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Galgenstück


Nur am seidenen Faden hängt mein Leben. Mich muss nur jemand erwischen, er muss nur besser sein als ich... Wenn sie wüssten, wer ich bin, würden sie nicht mehr lachen, wenn ich vor ihnen stehe. Sie hätten Angst vor mir. Oder aber würden sich wehren. Eigentlich machen sie es mir zu leicht, ihnen das Leben zu nehmen, denn sie glauben mir nicht. Niemand ahnt, was wirklich hinter meiner Augen scheinlichen Freundlichkeit steckt:
Ich habe kein Mitleid!




Leon fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sich eine Gestalt aus dem Schatten löste. Es war ein Reiter. Eine schlanke, weiße Stute verstellte ihm den Weg. Sie war nicht gesattelt. Auf dem Rücken trug sie ein Mädchen. Das Mädchen mochte wohl zwischen 13 und 14 Jahre alt sein. Ihr Haar war braun und ihre Augen ganz dunkel. Der Schein des Vollmondes erhellte ihr blasses, hübsches Gesicht. Sie trug ein weißes Kleid und einen hellen Umhang darüber. Leon blieb der Mund offen stehen. Konnte eine solche zierliche Gestalt wahr sein? War sie etwa ein Geist?! Das Mädchen lächelte leicht, doch ihre Augen schienen ausdruckslos.
"Ich wusste, wir sehen uns wieder, Leon.",
ihre Stimme klang wohl und sanft in seinen Ohren. Woher kannte dieses schöne Geschöpf nur seinen Namen?! Verkrampft suchte er nach seiner Stimme und versuchte ebenfalls zu lächeln. Seine Hände schwitzten. Dann grinste er doch, denn solch ein hübsches Ding konnte unmöglich schlecht sein.
"Wer bist du nur? Kennen wir uns, Hübsche?"
"Nein, aber wir haben uns schon einmal gesehen. Kannst du dich erinnern? Da war vor zwei Monaten ein Junge... Du hast ihn gehängt."
Verwirrt runzelte Leon die Stirn und sein Lächeln verschwindet. Ein Junge...? Er brachte öfter ein paar Diebe an den Strick.
"Ich will dir auf die Sprünge helfen. Dunkelbraune Haare und hellblaue Augen. Eine Narbe auf der linken Wange..."
"Der Pferdedieb!"
Das Mädchen lachte leise, aber es klang stark unterkühlt:
"Der Pferdedieb. Der Verkäufer hat ihn übers Ohr gehauen. Das wusstest du und hast ihn nicht einmal offiziell gehängt, sondern an die Eiche auf der Lichtung...Ich habe dich beobachtet. Es macht dir Spaß, sie baumeln zu sehen, nicht wahr?"
Ertappt senkte Leon seinen Blick. Die Stimme des Mädchens war ruhig und doch kühler, als zuvor.
"Was willst du von mir?",
mit dieser Tatsache hatte sie ihn eigentlich in der Hand. Er, auch wenn er Henker war, durfte niemanden ohne ein öffentliches Urteil hängen. verkrampft dachte Leon nach, wie er das Mädchen zum schweigen bringen konnte.
"Komm mit.", die Stimme war in ihrem Klang ausdruckslos und gleichgültig. Wohin wollte sie ihn bringen?
Das Pferd tänzelte nervös und schnaubte leise. Sein Atem bildete weißen Dampf vor den Nüstern.
"Kommst du nun bald?!",
fragte die junge Reiterin ungeduldig. Leon nickte stumm. Sie war klug genug, auf dem Pferd zu bleiben und sich immer einige Schritt von ihm entfernt zu halten. Er hätte groß Lust gehabt, der Kleinen beizubringen, dass niemand ihn erpressen konnte! Langsam wandelte sich seine Verwirrung in heiße Wut. Dieses Gör brachte ihn tatsächlich immer tiefer in den Wald. Wer war sie denn, dass sie ihn befahl?! Das Mondlicht legte einen unheimlichen Schimmer auf sie Stute und ihre Reiterin. Das Mädchen sah sich selten um. Sie trabte manchmal ein Stück vor und wendete dann ihr Pferd. Dann wartete sie ungeduldig auf ihn. Aber sie sprach kein Wort. das Lächeln war längst schon einem gelangweilten Ausdruck gewichen. So ging das fast eine Stunde. Leon war müde und erschöpft. Seine Füße schmerzten, doch irgendetwas an ihrem Blick hielt ihn davon ab, zu fragen, was dieses Theater sollte. Da hielt sie ihr Pferd an und sprang federnd auf den Boden. Verwirrt hielt er inne:
"Komm.", sagte seine fremde Führerin knapp und trat in das Unterholz. Sie war so klein. so dünn. mit einer Bewegung könnte Leon ihr den Hals brechen! Er schloss schnellen Schrittes zu ihr auf, doch eben, als er sie packen wollte, drehte sie sich um. Eine Klinge blitzte auf. Die spitze der Waffe bohrte sich in die verletzliche Haut unter seinem Kinn ohne diese zu verletzen: "Wir können das ganze auch verkürzen, Leon." Das Mädchen knurrte fast so tief und bedrohlich war die Stimme auf einmal. Worauf hatte er sich nur eingelassen?! Der junge Mann schluckte und wich zurück. Er hatte verstanden, dass dieses Mädchen nicht ganz ungefährlich war.
Bald traten sie auf eine große Lichtung. Ein einfacher Galgen stand in ihrer Mitte. Beunruhigt glitt Leons Blick umher. Die Schatten am Waldesrand schienen sich zu bewegen. Hier und da blitzte sogar ein Augenpaar auf! Überall konnte er raschelndes Laub und knackende Äste hören. Warum fiel ihm das erst jetzt auf? Schweiß rann ihm kalt über den breiten Rücken. Der Schrei einer Eule fand ein vielfaches Echo. "Was soll das?!", flüsterte der Henker heiser. Die Angst stand in seinem Gesicht. Das Mädchen lächelte. Wie konnte sie nur so ruhig bleiben! "Schön brav sein und mitkommen, Leon.", ermahnte sie ihn sanft. Sie schritt ganz gelassen auf den Galgen zu. Er hörte ihr Pferd unruhig schnauben.
Vor dem grausigen Gestell blieb das Mädchen stehen:
"Komm näher.",
wie konnte ihre Stimme nur so liebenswert klingen?! Es war ungeheuerlich! Doch er gehorchte, die Angst nahm ihm alle Kraft und lähmte seinen Willen. Sie lachte leise, diesmal klang es fröhlicher, aber nicht unbedingt freundlich.
"So ist fein.",
säuselte ihre Stimme. Sie stand nahe vor ihm und lächelte zu ihm auf. So unwirklich schön. Leon konnte nicht klar denken. Es kam einfach über ihn, als er ihren Nacken fasste und sie einfach küsste. Angewidert stieß sie ihn fort, da traf ihn auch schon ein harter Gegenstand an der Schläfe und er sackte bewusstlos zusammen.
Als Leon wieder zu sich kam dröhnte sein Schädel. Er wollte sich an die Stirn fassen, doch seine Hände waren gefesselt. Erschrocken riss er die Augen auf: Es war noch nachts. Er war in einem Wald. Wie kam er...? Ein Mädchen saß neben ihm. Da kehrten seine Erinnerungen zurück. Er wollte ihr sagen, sie solle ihn losbinden, da riss man ihn auch schon hoch. Ein kräftiger Mann kippte ihm Wasser ins Gesicht. Er ähnelte jemanden... Der junge Pferdedieb...! Das musste sein Vater sein.
"Gut gemacht, Mädchen.",
brummte der Mann zufrieden und schaute Leon böse an. Sie lächelte nur. Der Mann gab ihr ein paar Münzen und sie ging einfach wieder dahin, wo sie hergekommen war. Das Mädchen sah sich am Waldrand noch einmal um und lächelte. Dann bekreuzigte sie sich und sagte irgendetwas, das wie Latein klang.
"Warte!",
schrie Leon auf einmal. Sie sah ihn fragend an.
"Was hast du gesagt?"
"Gott möge deiner Seele Frieden schenken.",
schon war sie verschwunden.
Ängstlich sah Leon den Mann an. Nur wenige Augenblicke später stand er auf einem Hocker und hatte einen Strick um den Hals. Die Schatten in den Bäumen gaben nun hin und wieder ein leises Knurren oder einen kläffenden Laut von sich. Leon schwitzte. Er war erst 23 Jahre alt und fühlte sich zu jung zum sterben, aber was sollte er tun?! Wann immer er sich bewegte, zog sich die Schlinge enger zusammen. Die Männer hatten ihn so stehen lassen. Unheildrohend wurden die nächtlichen Schatten länger. Manchmal löste sich kurz eine Gestalt aus dem dunklen Wald. Gelbe Augen sahen ihn an. Wölfe!
Verzweifelt schrie Leon um Hilfe. Wahnsinnig vor Angst, versuchte er sich von seinen Fesseln zu befreien. Die hungrigen Raubtiere waren kaum noch zwei Ellen von ihm entfernt, als er eine weiße, verschwommene Gestalt im äußersten Blickwinkel wahrnahm. Hoffnungsvoll wollte er sich in seiner Panik umwenden. Dabei kippte der Hocker um. Unbarmherzig würgte der Strick an ihm. Er zuckte in Krämpfen und voll Panik. Die Wölfe japsten und jaulten wie zum Jubel und Hohn. In diesem Moment surrte etwas durch die Luft. Der Strick riss. Noch immer röchelnd und gurgelnd fiel Leon, gleich einem nassen Sack, zu Boden. Gierig stürzten sich die Wölfe auf den Mann. Er merkte es nicht mehr. Denn noch während er fiel, hatte ein zweiter Pfeil die Luft durchschnitten und sich in seine Brust gebohrt.
Zufrieden wendete das Mädchen ihre Stute. Diese sprengte voll Panik den Weg entlang. Das Pferd wollte fort. Auch das Mädchen fühlte sich nicht sonderlich wohl. Der dunkle Wald wirkte selbst auf sie bedrohlich und einschüchternd. Das hungrige Wolfsrudel machte das nicht besser. Eigentlich war sie eine Bewunderin dieser Tiere, aber sie wusste auch, wie gefährlich sie waren. Die Tiere hatten sie und das Pferd nur in Ruhe gelassen, weil der Mann ein viel leichteres Opfer bot. Sie hatte fast zwei Stunden lang im Unterholz abgewartet. Sie wollte sich eigentlich ansehen, wie Leon am Galgen baumelte. Doch dann hatten die Bauern ihn einfach so stehen lassen. Nun hatte er eigentlich nur die Wahl gehabt: Hängen oder gefressen werden. Neugierig hatte das Mädchen im Schatten gewartet, wie er entscheiden würde. Doch der Mann war kein amüsantes Schauspiel dort am Galgen. Die Angst machte ihn kopflos. Er als Henker hätte wissen sollen, wie man sich am Galgen aufhängt und dabei schnell stirbt. Aber war solch ein verweichlichter Hasenfuß, dass sie das Interesse verlor. Vor allem aber die Geduld. Es wurde langsam kalt.
Um sich selbst ein bisschen Spannung zu schaffen, ließ sie ihre Stute aus dem Schatten treten. Als er den Boden unter den Füßen verlor, hatte sie schon dein Pfeil abgeschossen, der den Strick durchtrennte und griff nach einem Zweiten. Schneller und besser schoss niemand, als dieses Mädchen. Der zweite Pfeil durchbohrte Leons Brust bevor er den Boden berührte. Ihr war egal, ob die Wölfe ihn fraßen, aber sie fand, er musste nicht erleben, wie sie das taten. Das war ihre Chance, den Raubtieren unbemerkt und kampflos zu entkommen.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie im Morgengrauen das Haus erreichte, indem sie nun schon seid fünf Jahren lebte.
"Guten Morgen, Daga."
Olcan gähnte noch. Er war noch nicht lange wach, nahm ihr aber trotzdem die Stute ab. Das Pferd hatte sich beim Laufen allmählich wieder beruhigt und war erschöpft von dieser anstrengenden Nacht. Auch das Mädchen war sehr müde. Sie hatte ihren ersten eigenen Auftrag erfüllt. Sie streckte sich kurz und atmete tief ein. Bald würde der erste Schnee fallen. Das konnte sie spüren.
Im Haus schliefen die Meisten noch. Dagas Augen musterten die Schlafenden. "Wen suchst du denn, Daga?", die Stimme klang fast unmenschlich tief und ähnelte mehr dem Knurren eines Wolfes, als denn einem Menschen. grinsend drehte das Mädchen sich um. Hinter ihr stand ein großer Mann. Er war schlank und hatte starke Muskeln. Seine Haut aber schien überall Narben von Kämpfen zu tragen. Manche waren nur dünne Linien, die Meisten aber ergaben lange Wulste, als hätte man sie ihm aufgenäht. Wer ihn nicht kannte, schrak vor Bledig zurück, Daga jedoch verspürte keine Furcht vor dem Mann.
"Wo ist der Meister?", fragte sie.
"Er ist zur Abenddämmerung aufgebrochen und sagte, er käme in einigen Tagen zurück. Du sollst morgen zu Eva gehen. Heut sollst du aber erst deinen Erfolg genießen und vor allem: Geh schlafen, Mädchen. Du bist leichenblass."
Er grinste, das heißt, seine narbigen Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die ein Grinsen darstellen sollte. Daga nickte ihm zu und eilte in ihr kleines Zimmer auf dem Dachboden. Müde zog sie ihr oberes Kleid aus und fiel ins Bett. Den Brief auf ihrer Decke sah sie gar nicht mehr.
Sie hatte wirklich fleißig gelernt. Mittlerweile sprach sie sogar ein wenig französisch. Das hatte sie bei Eva gelernt. Dieser Frau gehörte ein Freudenhaus in der Stadt. Bei ihr war Amons kleinen Schülerin beigebracht worden, wie sie sich die Haare und Haut pflegen konnte. Eva hatte das Mädchen gelehrt, wie man sich als Dame benahm und wie sie Kleider flicken konnte. Daga hatte fast ein ganzes Jahr im Freudenhaus gelebt. Dort hatte sie sich geübt darin, unauffällig zwischen vielen Menschen einher zu gehen. Die anderen Frauen im haus brachten ihr außerdem auch andere Sachen bei. Eine dunkelhaarige Französin übte mit ihr die französische Sprache. Eine dunkelblonde, ältere Frau, lehrte sie das Tanzen. Und ein grünäugiges Mädchen brachte ihr bei, wie man Schach spielte. Viele von ihnen übten immer wieder mit Daga das Lesen und Schreiben. Amon kam fast jeden tag zu ihr und brachte ihr etwas bei. Manchmal nahm er seine Schülerin mit zum Haus, damit Olcan sie auf Albina das reiten lehren konnte. Das lernte sie sehr schnell. Bald ritt sie auf der Schimmelstute, als wäre sie auf dem Tier aufgewachsen. Ohne Zügel oder Sattel lenkte sie das Pferd auch im Galopp an allen Hindernissen vorbei.
Als sie aus Evas Haus wieder heimkehrte begann Vormic, ihr Latein bei zu bringen. Alles das, was er im Kloster als Novize gelernt hatte, zeigte er Daga. das Mädchen war fasziniert von der wohlklingenden Mundart und lernte schnell. Sie konnte schon bald viele Verse und Gebete zitieren ohne auch nur noch nachzudenken. Auch einige scherzhafte Sätze hatte sie sich ausgedacht, womit sie Amon oft amüsierte. Manchmal aber verärgerte sie Vormic damit. Noch immer hatte sie sich nicht mit dem Neffen ihres Meisters versöhnt. Sie misstraute ihm und ging nie ohne Dolch zum Unterricht. Vor allem seine Angewohnheit, das Haar sehr kurz zu halten und die Mönchskutte zu tragen, verwirrte Daga. Nie sah sie ihn, eine Waffe tragen, es sei denn, er bekam einen Auftrag. Selbst dann nahm er selten eine Waffe mit. Sein Lieblingswerkzeug schien ein schwarzer Metallstab zu sein. Er war so lang, wie Colin groß, doch Vormic konnte ihn in einem Augenblick so zusammenschieben, dass er nur noch so lang war, wie der unterarm des Jungen. Zusammengeschoben konnte er den Stab unauffällig in den weiten Ärmel seiner Kutte verstecken.
Selten trug Vormic die normale Kleidung des Clans. Nie verließ ein Fluch seine Lippen. Er brüllte nie. Er lächelte meist still vor sich her und machte einen sehr friedfertigen Eindruck. Aber von ihrer ersten Begegnung wusste Daga: Dieser Junge durfte nicht unterschätzt werden. Dann ging Vormic eines Tages fort. Das war nun schon fast ein ganzes Jahr her. Manchmal dachte sie an ihn, sogar ohne Hass, aber das geschah selten. Daga war gewachsen und schien von Woche zu Woche immer mehr aufzublühen an Schönheit. Merkwürdig, dass sich der Tod durch dieses Mädchen einer wirklich hübschen Maske bediente, um sein Theater mit den Menschen zu spielen.

Impressum

Texte: Das Cover ist selbstfotografiert. Alle Rechte liegen bei Avena Fatua.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Selig sind die Barmherzigen, denn ihnen wird Gnade erwiesen werden." Matheusevangelium 5 : 4, Bibel

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