bruder geradezu aus, sodass eigentlich die beiden auf gespanntem Fuß miteinander lebten. Die Arbeit des älteren Sohnes musste das Haus erhalten, während der jüngere müßig umherging und weder an ein Universitätsexamen noch an eine Berufswahl dachte. So konnte es denn nicht fehlen, dass der langgehegte Groll nach und nach in offenbaren Hass überging, bis eines Tages die beiden Männer dermaßen hart aneinander gerieten, dass es im Wohnzimmer sogar zu Tätlichkeiten kam. Johannes hatte die schwere eiserne Feuerzange ergriffen und schlug nach dem Kopfe seines Bruders, der in eine Ecke geflüchtet war und ein auf dem Tische liegendes Messer ergriffen hatte, um sich mit Erfolg gegen den Rasenden zu wehren.“

„Einen Augenblick!“, unterbrach, heiser vor Aufregung, der Knabe. „Einen Augenblick, Harms – hast du alle diese Vorgänge mit angesehen?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Ich nicht, aber statt meiner die Frau Großmama. Sie befand sich im Nebenzimmer und konnte durch die Glastür den Kampfplatz überblicken. Da hat sie sich denn natürlich im entscheidenden Augenblick zwischen ihre beiden Söhne geworfen, und so ist ihr das Messer in die Achselhöhle gefahren. Alle Sehnen waren zerschnitten, es ging damals auf Tod und Leben – der Arm aber blieb bis zu dieser Stunde vollkommen gelähmt.“

„So hat Großmama dir die Sache erzählt, Harms?“

„Ja. Und so ist sie auch der Wahrheit gemäß. Dein Vater, so leichtsinnig er gewesen sein mag, hätte doch gegen seine alte Mutter niemals die Hand erhoben, darauf wollte ich wohl zu jeder Stunde einen Eid schwören.“

Benno schauderte. „Was geschah denn weiter?“, fragte er.

Harms zuckte die Achseln. „Man holte den Hausarzt und zog ihn in das Vertrauen, um dadurch seine Diskretion zu erlangen. Die Pflege der todkranken Frau übernahm eine alte Magd, die viele Jahre lang hier im Hause gedient hatte und die bald darauf starb – so ist das Geheimnis bewahrt geblieben.“

„Und mein Vater? Wie wurde es mit ihm?“

„Er verließ gleich nach der unseligen Tat das Haus. Auf dem vorderen Flur sind die beiden Brüder einander zum letzten Male begegnet und haben da einige wenige Worte zusammen gesprochen; welche, das weiß natürlich kein Mensch, dann ist Theodor zur vorderen Tür hinausgegangen und nie wieder gekommen.“

„Aber man hat später Nachrichten von ihm erhalten?“

Harms schüttelte den Kopf. „Kein Wort, keine Zeile. Er war und blieb verschollen bis auf diesen Tag – ohne Zweifel ist er längst gestorben.“

„Das weiß man also nicht mit Sicherheit?“, rief ungestüm der Knabe. „Man kennt keinen Ort, an dem er später gelebt hat?“

„Nichts, gar nichts. Aber gestorben muss er sein, das ist nicht anders möglich, denn ich habe im Auftrage der alten Dame, wie man zu sagen pflegt, Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um Nachrichten zu erlangen, aber immer vergebens. Hamburgs Schiffe kommen in jeden Hafen der Erde, seine Söhne an jeden bewohnten Ort – es ist nirgends eine Spur zu finden gewesen. Aber nun gute Nacht!“, setzte der Alte, sich erhebend, hinzu. „Es ist spät geworden und du musst schlafen.“

Benno hielt den treuen Freund an der Hand fest. „Wenn man wüsste, was Onkel Johannes und mein Vater auf dem Flur miteinander gesprochen haben!“, raunte er.

Der Alte beugte sich tief über das Bett, als fürchte er den Klang seiner eigenen Stimme. „Gutes ist’s gewiss nicht gewesen, du! Der Herr Senator geht seitdem nie mehr über diesen Hausflur, er hat die Seitentür anlegen lassen, um einen anderen Eingang zu erhalten. Das deutet auf ein böses Gewissen – was?“

Benno lag regungslos und grübelte unablässig, um Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen. Was hatten die Brüder zuletzt miteinander gesprochen?

 

ZWEI

Zwei endlos lange Tage gingen dahin, ohne dem gefangenen Knaben eine Änderung seiner Lage zu bringen.

Als am nächsten Morgen der Knabe plötzlich zu dem Senator beschieden wurde, da meinte Harms: „Nun muss der Fuchs zum Loche heraus, du! Wir werden wenigstens wissen, woran wir sind.“

Benno sah in den Spiegel, aus seinem Gesicht war alle Farbe entflohen. Auch er wusste es, fühlte es, dass das Verhängnis nahe sei.

Höchstens fünf Minuten blieb er im Arbeitszimmer des Senators mit diesem allein, dann sah ihn der spähende Harms wieder auf den Flur hinaustreten – aber wie hatte sich Bennos Gesicht während dieser kurzen Frist verändert! Es war fahl geworden. Benno sah unruhig umher. „Sind wir allein, Harms?“

„Ganz allein. Es hört uns keiner.“

„Nun, dann kann ich dir ja alles sagen. Mein Onkel hat mich nicht allein aus seinem Hause, sondern ganz aus Hamburg verbannt.“

„Was sagst du da, Junge?“

Das Wasserglas, welches der Alte in der Hand hielt, fiel klirrend auf den Fußboden. „Was sagst du da?“, wiederholte er.

„Dass ich aus Hamburg fort muss. Onkel Johannes schickt mich nach Rio an einen Geschäftsfreund, bei dem ich in die Lehre treten soll. O Harms, das ist schrecklich! Ich darf nicht studieren, ich muss nun Kaffeebohnen sortieren, Tüten kleben –“

Harms stand völlig ratlos da. „Es ist zu schrecklich“, ächzte er, „unerhört! Und ganz allein sollst du die Reise machen, mein armer Junge?“

„Nein, das nicht. In einigen Tagen geht ein Schiff mit deutschen Kolonisten nach Rio; unter diesen Leuten befindet sich auch ein Mann, den Onkel Johannes persönlich kennt – ihm will er mich anvertrauen.“

Harms konnte sich von seinem ersten Erschrecken nur langsam wieder erholen. „Solche Sünde!“, rief er „Solche Grausamkeit!“

Entrüstet eilte Harms zum Senator und versuchte, ihn umzustimmen. Aber der alte Zurheiden blieb unbeugsam.

So musste Benno einige Tage später schweren Herzens die große Reise antreten. Das von zahlreichen Auswanderern besetzte Schiff steuerte in ruhiger Fahrt von Hamburg aus in die Nordsee und den Atlantik. Tief im Westen versank der rote Sonnenball und spiegelte sich in den Meereswellen, sodass es aussah, als ob aus dem Schoße der Fluten ein zweites Tagesgestirn hinaufreiche zu dem ersten; Benno blickte hinüber zu dem fernen Punkte, wo sich das wundervolle Schauspiel entspann. Tausend rote und goldige Flecke schienen auf dem Wasser zu tanzen, eine Ruhe, wie sie das hastende friedlose Leben der Großstadt überhaupt nicht kennt; kühl und kräftigend wehte der Wind, in großen Flügen schossen Möwen über das Schiff dahin – es war so recht eine Stunde, um allen Hader des Lebens zu vergessen und sich ganz der friedlichsten, zuversichtlichsten Stimmung hinzugeben.

Jemand fing an zu singen: „Steh ich in stiller Mitternacht“ – und sogleich fielen andere Stimmen ein; drinnen im Zwischendeck begleitete eine Ziehharmonika die volkstümliche Weise, es entstand ein voller brausender Chor, dessen Klänge über das Verdeck dahinschallten und aus vielen Augen heimlich die Tränen hervorlockten. Wohl jeder Einzelne dieser Auswanderer hatte daheim in Deutschland seine Lieben oder doch wenigstens ein teures Wesen zurücklassen müssen; jetzt brach die Erinnerung an das verlorene Glück mächtig aus tiefstem Herzen hervor. Man hörte leises Weinen, man sah bebende Hände, die sich fest auf blasse, zuckende Gesichter legten.

An wen dachte in diesem Augenblick Benno?

Ein banges Gefühl durchflutete sein Herz. Ihn liebte niemand mit so rechter, wahrer Innigkeit, ihn vermisste niemand. Aber ja doch, Harms, der alte, ehrliche.

Benno lächelte, er stand auf, da legte sich plötzlich von hinten her eine Männerhand auf seine Schulter.

„Guten Abend, junger Herr!“

Wie von einem Messerstich getroffen, fuhr er herum. Diese Stimme! Ob er sie nicht unter allen auf der Erde wiedererkannt hätte?

„Señor Ramiro!“, stammelte er.

Es war wirklich der Kunstreiter, welcher da hinter ihm stand. Heute trug er nicht die Flitter und bunten Lappen seines Gewerbes, sondern einen schäbigen grauen Anzug und einen Schlapphut von gleicher Farbe, dazu im Munde die unvermeidliche kurze Pfeife und um den Leib einen Ledergürtel. „Sie hier, junger Herr?“, sagte er. „Wer hätte das gedacht?“

„Und Sie wollen in Rio Ihren Zirkus aufschlagen?“

„Hm – in Rio nicht gerade. Aber wir unterhalten uns sicherlich besser da drüben.“

Er deutete mit der Pfeifenspitze auf ein leeres Plätzchen in der Nähe des Mastes, und mechanisch, noch ganz unter dem Eindruck der ersten Überraschung, folgte ihm Benno dorthin. „Sind Sie mit Ihrer ganzen Gesellschaft an Bord?“, fragte er den Gaukler.

Dieser schüttelte den Kopf. „Meine Frau führt das Geschäft vorläufig in Deutschland weiter“, versetzte er. „Bei mir ist nur Pedrillo, der Schlangenmensch, auch der Esel ist zu Hause geblieben.“

Das sagte er mit einem tiefen Seufzer.

Und dann fuhr die braune Hand energisch über die Stirn. „Nicht rückwärts sehen!“, fügte er hinzu. „Das lähmt alle Kräfte. Erzählen Sie mir von sich, junger Herr. Wandern Sie aus, um Kolonist zu werden?“

Benno antwortete sehr vorsichtig und war zartfühlend genug, über den eigentlichen Grund seiner Reise ganz zu schweigen; aber Ramiro durchschaute, wie es schien, den Sachverhalt vollständig, und um seine Lippen spielte ein leichtes Lächeln. „Ich sehe Sie schon Tüten kleben“, sagte er, „und Pakete schleppen oder was dergleichen angenehme Dinge mehr sind. Haben Sie Neigung für das brave Gewerbe?“

Benno schwieg, aber er fühlte, wie heiß sich das Blut in sein Gesicht ergoss. Am liebsten hätte er den Kunstreiter verlassen und nie wieder mit ihm gesprochen.

Ramiro kam auf seine frühere Frage nicht zurück. „Ich bin ein geborener Südamerikaner“, sagte er, „aus Peru. Dahin reise ich auch jetzt.“

„Aber unser Schiff geht, denke ich, nach Rio de Janeiro!“

Der Kunstreiter nickte. „Von dort schlagen wir uns quer durch das Land bis in meine Heimat. Nur über das Weltmeer musste mich die gute Gelegenheit bringen; für alles Weitere sorge ich schon selbst.“

„Das wird ein ganz ansehnlicher Marsch“, lächelte Benno. „Aber Sie kaufen wahrscheinlich in Rio neue Pferde, Herr Direktor?“

Ramiro stützte den Kopf in die Hand. „Pferde?“, wiederholte er schmerzlich. „Ach, junger Herr, wie froh werde ich sein, wenn es mir an jedem Tage möglich ist, Brot zu kaufen. Es ist mit den Schaustellungen und ganz besonders mit den Reitkunststücken drüben nicht wie in Europa. Allerlei Halbwilde treiben sich auf den Gassen herum und locken den Leuten durch ihre Spiegelfechtereien die Münzen aus den Taschen; ein wirklicher Fachmann erhofft von Brasilien in dieser Beziehung nichts.“

Benno erstickte mit einiger Mühe das Lächeln, welches sich auf seine Lippen drängen wollte. „Weshalb sind Sie dann aber aus Europa fortgegangen, Señor Ramiro?“, fragte er.

Ein Blitz sprühte aus den schwarzen Augen des Peruaners, es war, als schwebe auf seinen Lippen eine hastige Antwort, gleichwohl aber blieb er stumm oder brach doch wenigstens das eingeschlagene Thema plötzlich ab. „Ich bin nicht immer ein Kunstreiter gewesen, junger Herr“, sagte er nach einer Pause, „nicht immer einer, der mit dem Hute in der Hand die Pfennigspenden des Publikums einsammelt. Zu meiner Zeit trug ich in Lima die Schülermütze wie Sie, gehörte zu einer reichen, angesehenen Familie, hegte für meine Zukunft die hochfliegendsten Hoffnungen – und da – da –“

„Wurden Sie aus der Bahn geworfen?“, rief mit plötzlich erwachendem Interesse unser Freund. „War es nicht so?“

Ramiro nickte, sein Auge rollte, seine Faust war geballt, er zerbiss zwischen seinen weißen Zähnen die Pfeifenspitze, dass Blutstropfen unter den Lippen hervorquollen. „Mein bester Freund, mein liebster, einziger, war es, der mich verriet, Alfredo, er, auf dessen Treue ich Welten gebaut hätte. O, junger Herr, wenn Sie wüssten, wenn Sie ahnen könnten, was ich damals litt!“

Benno seufzte. „Vielleicht kann ich es, Señor! Nicht Sie allein sind es, dem ein Unrecht geschah.“

„Ja, ja, ich weiß, aber – so hart wie mich traf es doch wohl nicht häufig einen Menschen. Ich war ein junger Bursche von sechzehn Jahren, lebensfroh und zu allen Tollheiten aufgelegt, ich warf das Geld mit vollen Händen zum Fenster hinaus, aber auch nicht dem geringsten verachteten Wesen hätte ich ein Leides zufügen können, da – o, es war fürchterlich! – da geriet ich in den Verdacht, einen Schmuck von großem Werte gestohlen zu haben; alle Umstände sprachen gegen mich, man musste an meine Schuld glauben, obwohl mir die Steine überhaupt nicht zu Gesicht gekommen waren, ja, obwohl ich wusste, dass kein andrer als Alfredo der Täter sei –“

„Ich dachte es mir“, warf Benno ein.

„Und es ist auch so; in jedem Augenblick würde ich darauf schwören. O, junger Herr, in meiner Verzweiflung bin ich ihm zu Füßen gefallen, habe seine Knie umklammert und ihn gebeten, mich nicht in das Unglück zu stürzen, aber er zuckte nur die Achseln und nannte mich einen Tollhäusler – ihn hielt der Geiz in Banden, er wollte schuldlos erscheinen, um das reiche Gut behalten zu können. Da hab ich denn alle Rücksicht beiseite gesetzt und den Behörden meinen Verdacht offen mitgeteilt, hab sonnenklar bewiesen, dass nur Alfredo, der Täter sein könne und – gerade dadurch meine Sache noch verschlechtert. Den Schuldlosen, den Jugendfreund, wollte ich ins Verderben ziehen, nur um mich selbst reinzuwaschen – welch ein abscheulicher Charakter musste ich doch im Grunde sein, so meinte man! Und so verurteilte mich das Gesetz zu entehrender Kerkerstrafe. Wenige Wochen waren es nur, die ich erhielt, meiner Jugend und bisherigen Unbescholtenheit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Cover: Macrovector / Shutterstock.com
Tag der Veröffentlichung: 27.02.2013
ISBN: 978-3-7309-1314-7

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