TOTE STERBEN EINSAM
Unter dunkler Erde schlummert die Freveltat,
flehend jemand um rächend‘ Sühne bat.
Fahl spendet der Mond sein Dämmerlicht.
Wenn selbst der Tod schützt den Mörder nicht.
„Wir sollen sofort zu Brettebner“, kündigte Tenatier mit forscher Stimme an, als Dorothea gegen halb neun ins Büro kam.
Dodo schüttelte den Kopf und brummte: „Guten Morgen erstmal!“ Was war das denn heute wieder für ein Ton bei dem Kollegen? „Morgen allerseits“, grüßte die Kommissarin in die Runde. Ihre gute Laune wollte sich Dorothea nicht verderben lassen. Urlaubsgefühl breitete sich wohlig in ihrem Inneren aus. Morgen, nach Dienstschluss, würde sie sich auf die Fahrt nach Kroatien machen, um ihre Eltern zu besuchen. Ein paar Tage ausspannen und gemütliche Stunden unter dalmatinischer Sonne genießen.
Die Belegschaft war heute ein wenig dezimiert. Kummerlander besuchte seit Montag, dem vierten Juli einen Kurs der Polizeischule und Roman Huber würde erst gegen Mittag kommen. Eine Voruntersuchung zu seiner bevorstehenden Behandlung des Feuermals stand auf dem Programm. Ob Stefan Baumann seinen Urlaub wirklich vorverlegt hatte, weil er immer noch kein Date mit Dodo geschafft hatte?
Daher wurde der Morgengruß von Garblong zwar herzlich erwidert, von Maggy jedoch lediglich mit einem unverständlichen Genuschel beantwortet.
„Kommst du?“, verlangte Raphael bereits etwas grantig, weil die Kollegin sich seiner Meinung nach ein bisschen viel Zeit ließ. Vielleicht würde sie sich sputen, wenn er verriet, was den Rapport beim Chef ausgelöst hatte. „DeCastillas ist verschwunden!“
Dodos Kopf ruckte hoch, während sie gerade dabei war, ihren PC zu starten. „Wie verschwunden? Der ist doch tot!“
„Eben“, antwortete Tenatier genervt. „Genau das ist der springende Punkt. Unser ‚eigentlich‘ toter Mörder hat sich aus dem Staub gemacht.“
Mehr als eilig tippte Dorothea ihr Passwort auf der Tastatur, ließ ihre Umhängtasche auf dem Bürosessel liegen und folgte dem Kollegen in das Chefzimmer.
Brettebner führte ein hektisches Telefonat. Er deutete den beiden Beamten, sich zu setzen.
Draußen war Garblong auf ihrem Sitz erstarrt. Nur zu gut waren ihr die Details des letzten Falles noch in Erinnerung. Es war auch kaum ein Monat seit dem Mord vergangen, wo Dorothea ihr Debut als Kommissarin gegeben hatte. Und das auch ziemlich eindrucksvoll. Ursula war begeistert von dem Engagement der neuen Kollegin gewesen. Eine Frau, die ihren „Mann“ stellte und bewies, dass auch das weibliche Geschlecht mehr als nur kriminalistische Spürnase besaß. Dass solcherlei Qualitäten erfahrungsgemäß nicht bei jedermann für Furore sorgten, war gleichfalls zu erwarten gewesen. Jedenfalls war auch Ursula gespannt, was Dodo ihr nachher erzählen würde.
Tenatier und Dorothea saßen abwartend auf ihren Stühlen und verfolgten das Gespräch, das Brettebner mit Blesnjakov führte. Dass es sich um den Hofrat als Gesprächspartner handeln musste, bewies die wiederholte Anrede des Vorgesetzten. „Ja, Herr Doktor Blesnjakov! Wir werden uns mit der SPUSI in Verbindung setzen und dem Vorfall nachgehen. Auf Wiederhören!“ Mit einem deutlichen Seufzen drückte der SOKO Chef auf den Lautsprecherknopf und das Telefonat war beendet.
„Leute!“, begann er, „das ist eine echte Sch***, Schweinerei. Und ich hab keinen Tau, was wir machen sollten oder könnten. Ich kann doch keine Fahndung nach einem Toten rausgeben.“
Mit einer kurzen Bewegung drehte er den Bildschirm seines Computers zu Dorothea, dass diese die E-Mail von heute Morgen auch lesen konnte.
Montag, 7.7.2033 – 7:00 Uhr
Verteiler: Norbert Brettebner, Raphael Tenatier, Dorothea Drasenberger, Piotr Blesnjakow
Teilen mit, dass die nach Obduktion in der Kühlkammer, Fach 333, hinterlegten sterblichen Überreste des Lorenzo DeCastillas auf ungeklärte Weise verschwunden sind.
Es gibt keine Einbruchsspuren an den panzergesicherten Tresortüren oder verwertbare Fingerabdrücke und Spuren an den Metallteilen der Leichentruhe.
Forensik/Klinger
„Da ist ein Tippfehler drin“, kommentierte Dodo ungerührt die E-Mail, als wäre diese Tatsache wesentlich interessanter als der Inhalt der elektronischen Nachricht. „Blesnjakov schreibt sich mit einem ‚v‘ am Wortende.“
Mit einem wirklich sehr fragenden Blick starrte Brettebner auf die junge Kollegin und räusperte sich vernehmlich: „Ah ja!“
„Spinnst du“, raunte hingegen Tenatier und warf Dorothea einen bösen Blick zu. „Das ist nun aber wirklich nicht wichtig.“
„Doch“, beharrte die Kommissarin, „das ist wichtig. Klinger weiß, wie der Hofrat sich schreibt und hat außerdem mit Sicherheit die Namen in der Mailadressen-Bank gespeichert. Fazit: diese Mail wurde nicht von unserem Kollegen geschrieben. Haben Sie schon mit der Forensik telefoniert?“ Dodo sah auf und fixierte Brettebner mit ihrem Blick.
„Verdammt!“, fluchte der SOKO-Chef. „Nein, habe ich nicht. Warum ist mir das mit dem Fehler nicht aufgefallen?“
Die Kommissarin beschwichtigte den Vorgesetzten. „Weil der Inhalt der Mail vorrangig solche Aussagekraft hat, dass man das sehr leicht übersehen kann. Ich wusste von Raphael schon, worum es gehen würde und habe die Mail anders gelesen als Sie.“
Tenatier erhob sich. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Nach dem ersten Anflug von Verärgerung hatte er scharfsinnig verstanden, was seine Team-Partnerin mit ihrer „Fehlermeldung“ zum Ausdruck bringen wollte. „Gehen wir?“
Sofort schnellte auch Dodo aus ihrem Sitz hoch und nickte. „Hoffen wir, dass uns nichts Schlimmes erwartet. Von Meister-haften Überraschungen hätte ich eigentlich genug.“
Brettebner fluchte weiter vor sich hin und versuchte, eine Telefonverbindung zu der Abteilung Klinger herzustellen. Nerviger Pfeifton signalisierte das Besetztzeichen.
„Los, geht schon.“ Mit einem Winken seiner rechten Hand bedeutete er dem Ermittlerduo, dass es sich auf den Weg machen sollte. „Ich verständige die SPUSI. Die sollen gleich vor Ort zu euch stoßen. Und“, schnaufte er hörbar, „ich setze Blesnjakov von der Tatsache in Kenntnis, dass unser Mordfall wohl doch noch nicht zur Gänze geklärt ist.“
Drasenberger und Tenatier drängten gleichzeitig zur Bürotür hinaus. Die Tür war allerdings nur für den Durchlass einer einzelnen Person konzipiert. Das Unausbleibliche trat ein und elektrisiert fuhren die Körper der beiden auseinander.
„Kannst du nicht …“, setzte Dodo an, während Raphael gleichzeitig ein zynisches „Musst du immer …“ auf den Lippen hatte. Beide brachen ihre vorwurfsgespickten Reden ab und konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Natürlich würde keiner von ihnen zugeben, dass er die Situation eben sehr amüsant fand. Deshalb setzten die Beamten ein grimmiges Gesicht auf und Brettebner schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Konnten die zwei wirklich nie Frieden geben? Wohl nicht, denn Drasenberger stachelte Tenatiers Unmut noch ein wenig an.
Mit drei Schritten war sie bei Garblongs Schreibtisch. Ursula sah der Kollegin gespannt entgegen. Dodo raunte verhalten: „Mein PC ist schon hochgefahren. Wenn wir weg sind, schau in meinen Posteingang. Wir sind unterwegs zu DeCastillas.“ Mehr konnte Dorothea jetzt wirklich nicht verraten, wenn sie keinen Wutausbruch des Kollegen oder gar des Chefs heraufbeschwören wollte. „Bis später!“, rief sie daher nur noch kurz zurück, ehe sie dem wartenden Tenatier nach draußen folgte.
Schweigend schritten die Kommissare nebeneinanderher, würdigten sich keines Wortes. Die vorübergehende Vertrautheit, die bei der Verhaftung DeCastillas zwischen Dodo und Raphael geherrscht hatte, war wieder nahezu verflogen.
Tenatier hatte gar nicht erst den Vorschlag gemacht, den Lift zu benutzen. Es wäre sinnlos gewesen. Erstens, weil Dorothea ohnehin lieber über die Treppen lief und zweitens, weil der träge Personenaufzug sicher noch nicht im ersten Stock angekommen wäre.
„Welche Nummer?“ Dodos Frage klang geschäftsmäßig.
Im gleichen Tonfall antwortete Raphael mit: „Wir müssen in den Komplex B auf 150.“
Ein Nicken, und die Kommissarin lief den Gang weiter entlang. Über der versperrten Schiebetür prangte ein Schild mit dem Buchstaben „B“. An der Wand befand sich der Scanmodus und Tenatier drückte seinen Daumen darauf. Geräuschlos fuhren die gläsernen Seitenteile in die Wand und gaben den Eingang zum ‚heiklen‘ Teil der forensischen Abteilung samt den Kühlkammern frei.
„Klinger muss in 152 sitzen“, erklärte Raphael und hielt vor der entsprechenden Tür. Aus dem Zimmer war kein Laut zu hören. Ein schlechtes Zeichen? Dorothea schluckte, tat es trotzdem ihrem Kollegen gleich und brachte ihre Dienstwaffe in Anschlag.
Durch Augenkontakt verständigten sich die Kommissare, ehe Dodo die Klinke zum Büro von Ludwig Klinger ruckartig nach unten drückte und die Tür mit dem Fuß auftrat. Mit äußerster Vorsicht lugten die SOKO-Beamten in das Zimmer.
Es war leer.
„Wollen Sie zu mir?“, fragte, wie aus heiterem Himmel, plötzlich eine Stimme hinter Tenatier und Drasenberger. Beide fuhren herum und ihre Waffen zielten auf einen Mann mit weißem Arbeitskittel. Nun, beinahe weiß. Denn vor Schreck darüber, dass er sich zwei Pistolenmündungen gegenüber sah, hatte sich Klinger den Inhalt des Pappbechers in seiner Hand über den Anzug geleert. Braune Kaffeeflecken dominierten in Brusthöhe jetzt die Laborkluft des Forensikers.
„Sind Sie Ludwig Klinger?“, herrschte Tenatier eine Spur zu unhöflich, wie Dorothea fand, den Mann an, dem immer noch der Schreck im Gesicht anzusehen war.
„Steht“, raunte Drasenberger mit einem bezeichnenden Blick zum Namensschild ihres Gegenübers, „zumindest da drauf.“ Dorothea ließ die Waffe sinken und steckte sie wieder in den Halfter. Sie verlor keine Zeit und trat einen Schritt näher an den Verantwortlichen der Abteilung hier. „Von Ihrem Computer wurde heute früh um sieben Uhr eine Mail abgeschickt, dass unsere Leiche verschwunden ist.“
Klinger schüttelte den Kopf. „Das ist nicht möglich. Ich bin heute erst um acht Uhr gekommen, weil ich …“
„Unwichtig“, unterbrach Tenatier, „warum Sie später gekommen sind. „Waren Sie heute schon in der Kühlkammer?“
„N-n-e-i-n“, stotterte Ludwig herum. „Ich, ähm, ja, war … Kollegin Ruspelhofer hatte da ein Problem und ich …“
Dorothea schürzte ihre Lippen und verbiss sich ein Lachen. Diese Rechtfertigung war so grottenschlecht, und aus dem Gestotter war mehr herauszuhören, als wenn Klinger gar nichts gesagt hätte. Egal, was die Laborkollegen für „Probleme“ zu besprechen gehabt hatten – es war nicht ihre Sache. Verstärkte nur wieder Dodos Meinung, dass Privatleben und Dienst strikt getrennt werden mussten. Und es wohl auch am besten wäre, überhaupt keine „Beziehung“ zu einem Kollegen zu unterhalten, die über das Dienstmaß hinausging.
„Können wir einen Blick hineinwerfen?“ Die Frage war nur alibihaft, da die Kommissarin bereits das Büro betreten hatte und sich zu dem Computer bewegte. Erstaunt registrierte Dodo, dass der PC noch nicht in Betrieb genommen worden war. Nur das Lichtsignal, dass der PC an den Strom angeschlossen war, blinkte.
„Ich habe noch nicht, ich konnte noch nicht …“, jammerte Klinger ein wenig mitleidheischend. Es war bereits gegen neun Uhr Vormittag und sein PC noch nicht hochgefahren. Stattdessen hatte er etwas von kollegialer Hilfestellung gestammelt und war mit dem Kaffeebecher angetroffen worden. Zugegeben – das machte kein sehr gutes Bild.
„Schon klar“, amüsierte sich jetzt auch Tenatier. „Sie hatten noch keine Zeit, Ihren Computer einzuschalten. Wann genau ist hier Dienstbeginn?“ Er tat, als müsse er genau überlegen und stützte sein Kinn auf den Zeigefinger der rechten Hand.
„Raphael“, mahnte Dorothea, „es reicht. Es nützt uns nichts, wenn wir auf Kleinigkeiten herumhacken. Das Mailprogramm checken wir später. Ich will sehen, ob unser DeCastillas noch brav in seinem Fach liegt.“ Zu Klinger gewandt bat sie: „Lassen Sie uns einen Blick auf 333 werfen?“
Ludwig Klinger war verblüfft. „Wieso wissen Sie, dass die sterblichen Überreste in dieser Box liegen müssen?“
„Das“, grinste Tenatier herausfordernd, „hat uns die Leiche geschrieben.“
Der Forensiker zuckte mit den Schultern. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was die Kommissare von ihm wollten. Das Problem, ob die beiden ihn beim Vorgesetzten anschwärzen würden, beschäftigte ihn viel mehr. Klinger trat zu der metallenen Schiebetür und drückte seinen linken Mittelfinger in den Scanner.
Dorothea hatte sofort bemerkt, dass der Kollege nicht wie üblich seinen Daumen für die Überprüfung verwendet hatte. Von Natur aus neugierig und wissbegierig fragte sie nach: „Wieso der Mittelfinger?“
Als hörte er diesen Satz öfter, meinte Klinger nur: „Die Fingerkuppen der rechten Hand sind durch diverse chemische Substanzen bereits so in Mitleidenschaft gezogen, dass keine relevanten Erkennungsmöglichkeiten mehr gegeben sind. Und hier …“ Ludwig hob seinen linken Arm und wedelte mit der Hand vor Dodos Augen herum. „… fehlt der Daumen. Im Haushalt abgesäbelt.“
Raphael hatte staunend eine Augenbraue gehoben und sich gewundert, welche Details seiner Kollegin ins Auge fielen. Er selbst hatte nur die gegenüberliegende Wand mit rechteckigen Türen anvisiert und die gesuchte Nummer dreihundertdreiunddreißig gefunden. Das durch einen Codemechanismus geschützte Fach schien unversehrt.
Hatte sich jemand einen üblen Scherz erlaubt?
„Öffnen Sie das bitte“, verlangte Raphael und sein Blick schweifte über die makellos sauberen Wände der sechs Kühlfächer. Sechs an der Zahl deshalb, weil je drei übereinander lagen. Mehr der Aufbewahrungsboxen waren hier nicht nötig. Es handelte sich nicht um das städtische Leichenschauhaus, sondern um die forensische Abteilung der Bundespolizeidirektion. So viele tote Mörder gab es glücklicherweise nicht, die hier bis zur Feuerbestattung „zwischengelagert“ wurden.
Der Toxikologe tippte einen vierstelligen Code auf der Tastatur und das Rechteck schnappte mit einem „Klick“ aus der Wand. Klinger griff nach den Hebeln links und rechts an der Metalllade und surrend fuhr der Fachboden samt darauf befindlichem Sarg heraus.
Dorothea spürte ein unheilvolles Kratzen in ihrem Hals. Verstohlen warf sie einen Blick auf ihr Miniphone. Kein Anruf ihrer Freundin Dietlinde. Das bedeutete hoffentlich, dass nichts Ungewöhnliches zu erwarten war, wenn sich gleich der Sargdeckel öffnen würde.
Ein kurzes Schnappen und der Forensiker hob den Metallteil an. „Sieht nicht besonders toll aus und halten Sie sich die Nasen zu. Der Kerl stinkt.“
Tenatier und Drasenberger waren gewappnet und auf alles gefasst. Neigten ihre Köpfe, um in den Sarg sehen zu können.
Texte: Renate Zawrel
Bildmaterialien: Renate Zawrel
Tag der Veröffentlichung: 13.07.2012
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