Sie saß am Bach. Mitten im Wald. Sie war allein. Nur der Wind trug ihr ein Lied zu. Das Lied der Natur. Des Waldes. Rauschende Blätter. Zwitschernde Vögel. Plätschern des Wassers. Knacken der Äste. Knarren der Bäume. Der Wind pfiff eine leise Melodie dazu.
Sie spürte seine Anwesenheit. Wie immer. Er war stets in ihrer Nähe. Das hatte sie schon als Kind gemerkt. Sie war nie ganz allein. Das ließ er nicht zu. Ihr unsichtbarer Begleiter. Ihr Beschützer. Ihr Freund. Ihr Vertrauter. Ihr Tröster. Ihr Kraftspender. Nur selten ging er fort. Nie lang. Aber dann, wenn er fort war, wurde sie traurig. Fühlte sich leer und einsam. Dabei war er normalerweise wohl anders. Er war nicht das, was er für sie war.
Sie fühlte es, doch für sie war er anders. Schon immer. Etwas Dunkles haftete an ihm. Unendlich traurig. Als wüsste er um alle Qualen und Schmerzen dieser Welt. Jahrhunderte alte Gewissheit. Sie fühlte den Hauch von Tod, der ihn umgab. Und trotzdem fürchtete sie ihn nicht. Sie liebte ihn, ohne ihn je gesehen oder gesprochen zu haben.
Er gab ihr Ruhe, wenn sie keine hatte. Frieden, wenn ihre Welt sie verwirrte. Mut, wenn sie verängstigt war. Trost, wenn sie weinte. Wärme, wenn sie fror. Kraft, wenn die Schwäche sie stürzte. Gesellschaft, wenn sie sich ihrer Einsamkeit bewusst wurde.
Immer war er an ihrer Seite und wachte über sie.
Doch heut war es anders. Er war zwar da. Aber irgendwie fühlte es sich greifbar an. Nicht so... unbestimmt wie sonst. Den sie fühlte ihn nur wie man einen Schatten wahrnimmt, wenn er einen kurz streift. Heut fühlte es sich fester an. Noch wusste sie es nicht zu deuten. Dieses Gefühl. Sie verstand es nicht. Als ob er heut näher wäre als sonst. Mit einem mulmigen Kribbeln im bauch war sie heut aufgestanden. Sie hatte geträumt, gerufen zu werden. Es war nicht laut. Nur ein Flüstern. Doch so eindringlich. Im Traum war sie hier her geeilt. In einem weißen Kleid...
Unruhig war sie erwacht. Irgendetwas Greifbares war an diesem Traum. Wurde sie verrückt? War sie es nicht schon? Immerhin glaubte sie an diesen dunklen Schutzengel! War das nicht schon krank genug? Sollte sie nun auch noch einem Traum folgen?!? Zögernd blieb sie vor ihrem Wandspiegel stehen und betrachtete sich. Ihr Haar leuchtete in der Morgensonne wie rotes Glas im Licht. Oder wie glühendes Metal. Ihre Augen waren grün wie Gras im Frühjahr. Ihre blasse Haut war von Sommersprossen übersät. Für ihre 26 Jahre sah sie jung aus. Ihre Lippen waren voll, aber recht blass. Groß war sie auch nicht. Nur knapp über 1, 40 m. Eigentlich war sie sogar winzig. Und schlank. Nicht etwa sportlich, sondern richtig dünn. Dabei aß sie bestimmt nicht zu wenig. Das Haar fiel in sanften Wellen bis zu ihrer Hüfte hinab.
Viele Männer fanden sie attraktiv, aber sie hatte jeden abblitzen lassen. Mit keinen hatte sie sich eingelassen. Sie war nicht interessiert. Nicht weil sie keinen Mann wollte. Die Männer, die sie wollten waren einfach nicht ihr Typ. Außerdem wollte sie nur IHN. Auch wenn es ihn vielleicht nicht gab. Es war dumm, das war ihr bewusst, aber sie konnte nicht anders.
Seufzend wandte sie sich um. Ging zurück zu ihrem Kleiderschrank und zog das einzigste weiße Kleid, was sie besaß heraus. Es war knielang und aus dünnem, leichten Stoff. Sie legte sich ein grünes Tuch um die Schultern und verließ barfuss das ihre Wohnung. Das Haus in dessen Dachgeschoss sie wohnte lag nahe des Waldes. Heut war Sonntag. Sie hatte frei.
Die Spätsommersonne erhob sich über die Wipfel der Bäume. Sie hatte irgendwie gute Laune. Kaum hatte sie den Wald erreicht verließ sie den Weg. Ihre blanken Füße fanden ihren Pfad über Moose, Blaubeersträucher und Heidekraut. Stumm und doch entzückt wandelte sie wie eine Gestalt aus einem Buch durch den Wald. Leicht und unbeschwert, als wäre sie eine Fee. Ihr Kleid schien das Licht, dass durch die Baumkronen zu ihr herabfiel aufzusaugen und absorbieren. Ihr Haar schimmerte in warmen, goldenen Rottönen. Ihre zarte Gestalt schien beinahe über den boden zu schweben, so flink und federleicht lief sie.
Am Bach hielt sie inne. Genau hier unter der linde hatte sie im Traum gesessen. Da war sie aufgewacht. Sie sah sich um, sammelte Wildblumen. Wenn ihr Engel sie rief, konnte sie sicher warten, was er ihr zeigen wollte. Also setzte sie sich hin und flocht im Schatten des alten Baumes die Blumen ineinander. Sie sang leise vor sich her. Ihre Stimme war klar wie das Wasser im Bach zu ihren Füßen.
Er war eigentlich immer gehorsam gegenüber seinem Herrn, aber seid 24 Jahren verheimlichte er ihm was. Jemanden, um genau zu sein. Damals hatte er sie gesehen, wie sie sich im Park von ihrer Mutter losgerissen hatte, weil sie ein Vögelchen gesehen hatte, das aus dem Nest gefallen war. Ein kleines zweijähriges Mädchen mit rotblonden Haar, blasser haut und Sommersprossen. Ihre grünen Augen hatten ihn gefesselt. Das war neu für ihn. Er war schließlich der Sohn des Todes. Nichts konnte bis dahin sein Herz erweichen. Er vollstreckte die Strafen an die Menschen ohne zu wiedersprechen. Ohne Gnade. Nie hatte er etwas wie Zuneigung gefühlt. Oder Wärme, das kannte er nicht. Seine Welt war die Dunkelheit. Liebe durfte er nur für eines empfinden: Für das Töten.
Doch als er diesen Kind sah empfand er etwas Neues. Er wollte sie vor allem Leid beschützen. Das tat er auch. Er behütete anfangs nur ihre Nachtruhe. Aber um so älter sie wurde, um so mehr weckte sie seine Neugier. Dieses Menschenkind wurde sein Lichtblick. Jeden Tag zog es ihn mehr zu ihr. Wann immer er konnte war er an ihrer Seite. In der Schule half er ihr sogar. Er spürte es, wenn jemand ihr nichts Gutes wollte und lies ihn ein unangenehmes Gefühl in ihrer Nähe bekommen. Viele hielten irgendwann von allein Abstand von ihr, wenn sie nicht gut waren für sie. Gehasst wurde sie nicht. Man ließ sie in Ruhe. Nie hielt er Gute von ihr fern.
Doch schon bald begann sie von selbst, sich zurück zu ziehen. Manchmal flüsterte sie Nachts zu ihm. Sie erzählte ihm alles, obwohl er alles wusste. Aber er lauschte trotzdem ihren Worten. Sie wuchs zu einer kleinen Frau heran, sah so bezaubernd zerbrechlich aus. Er begann sich in sie zu verlieben. Sie war klug, sprach nie mit jemanden über ihn. Woher sie wusste, dass er da war konnte er nicht sagen. Er war nur froh, dass sie keine Angst hatte. Dabei spürte sie ganz offensichtlich, wie finster und tödlich er war.
Letzte Nacht hatte er sie küssen wollen. Er hatte sich schon seid tausenden Jahren nicht mehr sichtbar gemacht, aber er konnte es. Er war schließlich der Zweitmächtigste im Totenreich. Er konnte viel. Nur wissen sollte es lieber keiner. Auch sein Vater nicht. Und doch wollte er ihr näher sein. Mit jedem Mann, den sie abwies, liebte er sie mehr. Er konnte sich nicht mehr wehren.
In der letzten Nacht hatte er sie gerufen. Ihr den Traum gesandt. Er wusste, sie würde seinem Ruf folgen. Er führte sie zu seinem Lieblingsort. Sah, wie anmutig sie durch den Wald schwebte. Sein kaltes Herz schlug schneller, als je zuvor. Nur sie zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und er wollte, dass nur sie es sah.
Er beobachtete sie noch lange, ehe er aus seinem Versteck zu ihr ging. Er machte einen Bogen. Sie würde ihn nicht hören. Er wollte die Überraschung in ihren Augen sehen.
Sie hob den Kopf. Ihr Herz klopfte so schnell, dass sie befürchtete, er könne es hören. Er kam näher, das wusste sie. Sie spürte ihn wenige Meter hinter ihrem Rücken. Doch hören konnte sie ihn nicht. Sollte sie sich zu ihm umdrehen? Sie würde eh nichts sehen...
Oder doch? Würde er sich heut zeigen? Wenn er von hinten kam... Vielleicht überraschen? Sie lächelte ihr sanftes Lächeln stand auf und drehte sich um. Genau in dem Augenblick, als er aus dem Wald zu ihr trat. Sie drehte sich genau in der Sekunde, als er seinen Arm um ihre Taille legen wollte. Überraschung spiegelte sich in seinen Augen. Sie lächelte. Seine Lippen zuckten nach oben. So ungeübt sah das Lächeln aus. „Ich wusste, dass du kommst.“, sagte sie ganz leise und senkte ihren Blick. Ihre Wangen wurden rosa.
Das hatte er noch nie bei ihr gesehen! Sie war verliebt. Das wusste sie in dem Moment, als sie in die roten und doch so kalten Augen sah. Nein, nicht kalt. Sie waren befremdet. Ein ungeübt zärtlicher Blick lag darin. „Ich wollte dich endlich für mich haben. Aber ich darf es nicht.“, die Stimme drang warm und schmeichelnd in ihr Ohr. Trauer und Schmerz lagen ganz tief darunter. Seine Haut war noch blasser als ihre. Kalt und weich wie Seide. Sein Haar war rabenschwarz und lang. Glatte Strähnen fielen seine Schultern herab, wie schwarzes Wasser.
Zaghaft hob er die Hand und streichelte ihre Wange, zwang ihr Kinn sanft, in seine Richtung. Seine schmalen, bleichen Lippen berührten ihre weichen. Sie waren unberührt. Ihr rauschte es fiebrig in den Ohren. Sie klammerte sich an ihm fest.
Von da an trafen sie sich oft. Sein Vater durfte nie davon erfahren. Er schenkte ihr Unsterblichkeit, in dem er sie mit dem heiligen Kuss des Blutes an sich band. Doch auch dieser heilige Kuss hat Nachteile... Er lebte in der Nacht, sie aber am Tag..
Doch sie brauchten sich und waren doch einander verwehrt. Heimlich war ihre Liebe. Ewig loderte sie. War das einzigste, was sein Herz erwärmte. Bezard - Im Schatten Gottes und Eleonore- Gott ist mein Licht. Sie waren untrennbar miteinander verbunden. Leben und Tod. Schwarz und weiß. Finsternis und Licht.
Und doch durfte niemand davon erfahren.
Nie erreichten sie einander wirklich. Und nie werden sie es..
Dabei liebten sie sich. Immer würde ihre Liebe heimlich bleiben müssen. Denn wenn der Tod oder Gott es erfuhren...
Und als der Tod durch Zufall auf das Mädchen traf brachte er in seiner Wut die Schöne um... Seinen Sohn auf ewig zur Einsamkeit verdammend...
Texte: Alle Rechte liegen bei Avena Fatua
Tag der Veröffentlichung: 07.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Dem ewigem Kreislauf zwischen Leben und Tod.
Danke an die Sängerin Schnewittchen. Der Song "Der Tod hat sich verliebt" war mein Ideenanstoß.