Die breite Treppe dominierte den Eingangsbereich. Sie führte in Abschnitten bis hoch in den achten Stock. Dorthin, wo die Geschäftsführung saß und aus ihrem dicken, protzigen Ledersesseln durch ein Fenster hinunter auf ihre Angestellten blickte. Die Chefsekretärin saß zwischen den beiden Türen der Manager, immer darauf achtend, dass niemand ungesehen an ihr vorbeikam. Links und rechts von ihr, weniger als drei Meter entfernt, saßen ihre beiden Assistentinnen. Sogenannte Jungsekretärinnen. Sie erledigten den Kleinkram, Botengänge und Recherchearbeiten, damit sich Frau Engelhardt ganz auf die beiden Chefs konzentrieren konnte. Selbst das Kaffee kochen gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Darauf bildete sie sich eine Menge ein.
Immer wenn Florian hierher zitiert wurde, hatte die Chefsekretärin ein sarkastisches Lächeln auf den Lippen. Sie konnten einander nicht leiden. Er galt als das schwarze Schaf der Familie. Nur, weil er sich lieber seiner künstlerischen Seele widmetet als den Bilanzen der familiengeführten Firma. Er wollte nie was mit der Firma zu tun haben, aber bedauerlicherweise war er auf die Gewinnausschüttungen angewiesen. Als Künstler war es nicht einfach, sich nur mit der Kunst über Wasser zu halten. Und so musste er sich alle drei Monate bei seiner Mutter und seinem Bruder erklären.
Dabei waren die Beiden gar nicht daran interessiert, was er mit seinem Geld machte. Eigentlich waren sie ganz froh, dass er sich nicht einmischte. Julian spielte gerne den Chef. Schon als Kind hatte er sich gerne die Anzüge des Vaters ausgeliehen, die Aktentasche mit alten Zeitungen gefüllt und seine Freunde wie Angestellte behandelt. Er war nicht sonderlich beliebt gewesen. Welches Kind konnte auch schon was mit Bilanzen und Dividenden anfangen?
Florian hatte immer noch nicht verstanden, warum er so regelmäßig hier vorstellig werden musste. Sie könnten ihm das Geld doch auch einfach überweisen. Aber nein. Ständig musste er berichten, wie weit er mit seinen Plänen war. Oder ob es was Neues von dem großen Museumsprojekt gibt. Hatte er eine neue Skulptur unter die Leute gebracht oder wenigstens einen Auftrag bekommen?
„Guten Morgen, Herr Kabel. Ihre Mutter und Ihr Bruder warten im kleinen Besprechungsraum auf Sie. Sie kennen ja den Weg.“
„Aber natürlich, Frau Engelhardt. Und wie hübsch Sie heute Ihre Haare tragen! Der strenge Dutt steht Ihnen wirklich ausgezeichnet.“
Ausdruckslos starrte ihm die Sekretärin in die Augen. Seine Freundlichkeit mit dem offensichtlichen Sarkasmus konnte sie schon lange nicht mehr aus der Ruhe bringen. Ihre ständigen Ideen, wie sie ihm die Zunge rausschneiden könnte, um darauf zu tanzen, versüßten ihr den Rest des Tages. Schließlich zuckte sie mit den Schultern und wand sich wieder ihrem Computer zu.
Der kleine Besprechungsraum? Hm, das war mal was Neues. Vielleicht galt er jetzt ja nicht mehr als Familienmitglied, sondern nur noch als Bittsteller. Es musste ein großer Schock gewesen sein, dass die Firmenanteile nach Vaters Tod zu gleichen Teilen an Mutter, Julian, Florian und die jüngere Schwester Lilian gingen. Lilian war schon immer die beste Freundin von Florian gewesen. Eine absolute Mehrheit zu bekommen, war daher für Julians Pläne wohl eher unwahrscheinlich.
Florian lachte leise. Lilian. Seine süße, kleine Lilian. Sie hatte ebenso wenig übrig für das Geschäft des Vaters gehabt. Lieber jettete sie mit ihren Freundinnen in der Welt umher, um ihre Designer-Klamotten unters Volk zu bringen. Kein Modehaus, das etwas auf sich hielt, kam noch um ihre Kollektionen rum. Er bewunderte die junge Frau. Sie machte ihr Ding und hatte Erfolg damit.
„Ah, Florian. Da bist Du ja endlich. Wie immer eine halbe Stunde zu spät. Wenn man sich sonst auf nichts verlassen kann, aber dahingehend kann man die Uhr nach Dir stellen.“
„Dann habt ihr ja nicht wirklich auf mich warten müssen, Brüderchen!“
Julian musterte den älteren Bruder. Wie immer trug er eine ausgewaschene Jeans mit einem T-Shirt, das voller Farbflecken war. Die Hände waren rau von der Arbeit mit Stein, Metall oder was auch immer er gerade in die Finger bekam. Egal was man ihm gab – er macht eine Skulptur daraus. Was Julian aber am meisten verwunderte war, es gab tatsächlich Menschen, die dafür Geld ausgaben. Sogar eine Ausstellung in einer Galerie konnte Florian schon für sich verbuchen. Für den Lebensunterhalt reichte es aber offensichtlich nicht.
„Kinder! Könnt Ihr Euch ein anderes Mal streiten? Ich habe noch Termine.“
„Wir streiten uns nicht, Mutter. Das haben wir gar nicht nötig.“
Brüderlich legte Julian seinen Arm um Florians Schultern und boxte ihm gespielt in die Rippen. Florian parierte, landete einen Treffer in Julians Bauch, der sich sofort dramatisch fallen ließ, während er davon sprach, dass er sterben würde.
Barbara schüttelte gekünstelt den Kopf, verdrehte die Augen und warf den Beiden einen Apfel über. So verschieden die Beiden auch waren, sie waren weder Feinde noch Konkurrenten. Nur hier im Büro zickten sie rum. Manchmal glaubte Barbara, dass der Geist des strengen Vaters, der hier überall von diversen Bildern auf sie herab sah, sie in seinem Bann hielt.
„Also Florian. Was gibt es für neue Entwicklungen“, fragte sie, während sie gemeinsam am runden Tisch mit den lederbezogenen Chromstühlen Platz nahmen. „Aufträge? Verkäufe?“
„Tatsächlich hat sich was Interessantes ergeben. Ich soll für das Kulturfest im Sommer drei meiner Statuen zur Verfügung stellen.“
„Aha, das bekommst Du aber bezahlt, oder? Ich meine, die sollen nicht glauben, dass ein Kabel etwas für null Cent hergibt. Schließlich steckt doch Deine Zeit, Deine Arbeit und Dein Herz darin.“
„Nein, Mutter. Ich bekomme eine finanzielle Entschädigung. Sie wird hoch genug sein, dass ich davon ein halbes Jahr locker klar komme.“
Barbara verzog säuerlich das Gesicht. Sie bekam Florian nur noch selten zu Gesicht, seit er sein neues Atelier in der Stadt bezogen hatte. Die vierteljährlichen Treffen waren oftmals die einzige Gelegenheit, ihren Sohn zu sehen und zu erfahren, was er so machte. Ein Künstler besaß anscheinend kein Telefon oder wusste nicht, wie man einen Brief oder gar eine E-Mail schrieb.
„Das ist schön für Dich, mein Sohn. Ich freue mich, dass es endlich vorwärts geht.“
Julian, der sonst immer eine ironische Bemerkung auf den Lippen hatte, schwieg ausnahmsweise. Sein Gesicht ließ nicht erkennen, ob er sich freute. Stumm starrte er auf seine Hände.
„Dann reden wir doch mal über die Quartalszahlen. Lilian ist ja mal wieder nicht da. Sie schwirrt wohl irgendwo in Paris rum.“
„Sie ist in London, Mom. Die große Modenschau auf der Fashion Week. Du weißt schon.“
„London, soso. Naja, sie ruft mich wenigstens mal an“, erwiderte Barbara leicht geistesabwesend. „Nun aber zu den Zahlen. Das letzte Quartal ist gut gelaufen…“
Zwei Stunden musste sich Florian die Berichte über die Erfolge und die weiteren Ziele der Firma anhören. Mutter sagte immer, auch wenn er sich nicht für die Firma interessierte, so sollte er doch wenigstens auf dem Laufenden sein. Für den Fall, dass er doch mal einspringen müsste. Also hörte Florian zu und heuchelte Interesse.
Anschließend gingen sie gemeinsam essen. In irgendein schickes Restaurant für das Florian grundsätzlich falsch angezogen war. Aber man kannte ihn. Die Kabels waren angesehene Leute, gehörten sie doch zu den größten Arbeitgebern der Stadt. Es war also völlig egal, was er gerade an hatte. Er wurde überall bevorzugt behandelt. Manchmal kotzte ihn das an.
Weitere zwei Stunden später erhielt er endlich den Scheck und konnte sich vom Acker machen. Florian bekam nicht mit, wie Julian ihm mit seltsamem Blick hinterher sah.
„Du solltest ihn nicht immer so bemuttern. Ich finde, Flo sollte seinen Teil zum Firmenerfolg beitragen. In einem Büro. Bei uns im Haus.“
„Sei nicht albern, Julian. Das ist nicht sein Ding. Das ist Dein Ding. Du bist hier der geborene Geschäftsmann. Dein Bruder weiß nicht einmal, was BWL heißt. Ich mag mir nicht mal in meinen wildesten Träumen vorstellen, wie er einen Geschäftsbrief diktiert.“
„Ja, klar. Es ist mein Ding. Diese Firma. Dieses Geschäft. Dieses Leben.“
Dieser plötzliche Ausbruch ihres Sohnes beunruhigte Barbara. Schon seit einiger Zeit hatte sie gemerkt, dass Julian etwas beschäftigte. Aber bis jetzt hatte sie nicht geahnt, dass es etwas mit der Firma zu tun haben könnte.
„Brauchst du vielleicht mal Urlaub, mein Schatz? Warum fährst Du nicht nach Ibiza und lässt mal so richtig die Sau raus. Oder willst Du lieber nach Miami? Mach was Du willst. Der Firmenjet bringt Dich überallhin, wo Du hin willst.“
„Ich brauche keinen Urlaub, Mutter.“
„Mach Dir keine Sorgen“, fügte Julian hinzu, als er ihren besorgten Blick bemerkte. „Es geht mir gut. Es wäre nur schön, meinen Bruder in meiner Nähe zu haben. Nicht nur alle drei Monate…“
Ja, das wäre wirklich gut. Dann hätte er einen besseren Blick auf seinen Bruder. Wenn er nur wüsste, wo der Künstler sich aufhielt. Am besten zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dann hätte Florian vielleicht auch mal sowas wie einen geregelten Tagesablauf. Man könnte mit ihm rechnen, ihn aufspüren, ihn vielleicht sogar manipulieren.
Auf dem Heimweg dachte Julian noch lange darüber nach. Wie konnte er seinen Bruder besser in den Griff bekommen? Ihm seine Künstlerallüren austreiben? Ihn dazu bewegen, ins Familiengeschäft einzusteigen, damit Julian nicht alles alleine machen musste?
Er blicke aus dem Autofenster. Sah zu, wie sie an verschwommenen Lichtern vorbeifuhren. Sah die Schatten, die sich durch die Straßen bewegten. Namenlos. Gesichtslos. So wie er. Menschen in Anzügen, die nach Hause eilten. Das Handy am Ohr, ständig erreichbar, rund um die Uhr.
So hatte er sich sein Leben nicht vorgestellt. Als Kind sah das alles aus der Ferne viel interessanter aus. Die wichtige Aktentasche, die den Weg in die Welt verbarg. Der Anzug, der Respekt verschaffte. Der Job, der Geld und Frauen brachte.
Aber so war es nicht. Die wichtige Aktentasche enthielt den Laptop mit all seinen wichtigen Daten, die immer abrufbereit sein mussten. Wenn der Kunde aus China mitten in der Nacht anrief – natürlich nur wegen der Zeitverschiebung. Oder wenn die Produktion ins Stocken geriet, weil der Zoll mal wieder einen Container nicht frei gab.
Der Anzug, maßgeschneidert, als Zeichen der Macht und des Geldes. Ein Kleidungsstück, das vielleicht Respekt einforderte, aber allenfalls Achtung brachte. Der Job, der Nächte schlaflos machte, Geld anzog und Frauen zum Davonlaufen brachte.
Julian zog das kleine Bild aus seiner Brieftasche. Eine schwarzhaarige Frau mit braunen Augen lachte ihn an. Ihre Stimme konnte ihn zum Träumen bringen, ihre Hände waren so zärtlich, Ihre Lippen so unglaublich zart und Süß. Für sie würde er bis zum Ende der Welt laufen. Barfuß, über Millionen von scharfen Glasscherben. Nur, um noch einmal ihre Haut an der seinen zu spüren.
Sie wollte dieses Leben. Sie wollte das Geld. Sie wollte den Respekt und die Achtung. Sie wollte das Prestige. Ihr Problem war: Sie wollte auch ihn! Nicht nur für wenige Stunden am Wochenende. Sondern jeden Tag. Jeden Abend. Jede Nacht. Sie hasste seinen Job. Hatte mehr als einmal gefordert, dass er ausstieg und mit ihr fortging. Irgendwann ging sie allein. Ohne ihn. Ohne noch einmal zurück zu sehen.
Und mit ihr ging sein Leben.
Seit dem funktionierte er nur noch. Gerade gut genug, um keine Fehler zu machen. Noch!
Doch der Tag, an dem sich alles ändern würde, der war nicht mehr fern. Er wollte dieses Leben nicht mehr. Sein Herz sehnte sich nach der Erfüllung seiner Träume. Es war ihm klar, dass er das nicht schaffen würde. Trotzdem würde er sein Leben ändern. Nicht so, wie viele erwarten würden. Verluste hatte er einkalkuliert. Damit konnte er umgehen.
„Morgen! Morgen wird sich die Welt ändern!“
Mit diesen Worten fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss und die Wolken legten ihren Schleier über den vollen Mond.
* * *
Verschlafen rieb sich Florian die Augen. Für seine Begriffe war es noch viel zu früh, um aufzustehen. Bis weit nach Mitternacht hatte er gearbeitet. Die Figur aus dem Sandstein gehauen, die förmlich danach gierte von ihm befreit zu werden. Diese Gier war es, die ihn wieder zur Arbeit rief. Das Schicksal eines Künstlers! Wenn das Objekt befreit werden wollte, dann war Schlaf ein nicht zu tolerierender Zustand!
Stundenlang hantierte er mit Hammer und Meißel. Wie in Trance drehte und wendete er sich, um an der richtigen Stelle die Frau vom Stein zu befreien, ohne die sanften Konturen zu beschädigen. Er merkte nicht, dass die Sonne wieder anfing zu sinken, um die Welt dem Schatten der Nacht zu überlassen.
Plötzlich wurde er von einem Klopfen ins hier und jetzt zurückgeholt. Der Künstler brauchte einen längeren Moment bis er begriff, dass jemand Einlass begehrte. Fluchend wegen der Unterbrechung schlurfte er zur Tür, um zu öffnen.
„Mensch, Flo. Ich dachte schon, Du wärst im Drogenrausch untergegangen!“
„Julian? Was machst Du denn hier?“
„Darf ich nicht mal meinen großen Bruder besuchen?“
„Was? Ja, sicher. Ich bin nur so überrascht. Wo wir uns doch gestern erst gesehen haben.“
„Ach, das im Büro zählt nicht. Wow, nicht schlecht. Das ist ja riesig hier“, antwortete Julian, während er sich umsah. Bis heute war er noch nie in dem Atelier gewesen.
Die hohen Wände ließen viel Spielraum für die Skulpturen, die Florian machte. Dabei störten keine Zwischenträger oder Stützpfeiler die Bewegungsfreiheit. Auf einer Empore konnte Julian das Bett ausmachen, auf dem die Bettwäsche unordentlich auf einem Haufen lag. Darunter war ein kurzer Flur, der wohl in das Bad führte. Die Küche, die auch nicht gerade klein war, lag direkt neben dem Eingang und war nur durch eine Glaswand vom Atelier abgetrennt.
„Nicht gerade ein romantisches Plätzchen für ein Essen zu zweit.“
„Es gibt noch ein Esszimmer daneben.“
„Ah, cool.“
„Also, Julian. Was führt Dich zu mir? Du kommst doch nicht ohne Grund.“
„Oh, ja. Ich will mit Dir über die Firma reden. Du musst Dich da mehr einbringen.“
„Pffff“, stieß Florian aus.
Das war alles was er dazu sagte.
„Kaffee?“
„Um diese Zeit? Ich würde lieber ein Bier nehmen.“
Florian öffnete die Kühlschranktür und nahm zwei Flaschen raus. Eine davon reichte er seinem Bruder.
„Haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Einfach mal ein Bier zusammen getrunken.“
„Hmmm. Ich habe dich doch nicht bei einer wichtigen Arbeit gestört? Nicht das die Lady da gleich das Messer zückt.“
Sie lachten.
„Ich kann eine Pause gebrauchen.“
„Also, was soll der Quatsch mit der Firma“, griff Florian das Gespräch wieder auf. „Du bist doch nicht krank, oder? Oder ist was mit Mom?“
„Nein, nein. Alles in bester Ordnung. Ich brauche nur etwas mehr Zeit.“
Julians Blick wurde plötzlich von einem Gemälde im hinteren Teil des Raumes eingefangen. Langsam ging er näher.
„Ich wusste nicht, dass Du auch malst.“
Florian überholte ihn und warf das runtergerutschte Leinentuch wieder über die Staffelei.
„Manchmal. Wenn ich gerade keine Skulptur mache, muss ich mich anders ausleben.“
„Lass mich das sehen!“
„Wirklich. Das solltest Du nicht. Es ist…“
„Es ist was?“
Verzweifelt dachte Florian darüber nach, wie er seinen Bruder davon abhalten konnte, sich dieses Bild anzusehen. Es war vor knapp einem Jahr entstanden und sollte eine Überraschung sein. Zum vierten Jahrestag. Aber wie so oft, kam ein wichtiger Termin dazwischen. Das Motiv verschwand. Das Bild blieb.
„Lass die Vergangenheit ruhen! Es würde Dir mehr schaden als nützen!“
„Achja? Sagt wer?“
Julian wurde wütend. Das Verhalten von Florian bestätigte seinen Verdacht. Er stieß ihn zur Seite und riss das Tuch von dem Gemälde.
Die braunen Augen in dem von schwarzen Haaren umrahmten Gesicht blickten ihn unverwandt an. Die Haarspitzen endeten unmittelbar über den zarten Knospen ihrer vollen Brüste. Die Hände spielten mit dem knappen Höschen, das sich am oberen Ende der scheinbar endlos langen Beine in den Schoß schmiegte.
„Es sollte ein Geschenk sein. Zu Eurem Jahrestag. Sie sagte, es wäre für das Spielzimmer. Was auch immer das heißen sollte.“
Stumme Tränen rollten Julians Wangen hinunter. Er kannte jede Linie dieses Körpers. Florian hatte sie perfekt getroffen. Mit all seiner Perfektion. Mit all seinem Talent.
„Warum Du?“
„Sie wollte sich vor niemand Fremdes ausziehen.“
„Das meine ich nicht. Wieso Du? Warum musstest ausgerechnet Du dieses Talent haben?“
Jetzt war Florian verwirrt. Was war denn plötzlich mit seinem Bruder los? Der starke Mann, der sich immer um die Familie gekümmert hatte. Wenn der Job nicht gerade was anderes plante.
Der Mann, der so perfekt die Firma und seine Angestellten leitete. Nie einen Fehler zu machen schien.
Selbst als seine Frau fort ging, hatte Julian keine Schwäche gezeigt. Die Familie wusste zwar, dass es ihm nicht gut ging, aber er hatte ihnen nie einen Anlass gegeben, sich wirklich Sorgen machen zu müssen. Manchmal hatte Florian gedacht, dass Julian gar keine Gefühle mehr hatte.
Doch diese Tränen sprachen eine andere Sprache. Ließen die vergangenen zwölf Monate in einem anderen Licht erscheinen. Zeigten endlich, dass auch der perfekte Geschäftsmann ein Herz hatte. Oder drehte er jetzt einfach nur durch?
„Ich weiß nicht, was Du meinst.“
„Sieh Dich doch um. Du hast alles! Talent! Raum! Zeit! Du kannst machen, was Du willst, wann Du es willst. Und mit wem Du willst!“
„Hey! Ich habe nie was mit Deiner Frau gehabt. Ich stehe gar nicht auf Frauen!“
Julian stolperte einen Schritt zurück.
„Was? Wie?“
„Oh, Mann. Ich dachte, Du wüsstest, dass ich schwul bin. War das nicht offensichtlich?“
„Darum geht es doch gar nicht“, herrschte Julian seinen Bruder an.
„Es geht um das hier.“
Während er das sagte, fegte er den Becher mit den Pinseln vom Tisch. Danach fiel alles andere ebenfalls, als er den Tisch umstieß.
„Was soll das denn? Welcher Teufel ist denn in Dich gefahren?“
Florian versuchte ihn aufzuhalten. Doch das machte Julian nur noch wütender.
Er griff nach einem Hammer und ging auf den Sandstein zu.
„Wehe Dir! Lass sofort den Hammer fallen!“
Zu spät.
Der bereits befreite Kopf wurde mit ein paar gezielten, harten Hammerschlägen vom Rumpf getrennt.
„Was ist in Dich gefahren? Mann, hör auf!“
Florians Stimme war nur noch ein hysterisches Kreischen.
„All dieses Skulpturen. Diese Gemälde. All das hier! Warum Du?“
Julian hatte sich zu Florian umgedreht. Mittlerweile hatte er nicht nur den Hammer in der Hand, sondern hielt in der anderen einen der Stein-Meißel. Damit ging er bedrohlich auf den Künstler zu.
„Warum hast Du all dieses Talent? Und ich gar nichts!“
„Gar nichts? Hey, mach keinen Quatsch! Leg den Hammer hin! Und den Meißel auch!“
Doch Julian hörte nicht. Er ging weiter. Schritt für Schritt. Seine Augen glühten. Sein Gesicht war wutverzerrt.
Florian wich immer weiter zurück. Sah sich um, ob er was zur Verteidigung ergreifen konnte. Aber da war nichts. Nur die Glaswand hinter ihm. Und die zersprang in tausend Teile, als Julian mit dem Hammer ausholte und seinen Bruder nur um wenige Zentimeter verfehlte.
„Verdammt, Julian! Komm zu dir!“
Die nackte Angst überkam Florian. Ihm wurde klar, dass es jetzt um sein Leben ging.
Wieder sah er den Hammer auf sich zukommen. Duckte sich im letzten Moment zur Seite, so dass das Metall durch den Schwung ins Leere fiel. Aber da war noch der Meißel, dessen scharfe Kante auf ihn zeigte.
Das Glas knirschte unter Florians Schuhen, als ihn seine Schritte weiter nach hinten führten. Julian im Auge behaltend suchten seine Hände hastig nach einem Messer, das auf der Arbeitsplatte liegen musste.
Doch noch bevor er eines fand, fand der Meißel seinen Weg in seinen rechten Daumen und trennte die Kuppe ab.
Schmerzerfüllt schrie er auf. Das Blut schoss im Takt seines Pulses aus der Wunde. Instinktiv versuchte er, seinen Unterarm abzubinden. Für einen Moment vergaß er den rasenden Mann in seiner Küche. Dachte nur noch daran, die Blutung irgendwie zu stoppen. Der Schmerz stieg ihm so stark zu Kopf, dass er nicht mehr rational denken konnte.
Ein irres Grinsen legte sich auf Julians Lippen, als er all das Blut sah, dass sich auf den Boden ergoss.
„Was nützt Dich jetzt Dein Talent, hm? Willst Du vielleicht damit malen? Soll ich Dir einen Pinsel bringen? Diese rote Farbe inspiriert Dich doch sicherlich zu einem Meisterwerk! Aber das reicht noch nicht. WIR BRAUCHEN MEHR DAVON!“
Er hob den Arm mit dem Meißel und wollte zustechen. Aber mitten in der Bewegung fror er ein und kippte dann um. Mitten in die Glasscherben, die sich nun in sein Fleisch und in seine Adern bohrten.
Das war das Letzte was Florian sah, als der Schmerz und der Blutverlust seinen Tribut forderten. Bewusstlos fiel er neben seinem Bruder in die Scherben.
* * *
Als Florian die Augen wieder öffnete sah er eine weiße Decke über sich. Neben ihm verschafften sich unbekannte Geräusche Gehör. Es piepte und puffte.
Langsam drehte er den Kopf. In seinem rechten Arm war eine Kanüle angebracht, die von einem Schlauch mit einer farblosen Flüssigkeit gespeist wurde. Seine Hand war mit einem dicken Verband versehen. Die kleinen, teilweise genähten Schnitte in der Haut waren Erinnerungen, die die Glasscherben hinterlassen hatten.
Sein Blick wanderte weiter und erspähte eine zierliche, weibliche Gestalt, die in einem Stuhl versunken eingeschlafen war.
„Lilian?“
Von der Stimme aus dem Schlaf gerissen, sprang die junge Frau auf.
„Oh mein Gott, Flo! Endlich bis Du wach! Wir hatten schon das Schlimmste befürchtet!“
„Julian?“
„Es geht ihm etwas besser als Dir. Zumindest körperlich. Er hatte Glück, dass die Scherben seine Hauptschlagader verfehlt haben.“
„Wieso?“
„Ich kam wohl gerade noch rechtzeitig. Was für ein Glück, dass ich den Schlüssel zu Deinem Atelier habe. Ich mag mir nicht ausdenken, wenn…“, schluchzend brach Lilian ab.
„Nein! Wieso?“
Lilian atmete tief durch. Dann erzählte sie ihrem Bruder von dem Nervenzusammenbruch. Und davon, dass Julian wohl den Verstand verloren habe. Man wisse noch nicht, ob das dauerhaft oder nur vorübergehend war. Die nächste Zeit würde er jedoch erstmal in der geschlossenen Abteilung bleiben.
Zum ersten Mal in seinem Leben hasste Florian das Geschenk, das das Leben ihm gemacht hatte. All das Talent, die künstlerischen Fähigkeiten. All das, was dazu führte, dass sein Bruder derart vom Neid zerfressen wurde. Ihn in den Wahnsinn trieb. Und irgendwie einen Menschen zu einer Art von Selbstmörder werden ließ.
Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, wischte die Erschöpfung alle Gedanken aus seinem Kopf und ließ ihn ins Land der Träume gleiten.
Texte: Angela Zabel
Bildmaterialien: Angela Zabel
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2015
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