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Schneemann

Schneemann

 

 

Manu presste ihre Stupsnase an die kalte Fensterscheibe, auf der sich Eisblumen abzeichneten. 

Draußen stoben dichte Schneeflocken, getrieben von einem böigen Wind. Binnen weniger Minuten verwandelte sich der kurz zuvor noch herbstliche Garten in eine winterliche Idylle. Auf den Sträuchern wuchsen winzige weiße Kugeln aus unzähligen Kristallen zu seltsamen Gebilden. Der Rasen war mit einer dicken Decke aus flauschigem Pulverschnee bedeckt. 

»Mama«, rief Manu aufgeregt, »darf ich nach draußen? Ich möchte einen Schneemann bauen.« 

Die Neunjährige hüpfte von einem Bein auf das andere und schnappte sich schon den roten Schal von der Kommode.
Argwöhnisch warf die Mutter einen Blick in den verschneiten Garten. 

»Liebes, es weht ein ziemlich scharfer Wind. Du könntest krank werden.« 

Manu schmollte in kindlichem Trotz. »Ach, Mama. Ich zieh mir warme Sachen an.« 

»Na schön«, seufzte Theresia Bammer und ergab sich dem Drängen ihrer Tochter. 

Schließlich konnte sie dem Kind nicht alles verbieten. Es reichte, wenn Manuela, kurz Manu gerufen, ein ohnehin mehr als behütetes Leben führte. Das Mädchen durfte seit dem Vorfall, der mittlerweile vier Jahre zurücklag, nicht mehr alleine zur Schule gehen, sich nicht mit Gleichaltrigen im Park verabreden … Rein gar nichts, worauf ein Kind sonst Lust hatte.

Scheinbar hatte all das Geschehene keine seelischen Verletzungen bei Manu hinterlassen. 

Scheinbar. 

 

Denn in vielen schlaflosen Nächten musste die Mutter die Qualen des Kindes immer und immer wieder miterleben. 

Nämlich dann, wenn sich der Blondschopf in seinen Albträumen die Seele aus dem Leib schrie und am Morgen schweißgebadet erwachte. Seltsam war, dass Manu sich nie an die schrecklichen Stunden zwischen dem Abend und dem Aufstehen erinnerte. 

»Geh aber nicht vor das Gartentor«, bat Theresia nun eindringlich, »und bleib in Sichtweite vom Küchenfenster. Von dort aus kann ich dich beobachten.«

Manu strahlte übers ganze Gesicht. 

»Danke, Mama. Ich bau dir auch einen extra schönen Schneemann. Einen …« Das Kind stockte kurz, ehe es weitersprach: »… der uns beschützen wird.«

Der eigenartige Unterton in der Stimme der Tochter ließ die Mutter gruseln und kalte Schauer liefen über ihre Arme. 

Theresia Bammer verdrängte die Gedanken daran jedoch und beobachtete, mit welcher Hingabe die Kleine ihren Schneemann baute. 

Die blonden Haare unter einer dicken Mütze versteckt und Wangen, die sich in kindlichem Eifer und vor Kälte rot färbten. 

Mit geschickten Händen hatte Manu eine Kugel geformt und rollte diese nun durch den Garten, damit sie an Größe gewinnen konnten. Immer größer und größer wurde die erste Schneekugel, die das Fundament für den Schneemannbauch und den –kopf bildete.

Dieser Schneemann sollte etwas ganz Besonderes werden. Besonders groß und besonders stark. Theresia lächelte wieder. Auch weil sie sah, dass das Kind sich mit Selbstgesprächen aufzumuntern und selbst anzufeuern schien. 

Wüsste die Mutter, welche Worte dem Mund ihrer Tochter entwichen, würde das Grauen sie erschüttern. Etwas seltsam mutete Theresie nur an, als sie durch das Küchenfenster mitverfolgte, wie Manu die Bauchkugel des winterlichen Gartengefährten auf die unterste Kugel hievte. Gerade so, als hätte die Schneemasse das Gewicht eines Luftballons. 

›Pulverschnee!‹, kommentierte die Frau in der Küche für sich, »der ist ja leicht.‹

Mit einem Lächeln honorierte sie die bittende Geste des Kindes vor der Fensterscheibe. Es wollte seinen roten Schal dem neuen Freund um den Hals schlingen. Freudenstrahlend, weil die Mutter zugestimmt hatte, legte Manu ihn um den gefrorenen Hals des Schneemannes und strich der weißen Gestalt liebevoll über die Schneekristallwangen. 

»Damit dir nicht kalt wird, wenn du tust, was du tun musst«, hauchte das Mädchen lächelnd, und der Atem gefror vor seinem Gesicht.

Hatten die zwei Kohlestücke, die als schwarze Augen über der Möhrennase in dem runden Gesicht glänzten, aufgeleuchtet? Theresia Bammer wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und schüttelte den Kopf. Schon hörte sie Manu an der Haustür und wie das Kind sich den Schnee von den Pelzstiefeln klopfte. 

Der Hausschlüssel drehte sich im Schloss und ein Sicherheitsriegel wurde vorgeschoben. Etwas, das weder Mutter noch Tochter seit jenen Tagen vergaßen. Zu grausig waren die Erinnerungen …

 

»Hermann!«, rief Theresia, als sie das Schnappen der Haustüre hörte, »ich bin in der Küche. Manu ist im Kinderzimmer. Guckst du gleich nach ihr, bitte? Sie hat schon nach dir gefragt.«

Das Geräusch der Dunstabzugshaube dürfte die Antwort ihres Mannes verschluckt haben. So zuckte die Hausfrau und Mutter nur lächelnd mit den Schultern. Bald würde sie das Aufjauchzen des Kindes hören, wenn der Vater das Mädchen durch die Luft drehte. Eines der Lieblingsspiele der beiden. 

Ein kalter Windhauch wehte vom Vorzimmer in die Küche. Seufzend wischte Theresia sich ihre Handflächen an der Kochschürze ab. Wahrscheinlich hatte Hermann die Tür nicht fest genug ins Schloss gezogen. Seit einigen Tagen schloss die Tür nicht mehr richtig. Möglicherweise waren die kalten Außentemperaturen daran schuld. 

Tatsächlich stand die Tür sperrangelweit offen und gewährte dem Dezemberwetter Einlass in die warme Stube. Die Frau drückte die Eingangstür fest ins Schloss und sperrte vorsichtshalber auch mit dem Schlüssel ab. Den Schlüsselbund hängte sie an das Schlüsselbrett. 

Hatten Vater und Tochter ein neues Spiel erfunden? 

Kein Laut drang aus dem Kinderzimmer nach unten in den Flur. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen schlich Theresia die Holzstufen hinauf in den ersten Stock und versuchte, ein Knarren der Dielenbretter zu vermeiden. 

Die Zimmertür zu Manus Reich war nur angelehnt und mit jedem Luftzug schlug sie leicht gegen den Türrahmen. 

Ah, wahrscheinlich hatten die beiden sich versteckt. Mühsam unterdrückte die Mutter ein lautes Auflachen. Das letzte Mal musste sie ihren Mann dann aus einer sehr misslichen Lage befreien. Denn aufgrund seiner Korpulenz war Hermann im Kleiderschrank der Tochter stecken geblieben. 

»Na, wo sind meine Helden?«, rief die Mutter beim Eintreten in das Kinderzimmer. Auf dem Spieleteppich lagen unordentlich verstreut ein paar Kleidungsstücke für die Ankleidepuppe Manus. Kein Mucks verriet etwas über den Aufenthaltsort von Tochter oder Vater. 

»Diesmal habt ihr euch aber gut versteckt. Aber ich werde euch schon finden.«

Ein Geräusch von der Haustür ließ Theresia aufhorchen. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht, die Tür schnappte auf und geräuschvoll wieder zu.

»Halloho! Ich bin zu Hause. Wer noch? Wo sind meine Lieblingsfrauen?«

Das Gefühl, das sich in diesem Moment Theresias bemächtigte, war vergleichbar mit einer eiskalten Dusche. 

»Manu! M a n u e l a!«, überschlug sich die Stimme der Frau, um kurz darauf mit einem bereits leicht hysterischen Unterton »Hermann! Komm ins Kinderzimmer, bitte!« zu rufen.

 

Stunden später war es Gewissheit geworden. 

Irgendjemand hatte sich schon Tage zuvor an der Haustür zu schaffen gemacht und das Verbrechen vorbereitet. Manu war entführt worden. 

Warum gerade ihr Kind? Eine Frage, die sich wohl alle Eltern und Angehörigen von Entführungsopfern stellen? 

Theresia und Hermann waren nicht besonders wohlhabend. Sie waren zwar auch nicht mittellos, aber entsprachen sicher nicht dem herkömmlichen Opferprofil. 

Was wollte man von ihnen? Was von ihrem Kind? 

Die Ungewissheit wurde durch das vergebliche Warten genährt, das Tage dauerte. 

Mehr als zwei Wochen, ehe sich eine Stimme, die seltsam verzerrt klang, am Telefon meldete und einen horrenden Betrag forderte, wenn die Eltern das Kind lebend wiedersehen wollten. Fragen, wie es Manu ginge, ignorierte der Anrufer schlichtweg und unterbrach die Verbindung. 

Bei einem weiteren Anruf, Tage danach, teilte dieselbe Stimme Zeit und Ort für den ›Austausch‹ mit. Die Polizei stellte eigens präparierte Geldscheine zur Verfügung, die in einen Koffer mit GPS-Sender gepackt waren. Laut Anweisung des Entführers sollte der Vater das Geld überbringen. Die Polizei wollte sich in geeigneter Entfernung aufhalten, um den Täter zu überwältigen, wenn er das Kind freigegeben hatte.

Das Schicksal wob am Tag der ›Übergabe‹ seine eigenen Fäden. 

Theresia konnte Stunden später glücksstrahlend ihre Tochter in den Arm nehmen. Die zu Boden gesenkten Blicke der Beamten, die das Kind heimgebracht hatten, verhießen jedoch nichts Gutes … 

Hermann würde nie wieder nach Hause zurückkehren, nie wieder sein Kind oder seine Gattin in den Arm nehmen können. Der Entführer war bewaffnet gewesen und hatte sofort, nachdem er die Falle bemerkte, das Feuer eröffnet. Schützend hatte der Vater sich vor seine Tochter gestellt und war von einem tödlichen Geschoss getroffen worden.

 

Die Gerichtsverhandlung war eine Farce und es schien, als hätte die Staatsanwältin mehr Mitleid mit dem Täter als mit den Opfern. Der Verbrecher wurde in eine geschlossene Anstalt überstellt und musste sich einer Therapie unterziehen, danach eine Haftstrafe verbüßen. 

Ohnmächtiger Zorn machte sich damals bei Theresia breit und in ihren Gedanken verfluchte sie den Mann, der ihre Familie zerstört hatte. 

Ein seltsamer Blick aus Manus Augen hatte damals die Mutter getroffen. Trost? Rachegefühle? 

Das Mädchen, das anfangs nur verschlossen in seinem Kinderzimmer saß und außer der Mutter niemanden an sich heranließ, wurde psychologisch betreut. Zudem riet man der Mutter, einen Ortswechsel vorzunehmen. Wenigstens die Umgebung sollte nicht mehr an das Geschehen erinnern.

Seit Theresia mit Manu in das kleine Häuschen mit Garten übersiedelt war, schien das Kind aufzublühen und es stellte sich wieder Normalität – wie es unter den gegebenen Umständen möglich war – ein. Manuela fand bald Anschluss zu den Kindern in dem idyllischen kleinen Ort und wurde eine aufmerksame sowie strebsame Schülerin. 

Das Verbrechen schien sich in die tiefsten Winkel der Seele zurückgezogen zu haben. Doch vergessen war es nicht.

 

»Mama«, gluckste Manu, »hast gesehen, was ich für einen tollen Schneemann gebaut habe? Der passt jetzt auf uns auf. Wirst sehen!« 

Wieder dieser eigenartige Blick, den Theresia in letzter Zeit schon öfter bei der Tochter bemerkt hatte. Wie damals …

Die Mutter überspielte die Situation und strich dem Kind über den Kopf. »Ja, ganz toll ist er geworden. Und du bekommst jetzt einen heißen Kakao und wenn du magst, darfst du schon ein paar Weihnachtskekse naschen.«

»Oh ja«, japste Manu glücklich. »Weihnachtskekse sind lecker. Da weiß ich, dass bald der Weihnachtsmann kommt.«

Lachend, und Hand in Hand, gingen Mutter und Tochter in die Küche. Sie setzten sich zu dem kleinen Tisch, auf dem noch das Teigbrett und der Teigroller lagen. Eine Hälfte des Küchentisches hatte Theresia gesäubert. Dorthin stellte sie einen bunten Kinderteller, auf den sie ein paar Kekse aus der Keksdose schichtete. »Ach, der Kakao«, erinnerte sich Theresia und sprang schnell wieder auf. 

Draußen brach nun rasch die Dämmerung herein und bald würde dunkle Nacht über dem Ort liegen, nur erhellt von den weihnachtlichen Lichterdekorationen an den Häusern und an den Straßenlaternen. 

Die Mutter warf noch einen kurzen Blick nach draußen, ehe sie die Jalousien vorziehen wollte. 

Gutmütig, mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Renate Zawrel
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2019
ISBN: 978-3-7487-0037-1

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