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Neues Jahr, neues Glück

Die Nacht legte ihre Schatten über die Welt, als eine Frau mittleren Alters ihr Spiegelbild betrachtete. Ihre langen, blonden Haare reichten bis zur Taille und gaben ihr ein jugendliches Aussehen. Ihre grünen Augen versteckte sie hinter einer dicken, schwarzen Hornbrille. Ihre Hüften waren ausladend und trugen mehr als ein paar Pfunde zu viel mit sich rum. Die vollen, runden Brüste quetschte sie in einen zu kleinen Büstenhalter, aus dem sie drohten herauszusprengen. Und die lange, gerade Bluse hing an ihren Schultern herab, als hätte sie einen Sack übergestülpt.

 

„So geht das nicht weiter, Sabrina! Sieh Dich doch mal an! Das ist doch keine Frisur! Selbst eine Vogelscheuche hat mehr Stil.“

 

Sie drehte sich immer wieder vor dem Spiegel. Zog schließlich die Bluse aus und betrachtete den Bauch, der in einer dicken Fettschürze auf ihren Oberschenkel endete. Die Haut wirkte schlaff und hatte einen kränklich, gräulichen Ton. Die Oberschenkel waren übersät von unansehnlichen Dellen und die Knie konnte man nur noch erahnen.

 

„Schluss jetzt mit diesem Selbstmitleid!“

 

Mit diesen Worten prostete Sabrina ihrem Spiegelbild zu und trank das Glas Wein, das eben noch neben ihr auf dem kleinen Tisch stand, in einem Zug aus. Als sie das Glas wieder abstellte, stieß dieses ein kleines Röhrchen mit Tabletten um. Es war nicht richtig verschlossen gewesen, daher rollte der Inhalt munter über den Teppich. Wie seiner Besitzerin sah man ihm an, dass die besten Tage schon lange vorbei waren.

 

Langsam, dem zwischenzeitlichen Blutalkohol Rechnung tragend, bückte Sabrina sich und hob das Röhrchen auf. In dicken Lettern stand darauf „Cipramil“ und darunter „Wirkstoff: Citalopram“. Die Frau lachte leise. Sie konnte sich nicht erinnern, seit wie vielen Monaten – oder waren es schon Jahre – sie dieses Medikament einnahm. Aber der Blick in den Spiegel sagte ihr, dass es nicht sonderlich hilfreich war.

 

Ihr Blick glitt die Wand entlang bis er bei ein paar Bildern aus vergangenen Tagen ankam. Dort stand sie als glückliche, schlanke Braut neben ihrem damaligen Traummann. Es war eine wunderschöne Hochzeit gewesen. Viele Freunde und Gäste waren da. Die Band eines Bekannten spielte live und ihre Familien hatten witzige Spielchen veranstaltet. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar den kleinen Bauchansatz sehen, der sich unter dem Prinzessinnen-Kleid abzeichnete.

 

Tagelang hatte sie damals gebangt, ob sie wohl noch in das Chiffon-Kleid mit dem Spitzenbesatz und der Perlenstickerei reinpassen würde. Selbst die Dessous wurden eng über dem wachsenden Körper. Selbstverständlich kam eine Corsage zum einschnüren nicht in Frage. Das kleine Wesen hätte ja Schaden nehmen können.

 

Ein sarkastisches Lachen kam aus Sabrinas Hals. Hätte sie damals gewusst, was sie heute wusste, wäre es ihr egal gewesen. Aber so passte sie gerade noch in das Kleid. An allen Ecken und Nähten hatte es gezwackt, aber sie hatte tapfer durchgehalten. Sogar die ständig wiederkehrende Übelkeit hatte sie erfolgreich unterdrückt. Zumindest bis sie in ihrer Hochzeitssuite ankamen. Nach ca. einer Stunde hätte sie jedem genau sagen können, was sie den ganzen Tag über gegessen hatte. Die Hochzeitsnacht hatte sich da quasi von selbst erledigt.

 

Herbert war es egal. Er war so hacke dicht, dass er nicht einmal wahrnahm, wie seine frisch angetraute die ganze Nacht im Bad über der Klo-Schüssel verbrachte. So wie er war, fiel er aufs Bett und schlief ein. Und das war nicht das erste Mal.

 

Mal wieder schüttelte Sabrina den Kopf über sich selber. Wie konnte sie nur so naiv sein? Glauben, dass er sich ändern würde? Dass er einsehen würde, dass ein Kind mehr Verantwortung erforderte? Dass er kein Alkoholiker war? Wie konnte sie nur glauben, dass das keinen Einfluss auf ihr Leben nehmen würde?

 

Tatsächlich verlor sie ihren Job, weil sie ständig nach ihm sehen musste. Wie ein kleines Kind musste er geweckt werden – was immer einen Streit nach sich zog. Und nur unter Androhung des Alkohol-Entzuges raffte er sich auf, um zur Arbeit zu gehen. Sie kam ständig zu spät ins Büro, hatte keine passenden Ausreden parat. Bis sie irgendwann anfing, sich krank zu melden. Ihr fehlte die Kraft, nachdem sie ihren Mann endlich aus dem Haus hatte, sich selber fertig zu machen und zur Arbeit zu gehen.

 

Und dann kam, was kommen musste: Sie erlitt eine Fehlgeburt. Zuviel Stress. Zuviel Alkohol, um den Stress zu ertragen. Zu viele Zigaretten. Nie hatte sie Herbert einen Vorwurf gemacht. Immer hatte sie ihn in Schutz genommen. Eine typische Co-Abhängigkeit, die ihr aber nie bewusst war. Bis zu diesem verhängnisvollen Tag.

 

Herbert hatte mal wieder getrunken, bis in die Morgenstunden. Sabrina war erst ein paar Tage aus dem Krankenhaus zurück, viel zu schwach, um sich zu streiten oder zu wehren. Er hatte Schnaps getrunken. Davon wurde er immer aggressiv. Auch er hatte zwischenzeitlich seine Job verloren und das Arbeitslosengeld reichte hinten und vorne nicht. An diesem Morgen ließ er all seine Wut, seine Hilflosigkeit, seine eigene Unzulänglichkeit an ihr aus. Er holte aus. Und er traf.

 

Die damals dreißig-Jährige fiel die Treppe hinunter. Eine Marmortreppe mit fünfundzwanzig Stufen. Rechts und links glatte Wände, die ein Auffangen unmöglich machten. Irgendwann, während sie fiel, verlor sie das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kam, lag sie im Flur, direkt vor der Haustür. Kein Rettungsarzt auf dem Weg zu ihr. Kein Mensch, der nach ihr sah. Nur sie und die rote Lache aus Blut unter ihr.

 

Ihr Mann spurlos verschwunden. Sie hat ihn nie wieder gesehen. Auch auf der Beerdigung wollte sie ihn nicht sehen. Ließ nicht zu, dass irgendjemand noch mal einen Blick auf ihn werfen durfte. Keine Ahnung, was genau passierte. Aber plötzlich stand die Polizei vor der Tür, wollte ihr eigentlich die Nachricht vom Unfall überbringen.

 

Sie hatten nicht erwartet eine Frau vorzufinden, die dem Tod näher war als dem Leben.

 

Sabrina hatte Glück gehabt. Wären die Polizisten nur eine Stunde später gekommen, wäre sie wahrscheinlich verblutet. Noch am Vorabend hatte sie die leeren Flaschen wegräumen wollen, die auf dem Treppenabsatz standen. Aber sie war einfach nicht dazu gekommen.

 

Voller Hass riss sie das Hochzeitsbild von der Wand, schnappte sich ein Feuerzeug und verbrannte es. Das hätte sie schon viel früher machen sollen! Wie gut es sich doch anfühlte. Hier und jetzt musste das endlich enden! Ein Schlussstrich! Sofort!

 

Angewidert ließ sie die Tabletten in den Mülleimer fallen, brachte die angebrochene Wein-Flasche in die Küche und sah zu, wie sich der Inhalt kreisend in den Abfluss ergoss. Anschließend packte sie die Zigaretten aus dem Schrank und brachte sie direkt raus zur Mülltonne. Fünf neue Päckchen verschwanden in der Dunkelheit. Und nur um sicher zu gehen, schüttete sie noch den Bio-Müll darüber.

 

Heute würde es ein Ende haben! Das alles hier!

 

Sie ging zum Telefon und rief die einzige Person an, die ihr geblieben war. Die Einzige, die immer an ihrer Seite war. Sie nicht fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Alle anderen hatten sich zurückgezogen. Wollten nichts mehr mit ihr zu tun haben. Mit der Säuferin. Mit der Depressiven. Mit der komischen Tussi.

 

„Ja, hallo“, meldete sich eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung.

 

„Ich mache ein Ende! Hier und jetzt! Und ich brauche Deine Hilfe!“

 

„Bin unterwegs!“

 

Keine Stunde später stand Freya neben ihrer Freundin und räumte die Weinflaschen in ihr Auto. Viele Weinflaschen. Sie fragte sich, wo Sabrina die alle in der kleinen 2-Zimmer-Wohnung untergebracht hatte. Aber egal. Sie mussten jetzt weg – und bevor sie in den Müll kamen, sollten sie doch lieber in den Weinkeller von Freyas Eltern wandern. Nicht zu ihr, denn dann wäre die Versuchung zu groß.

 

„Bist Du wirklich sicher? Solltest Du die Tabletten nicht langsam absetzen?“

 

Der Spiegelschrank im Bad war vollgestopft mit diversen Mittelchen.

 

„Alles weg! Ich will das alles nicht mehr! Ich brauche das nicht mehr!“

 

Freya verstand. Zwei weitere Stunden verbrachten sie damit, alte Kleidungsstücke aus Schränken und Kartons zu zerren, und sie schön säuberlich auf einen Haufen zu legen. Dann kam Sabrinas Schere zum Einsatz. Mit großem Vergnügen und wilder Entschlossenheit zerschnitt sie jedes einzelne Stück.

 

„Dir ist klar, dass Du kein Geld für eine neue Garderobe hast, oder?“

 

Dem Eifer ihrer Freundin tat das keinen Abbruch.

 

Als sie fertig war, drückte sie Freya die Schere in die Hand.

 

„Jetzt meine Haare! Abschneiden!“

 

„Sollte das nicht besser ein Friseur machen?“

 

„Später! Mach sie ganz kurz!“

 

Freya zögerte. Kurz dachte sie über manisch-depressive Menschen nach. War es nicht so, dass sie urplötzlich wie geheilt da standen und dann überschwänglich alles ändern wollten? Um dann nur noch tiefer zu fallen? Aber das Glitzern in den Augen der Freundin weckte Hoffnung in ihr. Vielleicht war heute wirklich der Tag, an dem sich alles ändern würde. Das Haar fiel Strähne für Strähne zu Boden.

 

„Und was nun?“

 

„Wir gehen joggen!“

 

Das war dann aber doch zu viel. Sie schafften ganze zweihundert Meter, als Sabrina keuchend und nach Luft ringend auf den Asphalt sackte.

 

„Okay, okay. Langsam. Jeden Tag etwas mehr – und in einem Monat laufen wir schon einen Marathon!“

 

Es dauerte mehr als einen Monat. Aber ihr Wille war stark und er wurde von Tag zu Tag stärker. Die Pfunde schmolzen, die Brille wurde durch Kontaktlinsen ersetzt, die Haare wippten als hippe Kurzhaar-Frisur im Wind. Der Preis dafür war nicht gering. Wochenlang Muskelkater vom harten Training. Täglich lief der Schweiß in Strömen die Körper hinunter. Immer wieder mussten sie sich gegenseitig motivieren. Wenn die Eine aufgeben wollte, weil sei ja eigentlich damit nichts zu tun hatte, musste die Andere all ihre Kräfte zusammenraufen und die Freundin überzeugen, dass sie es alleine nicht schaffte. Und wenn Sabrina am Ende ihre Kräfte schien, war es an Freya ihr die Erfolge vorzubeten und sie weiter voran zu treiben.

 

Gemeinsam schafften sie es. Fünfzig Kilo verlor Sabrina in einem Jahr. Und mit jedem Pfund wuchs ihr Selbstbewusstsein, ihr Selbstwertgefühlt war wieder obenauf. Sie hatte einen neuen Job und neue Freunde. Blöd nur, dass ihre Haut nicht so wirklich bei dem Plan mit machte.

 

Trotz all dem Sport, der spezifischen Gymnastik, all den Cremechen und Wundermittel hing sie schlaff und unansehnlich an Bauch und Armen herunter. Und die ehemals straffen und vollen Brüste sahen eher aus wie leere Lederbeutel.

 

Genau zu dem Zeitpunkt tauchte Anton auf. Ein Bild von einem Mann. Groß, dunkelhaarig, dunkelbraune Augen, die in der Sonne glitzerten wie tausend Fische unter der Meeressonne. Sabrina war begeistert, fühlte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder ein Kribbeln im Bauch und bekam weiche Knie, als er sie ansprach.

 

Er lud sie zum Essen ein. Fragte nicht nach, als sie sagte, dass sie keinen Alkohol trinken würde. Akzeptierte sie genauso wie sie war. Ihre Kleider waren gut gewählt. Niemand konnte das Elend sehen, was sich darunter verbarg. Bis zu diesem Tag hatte sie sich auch keine Gedanken darüber gemacht. Denn die Vorstellung, mal wieder in den Armen eines Mannes zu liegen und Sex zu haben, gehörte nicht zu ihrem Plan. Das änderte sich jetzt schlagartig.

 

Damit erhielt ihr Selbstbewusstsein einen herben Rückschlag. Der Blick in den Spiegel wurde wieder kritischer. Die Fettschürze hatte sich nicht zurück gebildet und lag immer noch auf ihren Oberschenkel – nur dass sie jetzt wie ein leerer Sack hing. Das Fett, was dem ganzen vorher noch eine Form gegeben hatte, war nicht mehr da.

 

„Hey, Du hast in den letzten zwei Jahren so viel erreicht! Es kann doch nicht sein, dass Dich das jetzt zurück wirft!“

 

Freya versuchte, Ihre Freundin wieder aufzubauen. Und dann hatte sie die einzig sinnvolle Lösung parat.

 

„Wir haben doch für den Urlaub in den USA gespart. Vielleicht solltest Du das Geld lieber nehmen und Dich operieren lassen! Das würde Dir sehr viel mehr geben als vier Wochen Amerika! Dahin können wir immer noch reisen.“

 

„Das wäre nicht fair! Wir haben uns beide darauf gefreut. Wäre es nicht sehr egoistisch von mir, wenn ich jetzt das Geld nehmen würde – für DAS DA?!“

 

DAS DA ist Dein Körper, dem Du in zu kurzer Zeit zu viel zugemutet hast. Ich finde es fair, wenn Du ihm jetzt ein wenig zurückgeben würdest. Glaube mir, Deinem Körper gefällt diese überflüssige Haut auch nicht. Außerdem: Wenn Du glücklich bist, bin ich es auch! Dann muss ich mir wenigstens nicht mehr dieses Gequengel anhören.“

 

„Freya! Du bist die Beste! Ich mach das wieder gut!“

 

„Na klar doch. Irgendwann mal.“

 

Gemeinsam recherchierten sie im Internet und hörten sich bei Freunden und Bekannten um. Die Wahl war dann schnell getroffen. Keine sechs Wochen später lag Sabrina auf dem OP-Tisch. Anton war gerade beruflich für ein paar Wochen im Ausland unterwegs, so dass sich Sabrina keine unnötigen Geschichten ausdenken musste. Er würde es schon sehen, wenn er wieder da war.

 

Zwei Wochen in der Klinik, danach vier Wochen nur leichte Arbeiten. Und dann Anton und ihre neuen, heißen Dessous. Sollte doch kein Problem sein.

 

Aber es kam anders als geplant.

 

Bei der OP traten Komplikationen auf. Nichts gravierendes, aber genug, um die Genesungszeit stark zu verlängern. Zu allem Überfluss heilten die Narben nicht gut ab. Die Ärzte meinten, dass wären Spätfolgen der Alkoholsucht und der Medikamente. Manchmal passiere so was einfach und sie könnten gar nichts dagegen tun. Schmerzmittel und Ruhe, regelmäßige Wundversorgung – und viel Geduld.

 

Sabrina heulte tagelang. Warum hatte sie sich nur darauf eingelassen. Anton hatte natürlich überhaupt kein Verständnis dafür. Hatte sie zwar im Krankenhaus besucht und ihr seine Unterstützung zugesagt. Aber letztendlich war er dann doch verschwunden. Sagte, er könne das hier nicht. Es wäre ja nichts Ernstes gewesen, sie hätten ja nicht mal Sex gehabt. Sie könnten ja gute Freunde bleiben. Danach sah sie ihn nicht wieder. Und ihren Job war sie aufgrund des langen Krankenstandes auch wieder los.

 

Sie drohte in eine neue Depression abzufallen. Dachte auch darüber nach, die Weinabteilung des Supermarktes um die Ecke zu besuchen. Verschlang kiloweise Schokolade. Langsam schaffte sich ein Pfund mehr auf ihre Hüfte. Und es blieb nicht allein.

 

Als endlich die Verbände abkamen und die Wunden verheilt waren, war das Gewicht wieder um zehn Kilo in die Höhe geschossen.

 

„Frau Kramer! Nochmal können wir so eine OP nicht machen. Sie sollten sich überlegen, was Ihnen wichtiger ist. Fettschürze oder Bikini.“

 

Sabrina entschied sich für den Bikini.

 

Wieder fing sie an intensiv zu trainieren. Wieder zwang sie sich trotz Schmerzen und Muskelkater weiter zu machen. Wieder war Freya an ihrer Seite und motivierte sie.

 

Diesmal dauerte es länger, um die Pfunde wieder los zu werden.

 

„Süße! Bei allem Verständnis. Aber nochmal so eine Trainingskur mache ich nicht mit! Wir werden weder jünger noch wird es einfacher, die Pfunde wieder weg zu kriegen. Könnten wir bitte einen langfristigen Plan machen“, bettelte Freya ihre Freundin an.

 

„Ich war noch nie gut darin, Pläne zu machen“, lachte Sabrina. „Aber ich verspreche Dir, dass ich in Zukunft besser Acht gebe!“

 

Freya zweifelte daran. Stellte sich vor, wie der nächste Mann in Sabrinas Leben treten und wieder verschwinden würde. Sah die Schokolade auf dem Tisch ihrer Freundin – oder vielmehr die leeren Verpackungen. Wieviel Neuanfänge konnte ein Mensch vertragen? Wie viele davon konnte der Körper mitmachen?

 

Sabrina gab ihr keinen Anlass, darüber länger nachzudenken. Jeden zweiten Tag zog sie ihre Runden im Wald. Kaufte bewusster ein und kochte so gesund es nur ging. Süßigkeiten kamen nur noch selten in den Einkaufswagen. Und die Weinabteilung beachtete sie erst gar nicht.

 

Ihr neuer Job als Abteilungsleiterin füllte sie endlich völlig aus. Hier konnte sie sowohl ihre Erfahrungen einbringen als auch kreativ auf neue Situationen reagieren. Das brachte ihr den gewünschten Erfolg. Sie war überall beliebt, weil sie eine positivere Ausstrahlung hatte.

 

Es fehlte aber noch etwas zum endgültigen Glück.

 

Die Nächte waren lang und kalt. Oft schlief Sabrina auf der Couch, weil sie sich in dem großen Bett so einsam fühlte. Da half auch das wohlige Schnurren der beiden Katzen nichts. Sie waren nun einmal kein Ersatz für ein paar starke Arme, die sie tröstend hielten, wenn es ihr mal nicht so gut ging.

 

Das Schicksal hatte irgendwann ein Einsehen und erfüllte ihr zu Ostern einen Wunsch. Die Erfüllung kam in Form eines neuen Kollegen daher. Groß, mittelbraune Haare und Augen so blau wie ein Saphir. Seine Stimme war wohlig dunkel und männlich. Sabrinas Ohren vibrierten immer ein wenig, wenn er mit ihr sprach. Die wohligen Schauer, die ihr dabei den Rücken herunterliefen, versuchte sie zu ignorieren.

 

Die mittlerweile 45-jährige wollte nicht noch einmal wegen einem Mann in ein Loch fallen. Zu sehr war sie in der Vergangenheit enttäuscht worden. Zu tief waren noch die Wunden. Die Mauer um ihr Herz war dick und kräftig. Dachte sie jedenfalls. Das sie Stein für Stein, Tag um Tag, ein wenig mehr zusammenfiel, merkte sie nicht. Oder sie wollte es einfach nicht merken.

 

Robert war zuvorkommend, hatte immer ein nettes Wort für sie. Ihm war aufgefallen, dass sie ab einem gewissen Punkt zu machte und alles Flirtversuche abblockte. Aber diese grünen Augen verfolgten ihn bis in seine Träume. Das Lächeln erwärmte sein Herz so sehr, wie nie zuvor. Manchmal, wenn sie ihn aus Versehen an der Hand berührte, spürte er, wie seine Beine drohten nachzugeben.

 

Lange hatte er überlegt, wie er wohl an Sabrina ran kommen konnte, ohne sie wie ein verschrecktes Reh in den Wald zurück zu scheuchen. Er kannte ihre Geschichte zwar nicht, aber die Falten um ihre Augen und der oft zugekniffene Mund sagten ihm, dass sie es sicherlich nicht leicht im Leben hatte.

 

Der Vertriebsleiter wollte aber nicht aufgeben. Wenn er von Messen oder Reisen wiederkam, hatte er immer ein kleines Geschenk für Sabrina dabei. Nichts Wertvolles oder Süßes, nur etwas, was ihr sagte, dass er an sie gedacht hatte. Das kleine Wandregal in ihrem Büro stand voller dieser kleinen Mitbringsel. Allein die Tatsache, dass sie jedem davon einen Platz in ihrer Nähe gab, ließ sein Herz hüpfen.

 

Es dauerte 18 Monate bis er sich endlich traute, sie zum Essen einzuladen. Und sie sagte tatsächlich zu! Sabrina sprang über ihren Schatten und ließ sich ausführen.

 

Als Freya davon hörte, schnappte sie sich erstmal einen Schnaps.

 

„Na toll, dann mal auf ein neues Drama!“

 

Aber Freya wäre keine gute Freundin gewesen, hätte sie Sabrina nicht unterstützt. Ihre Zweifel und Bedenken behielt sie für sich. Untätig wollte sie diesmal jedoch nicht bleiben.

 

Sie informierte sich über Robert. Kramte so gut sie es konnte in seiner Vergangenheit. Als sie dort nichts Erwähnenswertes finden konnte – gut, er war geschieden, hatte zwei Kinder, aber das war in dem Alter nichts Besonderes – ging sie dazu über, ihn ein paar Tage zu beobachten.

 

Vier Tage lang war da nichts, was sie in ihr kleines Notizbuch hätte schreiben können. Er ging morgens zur Arbeit, kam wieder, zog sich um, ging ins Fitness-Center, anschließend mit ein paar Bekannten in das nächst gelegene Bistro und dann wieder nach Hause. Beim Einkaufen konnte sie keinen Alkohol in seinem Wagen erkennen. Entweder er trank nur sehr wenig oder gar nichts.

 

Doch der Samstagvormittag hielt eine Überraschung bereit. Die junge Frau, die er vor seiner Haustür empfing und die er herzlich küsste, war weder seine Ex-Frau, noch seine Tochter. Und seine Schwester war kleiner, das wusste Freya, weil sie sie beim Grillfest im Sommer kennen gelernt hatte. Eine andere Schwester gab es nicht. Wer war also diese Frau?

 

Hatte Freya sich wirklich so sehr in diesem Herrn Saubermann getäuscht? Spielte der doch nur mit ihrer Freundin? Seit Wochen trafen sie sich regelmäßig. Mal beim Sport, mal im Bistro. Doch bisher hatte Sabrina ihn nicht mit nach Hause genommen. Zu ihm waren sie auch nicht gegangen. Außer ein paar harmlosen Küssen war da bisher nichts gewesen.

 

War diese Frau der Grund dafür? Hatte er etwa zwei Hasen gleichzeitig laufen? Vielleicht eine Fernbeziehung?

 

Verstört und enttäuscht machte sich Freya nach Hause. Sie wollte Sabrina erstmal nichts erzählen. Aber sie nahm sich fest vor, Robert die Leviten zu lesen. Ihre Chance kam schneller, als sie dachte.

 

Die Vernissage einer Freundin stand an, zu der nur geladene Gäste kommen durften. Freya hatte Sabrina schon vor Wochen dazu eingeladen. Gemeinsam putzten sie sich raus, freuten sich darauf, endlich mal wieder ihre schönen Abendkleider ausführen zu können. Ein Abend nur für Frauen. Die Männer blieben, wo auch immer sie bleiben wollten.

 

Die Ausstellung war ein voller Erfolg. Alle waren der Einladung gefolgt und die Presse füllte die restlichen freien Plätze aus. Es waren so viele Menschen da, dass es den ganzen Abend dauern würde, um alle wahrzunehmen. Ein Paar jedoch fiel Freya ziemlich schnell ins Auge.

 

Sie fasste es nicht. Wie konnte Robert hier mit dieser Frau erscheinen? Und wie konnte sie verhindern, dass Sabrina die Beiden sah?

 

Roberts Arm lag besitzergreifend auf der Hüfte der blonden Schönheit, als sie gemeinsam der Künstlerin ihre Glückwünsche zur erfolgreichen Vernissage überbrachten. Offenbar kannten die Frauen sich. Wie auch sonst hätte sie an eine Einladung kommen können.

 

„Komm, Freya! Wir sollten Tanja mal sagen, wie toll sie das gemacht hat. Und ob diese Skulptur dahinten noch zu haben ist. Die ist wirklich…“

 

Mitten im Satz brach Sabrina ab.

 

„Sabrina, Liebes“, rief ihr die Künstlerin zu. „Komm her, ich möchte Dich mit meiner alten Schulfreundin Anne-Kathrin und ihrem Freund Robert bekannt machen!“

 

Langsam, ohne sich etwas anmerken zu lassen, ging Sabrina auf Tanja zu.

 

„Eine alte Schulfreundin? Wie nett, Sie kennen zu lernen. Hallo, Robert“, fügte sie mit eiskalter Stimme hinzu.

 

„Sabrina! Ich hatte keine Ahnung, dass Du auch hier sein würdest.“

 

„Nein, sicher nicht. Sonst wärst Du wohl nicht mit Deiner . . . Freundin hier aufgetaucht, nicht wahr?“

 

Tanja und Anne-Kathrin sahen sich verdutzt an. Sie wussten ja nicht, dass Sabrina und Robert eigentlich ein Paar waren. Als Anne-Kathrin endlich verstand, wollte sie auf Sabrina zugehen und das Missverständnis auflösen.

 

Doch Sabrina ließ keine Worte zu. Sie drehte sich um und verließ das Atelier. Freya hatte große Mühe, ihr zu folgen.

 

„Sabrina! Warte doch mal!“

 

„Scheißkerl! Warum falle ich immer wieder auf solche Scheißkerle rein!“

 

„Aber, aber… Wir wissen doch gar nicht…“

 

„Willst Du ihn jetzt auch noch in Schutz nehmen“, unterbrach Sabrina wütend ihre Freundin. „War das nicht offensichtlich genug?“

 

Freya blieb zurück und sah zu, wie Sabrina in ein Taxi stieg und davon fuhr.

 

„Sabrina! Sabrina! Warte! Lass mich erklären!“

 

Robert kam angelaufen. Doch seine große Liebe war bereits weg.

 

„Das hast du ja klasse hinbekommen, Mister Oberschlau! Wer ist denn diese Schlampe? War Dir eine nicht genug? Musstest Du Sabrina derart hintergehen? Scheißkerl!“

 

Ohne Robert zu Wort kommen zu lassen, schrie Freya ihn an.

 

„Wie konntest Du ihr das nur antun? Ich schwöre Dir, wenn sie wegen Dir wieder an die Flasche geht, dann gnade Dir Gott! Dir wird die Hölle wie der Himmel vorkommen, wenn ich mit Dir fertig bin!“

 

Der Mann starrte die Furie vor sich an. Zum Abschluss kassierte er eine Ohrfeige und konnte nur noch zusehen, wie die aufgebrachte Freya das nächste Taxi schnappte und die Tür hinter sich zuknallte. Die roten Rücklichter des Wagens verschwanden in der Dunkelheit.

 

„Robert! Was war denn das? Gibt es da etwas, was Du vergessen hast, mir zu erzählen?“

 

„Tut mir leid, Anne. Aber ich muss das Auflösen, bevor Sabrina irgendeine Dummheit macht! Ich rufe Dich an!“

 

Robert machte sich nicht die Mühe, ein Taxi zu rufen. Er lief so schnell seine Füße ihn in den dafür nicht gemachten Schuhen tragen konnten. Irgendwann sagte ihm sein Verstand, dass er weder so lange noch so weit laufen konnte. Weit und breit war jedoch kein Taxi zu sehen. So dauerte es letztendlich drei Stunden, bis er vor Sabrinas Tür ankam.

 

Sie war aber nicht da. Und sie kam die ganze Nacht nicht nach Hause. Und auch nicht den Tag darauf. Ihr Handy war ausgeschaltet. Es war mehr als offensichtlich, dass sie keine Kommunikation mit ihm wollte.

 

Freya ließ ihn auch abblitzen.

 

„Ich weiß nicht wo sie ist. Und wenn ich es wüsste, würde ich es Dir eh nicht sagen! Lass uns in Ruhe!“

 

Montagmorgen blieb das Licht im Büro der Abteilungsleiterin aus. Auf seine Nachfrage hin antwortete die Personalabteilung, Sabrina habe sich die ganze Woche krank gemeldet. Und dann wären ja schon Betriebsferien wegen Weihnachten. Im neuen Jahr wäre sie bestimmt wieder da.

 

Tatsächlich hatte Sabrina nicht vor, wieder zu kommen. Sie war ohne Umwege zum Bahnhof gefahren, hatte sich in den nächst besten Zug gesetzt und harrte bis zur Endstation aus. Irgendwo im Nirgendwo fand sie ein Hotelzimmer, wo sie die nächsten drei Tage die Kissen vollheulte. Zum Glück gab es hier weder eine Minibar noch einen Zimmerservice.

 

Als die Tränen endlich versiegten, rief sie Freya an, die sie umgehend abholte. Auf der Fahrt sprachen sie kein Wort. Sabrina starrte nur aus dem Fenster. Zu Hause angekommen kickte sie den Blumenstrauß, der vor ihrer Tür lag, in hohem Bogen auf die Straße. Der gerade vorbeikommende Wagen konnte nicht mehr ausweichen und fuhr die angewelkten Blüten platt.

 

„Ich werde mich nicht unterkriegen lassen, Freya! Diesmal nicht! Ich brauche keinen Mann. Ich schaffe das auch allein!“

 

„Du bist nicht allein. Ich bin auch noch da!“

 

„Ja, zum Glück! Ohne Dich würde es vielleicht doch nicht schaffen. Aber jetzt muss ich endlich mal aus diesem Kleid raus. Wir sehen uns morgen.“

 

Lachend schloss Sabrina die Tür auf und sah ihrer Freundin nach, als diese wegfuhr. Freya hatte einen guten Mann und zwei tolle Kinder. Und trotzdem war sie immer für Sabrina da, wenn sie sie brauchte. Eine bessere Freundin konnte man sich nicht wünschen.

 

Zweieinhalb Wochen später gingen sie gemeinsam auf die Silvesterparty ihrer Künstler-Freundin Tanja. Sie hatten da noch etwas gut zu machen.

 

„Oh, was für einen Freude, Euch zu sehen. Das letzte Mal ist da ja leider was schief gegangen“, begrüßte sie Tanja.

 

„Entschuldige. Das war nicht Deine Schuld. Deine Ausstellung war so klasse! Ich wollte Dir nicht den Abend verderben.“

 

„Ach lass mal, Sabrina! Ich hätte an Deiner Stelle wahrscheinlich genau so reagiert. Naja, ich hätte vielleicht noch eins meiner Exponate nach ihm geworfen.“

 

Damit war das Thema erledigt und sie genossen die Feier. Es gab viele Freunde und Bekannte zu begrüßen und den neuesten Klatsch auszutauschen. Sabrina lachte viel. Mit Robert hatte sie abgeschlossen. Er war für sie kein Thema mehr.

 

Kurz vor Mitternacht führte der Hunger die Frau in die Küche, wo das Buffet aufgestellt war. Sie legte sich gerade ein paar Häppchen auf einen Teller, als sie hörte, wie die Küchentür abgeschlossen wurde. Verwundert blickte sie auf.

 

„Es ist nicht so, wie es aussieht! Bitte lass es mich erklären!“

 

Mit zittriger Stimme flehte Robert sie an. Er war Tanja so dankbar, dass sie ihn heute Abend anrief mit dem Hinweis, dass, wenn er etwas klar stellen wollte, heute die letzte Gelegenheit wäre.

 

„Da ist nichts mehr zu erklären. Ich habe schließlich Augen im Kopf. Und jetzt geh mir aus dem Weg!“

 

„Nein! Nicht bevor Du mir zugehört hast! Anne-Kathrin ist meine Patin. Sie hatte mich gebeten sie zu begleiten und so zu tun, als wäre ich ihr Freund, damit ihr Ex-Mann, der auch da war, sie nicht anquatscht. Ich weiß, ich hätte das vorher mit Dir klären sollen, aber ich wusste ja nicht, dass Du auch da sein würdest. Bitte! Ich liebe nur Dich!“

 

Mit großen Augen starrte Sabrina Robert an.

 

„Was meinst Du mit ‚Patin‘?“

 

Jetzt atmete Robert tief durch. Es wurde wohl Zeit, sein größtes Geheimnis zu enthüllen.

 

„Ich bin Alkoholiker. Und seit fünf Jahren trocken. Ich habe Anne-Kathrin bei einem Treffen der Anonymen Alkoholikern kennen gelernt. Seit dem unterstützen wir uns gegenseitig.“

 

Es war totenstill im Raum.

 

„Alkoholiker“, fragte sie schließlich leise nach. „Du bist Alkoholiker?“

 

„Ja. Deswegen wollte ich nicht zu schnell zu weit gehen. Ich hatte Angst, dass, wenn das mit uns nicht funktioniert, dass ich dann wieder zur Flasche greife. Und ich will unbedingt, dass es funktioniert!“

 

Roberts Stimme überschlug sich.

 

„Warum hast Du mir das nicht sofort gesagt?“

 

Als Antwort kam nur ein verzweifeltes Schulterzucken.

 

Aus dem Wohnzimmer drang der Jahrescountdown zu ihnen herein.

 

Sabrinas Gedanken überschlugen sich. Sie versuchte all das Gehörte und das Erlebte in Einklang miteinander zu bringen. Dann fällte sie ihre Entscheidung.

 

Sie schob Robert energisch zur Seite, schloss die Tür auf und zog ihn hinter sich her. Auf der Terrasse angekommen wurde diese bereits von dem reichlichen Feuerwerk in viele Farben getaucht. Auf einem Tisch standen gefüllte Sektgläser, von denen Sabrina zwei nahm und eines davon Robert reichte.

 

„Ich sagte doch gerade…“

 

„Die Hälfte der Leute hier ist Alkoholiker, die versuchen trocken zu bleiben. Deswegen gibt es hier nur alkoholfreien Sekt. Ich übrigens auch“, fügte sie hinzu.

 

„Und jetzt stoßen wir an. Auf ein neues Jahr! Ohne Geheimnisse und ohne unnötige Streitereien! Ich will nämlich auch, dass das hier funktioniert!“

 

Robert konnte nicht glauben, was er hörte. Nie hätte er gedacht, dass er Sabrina so schnell zurück erobern könnte. Oder war das nur ein Traum?

 

„Dann… dann fangen wir nochmal von vorne an?“

 

„Nein, nicht ganz. Ich habe da was unter diesem Kleid…“

 

Die Beendigung des Satzes überließ Sabrina dem Kuss, den sie ihrem Auserwählten auf die Lippen drückte. Und der versprach so viel, dass Robert nicht nur den Atem verlor.

 

Impressum

Texte: Angela Zabel
Lektorat: Angela Zabel
Tag der Veröffentlichung: 02.02.2015

Alle Rechte vorbehalten

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