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01. Erste Begegnung

Da spaziert dieses kleine, süße Ding doch tatsächlich an ihm vorbei, als sei er einfach irgendwer! Sie scheint nicht einmal zu bemerken, dass ihre enge, kurze Jeans, die ihren knackigen, kleinen Po eher betont, als verbirgt und diese erstaunlich langen Beine ein ziemlicher Blickfang sind. Von dem süßen Ausschnitt ihres schlichten, grauen Tops ganz zu schweigen und in den Ausschnitt würde er schon ganz gern mal etwas tiefer schauen. Ihr rotbrauner Pferdezopf wippt im Takt ihrer zügigen, entschlossenen Schritte, bis sie im Melkhaus verschwunden ist.

Hinter ihm fängt Micha an zu feixen: „Ich würd sagen- da bin ich besser gelandet beim ersten Mal!“

Micha? Der dunkelblonde, nette Typ von nebenan?! Was verdammt hatte Sören denn falsch gemacht? Er schüttelt verstimmt den Kopf und machte sich wieder an seine Arbeit, die Kleine würde er schon noch knacken.

 

Sissi hätte sich am Liebsten umgedreht und diesem Kerl mal eine ordentliche Ohrfeige verpasst! Dieses dreckige Grinsen und das dämliche Pfeifen wäre ihm dann schon noch vergangen. Aber Himmel, dieser Typ war pure Sahne- vielleicht wäre sie da doch schwach geworden?

Da steht ein wahrgewordener Mädchentraum vor ihrem Arbeitsplatz, na wer hätte das denn gedacht? Schon allein das Hinterteil wäre mal einen Hingucker wert und dann dieser Oberkörper… Was will denn ein Mädchen mehr? Ein süßer, dunkler Kerl, der selbst in Arbeitssachen noch sexy aussieht, lässt wohl kaum Platz für Kritik. Aber dann dieses verfluchte Grinsen! Als würde er sie in die nächste Scheune ziehen und sie flachlegen können. Da hat der Gute sich aber gewaltig getäuscht. Sissi hat schon ganz andere Kerle abserviert!

Es ist nicht so, dass sie gerade einen Freund hätte oder verliebt wäre. Sie ist erst im 3. Lehrjahr, will danach studieren und ist nicht interessiert an irgendwelchen Abenteuern. Dafür hat sie schon zu viele Nieten gehabt. Und nebenbei auch unschöne Erlebnisse... Ihr Traummann soll nicht nur perfekt aussehen, er kann sich ruhig anstrengen, sie für sich ein zu nehmen. Und das nicht nur ein zwei Wochen lang, vor allem mit Stil. So ein Rosensträußchen hier, eine Pralinenschachtel da wäre doch ein netter Anfang, aber sie würde sich bitten lassen.

Sie mag ja nur eine Landwirtin sein, die nicht unbedingt im Markenshop ihre Klamotten kauft, aber sie will sich nicht einfach wieder um den Finger wickeln lassen. Das hat sie oft genug getan und jedes Mal ist sie betrogen worden, jetzt kann die Männerwelt anfangen, zu kämpfen.

„Hast du schon Sören gesehen?!“, ihr Chefin, Karola, ist ein sehr lebhafter Mensch in den Dreißigern. Die Frau redet immer nahezu anbetend von ihrem Sören, irgendeinem ehemaligen Lehrling, der wohl ziemlich gut war oder so. Also ist der Kerl jetzt doch tatsächlich wieder da und das nur, weil Ian die Stelle gekündigt hat. Na prima. Wahrscheinlich so ein 2-Meter-Ochse mit Schultern wie ein Wandschrank und dem freundlichen Gemüt eines braven Schoßhundes.

„Wen? Nein…“, unvorbereitet schleift Karola sie zum Fenster.

„Du musst an ihm vorbeigelaufen sein… Den da!“, sie zeigt doch tatsächlich mit ausgestreckten Arm auf diesen arroganten Mistkerl, der da auf dem Hof steht und sich genau in diesem Moment umdreht, nur um noch so ein blitzendes Grinsen zu ihnen rüber zu werfen.

„Ach den, ja.“, Wow, sie klingt sogar richtig desorientiert. Leider scheint ihre Chefin das etwas zu enttäuschen und sie zieht von dannen, um ein anderes Opfer für ihre Begeisterung zu finden. Na das kann ja was werden, dieser Scheißkerl ist jetzt auch noch ihr Kollege. Offenbar der Erste, den sie nicht wirklich mag.

In ihren Arbeitssachen fühlt sich Sissi nicht hübsch, aber dazu sind sie auch nicht da. Immerhin werden die eh dreckig beim Melken. Ihre graue Latzhose ist ihr ein bisschen zu weit, das grüne Shirt 3 Meilen zu groß. Die rotbraunen Haare unter einem schmutzigen Cape versteckt. Die Schicht ist heut erstaunlich ruhig gelaufen, so dass sie ziemlich gut in der Zeit liegt. Nun schnell noch Futter ranfahren und dann…

 

„Hey. Darf ich dir das Futter ranfahren?“, erschrocken zuckt die Kleine zusammen und dreht sich um. Ihre dunkelbraunen Augen fixieren ihn misstrauisch.

„Sehe ich so aus, als wäre ich dazu nicht allein fähig?“, Hola! Die Schnecke hat aber eine verdammt spitze Zunge. Das gefällt ihm. Irgendetwas sagt ihm, dass sie nicht nur ein loses Mundwerk hat, sondern auch Köpfchen und die Mischung macht sie interessant. Ganz davon zu schweigen, dass sie einen kleinen Schmollmund zieht, an dem Sören nur zu gern knabbern würde. Er geht mit einem Lächeln, das normalerweise JEDER Frau die Knie weich macht, noch ein paar Schritte auf sie zu. Die Süße weicht nicht zurück, legt nur den Kopf schief. Kneift die Augen enger zusammen und ballt kaum merklich ihre kleine Hand zur Faust.

„Aber nein doch, ich wollte dir nur ein bisschen Arbeit abnehmen, ich muss sowieso noch eine halbe Stunde warten, da brauchst du doch nicht fahren und kannst eher Feierabend machen.“, nicht ganz unbeabsichtigt legt er seine Stimme etwas tiefer. Dafür klettern ihre Augenbraunen in die Höhe, aber sie zuckt dann doch nur die Schulter.

„Danke.“, schon ist sie wieder fort.

02. Im Kälberstall

 

Schon seit einer Woche beobachtet er die Kleine, aber sie ignoriert ihn. Micha hat ihm mittlerweile alles erzählt, was er über sie weiß. Sörens neues Objekt des Interesses heißt Sissi. Passt gut zu so einer frechen Prinzessin, findet er. Sie hat 3 große Brüder und eine kleine Schwester und eine, die nur 3 Jahre jünger war, als Sissi, ist vor einem Jahr gestorben. Nach einem Autounfall, da hatte Micha nicht mehr drüber reden wollen, muss wohl heftig gewesen sein, für seine scharfzüngige Diva.

Sören amüsiert sich ein bisschen. Zickig ist sie irgendwie nur zu ihm. Zu allen anderen ist sie freundlich, hat für jeden nette Worte und ein warmes Lächeln. Oh was würde er für dieses zuckersüße, schiefe Grinsen geben, mit dem sie manchmal die anderen Kollegen betrachtet, wenn diese ungehobelte Witze reißen! Aber sogar ihr glockenhelles Lachen verstummt, sobald sie ihn sieht. Anderen Männern legt sie ihre kleine Hand einfach mal freundschaftlich auf die Schulter, ihn grüßt sie nur mit knappem Nicken. Ihre frechen Sprüche findet er köstlich und außerdem hat er sie schon oft den Radweg entlang laufen sehen, der ins Dorf führt, die hat einen Schritt drauf, da hätten manche zu tun, mit zu halten und das sind 5 km bis ins Dorf!

Und heute erst hat er sie gesehen, wie sie mit den Tieren umgeht. Sie ist die Woche allein im Kälberstall. Erstaunlich, dass die Zarte nicht zerbricht, wenn sie die schweren Kannen herumschleppt. Die hat einer jungen Kuh einfach beruhigend zu gemurmelt, um sie nicht aufzuschrecken und sich langsam herangeschlichen, um dem Tier bei der Schwergeburt zu helfen. So sanft und elegant hatte er sie noch nie erlebt. Und dennoch griff sie beherzt zu. Sören griff erst ein, als er bemerkte, dass ihre Kraft fast am Ende war. Er war leise von hinten heran getreten.

„Kann ich helfen?“, er hatte leise und ruhig gesprochen, wollte weder das Mädchen noch das Rind erschrecken. Sie hatte genickt, ohne zu erschrecken und auf den Geburtshelfer gezeigt, um dann stumm zu beginnen, die Kuh zu weiten. Und als das Kalb endlich da war, flossen ihre Bewegungen fast. Sie desinfizierte den Nabel, machte die Atemwege frei.

„Könntest du das Ding in die Milchküche bringen?“, wow, sie sah ihm tatsächlich in die Augen. Ohne eine Spur Wut oder Schalk. Einfach nur erschöpft.

„Ich mach den Drink, geh dir die Arme abwaschen und bring die Karre mit.“, er lächelte sie vorsichtig an und es klappte, sie lächelte ganz schwach zurück.

 

Wow, er hilft ihr! Und die Wahl 10-Litereimer schleppen oder die leichte Karre holen fällt ihr leicht. Und dieses Lächeln ist so… anders, einfach nur nett, nicht heraufordernd oder umwerfend oder vielleicht anzüglich, einfach nur freundlich, aufmunternd. Als sie mit der Karre zurückkommt, hebt er ihr sogar das Kalb in die Karre.

 

„Sonst noch etwas?“, er schaut sie besorgt an, ihre Haut ist heute blasser oder liegt das am Licht? Und ist dieses sonst vor Energie sprudelnde Mädchen müder, als sonst?

 

Sie schüttelt den Kopf: „Nein, danke, ist nicht mehr viel.“, dieser Blick ist was ganz Neues. Macht er sich etwa Sorgen um sie? Nein, das muss täuschen. Bevor er das Ausmaß ihrer Erschöpfung durchschaut, bringt sie das Kalb in die vorbereitete Box und gähnt herzhaft, bevor sie dem kleinen Bullen die Ohrmarke einzieht. Sie dokumentiert noch alles und bringt die Karre in die Milchküche. Sie hat eben den Geburtshelfer und die Schubkarre sauber, als sie hört, wie die Tür zum Abkalbestall aufgeht. Sie erwartet eigentlich Bernd, den Schlosser. Der schaut öfter mal vorbei, wenn sie im Kälberstall ist. Stattdessen lehnt plötzlich Sören am Türrahmen.

„Was musst du denn noch machen?“, die Frage überrascht sie.

„Ich äh…“, sie überlegt und schaut sich im Raum um. Die Eimer sind noch ab zu waschen, das ist offensichtlich: „Die Holzbuchten nachstreuen, die 3 Weibchen aus der letzten Reihe in die Gruppe stellen und an den Automat führen, öhm… Müsli machen und in den Trog geben, Heu füttern… und den Gang fegen. Und dann sollte nichts mehr sein. Rundgang muss ich noch machen… Ja und dann ist Feierabend.“

Sören nickt: „Ich streu ein und füttere der Gruppe Heu, mal sehen, wie weit du dann bist.“ Schon ist er verschwunden. Wow, warum ist der auf einmal so hilfsbereit, ja geradezu… übermäßig nett?! Er könnte selbst Feierabend machen. Als sie die Eimer abgewaschen hat, hört sie den Mixer angehen. Vorsichtig geht sie den Gang rauf und schaut um die Ecke. Er grinst nur. Wow, der mixt das Müsli… Ein Blick in die Kälberreihen, eingestreut ist auch…. Sie stellt also die 3 Kälber um, die sich wirklich außergewöhnlich artig benehmen.

„Wie viel Müsli?“, Sören schaut um die Ecke, als Sissi hinter dem letzten Kalb das Tor schließt.

„Den ganzen Bottich.“, so eine Hilfe ist echt mal angenehm.

Sie fegt aus, nach wenigen Minuten hört sie ihn weggehen, schade, nicht mal bedankt hat sie sich. Als sie fertig mit fegen ist, kommt er zur anderen Tür breitgrinsend herein: „Feierabend! Hab den Rundgang gemacht, Licht ist auch an.“

„Oh, äh, Dankeschön.“, verlegen senkt sie den Blick, warum ist der auf einmal so nett zu ihr?

 

03. Die Ohrfeige

 

Zwei Wochen später hat Sissi Berufschule. Und mit ihrer Klasse ist sie auf einer Landwirtschaftsmesse. Vertieft liest sie eine Broschüre über Gesundheitsmanagement während ihre Freundin sich mit jemand unterhält, als sich plötzlich von hinten jemand nähert und ihr über die Schulter schaut. Warme Haut streift ihre Wange und eine verdammt angenehme Stimme flüstert unerhört sexy: „Was machst du denn hier?“

Erschrocken dreht sich Sissi um und schlägt mit dem Heft nach dem Unbekannten.

Sie schreit sogar: „Iiih, geh weg!!!“

Kurz darauf erkennt sie ihren Mit-Azubi Daniel nur wenige Meter weiter weg stehen, der sich vor Lachen den Bauch hält und dann schaut sie den an, dem sie das Heft um die Ohren gepfeffert hat. Alle Umstehenden scheinen sie an zu sehen und da erkennt Sissi den Getroffenen: Es ist Sören! In seinem weißen T-Shirt, das wie eine zweite Haut anliegt, sieht er aus, wie ein junger Gott. Seine Haut wirkt viel dunkler als sonst und das Grinsen, das sich da plötzlich in sein Gesicht schleicht, wirkt auf Sissi höchst beunruhigend. Ihr sinkt das Herz in die Hose. Aber mehr als ein tonloses „Oh“ kommt ihr nicht über die Lippen.

Ihre Nackenhaare stellen sich auf, als Sören, der gut zwei Köpfe größer ist als sie, einen Schritt auf sie zu macht. Sie spürt, dass ihr peinliche Röte in die Wangen schießt, aber im Moment ist ihr das ziemlich unwichtig. Erst jetzt fällt ihr auf, wie groß Sören doch eigentlich ist und wie unglaublich gut er aussieht und wie schön die schwarzen Wimpern seine grau-grünen Augen umrahmen. Und wie gefährlich das Lächeln auf seinen Lippen plötzlich aussieht. Sie will gerade zurückweichen, da packt er ihre Handgelenke und zieht sie sanft, jedoch äußerst bestimmt an sich heran. Das Beste ist, Sissi ist so verstört, dass sie sich gar nicht wehrt.

Seine Nasenspitze berührt ihre und seine tiefe Stimme vibriert in ihren Ohren: „Ich glaube, JETZT schuldest du mir was, Schätzchen.“

Sie ist sich ziemlich sicher, dass Sören ihr Herz stolpern hört.

 

Ihre wunderschönen braunen Reh-Augen schauen verschreckt zu ihm auf und weiten sich sogar noch etwas, als er den Satz beendet hat. Ihre Lippen stehen leicht offen und ihre Wangen bekommen einen zartrosa Hauch. Er spürt das wilde Trommeln ihres Pulses, für einen Moment vergisst er alles um sie herum. Nur dieses Mädchen zählt. Wie niedlich sie aussieht, schockiert über ihr eigenes Handeln. Er weiß schon, dass er sie nur küssen müsste. Jetzt würde sie still halten. Aber er will nicht, dass sie vor Schreck gelähmt still hält, wenn er sie küsst. Sören hätte es viel lieber, wenn dieses kleine Prachtstück ihre Krallen in sein Shirt graben würde und seinen Kuss mit ganzer Kraft erwidern würde. Irgendwann, sagt er sich und lässt sie lächelnd los.

„Es tut mir leid. Du.. Ich.. Ich hab mich erschreckt… und… Sorry.“, zaghaft streckt sie die Hand aus, steckt ihren Kopf fast zwischen die Schultern und sieht ihm immer noch etwas verstört zu ihm auf.

„Nächstes Mal halte ich deine Hand schon vorher fest.“, grinst er sie schief an und sie senkt schnell den Blick. Ihre Wangen röten sich noch etwas mehr. So, so, also ist Prinzesschen wohl doch nicht ganz immun gegen seinen Charme.

 

Oh dieser verfluchte Mistkerl! Mit seinem anbetungswürdigen Körper und dieser unglaublichen Stimme und… Wütend stampft Sissi über die Messe. Ihr Puls rast und ihre Haut brennt, wo er sie angefasst hat. Die Austellung ist für sie gelaufen! Und diese dämlichen Wangen- Nie, aber wirklich niemals werden die rot und nun?! Sie glühen sogar! Hoffentlich vergisst er das schnell wieder. Sie bereut schon, dass sie nicht stärker zu geschlagen hat! Nein, stattdessen starrt sie ihn an, als wäre sie so ein dummes, kleines Kind, das zum ersten Mal ein Feuerwerk sieht! Und das hat der auch schamlos ausgenutzt.

„Sissi?“, ihre Freundin hat ziemlich zu tun, ihr durch das Gedränge zu folgen. Abrupt hält sie an, so dass ihre Freundin sie fast umrennt.

„Wer war denn DAS?“, ja Linda ist seinem Charme total verfallen. Warum auch nicht? So ein Prachtexemplar sieht man ja in diesen Berufskreisen doch recht selten.

„Ein Kollege.“, brummt Sissi. Das wird der ihr noch in 20 Jahren vorhalten. Innerlich stöhnt sie auf. Na Prima! Hat sie doch wieder toll hinbekommen!

04. Aufgelesen

 

Sören kann sein Glück kaum fassen, als er sie wiedersieht. Es ist über einen Monat her, seit sie ihm auf der Messe das Heft um die Ohren gehauen hat. Gleich nach der Berufschule hatte sie erst einmal Nachtschicht. Irgendwie muss sie sich immer an ihm vorbei geschlichen haben, denn einige Male ist er noch bis Abend Gülle gefahren, um sie zu sehen. Dann hatte er eine Woche Urlaub. Warum verrät ihm eigentlich niemand, wo diese kleine Sahneschnitte wohnt?! Sobald er einen der Kollegen vom Pflanzenstützpunkt fragt, erntet er nur ein Grinsen und Schulterzucken, aber er hat den Verdacht, sie wissen ganz genau, woher sie kommt. Und als Sören wieder auf Arbeit kam, war er so eingespannt, Maschinen winterfest zu machen, dass er nur zum Feierabend kurz an der Milchviehanlage vorbeikam. Und jetzt endlich sieht er sie dort laufen. Ihre rotbraunen Haare blitzen unter der Kapuze hervor. Es ist ein scheußliches Wetter. Ein unangenehmer, stetiger Schneeregen schon seit heute Morgen. Und bei dem Wetter will sie die 5 km bis ins Nachbardorf laufen? Er bremst und hält neben ihr an. Sie mustert ihn kurz misstrauisch und will schon fast weitergehen, als er das Fenster runter lässt.

„Kann ich dich mitnehmen? Musst doch bei dem Wetter nicht laufen.“, er versucht wieder ein vorsichtiges, leichtes Lächeln. Er hat zwar noch kein Mädchen erlebt, dass seinem breiten Lächeln widerstehen kann, aber sie scheint das sogar beängstigend zu finden. Sie zögert nur wenige Sekunden, bevor sie einsteigt.

„Danke.“, dass sie den Blick gesenkt hält, passiert selten. Und entweder ist sie verlegen oder irgendwas stimmt nicht.

„Wo musst du denn hin?“

„Zum Bahnhof.“

 

Sissi hat nicht vor, ihn die Tränen sehen zu lassen. Sie ist kurz vor Feierabend ungünstig gestürzt, so dass jetzt ihr komplettes linkes Bein höllisch schmerzt. Und dann hat sie auch noch eine SMS von ihrem großen Bruder bekommen, dass ihre Mutter und ihre jüngste Schwester im Krankenhaus liegen. Muss denn immer alles auf einmal kommen? Und dann muss sie auch noch dieser verstörende, hübsche Kerl aufsammeln.

„Ist alles ok? Du siehst irgendwie traurig aus. Und du humpelst etwas…“, erschrocken zuckt sie zusammen, als er bremst. Sie sind auf einem Parkplatz kurz vor Ortsausgang und Sören dreht sich auf seinem Sitz ein Stück weit zu ihr. Seine graugrünen Augen sehen sie voller Sorge an, dass es ihr fast weh tut. Irgendwie würde sie ihm gern erzählen, was alles nicht stimmt, aber er ist so schwer einschätzbar. Sie versteht ihn nicht. Manchmal ist er einfach ein arroganter Mistkerl, der genau weiß, wie er auf Frauen wirkt und dann ist er plötzlich wieder so nett. Die ganzen kleinen, pubertären Mädchen aus dem Dorf haben nur noch ihn als Gesprächsthema. Wer kennt denn diesen heißen Kerl, der für jedes Mädchen so ein umwerfendes Grinsen hat? Da Sissi oft genug mit einigen auf den Zug wartet, beziehungsweise einige Enkel und Nichten ihrer Kollegen sind, bleiben diese Themen kaum geheim, vor ihr.

„Eins musst du mir mal erklären. Was hast du gegen mich?“, hat er sie das wirklich gefragt?! Hat sie ihn etwa irgendwie böse angesehen?

 

Er sieht, wie sie ihren Mund auf macht und ihn doch wieder schließt. Demonstrativ sieht sie auf die Uhr seines Autoradios.

„In 3 Minuten kommt der Zug.“, sie weicht ihm aus? Nicht mit ihm!

„Wohin fährst du denn mit dem Zug?“, da sie ihn ja schon ignorieren will, kann er auch grinsen, vielleicht bekommt er ja doch noch seinen Kuss.

Mit großen Augen schaut sie ihn an: „Na, in die Stadt!“

Ohne ein Wort wendet er sein Auto.

„Wa…?“, das blanke Entsetzen starrt ihn an und er muss lachen.

„Na da kann ich dich auch gleich mitnehmen, da muss ich eh hin.“, wer ist er denn, wenn er die Puppe nicht in der halben Stunde Fahrt dazu bekommt, wenigstens freundlich zu ihm zu sein?!

 

Frustriert knallt sie die Haustür zu und lehnt sich einen Augenblick mit dem Rücken dagegen. Hat dieser Kerl sie einfach nur veralbert oder hat der sie eben angegraben?! Ihr Puls rast und sie weiß, dass sie keine Minute länger hätte in seinem Auto sitzen bleiben können. Erst wollte sie ihm sogar die falsche Adresse sagen, aber das kam ihr dann doch albern vor. Oh dieses Lächeln ist so… aufregend. Am liebsten hätte sie sich ihm an den Hals geworfen, als er mit einem strahlenden Lächeln vor ihrem Haus hielt und verkündete, sie sei zuhause. Aber sie hasst ihn so. Dieser arrogante Macho glaubt doch wirklich, er könnte sie um den Finger wickeln! Natürlich sieht er toll aus, das Schlimme ist ja, dass er das ganz genau weiß! Wenigstens hat er nicht versucht, sie an zu fassen, diesmal hätte nicht nur eine Broschüre sein hübsches Gesicht getroffen.

 

05. Erntedankfest

 

Eigentlich würde Sören liebend gern wieder gehen, als er schon etwas verspätet zum Erntedankfest seines Betriebes kommt und sieht, dass Sissi nicht da ist. Wieder hat er sie einige Wochen nicht gesehen und glaubt, sie geht ihm aus dem Weg. Was will er überhaupt von dieser kleinen Zicke? Sie scheint ihn kein bisschen attraktiv zu finden und das ärgert ihn extrem. Doch dieser Blick auf der Messe, ihre mangelnde Gegenwehr... Das alles hat ihn nur noch mehr ermutigt! Er lässt seit neusten sogar hübsche Partygirls stehen, die ihm eindeutige Angebote machen! Und zwar richtig heiße Bräute. Aber nichts interessiert ihn mehr, als dieses verdammt niedliche Mädchen, das sich nicht für ihn interessiert. Oder packt er es falsch an? Sie wirkt niemanden gegenüber so reserviert, wie bei ihm.

Er setzt sich neben die Produktionsleiterin vom Stall. Karola hatte immer eine Schwäche für ihn, vielleicht erzählt sie ihm ein bisschen über Sissi. Und tatsächlich erzählt sie ihm von ganz alleine, dass das Mädchen später kommt, weil sie heute noch Berufschule hatte. Unwillkürlich macht sich Sören breit, so dass sich neben ihn nicht noch jemand setzt. Und dann plaudert Karola los, dass das arme Mädchen schon so viel durch hat.

Im ersten Lehrjahr war sie einmal mit aufgeplatzten Lippen und blauen Flecken im Gesicht zur Arbeit gekommen. Völlig verängstigt und verstört, da hatte ein Betrunkener sie nach Silvester zum Feierabend von der Nachtschicht am Bahnhof im Dorf angegraben und als Sissi sich wehrte, prügelte er auf sie ein, bis eine Kollegin vorbeikam und laut hupte. Da war er weggerannt und hatte das Mädchen blutend im Schnee liegen lassen. Die Kollegin hatte sie erst einmal auf Arbeit zurück gebracht. Nur wenige Wochen darauf, brachen Polen im Gemeinschaftshaus ein, wo Sissi ein Zimmer hat, wenn sie im Betrieb bleiben muss, weil kein Zug fährt. Sissi hörte die Geräusche erst, als ihre Tür aus den Angeln fiel und zwei Männer vor ihrem Bett standen. Als sie bemerkten, dass da ein Mädchen lag, stürzten sie sich auf sie. Am nächsten Morgen fand die Kälberfrau, Grete, sie gefesselt und blutverschmiert auf ihrem Bett. Schon stundenlang ohnmächtig, das Nachthemd völlig zerrissen. Und dann hatte nur einen Monat später ihre Schwester einen Autounfall und starb nach 3 Monaten Koma. Aber bis vor wenigen Wochen lief dann alles ruhig, jetzt war ihre Mutter im Krankenhaus, musste am Ellenbogen operiert werden, weil sie so ungünstig gestürzt war. Ihrer 5-jährigen Schwester ging es ja wieder gut, die großen Brüder kümmern sich um das Kind, wenn Sissi nicht da ist.

Da versteht Sören, warum sie ihn so auf Abstand hält. Sie hat Angst, er könnte ihr auch etwas antun. So wie die Einbrecher. Oder der Betrunkene. Er unterdrückt einen Schauder, da muss er wohl die Strategie ändern. Außerdem wird sie sehr besorgt um ihre Familie sein und ist vielleicht gar nicht an einem Mann interessiert... In dem Moment kommt Sissi zur Tür herein. In den weißen Strumpfhosen, den schwarzen Faltenrock, ihrem hübschen weißen Pullover und mit den geflochtenen Rattenschwänzchen ist sie wunderschön.

 

Heute geht es Sissi einfach gut. Ihre Mutter ist vor 2 Tagen wieder heil aus dem Krankenhaus gekommen. Sie liebt Spaziergänge im Dunkeln durch den Wald, wo sie ja durchkam vom Bahnhof aus. Das erfrischt sie. Außerdem hat sie erfahren, dass vor einer Woche die beiden Polen geschnappt wurden, die sie vor fast 2 Jahren so übel zu gerichtet haben. Und ein bisschen schadenfroh ist sie, weil ihr Vater zu einer saftigen Geldstrafe verdonnert wurde, nachdem herauskam, dass er für Sissi und ihre beiden jüngeren Schwestern schon 4 Jahre keinen Unterhalt mehr gezahlt hatte. Auch wenn ihre mittlere, Franziska, gestorben war muss ihr Vater jetzt die 4 Jahre nachzahlen und es wird ihrer Mutter nicht vom Arbeitslosengeld abgezogen!

Und dann betritt sie den Raum und ihr Blick fällt zuerst auf Sören. Der sitzt in einem weißen Hemd und einer guten Jeans da und lächelt sie an. Nicht breit, als wolle er sie umwerfen. Eher froh, sie zu sehen und da macht ihr Herz einen Satz. Dieses schiefe Lächeln ist irgendwie hübsch. Sie beschließt, einfach mal zaghaft zurück zu lächeln. Sören steht sogar auf und nimmt ihr den Mantel ab. Wie ein richtiger Gentleman.

„Neben Karola ist noch ein Platz frei.“, raunt er ihr zu, bevor er die Jacke zur Garderobe bringt.

Sissi hat gesehen, dass er neben ihr sitzt, aber wenigstens ist er heute so nett und tut so, als wäre das nur ein Zufall. Auch wenn sie ein bisschen den Verdacht hat, dass er das genauso geplant hat. Normalerweise würde sie sich einen anderen Platz suchen, aber es ist nur noch einer neben dem großen Chef frei, da geht sie lieber auf Sören ein.

Im Laufe des Abends stellt er sich sogar als ganz angenehmer und zuvorkommender Sitznachbar heraus. Er holt ihr einen Glühwein, ist schrecklich höflich und deutet nicht mit einem Wort an, dass sie ihm auf der Messe eine geklatscht hat, bis ihr Mit-Azubi anfängt, es lachend zu erzählen. Da verteidigt Sören sie sogar, in dem er sagt, er habe sie wirklich ganz schön überrumpelt. Es wird später, die Männer alberner und Sissi merkt, dass er sich wirklich zurückhält mit dem Alkohol. Da rücken die männlichen Kollegen zu ihr an den Tisch mit heran, klopfen sich auf die Schultern, machen typisch unanständige Witze und Sissi sitzt nur grinsend daneben. Bis Sören sagt, er würde ja ab nächstem Jahr regelmäßig Gülle fahren. Irgendwoher kommt ihr ein dummer Spruch von wegen, deshalb würde er so stinken, in den Sinn. Dabei riecht er total gut, dieses Aftershave…

„Kannst ja mal eine Runde auf meinen Schoß mitfahren.“, der hat gesessen! Mit einer Mischung aus Empörung, Schrecken und Belustigung schaut sie ihn schief von der Seite an.

Ob die Haut seiner Wangen so glatt ist, wie sie aussieht? Und die schwarzen Bartstoppeln, wenn er sich mal nicht rasiert hat, ob sie wohl ihre Handflächen kitzeln würden? Und ob die schwarzen Locken so weich sind, wie sie es sich vorstellt?

„Das hättest du wohl gern!“, lächelt sie ihn mit zuckersüßer Stimme an.

„Sissi!“, ruckartig dreht sie ihren Kopf zur anderen Seite. Ihre Chefin hat eindeutig schon ordentlich dem Alkohol zugesprochen.

„Du kannst doch so toll malen. Hol doch mal deine Bilder rüber.“, verblüfft schaut Sissi ihre Chefin an.

„Ich äh, naja einige sind eingerahmt, ich kann die unmöglich alle auf einmal…“

„Ich helfe dir.“, unterbricht sie da Sören und zieht sie hinter sich aus dem Raum.

 

Sie ist so verblüfft, dass sie sie sich nicht einmal wehrt. Gleich nachdem die Tür hinter ihnen zufällt, lässt er sie los.

„Was soll das denn?!“, böse funkelt sie ihn an, aber er lächelt nur still vor sich her.

„Karola ist betrunken, da brauchst du nicht mit der diskutieren. Also gib ihr, was sie sehen will und sie ist ruhig. Ziemlich einfach oder?“

Sie stehen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Er kann ihr süßes Parfum riechen. Es erinnert ihn an zarte Blumen nach einem Gewitter. Ihre braunen Augen sind in dem Halbdunkel völlig schwarz. Ihre Haut wirkt bei dem schwachen Licht, das von draußen hereinfällt, geisterhaft blass. Und aus irgendeinem Grund sind ihre braunen Locken im Moment mehr schwarz-rot, je nachdem, wie ihre Locken fallen. Es fällt Sören wirklich schwer, nicht in diese schöne Mähne zu greifen und ihre vollen Lippen mit seinem Mund zu erkunden. Vor allem, weil sie ihn so ansieht, als erwarte sie genaus das. Dann strafft sie plötzlich die Schultern und dreht um. Aus ihrer Jacke nimmt sie einen Schlüssel und geht voran, durch den Gang, ohne Licht an zu machen. Sie scheint wie eine wundervolle Erscheinung, die lautlos durch die Dunkelheit huscht. Sören folgt ihr neugierig. Noch vor 4 Jahren hat er in dem Zimmer geschlafen, dass jetzt ihr gehört. Nur dass sie viel öfter gezwungen ist, dort zu schlafen, als er damals. Die einzige Lampe die sie anmacht, ist die im Vorraum zu ihrem Zimmer. Er erinnert sich, dass das Türschloss manchmal etwas klemmt.

Als er ihr Zimmer betritt, ist er überrascht. Die Tapete und der Teppich sind unverändert. Aber da steht ein gemütlich aussehender Sitzsack vor der Heizung. Neue Gardinen verbergen das Innere des Raumes vor neugierigen Blicken. Bilder hängen an der Wand. Ein Tisch und ein Stuhl stehen vor dem Fenster, darauf 2 Pokale. Sören tritt neugierig zu den Bildern. Eine wirklich große Zeichnung steht im Glasrahmen auf dem Boden. Er hockt sich hin, um sie sich an zu sehen.

Ein Mädchen mit Efeu im hellen, langen Haar, das auf einem Einhorn durch einen Wald reitet. Licht fällt durch die Bäume, lässt sie strahlen. Der Wind zerrt an ihrem dünnen Gewand und irgendwie sieht sie verloren aus, traurig, aber ohne Bitterkeit. Einfach nur unendlich allein in diesem Wald mit ihrem wundervollen Pferd.

Betroffen schaut sich Sören die nächsten Bilder an. Ein schwarzhaariges Engelsmädchen mit Wunden im Gesicht, dem Blut von den Lippen rinnt. Mit loderndem Blick richtet sie ihren Dolch auf denjenigen, der sie betrachtet. Das andere Bild zeigt eine Felsklippe auf der ein Mädchen steht. Sie schaut in die Tiefe, hat sich jedoch fast schon von ihr abgewandt. Der Wind lässt ihr Haar wie eine Fahne zum Abgrund hin flattern. Auch ihr dunkler, knielanger Rock scheint sie zurückziehen zu wollen. Dennoch hat sie sich weggedreht. Er erkennt den Schmerz in dem schönen Gesicht, aber auch die Entschlossenheit.

Ein anderes Bild zeigt ein Pferd. Stolz, kraftvoll, einen starken Hals und feurige Augen. Es steht wachsam, schützend vor einem Mädchen, das am Boden kniet. Ihr halbnackter Rücken ist dem Betrachter zugewandt. Das Kleid ist zerrissen, ihr Rücken voll blutiger Wunden. Sie schaut angstvoll über ihre Schulter. Das Gesicht voll Schmerz und Angst. Dunkle Locken fallen auf ihre wunde Haut und als Sören das Gesicht betrachtet ist er schockiert. Sissi hat sich selbst gezeichnet!

Er dreht sich zu ihr um. Sie steht im Türrahmen und beobachtet ihn aufmerksam. Er kann eine Träne sehen, die sich verstohlen ihre Wange herab rinnt. An der anderen Wand, über ihrem Bett hängen Detailzeichnungen von Pferden. Wunderschöne Einzelstücke.

„Die nehmen wir mit und das Große. Die bleiben hier.“, sie nickt zu den Bildern, die er sich eben so genau betrachtet hat.

„Hast du auch fröhliche Bilder?“, fragt er leise und sie hebt nur den Hefter.

„Die hättest du nicht sehen sollen. Die Meisten schauen nicht so genau hin…“, Sissis Stimme ist plötzlich sehr leise und sie macht sich daran, die Pferdebilder von der Wand zu nehmen. Sören schaut sich noch einmal die Bilder an. Das schwarzhaarige Engelsmädchen sieht auch fast genauso aus, wie sie. Eigentlich haben alle diese Mädchen ein bisschen Ähnlichkeit mit ihr. Aber das Mädchen, vor dem das Pferd steht, ist so ganz eindeutig Sissi, dass es ihm in der Brust weh tut. Er hebt das große Bild auf und lässt sich noch einige andere geben. Er hat vor, sich auch ihre anderen Bilder an zu sehen, aber nicht wenn sie Zuschauer haben.

 

Erschöpft fällt Sissi auf ihr Bett. Sörens Blick wird ihr nie mehr aus dem Sinn gehen, wie er sich zutiefst besorgt nach ihr umdrehte, nachdem ihm klarwurde, dass sie das Mädchen auf dem Bild war. Natürlich hat sie den anderen, die weniger… intensiven Bilder gezeigt. Vor allem die Bilder, die sie an den wenigen guten Tagen gemalt hatte. Aber Sören konnte sie nichts verbergen, sein Blick ruhte unaufhörlich auf ihr. Nicht die Sorge beunruhigt sie, sondern die Entschlossenheit, die zum Schluss in seinen Augen lag, als er sich verabschiedete und „bis bald“ sagte.

06. Wintereinbruch

 

Der Winter bricht schlagartig herein. Schnee fällt in dicken Flocken und begräbt jeden Schmutz unter sich. Sissi sitzt verträumt an ihrem Fenster und schaut auf das unschuldige Weiß. Irgendwann ist sie so vertieft in ihre Gedanken, dass sie beinahe zu Tode erschrickt, als es an ihrer Scheibe klopft. Ein fröhlich lachender Sören steht vor ihrem Fenster, hat eine dicke Jacke an und eine schwarze Mütze über seinem Kopf und zeigt ihr einen Schneeball in seiner behandschuhten Hand.

Die Herausforderung kann sie nicht auf sich sitzen lassen! Eilig zieht sie die Vorhänge vor das Fenster und hört schon einen ersten Schneeball an die Scheibe fliegen. Eilig schlüpft sie in ihre schwarze Jeans und die ledernen, kniehohen Stiefel. Ein warmer Pullover und ihr schwarzer Mantel sollten sie vor Kälte schützen. Sie legt sich ihren roten Lieblingsschal um den Hals. Ein heimlicher Blick durch die Gardienen verrät ihr, dass er schon mit neugierigen Blicken zum Hoftor auf sie wartet. So leicht will sie es ihm nicht machen. Sie versteckt ihre Haare unter einer schwarzen Wollmütze und zieht ihre Lederhandschuhe an. Sie verlässt das Gebäude zur Hofseite und schleicht durch eine Lücke im Zaun hinter der Werkstatt auf die Straße. Nun steht er mit dem Rücken zu ihr. Ein rostiger Autoanhänger verbirgt sie vor seinem Blick und sie wirft den ersten Schneeball. Sofort duckt sie sich hinter den Hänger. Durch ein Loch sieht sie, wie der Ball ihn genau am Nacken trifft. Erschrocken zuckt er so heftig zusammen, dass ihm sein Schneeball aus der Hand fällt und er ausrutscht. Prompt sitzt er auf seinem süßen Hinterteil.

Es kostet Sissi unglaubliche Beherrschung, nicht laut los zu kichern. Noch während er sich aufrappelt, huscht sie schnell in ein naheliegendes Gebüsch und kämpft sich von dort am Bürogebäude vorbei. Nun steht sie gegenüber von ihrem Zimmerfenster. Gut verborgen hinter den dunklen Koniferen. Sie muss grinsen, als er verwirrt auf die Fußspuren schaut, die vom Anhänger zum Gebüsch verlaufen. Sissi wirft noch einen Ball und trifft seinen Hintern. Volltreffer! Diesmal dreht er sich mit einem Geräusch um, dass sie an ein Knurren erinnert und grinst gefährlich.

„Wenn ich dich in die Finger bekomme, Kleine…“, er braucht die Drohung nicht aussprechen. Sissis Nackenhaare stellen sich auf. Aber sie kennt sich hier bestens aus. Sie huscht durch das Gebüsch bis zur Kreuzung und versteckt sich hinter den Mülltonnen. Spätestens hier sollte er ihre Spur verlieren. Denn hier sind heute schon einige Spaziergänger langgekommen. Sie beobachtet aus sicherer Entfernung, wie er sich durch die Sträucher kämpft. Den Blick fest auf das Bürogebäude gerichtet. Sie steht nur etwa 5 Meter rechts von ihm und diesmal verfehlt ihr Ball ihn nur ganz knapp. Er zischt wenige Millimeter von seiner Nase entfernt an ihm vorbei. Grinsend flüchtet sie sich in das kleine Wäldchen und versteckt sich hinter einer breiten, efeubewachsenen Eiche. Behände klettert sie die Äste hinauf, bis sie knappe 2 Meter über dem Boden ist. Die dicken Äste der Eiche verstecken sie ziemlich gut. Und dann runzelt sie die Stirn. Sören ist nirgendwo zu sehen. Natürlich verhält sich Sissi ruhig, aber nachdem er auch nach einigen Minuten nicht auftaucht, beschließt sie doch einmal nach zu sehen. Sie klettert geschickt nach unten und springt vom letzten Ast. Noch bevor sie sich aufrichten kann, wird sie herum gewirbelt und gleichzeitig hochgezogen.

 

Mit einem erschrockenen Aufschrei prallen ihre Hände hart an seine Brust. Atemlos schaut sie wie ein verängstigtes Reh zu ihm auf. Dann blitzt Erkennen in ihren Augen auf. Kaum merklich entspannt sie sich ein wenig und flüstert nur ein verwirrtes „Oh“.

„Jetzt hab ich dich.“, er lächelt. Als ihn die Spuren zum Baum geführt hatten, hatte er sich einfach eng an den Baum gelehnt, in der Hoffnung, sie würde ihn nicht entdecken. Das hatte besser funktioniert, als er geglaubt hatte. Und nun hält er dieses wundervolle, faszinierende, freche und doch reizende Mädchen in seinen Armen. Irgendwie verspürt er nicht den Drang. sie los zu lassen. Dann nickt sie auch noch kaum merklich. Sie schaut ihn mit halbgeöffneten Mund an.

„Du hast mir aufgelauert.“, sie klingt aufrichtig verwundert.

„Was dachtest du denn?“, sagt es leise, will sie nicht verschrecken.

Sie senkt den Blick und ihre Wangen röten sich leicht: „Ich dachte, du… du... wärst gegangen…“

Da muss er doch ein bisschen drüber lachen, aber eher aus Erleichterung. Denn ihre Worte klingen so ängstlich. Fast flehend, fast wie eine Bitte, dass er sie nicht verlassen soll. Genau in diesem Moment weiß er, dass er vom ersten Moment an Recht hatte. Sie ist nicht boshaft oder gemein, sie wurde einfach nur verletzt und braucht nur jemanden, der ihre Wunden sachte mit Salbe bestreicht, statt ihr neue zu zufügen. Und doch hatte er in den letzten Wochen angefangen zu zweifeln. Wie sollte er denn ihr Vertrauen gewinnen? Sie konnte ihn nicht leiden oder? Hielt sie ihn nicht immer auf Abstand? Warum sollte er es versuchen, aber er konnte nicht anders. Tief in seinem Inneren hatte er geglaubt, dass sie mehr ihn schützen wollte, als sich selbst. Und ihre Worte bestätigten seinen Verdacht. Er musste die Erleichterung darüber einfach rauslassen.

 

Der lacht! Aber warum?! Verletzt reißt sie sich los und rennt flink durch den fast kniehohen Schnee. Sie hat keine Ahnung, warum sie das kann, aber das hat sie schon als Kind gut gekonnt. Sie kommt auf den Weg, wo der Schnee nicht so hochliegt und beschleunigt. Sie hört seine Schritte hinter sich und kämpft mit ihren Tränen. Was ist nur los mit ihr? Eben noch hätte sie sich so gern an ihn gelehnt und seinen starken Herzschlag genossen. Seine feste Umarmung. Einfach das Gefühl, von jemanden verstanden zu werden. Natürlich hält sie jeden Mann auf Abstand, der versucht, ihr näher zu kommen. Nur wenige wissen, wie schlimm es wirklich um sie steht. Sissi hat viele Bekannte, aber Freunde kaum. Sie will niemanden zu nahe an sich heranlassen. Sie vergleicht sich selbst mit einem schwarzen Loch. Alles, was ihr zu nahe kommt, geht an ihrem persönlichen Abgrund kaputt. An dem Abgrund aus Blut und Schmerz. Nun hatte sie langsam zu glauben begonnen, Sören könnte irgendwann stark genug sein, sie zu ankern in dieser Welt. Sie zu erden und wieder mit Leben zu erfüllen, das sie in der Nacht verloren hat, als die Polen über sie herfielen. Sie hatte lange gebraucht, sich langsam wieder an das Licht heran zu tasten, doch der Unfall ihrer Schwester zerbrach sie endgültig. Denn Franziska war die Einzige, die sie auch ohne Worte verstand. Sie brauchte sich nur eines der Bilder ansehen, dass Sissi zuletzt gemalt hatte und wusste, was sie sagen oder tun musste. Das hatte Sissi immer davon abgehalten, sich in diesen finsteren Abgrund zu stürzen, das Leben auf zu geben. Doch danach hatte sie den Halt verloren.

Sie will eben die Zimmertür zu krachen, als Sören sie erreicht. Er hält die Tür auf und tritt näher an sie heran. Sein Blick ist weder spöttisch, noch wütend. Nur voll freundlicher Sorge und irgendwie fühlt sie sich plötzlich, als könnte er ihre Seele lesen.

 

„Fass mich nicht an.“, ihre Stimme zittert. Nein ihr ganzer Leib bebt. Dennoch umarmt er sie. Da bricht sie plötzlich zusammen und er hält sie einfach nur fest. Lässt sie weinen. Als sie erschöpft von ihren Tränen einschläft, legt er sie vorsichtig ins Bett und deckt sie gut zu. Noch eine Weile schaut er ihr beim Schlafen zu. Er sieht hauchfeine Narben auf ihren Armen und streicht darüber. Irgendwann fährt Sören heim. Er weiß, dass sie morgen frei hat. Eigentlich hatte er sie heut heimbringen wollen, aber sie soll sich einfach einmal ausschlafen.

07. Heiligabend

 

Heut ist Heiligabend und sie hat ihren Zug verpasst. Traurig ruft sie zuhause an, dass sie es nicht zum Abendessen schaffen wird und somit im Betrieb schlafen würde. Sissi hat auch ziemlich schlechte Laune, vielleicht ist es gut, wenn sie damit zuhause nicht die feierliche Stimmung zerstört. Erschöpft schleppt sie sich zu ihrem Zimmer. Doch dort erwartet sie eine Überraschung. Teelichter stehen auf beiden Seiten des Vorraumes und direkt vor ihrem Zimmer steht ein ziemlich großes Geschenk. Richtig mit Geschenkpapier und allen Drum und Dran. Dann riecht sie Kakao und Plätzchen. Neugierig dreht sich um, da steht ein breitgrinsender Sören ihr gegenüber. Ein Tablett in der Hand mit 2 dampfenden Tassen und einem Teller voller Plätzchen. Aber am Besten ist der rote Rollkragenpullover mit den weißen Bommeln und die Weihnachtsmütze. Entgeistert starrt sie ihn an. Sie bekommt den Mund einfach nicht mehr zu.

„Fröhliche Weihnachten. Und bevor ich dich heimbringe, wärmst du dich erst einmal auf und ziehst dir trockene Sachen an.“, er lacht leise und ihr Herz beginnt verräterisch zu flattern.

Staunend betrachtet sie sein Gesicht, das wohl seit ihrer letzten Begegnung vor 3 Tagen keine Rasur mehr gesehen hat. Und sie findet ihn ziemlich attraktiv damit.

„Hast das alles du gemacht?!“

 

„Nein, die Plätzchen sind von meiner Oma.“, sagt er wahrheitsgemäß. Sie schüttelt nur den Kopf und schließt die Tür auf. Sie lässt ihre nassen Stiefel vor dem Zimmer stehen und springt über das Paket. Er folgt ihr ins Zimmer und stellt das Tablett auf den Tisch. Er beobachtet, wie sie ihren Mantel auszieht und ihre nassen Locken schüttelt. Frisch geduscht also. Das ist kein besonders hilfreicher Gedanke, denkt er und muss schlucken. Aber wenigstens lässt sie ihn nicht vor der Tür stehen. Zweifellos würde sie ihn rauswerfen, wenn sie in seinem Kopf nur das leiseste Anzeichen dafür finden würde, dass er mehr als nur freundschaftliche Gefühle für sie hegt. Das muss er ihr noch abgewöhnen. Dann fahren ihre Hände zu ihrer Hose und sie hält mittendrin inne.

„Umdrehen.“, sie befiehlt es in einem Ton, der keine Wiederrede zulässt. Er setzt sich mit dem Rücken zu ihr auf den Boden und schaut eine Zeichnung an, die neben ihrem Bett liegt. Der Rücken eines Mannes. Aha, denkt er und findet da gewisse Ähnlichkeiten. Dunkle, kurze Locken, das Profil zwar undeutlich und nicht fertig, aber die Nase ähnlich wie seine. So stellt sie sich seinen Rücken vor? Es ist nur eine grobe Skizze. Er sollte ihr die Möglichkeit geben diese Zeichnung zu vervollkommnen...

Einige Augenblicke später springt sie wie eine Katze auf ihr Bett und sieht ziemlich neugierig aus. Lächelnd reicht er ihr den Kakao. Er hatte vermutet, dass sie den lieber trinken würde, als Kaffee. Er hat sie noch nie Kaffee trinken sehen. Aber sie ist eine ziemliche Naschkatze. Also hatte er Milch gekauft und Kakao und hatte, als er sah, dass sie im Stall das Licht ausmachte, angefangen, die Kerzen auf zu stellen und dann die Milch auf zu wärmen. Überhaupt, sie scheint alles zu lieben, was mit Schokolade zu tun hat. Genießerisch schließt sie die Augen, als sie den Kakao langsam trinkt. Sie probiert sogar ein paar Plätzchen. Schließlich stellt sie ihre Tasse ab und sieht schief zu ihm herüber.

„Warum tust du das alles?“, sie fragt leise, weder Misstrauen noch Ärger liegen in ihrem Gesicht. Nur Verwirrung.

Damit du mir vertraust, will er sagen. Damit du dich an mich lehnst, deine Last ablegst. Damit du mich liebst. Aber nichts davon kommt über seine Lippen. Stattdessen steht er auf und holt ihr Geschenk rein.

„Da ist was drin?“, sie klingt nun wirklich sehr überrascht.

„Natürlich. Mach auf.“, ihre Neugier siegt. Fürs Erste. Sören muss sich genau überlegen, was er sagt, um sie nicht gleich wieder zu verärgern. Denn er hat nicht vor, ihre Fortschritte alle wieder zu verlieren. Lächelnd beobachtet er ihre kindliche Neugier und Ungeduld, mit der sie vorsichtig das Geschenk öffnet.

 

Neugierig lässt Sissi sich das Paket auf das Bett stellen. Wenn sie sitzt ist es fast so groß, wie sie selbst. Vorsichtig öffnet sie die Schleife und öffnet das Papier. Dann schließlich den Karton. Zuerst hält sie einen Zettel in der Hand auf dem mit sauberer Handschrift steht: „Gutschein. Dem Empfänger dieses Gutscheines werden so viele Fahrten, wie gewünscht und egal wohin gutgeschrieben. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Taxiunternehmen Sören.“

Verlegen lächelt sie: „Danke.“

„Oh, das ist noch nicht alles!“

Sie öffnet neugierig den nächsten Karton. Darunter ist etwas in Knisterpapier eingewickelt und obendrauf liegt ein kleines blaues Etui. Zaghaft öffnet sie es. Darin liegt eine schmale Silberkette mit einem herrlich ausgearbeiteten, silbernen Pferdchen in vollen Galopp. Fassungslos sieht sie ihn an, aber Sören nimmt nur die Kette aus ihrer Hand und setzt sich hinter sie auf das Bett, um ihr die Kette um zu legen. Eigentlich will sie das Geschenk ablehnen, aber sie kann einfach nicht und dann liegen unter dem Papier unzählige Schokoladenpralinen. Sie will ihm eben erklären, dass sie das alles gar nicht annehmen kann, als sie spürt, wie er ihr sanft das Haar aus dem Nacken streichelt. Ihre Haut prikelt unter der Berührung.

 

„Weißt du… Du wolltest wissen, warum ich das tue… Ich habe Angst, danach könntest du mich hassen, aber ich werde es dir sagen…“, er atmet tief durch und sie dreht sich etwas zu ihm um. Es erstaunt ihn, dass sie nicht versucht, aus seiner Reichweite zu kommen. Sören greift ihre Hand und legt sie vorsichtig an seine Brust. Er spürt sie zurückzucken, aber dann lässt sie es geschehen.

„Am Anfang warst du einfach nur ein Mädchen, das so ganz anders, als alle anderen, nichts als Verachtung und Spott für mich übrig hatte. Das hat meinen Stolz verletzt. Du hast immer anders reagiert, als ich es gedacht habe. Dann auf der Messe ... Ich wollte dich reizen, dich necken. Sehen, ob du nicht irgendwie weich zu bekommen bist, aber deine Reaktion war ziemlich überraschend. Aber dann dein Schock, als du mich erkanntest und dein Blick… Dafür hätte ich mich noch hundert mal schlagen lassen. Doch als ich dich zum ersten Mal im Regen laufen sah, da hast du so verloren ausgesehen. Nur du warst immer so abweisend, ich glaubte, du hasst mich. Wirklich zu verstehen begann ich erst, als ich deine Bilder gesehen hab. Ich weiß nicht viel über dich, aber irgendwer hat dich mal sehr verletzt. Mir gefällt nicht, dass du Angst vor mir haben könntest. Ich würde dir nie wehtun. Keine Ahnung warum, aber ich habe ständig das Gefühl, ich müsste bei dir sein. Dich zum Lachen bringen und dich beschützen...", erst jetzt blickt er auf. Er rechnet mit einer Menge, aber als sie ihn nur völlig überrascht ansieht und eine kleine Träne über ihr Gesicht rollt, kann er sich nicht zurückhalten. Er zieht sie näher an sich und sie lässt es geschehen. So treffen ihre Lippen aufeinander. Erst hält sie nur still, dann beginnt sie ganz zaghaft, seinen Kuss zu erwidern, sich mehr an ihn zu lehnen. Doch plötzlich schiebt sie ihn sanft fort und schaut ihn traurig an.

„Träume sind wie Seifenblasen, Sören. Wenn du sie berührst, platzen sie. Ich bin nur ein Traum. Ein Alptraum. In mir ist so viel Schmerz, dass er für 7 Leben reicht. Gewöhn dich nicht an mich, denn bald bin ich fort und ich lasse nicht zu, dass du auch an meinem Schmerz zerbrichst.“

Sie steht auf und beginnt ihre Sachen zusammen zu packen. Schließlich bittet sie ihn, sie heim zu bringen und er tut es. Aber er rührt sie nicht mehr an, er wiederspricht ihr vorerst auch nicht. Denn was sie nicht weiß ist, dass er diesen Schmerz selbst kennt.

Und außerdem hat sie den Rest vom Geschenk noch nicht ausgepackt…

08. Krank

 

Frustriert wirft sie ihren Kopf in den Nacken. Sissis Haare sind neuerdings widerspenstig wie nie zuvor. Langsam verliert sie die Nerven. Erst seit heute Morgen kann sie sich wieder halbwegs problemlos bewegen. Eine heftige Erkältung mit Fieber und Co hatte sie eine Woche lang ans Bett gefesselt und kaum war sie 2 Tage auf Arbeit gewesen, streckte eine Magen-Darm-Grippe sie wieder hin. Toll fängt dieses neue Jahr an. Ihren 20. Geburtstag hat sie kotzend über der Kloschüssel verbracht. Wütend starrt sie nun ihr Spiegelbild an. Sie sieht aus, wie der wandelnde Tod. Ihre braunen Haare wirken wie trockenes Gras, kein bisschen Glanz mehr darin. Die Haut ist aschfahl, mehr grau, damit würde sie glatt als Maus durchgehen! Dunkelviolette Schatten liegen unter ihren trüben, braunen Augen, die in tiefen Höhlen liegen. Ihre runden Wangen sind eingefallen, die Knochen zeichnen sich deutlich ab. Die Lippen sind rissig und ausgetrocknet. Ihre Mutter hat Sissi ein schönes, warmes Bad eingelassen. Aber jetzt, wo sie sich vor dem großen Spiegel an der Tür so mustert, erkennt Sissi sich kaum wieder. Was 5 Tage so ausmachen können. Selbst ihre Schlüsselbeine und die Rippen sind zu erkennen. Insgesamt, sie sieht scheußlich aus! So müsste Sören sie sehen, dann würde er sie nicht mehr schön finden!

Innerlich zuckt sie zusammen, bei diesem Gedanken. Sie hat diesen wunderschönen Mann wirklich geküsst. Erst vor 3 Wochen, aber das fühlt sich eine Ewigkeit weit weg an. Sie hat schon sehr lange niemanden mehr geküsst. Ihr Ex war ihr fremdgegangen, kurz nachdem sie die Ausbildung begonnen hatte. Ihre 2 andern Ex-Freunde waren ebenfalls notorische Fremdgeher gewesen. Und seit dem Überfall hat sie niemanden mehr an sich ran gelassen. Nur diesen seltsam, arrogant-süßen Kerl… Wer sagt, dass er nicht auch sehr bald das Interesse an ihr verliert?

Und am Tag darauf hat sie noch einmal in den Karton geschaut, darin war eine große Kuscheldecke mit einem großen schwarzen Pferd darauf!

Auch am nächsten Morgen sehen ihre Haare noch schrecklich strohig aus. Sissi regt das maßlos auf, also bittet sie ihre Mutter, ihre Haare ab zu schneiden. Dann sollen doch alle die Narbe sehen, die an ihrer Halswirbelsäule anfängt und sich bis zu ihrem Schulterblatt runterzieht, wo der eine Pole sie mit dem Messer erwischt hatte, beim ungeschickten Versuch, das Band für ihre Fessel zu kürzen! Oder die Narbe die sein zweites Abrutschen hinter ihrem Ohr bis zu ihrem Kiefer hinterlassen hatte! Sollen doch alle sehen, was sie ist. Ein vernarbtes Stück Dreck. Eine Anhäufung aller Schlechtigkeiten, die ein Mensch nur haben kann! Ihre Mutter versucht natürlich, ihr aus zu reden, die schönen Locken, ab zu schneiden, aber Sissi will die langen Zotteln nicht mehr tragen, an denen sie von einem festgehalten worden war, während der andere sich an ihr vergnügte. Sie will neu anfangen. Also erfüllt ihre Mutter ihr den Wunsch. Am Nacken schneidet sie Sissi die Haare so kurz es geht und lässt ihr nur oben ein paar freche Strähnen.

In den nächsten Tagen bekommt Sissi langsam wieder Farbe ins Gesicht. Sie wagt sich nur kurz an die frische Luft. Zum Beispiel, wenn sie ihre kleine Schwester vom Spielen zum Essen rein ruft. Lilly ist ein Engelchen. Genau wie es Franziska in ihrem Alter gewesen ist, denkt Sissi, wenn sie die Kleine sieht.

Dann klingelt es nach 4 Tagen eines Nachmittags an der Tür. Sissi sitzt in Sörens Decke eingekuschelt auf ihrem Bett. Auf ihrem Nachtschränkchen steht eine Tasse Tee und sie liest ein Buch. Noch immer kehrt jeden Abend das Fieber zurück. Sie ist immer noch blass und das verlorene Gewicht will einfach nicht zurückkommen. Sie kommt sich vor, wie eine alte Frau. Sie kann kaum eine ganze Wasserflasche ein paar Meter tragen ohne zu zittern vor Anstrengung! Ihr großer Bruder unternimmt seit gestern kleine Spaziergänge mit ihr, die sie völlig erschöpfen und sie danach für 2 Stunden außer Gefecht setzen. Vorhin erst ist er mit ihr nur eine Runde mit ihr um das Haus gegangen, aber sie fühlt sich noch total matt davon. Sie hört, wie ihre Mutter die Tür öffnet und sich mit jemand unterhält. Desinteressiert widmet sie sich wieder ihrem Buch, als ihre Mutter in ihr Zimmer schaut.

„Du hast Besuch. Kann er reinkommen?“, Sissi ist so verblüfft, dass sie nickt.

 

Sissi sieht erschreckend aus! Sie ist völlig abgemagert und totenblass. Tiefe Schatten liegen unter ihren Augen und ihre langen Haare sind weg! Sie sitzt nur mit seiner Decke und einem Nachthemd auf ihrem Bett und plötzlich schämt Sören sich, einfach so herein zu platzen. Sissi beobachtet seine Reaktion genau.Schüchtern zieht er den Strauß mit orangenen Gerbera und einer weißen Calla hervor.

„Hab gedacht, Schokolade ist grad ungünstig…“, grinst er verlegen. Mit großen Augen schaut sie ihn an und als sie langsam versucht aufzustehen, ist er nicht sicher, was er tun soll.

„Danke.“, ihre Stimme wirkt rau und kratzig. Als er vor einer Woche schon mal vorbeisehen wollte, lag sie mit Fieber im Bett. Ihre Mutter hatte ihn nur kurz ins Zimmer sehen lassen und dann gebeten, ihr einfach ein bisschen Ruhe zu lassen. Sie ist immer noch schön, wenn man bedenkt, wie schlecht es ihr noch bis vor einigen Tagen ging. Aber als sie mit kalten Fingern die Blumen nimmt und an ihm vorbei geht, um sie ins Wasser zu stellen, erschrickt er. Eine dunkelrote Narbe zieht sich von ihrem Genick bis unter den Kragen des Nachthemdes entlang. Und noch so eine von ihrem Ohr bis zum Kiefer. Ohne nach zu denken, berührt er die Narbe vorsichtig mit dem Finger, als könnte sie noch schmerzen.

„Was ist passiert?“, er hat nicht erwartet, dass sie sich versteift und plötzlich beginnt zu zittern. Dann sieht er eine einsame Träne und augenblicklich tut es ihm leid.

„Sissi, es tut mir, ich wollte nicht…“, vorsichtig nimmt er sie in die Arme. Hat beinahe Angst, ihre knöchernen Schultern zu zerbrechen, als er sie langsam zu sich umdreht und ihren Kopf an seine Brust legt. Gleichzeitig entwindet er ihr die Blumen und legt sie auf den Schrank. Ihre Tränen schütteln sie, vorsichtig setzt er sich aufs Bett und zieht sie auf seinen Schoß, sie versucht gar nicht, sich ihm zu entziehen. Das allein ist schon ein Beweis dafür, wie schlecht es ihr geht. Sie weint lautlos vor sich her. Nach einigen Minuten schaut Sissis Mutter zur Tür rein, Sören erwidert ihren mitfühlenden Blick mit einem vorsichtigen Lächeln und das scheint sie irgendwie etwas in ihrem Blick zu verändern, sie lächelt ihn nur an und geht leise wieder. Irgendwann hört Sissi auf, zu weinen. Eine Gänsehaut bildet sich auf ihren Armen und er deckt sie vorsichtig zu, ohne sie los zu lassen. Und als sie sich an ihn ankuschelt und einschläft ist er sprachlos. Sachte küsst er ihren Scheitel und hebt sie auf, um sie in ihr Bett zu legen. Da kommt Sissis Mutter rein.

„Schläft sie?“, formt sie lautlos mit den Lippen und Sören nickt. Schnell zieht sie die Decken beiseite und er legt Sissi vorsichtig hin.

Da schreit sie plötzlich im Traum auf, dass ihm jeher Schreck in die Glieder fährt. Sie beginnt im Schlaf zu weinen und sich zu winden. Krallt sich in seinem Arm fest. Verstört sieht er ihre Mutter an. Im Gesicht der Frau spiegeln sich viele Gefühle, als sie sanft ihre wimmernde Tochter zudeckt.

„Weck sie nicht auf, dann schreit sie erst recht und braucht ewig, ehe sie versteht, dass du ihr nichts tun willst. Ich weiß nicht, wie oft sie in diesen Momenten schon nach mir geschlagen hat, sie hat ihrem Bruder sogar mal in die Hand gebissen! Seit dem lassen wir sie schlafen, dann beruhigt sie sich schnell wieder.“, traurig setzt die Mutter sich an das Bett und schaut zärtlich auf ihre weinende, brabbelnde Tochter herab.

„Hat sie schon immer diese Träume?“

„Nein, erst seit diese Mistkerle ihr das angetan haben. Weißt du, sie war vorher so ein lebensfrohes Mädchen. Sie hat immer gelacht und niemanden ernst genommen. Wenn sie traurig war, nie länger, als 5 Minuten. Mir fehlt ihr lautes Lachen, bei dem sie kaum noch Luft bekommt und sich nicht beruhigen kann. Mir fehlen ihre Lachtränchen und das Glitzern in ihren Augen, wenn sie wieder etwas ausgeheckt hat, um ihre Brüder zu necken. Sie ist so still geworden. Damals hat sie geplaudert, wie ein Wasserfall. Niemand konnte sie einschüchtern und ihre Bilder waren fröhlich, voller Glück. Danach waren sie voll Blut und Angst. Voller Schmerz und Tod. Manchmal würde ich diese Mistkerle am liebsten erschlagen, weil sie mein süßes Mädchen so verletzt haben. Aber davon würde ihr Lächeln nicht zurückkommen. Du bist doch der junge Mann, der sie die letzten Male heimgebracht hat, nicht wahr?“

Stumm nickt er, dass diese Frau so offen ist, bewundert er.

„Sie hatte zum ersten Mal wieder einen Hauch von diesem Glitzern in den Augen… Damals hatte sie es bei allem, was ihr gefiel. Wenn sie mir von einem Tier, einen tollen Erlebnis oder irgendetwas erzählte, was sie begeisterte. Sie hatte es in den Augen, als sie Heiligabend heimkam und sagte, ein Kollege habe sie hergebracht. Gib sie nicht auf, aber lass ihr Zeit.“

„Ich hab manchmal das Gefühl, sie mag mich nicht besonders.“, gibt Sören kleinlaut zu.

„Sie mag dich viel mehr, als sie zu gibt. Sie hat zum Beispiel zum ersten Mal beim Erzählen gelacht, nach eurem denkwürdigen Treffen auf der Messe. Ihre Brüder konnten gar nicht glauben, dass sie kicherte! Das hat sie seit 2 Jahren nicht mehr getan.“

Sie hat von ihm erzählt?

„Und wahrscheinlich bist du der arme Kerl, der sich mit ihr eine Schneeballschlacht geliefert hat? So was Albernes hat sie schon lange nicht mehr getan. Weißt du, mir erzählt sie nicht alles, aber irgendeiner ihrer Brüder erfährt immer was von ihr und so landet am Ende doch alles bei mir. Ich bewundere deine hartnäckige Geduld. Wer sonst würde sie einfach auf dem Schoß halten und weinen lassen? Vermutlich ist sie meistens nicht besonders nett zu dir, aber weißt du, dass sie sich mit Händen und Füßen geweigert hat, deine Kette ab zu legen und wenn es auch nur zum Baden war? Ich kann dir versichern, dass sie dich mag und angesichts deiner Geduld kann ich sie gut verstehen. Lass sie zu Kräften kommen, irgendwann wird sie verstehen, was für ein guter Freund du bist.“

Verblüfft sieht er Sissis Mutter an. Die Frau hat in den letzten Jahren ja nicht viel weniger durchgemacht, als Sissi. Sie ist etwas kräftiger, aber hat ein hübsches, freundliches Gesicht und freundliche grün-blaue Augen. Sie lächelt ihm noch mal warm zu, dann geht sie. Und eben, als er Sissi noch einen flüchtigen Kuss auf die Stirn geben will versteht er, was sie murmelt. Sie wimmert nicht mehr, sie spricht nur leise vor sich her.

„Lass mich nicht allein… Ich…doofe Kuh… bleib hier… nein, nein... Sören… Sebbi…“, sie seufzt traurig als sie seinen Namen sagt und das zweite klingt verdächtig nach einem Spitznamen. Instinktiv streichelt er ihre kleine Hand. Im nächsten Moment klammert sie mit überraschender Kraft an seinem Arm und kuschelt sich daran, wie ein kleines Kind an einen Teddy. Irgendwann lässt sie ihn los und er zieht noch einen Zettel aus seiner Hosentasche. Er wollte ihn ihr eigentlich noch geben, als sie wach war…

09. Erste Küsse

 

Er klingelt nervös an ihrer Tür. Ob sie sein Zettelchen gefunden hat? Sein letzter Besuch war drei Tage her. Es ist Mittwoch. Sissis Mutter macht auf: „Hallo Sören. Komm doch rein.“

Da geht Sissis Zimmer Tür auf. Etwas schüchtern schaut sie ihn an. Sie sieht besser aus. Die Schatten unter den Augen sind verschwunden, sie bekommt langsam wieder Farbe ins Gesicht, aber sie scheint einfach nicht zu zunehmen. Ihr kurzärmeliges T-Shirt zeigt das nur zu deutlich. Ihre Arme hatten noch vor kurzer Zeit aus starken Muskeln bestanden, sehen jetzt aber schwach und dünn aus. Sie trägt eine Jeans, die einmal hauteng war, soweit er sich erinnert. Nun hält ein Gürtel sie an Ort und Stelle, aber wenigstens steht sie ziemlich sicher. Sie scheint sich auch nicht so anstrengen zu müssen, um zu gehen. Und er findet sie einfach hübsch mit ihrem roten Shirt und der schwarzen Jeans.

„Hi, Sissi.“, haucht er und ihre Wangen röten sich fast augenblicklich. Da erscheint ein junger Mann aus einem anderen Zimmer. Bis auf die blauen Augen und die blonden Locken sieht man sofort, dass er Sissis Bruder ist. Auch wenn er etwas größer ist, als Sören, wirkt er ziemlich jung. Ungläubig schaut der Bursche Sören an.

„Wie hast du das gemacht?!“,

„Was?“

„Ich hab sie noch NIE rot werden sehen!“, mit einem gefährlich leisen Aufschrei wirft Sissi plötzlich einen Tennisball nach ihrem Bruder und trifft genau die Schläfe.

„Na… Ich lass mich zum Beispiel nicht von ihr mit Bällen erschießen.“, kommentiert Sören das grinsend.

„Aber von Heften erschlagen?“, kichert Sissi leise.

„OK- jetzt wird’s verrückt. Erst wirst du rot UND dann kicherst du?! Sissi wirst du wieder kran… AU!“, nur mit einem Satz hat Sissi die 2 Meter überwunden, die von ihrem Bruder trennten und setzt ihn mit einem ziemlich fiesen Piecks in seinen Bauch außer Gefecht. Selbstzufrieden grinst sie ihn an, ehe sie sich zu Sören umwendet.

„Oh-und ich versuche mich nicht erstechen zu lassen!“, hätte er mal den Mund gehalten, dieses Grinsen auf ihren süßen Lippen sieht gefährlich aus. Doch als sie denselben Trick versucht, wie bei ihrem Bruder, packt er schnell ihre Hand und dreht Sissi schwungvoll mit dem Rücken zu sich.

„Ich hab dir doch gesagt, ich würde in Zukunft deine Hand festhalten. Schon vergessen?“, irgendwie findet er sie bezaubernd, wenn sie ihn so ungläubig über die Schulter ansieht. „Vielleicht sollte ich dich nächstes Mal noch küssen?“, flüstert er so leise in ihr Ohr, dass nur sie es hört. Sie errötet augenblicklich wieder und ihre Augen werden noch größer.

 

Hat dieser arrogante Mistkerl eben gedroht, sie zu küssen? Sie hört ihre Mutter kichern, als Kai sich bei ihr beschwert, wie brutal doch seine kleine Schwester sei.

„Sag mal Sissi, da du eben dein armes Bruderherz erstochen hast, willst du wohl allein spazieren gehen?“, sie hört das Grinsen deutlich in Mutters Stimme, aber dieser verdammte Mann lässt sie nicht los. Also kann sie sich auch nicht umdrehen.

„Ich könnte mit ihr rausgehen. Habt ihr auch Leine und Halsband? Am besten auch einen Maulkorb? Da sie ja nun schon ihre Familie angreift…“, da befreit sie sich aus Sörens Griff und will ihm gerade gegen die Brust boxen, als er mühelos und lachend ihre Hände einfängt und Richtung Zimmer schiebt. Fassungslos sucht sie Blickkontakt zu ihrer Mutter, die nur lachend zurück in die Küche geht. Hallo! Da ist ein Kerl dabei, sie mit einem dreckigen Grinsen in ihr Zimmer zu verfrachten und ihre Mutter sagt nichts?! Das findet Sissi jetzt wirklich beunruhigend und als sein Mund sich ganz selbstverständlich auf ihren legt, versteht Sissi die Welt nicht mehr. Sowieso hat sie die Welt genau in dem Moment vergessen, wo seine Zunge frech zwischen ihre Lippen fährt und ihr ein beinahe Stöhnen entlockt.

Da lässt er sie los: „Anziehen, Süße.“

Oh diese verfluchte, tiefe Stimme und warum hat er überhaupt aufgehört?! Hat sie ihm das erlaubt?!

Als sie kichernd vom Spaziergang wiederkommen, stehen drei Kerle im Flur. Kai, Janes und René schauen sie ungläubig an, als Sissi die Wohnung betritt. Noch immer mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Aber jetzt ist es ihr egal, er hat sie noch mal geküsst und noch einmal und dann gesagt, dass er sie wunderschön findet. Für heute will sie sich einfach wohlfühlen in diesem Glücksgefühl. Die Realität kommt schon noch früh genug zurück. Also tanzt sie summend in ihr Zimmer zurück und legt ihr Beutestück zärtlich auf ihr Bett: Er hat ihr seinen Schal geliehen, weil sie ihren vergessen hat und während er ihr diesen um den Hals legte, hat er sie die ganze Zeit geküsst!

Ach muss Liebe schön sein... Naja zu Mindestens fürs Erste..

10. Aufregung

 

Heut ist Sissis erster Arbeitstag. Sie ist immer noch mager, immerhin hat sie während der letzten 3 Wochen 6 Kilo Gewicht verloren, davon hat sie erst zwei wieder zu gelegt. Aber immerhin machen ihr weite Wege nicht mehr ganz so viel aus. Naja, weniger, als vor einer Woche jedenfalls. Schwer heben und lange stehen kann sie noch immer nicht, deswegen hatte sie ihren Chef gefragt, ob sie in dieser Woche mit zu Sören in die Werkstatt könnte, der hatte ihr angeboten, ihr ein paar Dinge bei zu bringen, ohne dass sie schwer heben müsste oder so. Vor einigen Tagen hat sie auch seinen Zettel gefunden. Jeder andere hätte wahrscheinlich seine Handy Nummer hinterlassen, aber Sören hatte seine Adresse aufgeschrieben und dass er jeden Tag um 6 Uhr losfährt. Nun steht sie mit glühenden Wangen vor seiner Haustür. Es ist immer noch kalt, aber nicht mehr so verschneit. Sein Auto steht einige Meter entfernt. Eigentlich könnte sie ja auch klingeln, aber sie ist viel zu zeitig. Es ist erst 5. 37 Uhr! Sie war nicht sicher gewesen, ob sie gleich die richtige Hausnummer finden würde...

Da legt sich plötzlich eine behandschuhte Hand auf ihre Augen. Erschrocken schreit sie leise auf, als sich noch zusätzlich ein Arm von hinten um ihre Taille schlingt.

„Bist du vielleicht ein winziges bisschen zu früh, Süße?“, oh diese Stimme! Nächtelang hat sie dieser Mann bis in die Träume verfolgt, seine Küsse, seine Worte. Aber dass er sie „Süße“ nennt, regt sie eigentlich auf und doch werden dabei jedes Mal ihre Knie weich.

Sissi bekommt kein Wort heraus, versucht sich aber dennoch von seinen Armen zu befreien. Doch Sören bewegt sich keinen Zentimeter. Er lacht stattdessen nur dieses leise, raue Lachen, dass ihr Herz aus dem Takt bringt.

 

„Hast du gefrühstückt?“, er dreht sie um und mustert sie kritisch. Ihre braunen Augen schauen ihn an, als wäre sie ein verschrecktes Reh. Das tut sie oft, aber es lässt sein Herz trotzdem schneller schlagen, er liebt diesen süßen Blick einfach. Genauso wie das zartrosa Anlaufen ihrer Wangen und wie sie verlegen auf ihrer Lippe rum kaut.

„Also nicht.“, er seufzt theatralisch und schüttelt den Kopf, nur um sie mit mahnend erhobenen Augenbrauen an zu sehen: „Wie willst du denn so in der Werkstatt arbeiten?!“

Er spürt, dass sie sein strenger Tonfall etwas verwirrt, aber dann grinst sie frech und äfft ihn wortlos nach. Mit einem Knurren schnappt er sie sich und drängt sie mit seinem Körper rückwärts, bis sie ans Auto stößt und nicht weiter kann. Nun zieht sie die Augenbraue in die Höhe und bewegt sich blitzschnell zur Seite. Aber etwa so was hat er schon erwartet und stützt sich links und rechts von ihr am Auto ab. Sören berührt sie nicht, noch nicht. Im Moment hat er sie genau da, wo er sie haben will, ohne sie dramatisch einzuschüchtern. Sie schreckt noch immer zurück, vor seiner Nähe, aber daran arbeitet er ja bereits.

„Willst du mir nicht antworten, Prinzessin?“, da faucht sie! Ah, gut, soll sie ruhig die Krallen ausfahren. Sie versucht ihn sogar weg zu schieben. Umso näher drängt er sich an sie, bis ihre Brust gerade so seine Jacke streift, wenn sie atmet. Plötzlich steht sie einfach still, schaut zu ihm auf, unsicher, was er erwartet. Der leise Hauch von Scheu ärgert ihn eigentlich, aber das wird er sie nicht merken lassen.

„Also? Warum hast du nichts gegessen?“, flüstert er und beginnt langsam ihr Ohrläppchen mit den Lippen zu streifen. Sie zuckt zusammen, atmet hörbar ein und hält wieder still.

„Ich… Ich war… öhm... aufgeregt?“, ah sie fängt immerhin schon mal an, ihm nicht aus zu weichen. Gut.

„Warum?“

„Weil… na wegen… naja ich… äh…“

„Ja?“, oh ihr Kiefer schmeckt gut… Ihr Duft gefällt ihm.

„H… Hör b… bitte auf…“, sie zittert, aber ihre Stimme klingt eher, als sollte er weiter machen. Genau wie ihr halbenttäuschtes, fast ersticktes Aufstöhnen, als er tatsächlich aufhört und sie fest anblickt.

„Du warst aufgeregt? Warum?“, ihre Wangen sind für ihre Verhältnisse glühend rot, aber sie hält seinen Blick einen Augenblick stand.

„Ich… wegen… dir…“, gesteht sie schließlich leise. Das überrascht ihn. Er hatte gedacht, sie würde wenigstens versuchen, einen anderen Grund vor zu schieben. Aber er freut sich über ihre Ehrlichkeit.

„Gut, dann können wir ja jetzt frühstücken fahren.“, mit großen Augen sieht sie ihn an und er zuckt die Schulter: „Man(n) darf ja wohl ein bisschen nervös sein, wenn man ein hübsches Mädchen als Gehilfin bekommt oder?!“

 

Als sie endlich heim kommt, ist sie völlig erschöpft. Sören war wirklich rücksichtsvoll, er hatte ihr gezeigt, wie man einen Luftfilter wechselt und sie dann mit Zettel und Stift an die Werkbank gesetzt, während er ihr am Traktor den Kraftstoffverlauf erklärte. Er war geduldig und erklärte ihr alles, so einfach wie möglich, was ihm Sissi damit dankte, dass sie es bald genauso gut erklären konnte. Er ließ sich zu sehen, bei einer Reparatur am Hoflader. Sie saß derweil auf dem Sitz und schaute ihm auf die Finger, stellte Fragen, hielt das Werkzeug oder holte ihm einen gewünschten Schraubenzieher. Sie lachten viel. Wenigstens küsste er sie nicht auf Arbeit, das hätte sie wohl ziemlich abgelenkt. Das tut sein schönes Gesicht schon manchmal. Sie musste sich am Anfang unheimlich auf seine Worte konzentrieren, um nicht sein Gesicht an zu starren. Aber jetzt findet sie es gar nicht mehr so schwierig, denn er hat so eine lebhafte Art, etwas zu erklären, dass sie es gut versteht. Und das geht die ganze Woche so, naja bis darauf, dass er sie ab nun abholen wird, er lässt da gar nicht mit sich diskutieren.

11. Der Neue

 

Diese Woche hat sie Nachtschicht mit einem neuen Kollegen. Einige kennen ihn, weil sein Großvater mal Tierarzt gewesen ist. Aber Sissi weiß nur, dass er Mikel heißt und etwa in ihrem Alter ist. Dadurch, dass sie in der letzten Woche zu einem Lehrgang war, hatte sie seine „Einführung“ verpasst. Ihre Kolleginnen haben am Telefon jedenfalls geschwärmt, was für gut aussehender junger Mann er sei (dasselbe sagten sie auch über Sören,also könnte das durchaus der ).

Sissi kommt eben von der Brunstkontrolle zurück, als die Tür aufgeht. Ein junger Mann betritt das Milchhaus und bringt eine halbe Schneewehe mit. Sie richtet sich von den Unterlagen auf.

„‘Tschuldigung… bin in einer Schneewehe stecken geblieben…“, verblüfft hält er inne, als er sie sieht. Er ist ein bisschen größer und kräftiger, als Sören, hat blonde Locken und strahlend blaue Augen. Er ist wirklich ziemlich hübsch, stellt Sissi zu ihrer eigenen Überraschung fest.

Sie lächelt flüchtig: „Schon gut. Treiben oder Melken?“

Verdattert blinzelt er: „Normalerweise suche ich mir das nicht aus…“

„Heute schon.“, zuckt sie die Schulter und wendet sich dem Schreibkram zu.

„Dann treibe ich...“

 

Warum hat ihm denn keiner gesagt, dass „Sissi“ ein junges Mädchen ist und dann auch noch ein so hübsches? Wie sie dagestanden hat… zerzauste kurze rotbraune Locken, große braune Augen und eine Haut wie Elfenbein. So wunderschön. Er hatte mit einer strengeren Frau mittleren Alters gerechnet, bei der Hochachtung, mit der einige Kollegen von ihr sprachen oder der offensichtlichen Freundschaft… Aber die Kleine ist so schlank und zerbrechlich, dass er kaum glauben kann, dass sie wirklich hier arbeiten wird, mit ihm. Eilig zieht er sich um.

 

Erstaunlich schnell kehrt der Neue von seinen Arbeiten draußen immer wieder zu ihr in den Melkstand zurück. Er redet nicht viel, aber das stört Sissi nicht. Anstandslos treibt er ihr die Kühe ran und hilft beim Ansetzen. Meistens ist er kurz angebunden. Das wird eine schön ruhige Nachtschichtwoche. Auch die folgenden zwei Nächte verläuft die Schicht ruhig. Am dritten Abend kommt er, bevor sie zur Brunstkontrolle in den Stall geht.

„Magst du Kaffee, wenn du zurück kommst?“, fragt er. Überrascht hält sie inne und legt den Kopf schief.

Dann nickt sie: „Bin in 20 Minuten zurück…“

Als sie zurückkommt, tritt Mikel aus dem Pausenraum: „Milch, Zucker?“

„Milch bitte… viel Milch“, Sissi legt das Klemmbrett ab und sucht die erste Karte.

„Was machst du da?“, fragt er, als er neben ihr steht.

„Ich suche Besamungskühe raus…“, erklärt sie und zeigt es ihm. Nach dem Kaffee, bereitet sie den Melkstand vor. Auch in dieser Schicht sprechen sie nicht viel.

Und am nächsten Abend läuft es so ähnlich. Nur dass er, als sie eben Kühe vormelkt plötzlich hinter ihr steht.

„Arbeitest du schon lange hier?“, Mikel steht höchstens einen Meter weg von ihr und sie hat ihn gar nicht bemerkt!

Vor Schreck fällt ihr der Melkbecher aus der Hand. Und dann denkt sie: Es spricht! Da muss sie lachen.

Sein Blick wirkt echt verstört. Zwischen ihren Lachkrämpfen versucht Sissi, ihm zu erklären, was so lustig ist, aber wahrscheinlich versteht er kein Wort. Erst langsam beruhigt sie sich.

„Erschrick mich ja nicht noch mal so!“, gluckst sie.

„Das tut mir Leid… Dachte, du hast mich bemerkt…“, entschuldigt er sich zerknirscht.

„Schon ok, ich war wieder nur auf meine Mädels fixiert.“, grinst sie. „Und naja ich bin erst im dritten Lehrjahr…“

„Ach echt?“, das scheint ihn zu überraschen, aber mehr fragt er nicht. Von da an quatschen sie immer wieder ein bisschen. Mikel ist etwas schüchtern und seine ruhige Art ist Sissi ganz sympathisch. Irgendwie ist es niedlich, wenn er rot wird, weil sie ihn anlächelt. Ihr Gewissen meldet sich bei dem Gedanken. Was ist mit Sören? Zwar sind sie nicht zusammen, aber er hat sie geküsst… Oder ist das alles nicht ernst? Zweifel nagen an ihr. Sollte sie nicht Abstand halten zu einem so selbstsicheren Typen und Zuneigung erwidern, die so offen ist, wie Mikels?

Wie blöd ist sie denn?! Sie kann unmöglich was mit einem Kollegen anfangen! Außerdem will sie doch sowieso studieren und dafür müsste sie in einem halben Jahr woanders hin ziehen. Ärgerlich nimmt sie sich vor, ihre Hormone wieder in den Griff zu bekommen. So kann das nicht weiter gehen. Nicht nur wegen ihr selbst, sie möchte auch nicht die Gefühle von Sören oder Mikel verletzen.

12. Ernstes Gespräch

 

Sissi wirkt distanziert und etwas abwesend. Schon seit einigen Wochen geht sie jeder verfänglichen Situation mit ihm aus dem Weg. Das macht Sören langsam wütend. Er hatte so gute Fortschritte bei ihr gemacht! Warum geht sie ihm aus dem Weg? Heute hat sie Mittelschicht und da er sich um die Biogasanlage kümmert, kann er sie heute abfangen. Er muss wissen, warum sie sich so zurückzieht.

Sören sieht, wie die Lichter im Stall ausgehen, also fährt er sein Auto vor das Milchhaus und setzt sich in den Pausenraum, um auf Sissi zu warten. Als sie aus der Umkleide kommt, fängt er sie ab. Ihr Blick wirkt gequält.

Stirnrunzelnd schaut sie zu ihm auf: „Was ist?“

„Die Frage sollte ich dir stellen!“, erwidert Sören.

Betroffen wendet sie sich ab. „Lass es gut sein…. Es geht nicht!“

„Warum nicht? Ist es der Neue? Hab ich was falsch gemacht?“, sie geht einfach weg, aber er packt sie am Arm, nicht bereit sie gehen zu lassen.

Sie wehrt sich verbissen, doch er zwingt sie, ihn an zu sehen: „Sissi, was soll das?!“

„Ich… es geht einfach nicht… ich zieh in einem halben Jahr weg und… Außerdem… Das war… ich kann nicht Sören. Such dir eine andere mit der du spielen kannst!“, sie will sich los reißen.

Aber da macht er nicht mit: „Du glaubst also, ich spiele?“

Unsicher schaut sie zu Boden: „Sieh dich doch mal an… Im ganzen Dorf reden die Mädchen von niemand anderen… und ich bin in einigen Monaten so weit weg, dass ich nicht jedes Wochenende heimkommen kann. Du würdest mich vergessen und… Wir sollten aufhören ehe es zu spät ist…“

 

Sein Griff wird fester und sie versucht, ihm zu entkommen. Sissi fühlt sich schrecklich. Wie lächerlich er es finden wird, ihre Gefühle. Sie hat sich tatsächlich in ihn verliebt gehabt, gesteht sie sich ein. Das hätte sie nicht tun sollen. Es ist dumm, mit einem Kollegen an zu bändeln. Vor allem mit einem so gutaussehenden, selbstbewussten jungen Mann, wie Sören. Er hat sie eben genau an ihrer schwächsten Stelle getroffen, als er sich um sie gekümmert hat. Und das er sie nicht aufgegeben hat, obwohl die Krankheit sie so gezeichnet hat…

„Das meinst du nicht ernst!“, die Anklage tut schon weh, ohne dass sie ihn ansieht.

„Doch…“, wispert sie und schluckt ihre Tränen runter.

„Sieh mich an!“, er packt ihr Kinn und zwingt ihren Blick zu seinen Augen. Sissi erschrickt der Schmerz darin. „Wir kennen uns jetzt fast ein dreiviertel Jahr. Seit dem Erntedankfest hab ich nicht mal an andere Mädchen gedacht! Glaubst du wirklich, ich würde dich einfach vergessen?“

Sissi schluckt und versucht vernünftig zu denken: „Sören denk doch mal nach! Du wolltest mich nur, weil ich dir nicht gleich zu Füßen gefallen bin!“

Da lässt er sie los: „Glaubst du das wirklich? Dass ich dich gar nicht mag?“

„Ein bisschen vielleicht…“, sie zuckt die Schulter. Sie will es nicht glauben, aber logisch betrachtet: Warum sollte er sie sonst wollen?!

„Ein bisschen?! Verdammt! Du machst mich wahnsinnig, Kleines! Ich… Du … Wie kommst du nur auf so einen Quatsch?! Denkst du ich renne anderen Mädchen solange hinterher, um auch nur die Spur eines Lächelns zu bekommen?!“, er klingt verzweifelt.

Sissi hebt abwehrend die Hände: „Ich weiß es nicht. Aber egal warum… es geht einfach nicht. Vergiss mich Sören! Ich.. ich kann nicht…“, damit verschwindet sie eilig.

Sie rennt auf ihr Zimmer und schließt sich dort ein. Auf voller Lautstärke lässt sie ihr Radio laufen, damit sie niemand weinen hört, Sissi fühlt sich furchtbar. Ihr ist klar, dass sie Sören vor den Kopf gestoßen hat. Irgendwann schläft sie erschöpft ein.

 

Sören aber hat gar nicht vor, sie gehen zu lassen. Er fährt zu ihr nachhause. Als Sissis Mutter aufmacht, ist er erleichtert.

„Kann ich Sie etwas fragen?“, sie nickt und lässt ihn herein.

13. Große Verwirrung

 

„Sie hat dich abserviert?“, die Frage klingt wie eine Feststellung und deshalb nickt er nur.

Er hatte noch gar nichts gesagt, aber Sissis Mutter wusste gleich Bescheid.

Sie seufzt: „Ich habe das schon befürchtet… Sie ist ziemlich aufgewühlt… Letzte Woche kam der Brief, dass sie angenommen wird.“

„Wo geht sie denn hin?“, fragt Sören bestürzt. Sissi redet immer nur von weg, aber verrät ihm nie mehr darüber.

„Nach Dresden an die Uni… Sie hat ein Stipendium bekommen für Hochbegabte… Euer Chef hat sich unter anderem dafür eingesetzt. Ich sehe dem ganzen kritisch entgegen…“

„Dresden? Und Uni? Sissi kann kaum bei einer Mitarbeiterversammlung still sitzen… Sie würde dort eingehen wie eine Topfpflanze im Kühlschrank!“

Sissis Mutter lächelt: „Genau das dachte ich auch, aber sie hat beste Noten, hat neben Ausbildung und Berufschule ihr Abi in der Abendschule nachgeholt und zwar mit 1,14 im Schnitt, hat außerdem Zusatzkurse besucht und über einen Fernkurs Latein gelernt… Sie macht mir manchmal Angst mit ihrem Wissensdurst… Aber ich glaube, sie wird den Trubel an der Uni nicht gut vertragen.“

„Mein Abbi hab ich auch im Abendkurs gemacht vor 3 Jahren, allerdings nur mit 2,2… und ich war ausgelernt… Wissen Sie die Anmeldefristen?“, Sören überlegt fieberhaft.

„Du willst dort auch hin?“, fragt die Mutter überrascht.

Er grinst schief: „Eigentlich nicht, aber wie ich Sissi kenne… Allein und solang getrennt von allem Bekannten… Sie würde verrückt werden… Außerdem hat der Chef mir schon in den Ohren gelegen, ich soll gefälligst was draus machen…“

„Weißt du, warum sie dich auf Abstand halten wollte?“, fragt die Mutter unvermittelt.

„Sie glaubt, ich würde es nicht ernst meinen.“

Sie holt aus einem Schrank ein großes Fotobuch hervor: „Sissi hat das Buch hier angelegt…“

Auf der ersten Seite sind Raben gezeichnet und ein Gedicht geschrieben. Sören blättert weiter. Bilder von ihrer Schwester – als Kind, junges Mädchen, junge Erwachsene, im Koma und dann das Grab. Auf kaum einem Bild ist das Mädchen allein, fast immer steht eine lachende Sissi daneben. Zwischendrin niedliche Zeichnungen und Gedichte von Freundschaft. Dann Bilder von Sissi selbst mit aufgeplatzten Lippen, frisch genähten Narben im Nacken, blauen Flecken, ein Foto von einem zerrissenen, blutbefleckten Nachthemd auf weißen Fliesen. Immer wieder Zeichnungen von Mädchen mit zerrissenen Kleidern, blutigen Verletzungen… Mädchen mit leeren Augen und toten Tieren im Arm… Vögeln mit gebrochenen Flügeln, schwerverletzte Pferde oder Wölfe… Traurige Zitate und Gedichte… Und zum Schluss kleine 4 Fotos von Jungen und daneben ein Wort: Betrug. Schließlich ein Zeitungsausschnitt mit den Phantombildern ihrer Vergewaltiger.

Sören ist am Boden. Die Fotos, wie sie nach der Vergewaltigung ausgesehen hat, machen ihn fertig. Sie war völlig zerstört und dann ist auch noch ihre Schwester gestorben!

„Sie hat panische Angst vor Fremden und will trotzdem nach Dresden?!“, bekommt er nur heraus.

Die Mutter nickt traurig: „Sie will fort von all diesen Erinnerungen. Am Liebsten weit fort. Und du bringst sie durcheinander. Sie hat sich das so schön eingeredet, dass sie unbedingt das Studium will und sie nichts hier hält… Und dennoch will sie nicht weg…“

Sören springt auf: „Ich muss zu ihr! Sie… an der Uni geht sie kaputt! Wenn sie hier weg will, kann sie doch ein Fernstudium machen und… woanders arbeiten…“, da hat er eine Idee: „Mein Onkel hat einen kleinen Betrieb und… sucht Mitarbeiter… und er hat Pferde… das wäre zwar im Harz, aber viel ruhiger…“

Ihre Mutter grinst: „Fahr zu ihr und rede mit ihr. Ich glaube dir, dass sie dir viel bedeutet, aber sie musst du überzeugen… Davon, dass sie aufhören muss, dir zu misstrauen.“

 

 

Sissi wacht auf, weil jemand an ihre Tür klopft.

„Ja?“, fragt sie unsicher und schaut auf ihr Handy. Mist sie hat noch einen Zug verpasst. Ab morgen hat sie einige Tage frei, eigentlich wollte sie heut heimfahren.

„Sissi? Bist du da? Komm mal bitte schnell!“, die Stimme einer Kollegin. Sissi springt aus dem Bett und rennt zur Tür.

„Mikel liegt in der Einfahrt… Ich bekomm ihn nicht hoch…“, die junge Frau sieht verzweifelt aus. Obwohl kräftig, hat sie nicht genug Kraft den großen Mikel auf zu heben. Sissi folgt ihr, ohne sich etwas über zu ziehen.

Sie sieht draußen gleich, was los ist. Mikel ist hingestürzt und liegt merkwürdig verrenkt da.

„Wir müssen ihn irgendwie reinbringen… Mikel hörst du mich?“, sie beugt sich über ihn. Er stöhnt unterdrückt, bevor er nickt.

„Das Bein…“, presst der große Kerl hervor. Sissi erschaudert, sie kann sich ihren Teil denken, kann aber so was nicht sehen.

„Wir bekommen ihn unmöglich die Treppe hoch…“, meint Gina, die Kollegin.

Sissi nickt: „Gib ihm deine Jacke, ich komm gleich zurück.“

Sie rennt ins Gebäude und holt aus dem Spint der Kälberfrau den Ersatzschlüssel für den Kälberstall, der gleich gegenüber von der Einfahrt ist. Dann rennt sie raus schließt, den Kälberstall und die Milchküche auf und eilt zu Mikel zurück.

„Mikel? Pass auf, das wird wehtun, aber du musst aufstehen. Wir helfen dir. Wir setzen dich in die Milchküche und rufen den Notarzt ok?“, er nickt. Gina und Sissi sehen sich an, dann nicken sie.

Als Mikel endlich in der Küche sitzt, atmen sie durch. Gina ruft die Chefin an, während Sissi den Notarzt wählt. Schließlich kommt Gina zurück, immer noch das Telefon in der Hand: „Kerstin kommt rüber und macht die Nachtschicht. Du sollst mit dem Notarzt mitfahren, dann bist du wenigstens gleich in der Stadt. Soll sie was mitbringen?“

Sissi schüttelt den Kopf: „Dann geh ich mal Zeug zusammen packen… Mikel zieh das nasse Zeug aus, ich hol dir ein paar Decken. Gina mach am Besten los, dann könnt ihr nachher gleich anfangen.“

Mikel beginnt, sich die nasse Jacke aus zu ziehen, als Sissi raus geht. Sie geht zuerst in die Küche und setzt heißes Wasser an. Dann holt sie aus ihrem Zimmer zwei Decken und bringt sie zu Mikel. Der nur noch in Jeans da sitzt und eben versucht das nasse T-Shirt auf die Heizung zu legen. Solche Muskeln hat sie bisher nur auf Bildern gesehen, denkt Sissi und schluckt. Sie reicht ihm die Decke und nimmt ihm das Shirt ab.

„Ich lege es drinnen auf die Heizung, da trocknet es schneller. Hast du im Spint noch einen sauberen Pullover?“

 

Mikel starrt sie fasziniert an. Sissi hat in den letzten Wochen wieder etwas zugenommen, wirkt aber immer noch zerbrechlich. Im Moment trägt sie eine enge Jeans und ein Tanktop. Zwei üble Narben, die sie normalerweise unter Rollkragen und Schals versteckt leuchten rot in ihrem Nacken. Und er sieht etwas unter dem Träger ihres Shirts… Eine Linie… ein Tattoo vielleicht? Ohne darüber nach zu denken, streicht er mit dem Finger darüber.

Sie zuckt so heftig zusammen, dass es ihm gleich Leid tut. Mit großen Augen schaut sie ihn an, bewegt sich aber gleich aus seiner Reichweite. Dann dreht sie sich um und geht raus. Aber er hat ihren Blick gesehen. Darin war nicht nur Schreck und Misstrauen. Auch ein gewisser Hunger lag darin. Derselbe Hunger, den er gesehen hatte, als sie in den Raum kam. Zwar sagen alle, sie hätte was mit dem jungen Burschen der immer die Werkstatt und die Biogasanlage macht, wenn der Schlosser weg ist, aber er hat noch nie etwas gesehen davon… Im Gegenteil sie hält diesen Sören genauso auf Abstand, wie ihn selbst. Mikel hört, dass sie wiederkommt und lässt sein Handy runterfallen, so dass die Decken herunter rutschen, als er versucht es auf zu heben. Genau in dem Augenblick kommt sie herein. Sie hält eine Tasse Tee in der einen, eine riesige Jacke in der anderen Hand. Er richtet sich wieder auf und lässt die verrutschten Decken im Schoß liegen.

„Die hängt schon ewig über den einen Stuhl, dachte die könnte passen.“, Sie schaut demonstrativ an ihm vorbei und stellt die Tasse neben ihn auf das Tischchen. Er schnappt sich ihre freie Hand und schaut ihr in die Augen.

„Danke, Sissi.“, sagt er leise, etwas verlegen vielleicht.

 

In dem Moment geht die Tür wieder auf. Sören schaut sie beide an. Auf Sissis Wangen ist wieder ein zartrosa Hauch zu sehen, als sie Mikel ihre Hand entwindet. „Er hat sich das Bein gebrochen. Wartest du mit auf den Notarzt? Dann kann ich endlich packen gehen.“, fragt sie Sören und eilt ohne abzuwarten aus der Milchküche.

Ihr ist die Situation offensichtlich unangenehm. Eifersucht brodelt in Sören auf.

„Es war nicht ihre Schuld.“, erklärt Mikel ruhig: „Es ist auch nichts passiert. Sie hätte mich gleich wieder abblitzen lassen…“

„Was…?“, Sören ist verwirrt.

Doch Mikel hebt nur die Hand: „Weiß sie es?“

„Was?“

Ein schiefes, halbes Lächeln: „Dass sie dir so viel bedeutet, dass du mich grad am Liebsten erwürgt hättest, nur weil ich ihre Hand gehalten habe.“

„Wie…“, Sören schüttelt den Kopf: „Sie glaubt es mir nicht.“

14. Rivalen

 

Sissi kommt schwitzend am Bahnhof an. Trotz des hohen Schnees hat sie es rechtzeitig geschafft. Sie ist vom Hof geschlichen und quer über die Felder gelaufen, um Sören aus dem Weg zu gehen. Mikel hat sie überrascht. Der Blick war so warm, dass sie ihm gar nicht böse sein konnte. Aber ihr ist völlig unbegreiflich, was das sollte. Sie ist ihm gegenüber genauso distanziert, wie zu Sören. Sie steigt eben in den Zug als auf der Hauptstraße Blaulicht aufleuchtet.

Am Bahnhof steigt sie aus und läuft durch die dunklen Straßen. Dicke, weiße Flocken bleiben in ihrem Haar hängen. Zuhause öffnet sie einen Brief. Sie hat sich noch woanders beworben. Nur 50 km von hier gibt es einen Betrieb, der eine praktische Weiterbildung zur Herdenmanagerin anbietet. Davon hat sie ihrer Mutter nur nichts erzählt, weil sie befürchtet hatte, sie würde ihr vorhalten, unbeständig zu sein. Jetzt hat sie die Zusage in der Hand. Und auch die Zusage für die kleine Drei-Raum-Wohnung, die zum Betrieb gehört.

 

Sören sieht Sissi kaum noch, sie redet nicht mit ihm und geht ihm aus dem Weg. Dann trifft er Mikel wieder. Mittlerweile ist Frühling.

„Weißt du, dass sie immer die Schicht tauscht, wenn sie mit mir hätte?“, fragt Mikel ihn.

Überrascht schaut Sören ihn an: „Wirklich? Sie geht mir aus dem Weg und redet nicht mit mir… Langsam mach ich mir Sorgen…“

„Gegenüber Gina muss sie nur gesagt haben, dass sie nur ihre Ruhe haben will…“, erklärt Mikel.

„Kerstin sagt das auch.“, brummt Sören.

 

„Wir würden dich auch übernehmen.“, sagt der Chef zu Sissi.

„Ich weiß… Aber ich muss eine Weile weg von hier.“, seufzt sie.

Ihr Chef schaut sie in väterlicher Sorge an: „Sag mal, Sissi. Was hast du eigentlich gegen Sören und Mikel? Erst gucken dich beide an, wie verliebte Gockel und jetzt meidest du sie ständig.“

„Sie... ich glaube… ich weiß es nicht. Sie sind beide sehr nett, aber… Sie wissen doch was passiert ist. Es macht mir Angst… Ich bin einfach noch nicht stark genug, damit um zu gehen…“

Der ältere Mann nickt nachdenklich: „Ich werde mit ihnen reden und sie bitten, sich neutral zu verhalten. Die Prüfung ist in drei Wochen… Weißt du schon, wo du dann hin gehst?“

Sie nickt dankbar und nennt den Betrieb, in dem sie nach der Prüfung anfängt.

 

„Mikel verhält sich doch völlig neutral! Aber verdammt, ich kann sie doch nicht gehen lassen!“, schimpft Sören im selben Büro einige Tage später.

„Weißt du Junge, dass Mädchen ist nicht nur einfach angegriffen worden. Sie ist in ihrem Bett von zwei Männern überfallen worden! Einer hat ihr Bettlaken zerschnitten und sie damit gefesselt. Dabei ist er mit dem Messer abgerutscht. Ein bisschen tiefer und er hätte ihr die Kehle durchgeschnitten! Und dann haben beide Männer ihr unaussprechliches angetan! Alle hier haben sich fast ein Jahr lang ein Bein aus dem Leib gerissen, um ihr zu helfen, wieder klar zu kommen. Am Anfang ist sie auch nur bei der leisesten Berührung in Panik ausgebrochen. Versetzt euch doch mal in ihre Lage. Und plötzlich steht sie zwischen euch beiden. Ich weiß Mikel, du würdest keiner Fliege was zur Leide tun. Und Sören auch nicht, aber ihr habt sie bedrängt. Besonders du Sören. Hast du ihr eine Wahl gelassen? Sie ist sich nicht sicher, wie gern sie euch hat, wen am Meisten oder was sie davon halten soll… Lasst sie gehen. Irgendwann kommt sie zurück und hat dann bestimmt ihre Entscheidung getroffen.“

Mikel nickt traurig: „Ich denke auch, dass sie es entscheiden muss. Im Moment ist sie verwirrt.“

Sören schüttelt den Kopf: „Wenn sie geht… Ich… ich kann ohne sie nicht mehr… Sie bedeutet mir zu viel…“

„Dann lass sie ihr Glück und vor allem ihren Frieden erst woanders suchen, Sören.“

Traurig steht er auf und verlässt den Raum. Es ist, als würde ihm jemand das Herz aus der Brust reißen…

 

15. Lange her

 

Sie ist schon über 3 Jahre nicht mehr hier gewesen. Tief einatmend strafft sie die Schultern. Sie hatte abwechselnd 3 Jahre lang Schule und Praktikum gehabt. Nach bestandener Weiterbildung hatte sie noch ihren Chef für 6 Monate vertreten, der wegen einem Kreuzbandriss ausgefallen war. Und dann hatte Karola sie angerufen, ihre ehemalige Ausbilderin… Im 7. Monat schwanger, ob Sissi sie nicht für ein Jahr vertreten könnte.

Als sie aus dem Auto steigt, kommt Kerstin ihr entgegen. „Meine Güte hast du dich verändert!“, staunt sie Sissi an.

Sissi trägt einen dunkelgrauen Hosenanzug und eine hochgeschlossene weiße Bluse. Ihre Narben sind etwas verblasst, ihr Haar fällt in schweren, rotgoldenen Locken über ihre Schultern. Sie ist dezent geschminkt. Kaum wieder zu kennen, das melancholische, scheue Mädchen von früher. Sie ist selbstbewusster geworden. Und hat etwas zugenommen, wodurch sich eine recht weibliche Figur enthüllt hat.

 

 

Sören beobachtet, wie Kerstin die junge Frau an dem neuen Jungviehstall vorbei in den Kälberstall führt, in dem sie letztes Jahr alles neu gemacht haben. Dann repariert er weiter den Hoflader. Mittlerweile ist der Schlosser nur noch halbtags arbeiten, weshalb Sören nun hauptsächlich in Werkstadt und Biogasanlage arbeitet. Die Fremde hat ihn an Sissi erinnert. Ärgerlich wechselt er das kaputte Teil aus.

Als er die Werkstatt verlässt, um zur Mittagspause zu gehen, steht sie ihm direkt im Weg. Sie wartet offensichtlich auf jemanden und schaut sich etwas um, ohne Sören zu bemerken. Als sie sich umdreht, trifft ihn fast der Schlag. Es ist Sissi! Ihr Gesicht wirkt erwachsener ud die Augen haben einen Teil des endlosen Schmerzes verloren. In ihrem Blick glänzt unheimlich viel Intelligenz. Und eine Spur Erschrecken, als sie ihn erkennt. Ihre Lippen bilden ein perfektes, stummes Oh und einen kurzen Augenblick sieht er das Mädchen von früher in ihr, dass ihm ein Heft um die Ohren gehauen hat. Allerdings sammelt sie sich schnell wieder, schaut kurz zur Seite, ehe sie ihn wieder anschaut. Nun ist ihr Blick klar, reserviert, aber freundlich. Etwas verlegen streicht sie sich eine Strähne hinter das Ohr.

„Hallo.“, leise, kaum hörbar. Ihre Stimme ist dunkler geworden… reifer irgendwie. Ihre Haut ist nicht mehr blass, sondern leicht gebräunt und beinahe entgeht ihm der zarte rosa Hauch auf ihren Wangen.

Sein Herz setzt einen Schlag aus und krampft sich gleich wieder schmerzhaft zusammen. „Sissi…“, mehr sagt er nicht. Es ist einfach überwältigend. Am liebsten würde er sie an sich ziehen. Festhalten und nie wieder gehen lassen. Verwirrt streicht er sich eine irrwitzige Strähne aus der Stirn: „Es ist lange her.“

Sie nickt und senkt den Blick: „Ich weiß.“

 

Sie würde ihn gern so viel fragen… Sörens Gesicht ist kantiger geworden, seine Hände kräftiger. Und seine Augen… dunkler irgendwie… intensiver… weniger fröhlich. Aber ihr Hals ist wie zugeschnürt. Keinen Ton bringt sie heraus. All die Jahre hatte sie an ihn gedacht. Irgendwann war ihr klargeworden, dass es zwar zu viel gewesen war damals für sie, aber dass sie ihn vermisste. Sehr vermisste. Hat er jetzt eine Freundin? Vielleicht sogar Familie? Ihre Mutter hatte immer wieder Grüße von Sören ausgerichtet. Aber nie mehr erzählt. Auch bei ihren Besuchen nicht.

Karola rettet sie aus der peinlichen Situation: „Hab die Nummer gefunden! Oh Sören!“

„Nummer?“, Sissi ist etwas zerstreut.

„Na von der Wohngesellschaft…“

 

Da schaut Sören sie wieder an: „Du bleibst jetzt hier?“

Karola, voll in ihrem Element, erzählt ihm gleich alles. Doch er hat nur Augen für Sissi, die die Schultern strafft und nickt. Sie wirkt selbstsicherer als früher. Als sie sich verabschiedet, begleitet er sie bis zur Ausfahrt.

„Geht es dir gut?“, fragt er schließlich.

Sie nickt und lächelt still in sich hinein: „Ja… viel besser…“

„Suchst du im Dorf eine Wohnung?“

Sie nickt: „Mama ist ja umgezogen, nachdem auch mein Großer weg gegangen ist… Und ich will nicht so weit fahren…“

„In der Waldstraße ist eine Dachgeschosswohnung frei… hab ich letztens gehört...“

Ihre Augen bekommen dieses Glitzern, wenn ihr etwas gefällt… Sören schaut auf seine Uhr: „Wenn du eine halbe Stunde wartest… könnte ich es dir zeigen…“

Überrascht hebt sie die Augenbrauen. Sein Blick ist eine unausgesprochene Bitte… „Ich muss leider los, was für Mama erledigen…“, sie schaut auf ihr Handy: „Ich kann erst 17 Uhr wieder…“

Das ist ein Angebot, dass er auf keinen Fall ausschlagen kann. Sie hat ihm eben eine direkte Zeit gesagt… „Ich könnte dich abholen… Danach können wir ja in den Landstreicher gehen, wenn du Lust hast…“ Ein kleines Restaurant am Dorfausgang.

Dieses Mal wird sie etwas rot: „Oh ich…weiß nicht…“

„Nur essen und etwas reden… Wir haben uns lange nicht gesehen. Bitte sag ja.“, er setzt den traurigsten Blick auf, den er kann.

Er kann sehen, dass es ihr wiederstrebt, doch dann seufzt sie nur und nickt.

„Danke.“, strahlt Sören sie an.

 

„Aufgeregt?“, ihre Mutter steht in der Schlafzimmertür und schaut Sissi zu, wie sie versucht etwas Passendes zum Anziehen zu finden.

„Mama! Ich… Er… Er will danach mit mir essen gehen! Hat er eine Freundin, Mama?“, sie wirft ein T-Shirt ärgerlich aufs Bett.

„Ich fand die braune Bluse hübsch. Und den schwarzen Rock… Nein, ich glaube, er hat keine Freundin. Immer fragt er nur, wie es dir geht. Meine Güte Sissi, du hast den Körper eines Models bekommen!“, ihre Mutter lacht. Sissi ist zwar klein, aber irgendwie haben sich die neue Umgebung und die neue Arbeit gut auf ihren Körper ausgewirkt. Ihr Körper ist muskulöser und kurviger als je zuvor… und ihr Bauch flach aber nicht dürr…

„Meinst du nicht…“, da kommt ihre kleine Schwester und gibt ihr ein grünes Top.

„Das musst du anziehen! Sören mag total grün!“, behauptet die Kleine.

„Woher weißt du das denn?“, fragt ihre Mutter und Sissi nickt anerkennend. Also grünes Top, die braune Bluse offen darüber und ein knielanger, schwarzer Rock………

 

Sören schluckt, als er auf dem Parkplatz hält. Sie sieht so schön aus, dass all die Gefühle von damals schlagartig zurückkommen und ihn fast überwältigen. Er hat nie vergessen, wie es war, ihre weichen Lippen zu küssen oder ihr Haar zu streicheln. Jede Faser in ihm will sie an sich reißen, aber er weiß auch, dass er sie damals genau mit dieser Unbeherrschtheit überfordert hat. Diesen Fehler macht er kein zweites Mal, er wird sie langsam und stilvoll dazu bringen, ihn so sehr zu lieben, dass sie ihn von alleine küsst. Bei dem Gedanken zucken seine Mundwinkel.

Er steigt aus und öffnet ihr die Beifahrertür, damit sie einsteigen kann. Sie meidet seinen Blick, aber Sören sieht, dass ihre Wangen sich wieder röten. Im Landstreicher hat er extra einen Tisch bestellt, der hinten auf der Verander ist, direkt am Wildgehege, das dahinter anschließt. Etwas abseits von anderen Tischen, um ungestört mit ihr reden zu können, ohne sie in die Enge zu treiben. Jetzt erstmal wird er versuchen, ganz unverfänglich mit ihr zu sprechen und sie zu der freien Wohnung zu fahren.

"Du siehst... gesünder aus.", sagt Sören, eigentlich wollte erwähnen, dass sie noch immer schön ist, vielleicht noch hübscher als früher, aber er befürchtet, dass sie dann dicht macht.

Sie wirft ihm einen prüfenden Blick zu: "Die Magen-Darm-Grippe ist auch fast 4 Jahre her."

Sören schnaubt amüsiert: "Wenigstens bist du noch genauso schlagfertig, wie früher."

Ein zartes Lächeln umspielt ihre Lippen: "Ich hab lediglich nicht verlernt, mich zu wehren."

"Warum musst du dich gegen MICH wehren?", fragt Sören verblüfft.

Demonstrativ schaut sie aus dem Fenster und kaut auf ihrer Unterlippe. Ihre Wangen sind wieder köstlich gerötet. Es fällt ihm nicht leicht, den Blick von ihrem Profil zu reißen. Ein Themenwechsel scheint ihm ratsam. "Wirst du hier bleiben?"

"Nur solange Karola ausfällt. Also bis zur Geburt und dann noch ein Jahr.", sie sagt es ohne großartige Betonung. Aber Sören hat Angst, sie könnten sich danach wieder aus den Augen verlieren. Er weiß, dass Sissi sich auf keinen Mann eingelassen hat, obwohl auch im anderen Betrieb einer eindeutige Avanchen gemacht hat. Ihre Mutter hat Sören erzählt, Sissi hätte behauptet, sie wäre in einer Beziehung.

"Und dann?", fragt er mit heiserer Stimme.

Wieder sieht sie ihn an, als sie antwortet: "Danach übernimmt mich der Betrieb, wo Gretes Mann arbeitet. Der Herdenmanager dort geht in 2 Jahren in Rente und möchte mich vorher schon anlernen. Also werde ich hier nur 4 Tage die Woche arbeiten. Freitags bin ich dann immer drüben, um Mitarbeiter und Betrieb kennen zu lernen."

Das sind nur 12 km! Erleichterung erfasst ihn. Sie geht nicht weit fort. Er atmet tief ein: "Das klingt doch gut."

 

Ist er wirklich erleichtert, dass sie nicht mehr weiter weg geht? Ihr Herz klopft in einem schnelleren Rythmus. Verlegen schweigt sie. Sissi ist etwas nervös, wenn es um Sören geht. Er wirkt muskulöser, als früher. Aber er scheint ernster geworden zu sein. Immerhin hat er ihr heute noch kein Macho-Lächeln zu geworfen. Sowieso versucht er sich offenbar zusammen zu reißen, sie nicht zu überrumpeln. Aber auch Sissi hat sich verändert. Ihr ist klar, dass sie sich mittlerweile wehren kann, wenn sie es wirklich will. Sie hat einen Selbstverteidigungskurs besucht. Außerdem ist sie recht hübsch geworden. In den letzten 3 Jahren hat sie sich angewöhnt, doch ab und zu mal was für ihr Äußeres zu tun. Ihre Figur ist Bikini-tauglicher als je zuvor, Make-Up verwendet sie dezent, aber betont vorallem ihre Augen. Sie hat in der letzten Vergangenheit viele Verehrer abgewiesen, höchstens einen kurzen Flirt, aber dann stets rechtzeitig aufgehört. Im anderen Betrieb hat sie außerdem eine Freundschaft zu einer Kollegin und ihrer Schwester entwickelt, die ihr wirklich gut tun. Damals fiel es Sissi unglaublich schwer, Freundschaften auf zu bauen. Sie hatte ein großes Vertrauensproblem. Zwar ist sie noch immer vorsichtig, aber in dieser Hinsicht etwas lockerer geworden.

Als Sören anhält stehen sie vor einem schönen, restuorierten Haus. Sie steigt aus und Sören klingelt. Ein gutmütiger, älterer Mann kommt zum Hoftor. Er begrüßt Sören fröhlich und ist äußerst charmant zu Sissi. Auf dem Weg ins Haus erklärt der Herr, dass das Dachgeschoss die Wohnung seines Neffens ist, der jedoch wegen der Arbeit weg gezogen ist. Erst vor 5 Jahren alles neu gemacht. Die Wohnung hat ein großes Wohnzimmer und ein kleines Schlafzimmer. Die Küche mit den Dachschrägen ist gemütlich und beinhaltet außerdem eine kleine Essecke. Der Korridor ist schmal, das Bad wunderschön geräumig. Es hat auch eine kleine Eckbadewanne. Sissi ist richtig entzückt von der Wohnung.

"Die Küche bleibt drin und wenn sie Ihnen gefällt, können Sie auch die Couch im Wohnzimmer behalten. Der Junge war sowieso fast nie hier, die Couch ist also fast neu." Sissi mustert das terracottafarbene Polster und nickt. "Eine Bedingung haben wir aber: Keine Partys und laute Musik. Haben Sie Haustiere?"

Sissi schüttelt den Kopf: "Ich wollte mir einen Hund anschaffen, aber war nicht sicher, wegen der neuen Wohnung. Natürlich kann ich auch darauf verzichten."

Der alte Mann grinst: "Solange er brav und stubenrein ist, haben wir gar kein Problem damit. 250 € Miete im Monat haben wir festgesetzt."

Sissi lächelt: "Klingt hervorragend."

Der Mann nimmt sie mit runter und stellt ihr seine Frau Betty vor. Klaus soll sie ihn nennen, der Mietvertrag wird unterschrieben und Sissi ist richtig begeistert, als der Mann sagt, in einer Woche könne sie den Schlüssel abholen. Der Abschied ist fröhlich und herzlich. So gestrahlt hat sie wohl schon viele Jahre nicht mehr. Sören scheint sich auch sehr zu freuen und schließlich fahren sie zum Resturant. Er hat einen Tisch reserviert und Sissi bemerkt sofort, dass dieser Tisch absichtlich gewählt wurde. Der direkte Blick aufs Wildgehege vermittelt ein beruhigendes Bild und der Abstand zu den anderen Tischen ermöglicht ihnen, etwas mehr Privatsphäre. Ihr gefällt der Gedanke, dass Sören sich Sorgen macht, sie könnte sich in die Enge getrieben fühlen, wenn jemand zuhören kann. Ihr ist bewusst, dass sie damals wirklich kompliziert war. Sie hat nicht vor, es ihm sonderlich einfach zu machen. Sie will sicher sein, dass er es auch wirklich ernst meint. Dumme Gans, sagt sie sich. Wenn er es nicht ernst meint, hätte er sich nicht die Mühe gemacht, dich nach Jahren zu einem Date aus zu führen oder?

 

"Wie wars die letzten 3 Jahre so?", fragt Sören möglichst unbeschwert. Er hat sie fürchterlich vermisst.

"Der Betrieb war etwas größer, aber die meisten Kollegen waren ganz nett. Es hat Spaß gemacht, noch etwas dazu zu lernen.", antwortet Sissi und beobachtet die rehe im gehege.

"Deine Mutter sagt, du hast Freunde gefunden?"

"Ja, eine Kollegin und ihre Schwester. Sie sind sehr nett. Sie sind auch die ersten, mit denen ich gerne telefoniere.", sie grinst und schaut ihn an.

"Die müssen mir ihren Trick verraten.", murmelt Sören leise.

Sissi lacht leise: "Da wirst du dir schon selbst was überlegen müssen. Sie sind so verschieden, dass es einfach unmöglich ist, zu erklären, warum ich mit ihnen gerne rede."

"Ist das eine Herausforderung?", er mustert ihre Augen in denen eine Spur Schalk aufblitzt, ehe sie wieder zu den Rehen schaut.

Ihr Gespräch bleibt unverfänglich. Beide meiden Themen, die zu tiefgreifend gehen. Als sie heimfahren, kämpft Sören stark gegen den Drang an, sofort an zu halten und sie zu küssen.

"Sissi.... Darf dir noch etwas zeigen?", fragt er leise.

"Was denn?", Neugier liegt in ihrer Stimme. Früher hätte sie misstrauischer geklungen.

"Einen Ort... Eine Waldlichtung... Da war ich in den letzten 3 Jahren oft..."

Sie lächelt: "Die Anmache ist schon ganz schön alt, Sören."

"Heißt das nein?", seine Hände klammern an dem Lenkrad.

Einen Moment schweigt sie. Dann antwortet sie leise: "Das habe ich nicht gesagt. Zeig mir die Lichtung. Bitte."

Er biegt ab auf einen Waldweg und parkt das Auto etwas versteckt: "Wir müssen aber ein paar Minuten laufen."

Sissi steigt aus und schaut ihn abwartend an. "Laufen hat mir noch nie geschadet."

Ermutigt geht er los er und sie läuft neben ihm. Es ist für sie einfach, sein Tempo zu halten, obwohl er um einiges größer ist, als Sissi. Er biegt irgendwann auf einen schmalen Trampelpfad ab und dann bittet er sie, vor zu gehen. Sie mustert ihn prüfend, doch er lächelt nur aufmunternd. Zielstrebig geht sie vorran. Mit Vergnügen wirft er ab und zu einen Blick auf ihren straffen Hintern und verspürt das bekannte Ziehen in seinem Körper. Den Hunger nach ihr. Schließlich hält sie an. Vor ihr öffnet sich eine große Lichtung, die aussieht, wie gemalt. Frisches grünes Gras, blühende Sträucher ein umgestürzter Baum neben einem Teich, wie eine Bank. Er steht nur wenige Zentimeter hinter ihr und als sie über die Schulter zurück sieht, scheint sie kein bisschen verwundert.

"Es ist wunderschön hier. Wie hast du sie entdeckt?", ihr Gesicht wirkt verträumt und sie geht vorsichtig weiter, sieht sich begeistert um.

"Naja... ich wollte nachdenken und irgendwo hingehen, wo ich allein war. Irgendwann stand ich plötzlich auf der Lichtung."

Sie dreht sich um und bleibt stehen. Völlig offen begegnet sie seinem Blick und schaut zu ihm auf. Sie ist so klein. Perfekt um ihr Gesicht in den Händen zu halten und zu küssen. All sein Verlangen spricht aus seinen Augen, aber er rührt sie nicht an.

"Worüber musstest du nachdenken?", ihre Stimme ist samtweich.

Er schluckt und kämpft gegen den Drang an, seine Lippen auf ihre zu pressen. warum quält sie ihn so? "Was ich falsch gemacht habe."

Sie legt den Kopf schief kommt einen winzigen Schritt näher: "Wobei?"

Er beugt sich ein wenig vor: "Bist du sicher, dass du das wissen willst?"

Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper und zuckt mit der Schulter: "Ich weiß es ja nicht. Wie kann ich da sicher sein?"

"Bist du wegen mir gegangen?"

Schmerz zuckt kurz in ihrem Gesicht: "Ja und Nein. Ja, ich bin wegen Mikel und dir gegangen. Aber nur, weil ich selbst so unsicher war, was ich wollte und was richtig war."

"Und jetzt bist du es nicht mehr?"

"Es war richtig, zu gehen. Ich brauchte Abstand, um zu mir selbst zu finden. Aber jetzt bin ich hier.", sie deutet mit einer Geste auf die Lichtung.

"Weißt du jetzt, was du willst, Sissi?"

"Ja."

 

"Überleg es dir gut, noch hast du die Gelegenheit zu gehen.", sagt er heiser und geht einen Schritt auf sie zu. Nun trennen sie nur wenige Zentimeter.

Sie schaut ihm in die Augen: "Ich hatte 3 Jahre Zeit, es mir zu überlegen."

Da kann er es nicht mehr verhindern. Er zieht sie an sich und küsst sie. All das zurückgehaltene Verlangen bricht sich seine Bahn. Sein Kuss ist nicht sanft und vorsichtig. Er ist besitzergreifend und wild.

Impressum

Texte: Die Rechte am Text liegen bei mir!
Bildmaterialien: Alles Meins ;)
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Sebbi... Falls du das jemals liest: Nein ich hab mich nicht in dich verknallt... Auch wenn da einige uns echt gern verkuppelt hätten *Augen verdreh* Und für meine Leser: Einige dieser Dinge sind mir tatsächlich so ähnlich mit Kollegen passiert, wenn auch nicht alle mit dem Gleichen :) Und zwar: Die erste Begegnung, Flirtversuch "Futter ranschieben" Kälberstall Kollegen auf einer Messe ein Heft ins Gesicht klatschen und dank Mitazubi erkennen, wens erwischt hat Am Bahnhof von einem Betrunkenen angegriffen worden (Kollegin war schneller) Einbruch ins Gebäude, in dem ich schlief (Ohne Vergewaltigung) Das Erntedankfest Die Schneeballschlacht (ohne dramatischen Schluß) Das Weihnachtsgeschenk Im Regen aufgesammelt und ausgefragt, wo der Schuh drückt Krankenbesuch, den ich dank Fieber verschlafen hab Schonplatz beim Junior-Schlosser in der Werkstatt Neuer junger Kollege und "Es spricht" Rivalität wegen eines Mädels Begegnung nach 3 Jahren Verstorbene jüngere Schwester so ähnlich halt :)

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