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Durch die Straßen klingen die Laute eines harmonischen Streichinstrumentes. Mal tiefer, mal höher. Mal voll Schwermut, mal vor Frohsinn. Jeden Abend, kurz bevor die Sonne untergeht. Jeder Ton so rein und voller Gefühl, dass einem der Klang leise Schauer einer Gänsehaut über den Rücken schickt.
Die Leute bleiben auf der Straße stehen. Alte Frauen und junge Mädchen. Männer mit Arbeitskleidung oder Anzügen. Kleine Jungen... Jeder bleibt stehen, sucht den geheimnisvollen Spieler, dieser rührenden Melodien. Köpfe recken aus den Fenstern heraus, Menschen treten vor die Türen ihrer Häuser, verfolgen mit Ohren und Augen den Weg der Töne, die weit über ihren Köpfen erklingen.
Doch niemand ist zu sehen. Auch aus keinem Fenster dringt dieser liebliche Gesang der Saiten. Schon seit Jahren ist es ein Rätzel, wer da wohl spielt. Dass es ein Cello ist, dessen Klangkörper diese gefühlsvollen Lieder aussendet, ja das weiß mittlerweile jeder hier. Doch wessen Hände mögen dieses Instrument leiten? Wer hat sich diese wunderbaren Melodien erdacht?
Kleine Kinder hören auf zu weinen. Selbst der unterkühlteste Mann wird von den Klängen angerührt.
Manchmal sind sie so lebensfroh, dass jedermann nur zu lächeln vermag. Ein andermal so schmerzvoll und traurig, dass keine Auge trocken bleibt.
Heute hat der geheimnissvolle Cellist sich wieder ein Lied erdacht, dessen Klänge jedes Herz zu Tränen rühern. Selbst der alte, griesgrämige Fleischer, unten an der Ecke, wischt sich verstohlen eine Träne fort, als er andachtsvoll in den Himmel schaut, aus dessen Gewölben die Musik zu kommen scheint.

Nur eine alte Frau lächelt leise. Sie weiß, wessen Hände dem Cello diese herzerweichenden Tonfolgen entlocken. Ihre Enkelin ist 17 Jahre jung, doch blind und stumm. Celia hat bei einem Autounfall vor 4 Jahren ihr Augenlicht und ihre Eltern verloren. Seit dem lebt sie bei ihrer Großmutter. Doch sie spricht kein Wort mehr. Sie traut sich kaum, auf die Straße zu gehen.
Aber wenn sie am Abend das Cello ihres Vaters vorsichtig mit Großmutters Hilfe aufs Dach des Hauses getragen hat und beginnt zu spielen, dann lächelt Celia. Mit dem Cello erzählt sie ihre Geschichte, um den Menschen Hoffnung zu geben. Und sie macht ihre Melodien zu den Farben, die sie nicht mehr sehen darf. Nur wenn Celia ihr Instrument sanft streicht, kann sie sehen, dass sie hoch über den Dächern der Stadt ist. Sie spürt, wie der Wind sie umarmt, flüsternd zu ihrer Musik singt und ihre Leider zu den Menschen trägt.
Und diesem Moment formen ihre vollen Lippen ein Lächeln. Ihre Haare wehen mit dem Wind und tanzen zu ihrer Musik.
Dann ist sie glücklich, denn sie weiß: Wenn ihre Eltern sie hören könnten, wüssten sie, dass Celia sie nicht vergisst und die Menschen auf den Straßen sind nun einen Abend mehr voller Träume und Hoffnung.
Dann packt sie sanft ihr Cello wieder ein. Geht in ihr Zimmer zurück und schläft lächelnd ein.

Impressum

Texte: Alle Rechte bei Avena Fatua
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
All den Träumen, die wir nicht leben dürfen, dass wir sie nie vergessen..

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