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Im Netz der Spinne

„Nun“, nuschelte McGregor besserwissend, „sieht ja hier so aus, wie bei der Royal Family.“ Über den Rand seiner Nickelbrille taxierte der Schotte die endlos scheinende Allee, an deren Ende die Kulisse des schottischen Pendants zu Windsor Castle sich gegen den rotgefärbten Abendhimmel abhob.
„Finden Sie nicht auch, Skreatcher?“ Die Worte waren an den sich eifrig Notizen machenden Mann gerichtet, der zwei Schritte hinter McGregor trabte.
Ein kurzes Aufseufzen des rothaarigen Sekretärs folgte. „Preacher, Sir. Mein Name ist P-r-e-a-c-h-e-r.“
Geistig leicht abwesend fragte der Mann im Schottenrock nach: „Was meinten Sie gerade, Kreatcher?“
„Preacher, Sir“, korrigierte der Gehilfe ergeben. „Sie haben meinen Namen schon wieder falsch ausgesprochen.“ Sebastian Preacher arbeitete seit mehr als acht Jahren für den Meisterdetektiv aus den schottischen Highlands.
Erik McGregor, ein Spezialist für ….. nun, nennen wir es „alle Fälle“. Und ebenso, wie der Schnüffler mit der Nickelbrille auch die kompliziertesten Aufträge erfolgreich abhandelte, ebenso erfolgreich schaffte er die ständige Namensverwechslung für seinen Assistenten.
„Ach so“, bemühte sich der Detektiv rasch um eine pro forma Entschuldigung. „Das wollten Sie sagen, Skrea….Trea…, ähm….“ Ein Räuspern überlagerte die Versuche, den richtigen Namen zu verwenden. Aber wer ständig so viel zu denken hatte, dem konnte man doch diese Banalitäten nachsehen, oder?
Der Schottenrock, eine Hommage an seine heimatlichen Wurzeln, bauschte im leichten Wind auf und hätte fast das gut gelüftete Geheimnis um das „Darunter“ preisgegeben.

Faszinierend. Aufregend. Nein, nein – nicht der Schottenrock. Der neueste Auftrag, den McGregor erhalten hatte.

*****



Die betuchte Lady hatte echauffiert auf dem Besuchersessel in der Detektei Platz genommen. Ständig fächelte sie sich mit einem parfumdurchtränkten Taschentüchlein – natürlich befanden sich darauf eingestickten Initialen – einen Lufthauch zu.
Preacher, der am aktenüberfüllten Schreibtisch neben dem Arbeitgeber seinen Platz hatte, wunderte sich insgeheim, dass die gute Frau nicht an dem Odeur ihres ertränkten Fächers erstickte. Der Sekretär saß gut drei Meter neben diesem Angriff auf die Geruchsnerven und schnappte vernehmlich nach Luft.
Miss Courtney, die Betonung legte die gut siebzigjährige Frau auf die Anrede „Miss“, warf nur einen kurzen Blick auf den Assistenten und wandte sich wieder dem Meisterdetektiv zu.
„Ist Ihr Mitarbeiter immer so kurzatmig? Nun, es ist natürlich heutzutage nicht mehr so einfach, qualifiziertes Personal zu engagieren.“ Ein schauspielreifes Seufzen sollte den Missstand in der Auswahl von geeigneten Angestellten bekräftigen.
McGregor war solcherart Klientel gewohnt. Klar, zählten die Angehörigen der hiesigen High-Society auch zu seinen Auftraggebern. Widerspruch? Nie im Leben.
Leatcher, oder wie immer sein Sekretär auch heißen mochte, kannte diese Redewendungen der honorigen Gesellschaft ebenfalls zur Genüge. Dass der geistige Intellekt manches Kunden zu wünschen übrig ließ, darüber waren sich die Herren in der Detektei in jedem Fall einig.
„Mylady“, erkundigte sich der Schnüffler mit dem Spitznamen „der Schotte“, und überhörte geflissentlich die Anspielungen der ältlichen Dame mit dem lila gefärbten Haar, „was genau kann ich für Sie tun?“
Geheimnisvoll hatte sich Miss Courtney über den Schreibtisch gelehnt, der daraufhin verdächtig ächzte. Die Miss überstrapazierte das höchstzulässige Gesamtgewicht des Holztisches in bedenklicher Weise.
„Sie müssen wissen, dass ich vergangene Woche in Brendhill Castle war.“ Das fast faltenfrei gespritzte Gesicht der Dame von Rang schien einen Hauch röter als zuvor.
Preacher überlegte, ob das möglicherweise eine Reaktion des Botox auf die geballte Ladung dieses intensiven Parfums sein mochte.
„Brendhill Castle?“, erkundigte sich McGregor scheinbar interessiert. Verborgen unter dem Schreibtisch zeichneten seine frisch polierten Schuhspitzen zum Ausdruck der Langeweile ineinander verschlungene Kreise auf den Parkettboden. „Eine wunderschöne Anlage mit herausragender Gartenarchitektur.“
„Nun“, unterbrach Miss Courtney mit einem Nasen-rümpfen den Detektiv, „mein Auftrag wird Sie jedoch nicht in die Rosengärten des Schlossparks führen.“
Die Lady schöpfte kurz Atem. Ob dieser McGregor wirklich der richtige Mann für diesen diffizilen Fall war? Laut sprach sie aus, was sie dachte: „Man hat mir Ihre Detektei empfohlen. Meine Freundin, Lady Sophia Brainstett, schwärmte in den höchsten Tönen ob Ihrer grandiosen Spürnase.“ Ein künstlich gefärbtes Kichern huschte bei der Bezeichnung „Spürnase“ über die knallrot gepinselten Lippen der Klientin.
„Fast“, konterte der „Schotte“ mit ebenso hinterhältigem Grinsen, „hätte ich das angenommen, Mylady, dass ich nicht zum Blumenpflücken nach Brendhill reisen soll.“
Preacher unterdrückte ein Lachen. Wenn der Chef auch vergesslich im Bezug auf den Namen seines Sekretärs war, aber an Schlagfertigkeit hatte es ihm noch nie gemangelt.
Miss Courtney überlegte krampfhaft, wie sie diese Antwort ihres Gegenübers einordnen sollte. Die verbale Spitze war ihr ohnehin entgangen. Nun, wir sprachen bereits über die ideenlose Gesellschaft mit mangelnden Geistesblitzen. So musste die Gute nun wohl oder übel über ihren sehr ausladenden Schatten springen und ihren Auftrag an den Detektiv endlich loswerden.
Der gekrümmte Zeigefinger winkte verschwörerisch zu McGregor und bedeutete ihm, sich auf Flüstertonnähe der Lady zu begeben. „Bei meinem Besuch in Brendhill Castle begab es sich, dass...“ Die weiteren Worte waren wirklich nur mehr für die Ohren McGregors gedacht und Preacher musste abwarten, was sein Boss ihm nachher erzählen würde.

*****


Der Wind frischte immer mehr auf und McGregor hatte Mühe, sein kariertes Outfit im Zaum zu halten. Die Optik der stark behaarten, kurzen Dackelbeine des Detektivs, die aus dem Rock lugten, zerrte an Preachers Lachmuskeln.
„Sie haben das Kleingeld für den Entrée?“, wollte der ‚Schotte‘ unter Verwendung des französischen Wortes für ‚Eintritt‘ wissen. Mit derartigen Kleinigkeiten beschäftigte sich der Großmeister der Schnüfflerbranche nicht. Wozu hatte man einen Assistenten?
Gedanklich war McGregor bereits tief in seinen aktuellen Fall involviert. In der Tat, ein abscheuliches Verbrechen musste verhindert werden. Nicht auszudenken, welche Folgen es haben würde, konnte man, de facto er

, den Auftrag nicht erfolgreich abschließen.
Preacher, der versuchte, mit dem Stakkato an Schritten seines Dienstgebers mitzuhalten, ließ das Geräusch aneinander klimpernder Münzen in seiner Hosentasche hören. „Jawohl, Sir. Es ist alles bereit.“
Obwohl ebenfalls ein waschechter Schotte, würde Sebastian niemals einen Schottenrock als Kleidung wählen – schon gar nicht als Dienstkleidung. Aber Menschen beanspruchten nun einmal das Recht auf Individualität für sich.
Fast hätte der Assistent die Aufforderungen McGregors überhört, der ihn aufforderte, den Türklopfer zu betätigen. An dem imposanten Portal prangte ein verwittertes Schild mit der Aufschrift ‚Geschlossen‘.
„Neatcher! Schlafen Sie am helllichten Tag? Sie sollen um Einlass bitten“, murrte der ‚Schotte‘ mit ungeduldigem Unterton. Betont lässig strich er die Falten seines Rockes glatt.
Wie hatte die Lady doch gemeint? Es wäre schwierig, heutzutage richtiges Personal zu finden. Nun, im Grunde genommen konnte sich McGregor nicht beschweren. Sein Mitarbeiter war eine richtige „Perle“ und sie beide in der Zwischenzeit ein unschlagbares Team geworden. Über die Aufteilung der Fähigkeiten wollte der Meisterdetektiv im Moment nicht nachdenken.

Ein unwirsches „Können Sie nicht lesen?“, holte den Träger des Schottenrocks aus seinen Gedanken.
Erik McGregor war nicht besonders groß, daher wunderte er sich, dass er seinen Kopf senken musste, um dem Fragesteller ins Gesicht blicken zu können. Der grauhaarige Alte erinnerte an einen Schrumpfkopf mit Armen und Beinen. Die Gliedmaßen des verhutzelten Greises hingen an der Seite eines nicht besonders kleidsamen, braunen Kaftans hinunter. Gerade so, als wären sie eher an den Stoff angenäht, als dass sie zu dem menschlichen Körper gehörten. Dass der Mann trotz offensichtlich fehlender Zähne überhaupt eine verständliche Frage artikulieren konnte, verwunderte den ‚Schotten‘ auf ein Neues.
„Doch guter Mann. Ich, wir“, besserte sich McGregor rasch aus, „sind des Lesens sehr wohl mächtig. Allerdings sind wir für einen außerordentlichen Besuch heute angemeldet.“
„Äh?“, hinterfragte Stewart Bornbutter, der Torwächter, die Aussage. „Angemeldet? Bei wem und warum? Und wieso weiß ich nichts davon?“
„Das, guter Mann“, sinnierte der Detektiv, „kann ich Ihnen nicht beantworten. Fakt ist, dass wir beide nun unseren Eintritt bezahlen und uns hierhin begeben.“ McGregor fuchtelte mit dem ausgedruckten Kleinformat eines Grundrisses von Brendhill Castle herum und zeigte sich sogar erbötig, mit seinem Zeigefinger auf das genaue Ziel der Sonderbegehung zu tippen.
Der zu klein geratene Schlossdiener versuchte, seinen Hals zu recken. Als ihm das nicht ausreichend gelang, krächzte er noch ungehaltener als zuvor: „Und wie soll ich sehen, worauf Sie da mit Ihren Fortsätzen zeigen, wenn Sie es für Leute im ersten Stock hinhalten?“ Wesentlich ehrfurchtsvoller schien sein Blick dann aber, als er gewahr wurde, wohin der Weg die beiden Besucher führen sollte.
„Es ist tatsächlich Ihr Wunsch“, brachte er die Frage fast nicht über die Lippen, „den beschwerlichen und gefährlichen Weg auf sich zu nehmen?“
„Auftrag ist Auftrag“, kommentierte nun Preacher, dem hier alles schon zu lange dauerte. Das Tageslicht würde bald der nebelig trüben Dämmerung Platz machen. Und dann würde es dort, wohin sie mussten, nicht gemütlicher werden.
Bornbutter schüttelte den Kopf dermaßen, dass man befürchten musste, dass die wiederholten Drehungen ihn vom Hals reißen könnten. „Gemach, gemach, junger Mann. Ich muss Sie anmelden und erfragen, ob das auch alles seine Richtigkeit hat.“
Der Griesgram schlurfte zwei Schritte zurück und gab – als Zeichen eines ersten Einverständnisses – die mit schweren Eisen beschlagene Tür einen Spalt breit frei, sodass der Detektiv und sein Assistent eintreten konnten.
Es klang mehr wie ein Befehl, als der Alte die Besucher anherrschte: „Warten Sie hier!“ und auf den wenig einladenden Fleck hinter dem Tor wies.
Ehe der Torwächter sich zu seinem antiquarisch anmutenden Telefon begab, maß er die unliebsamen Gäste mit einem unmissverständlichen Blick und schimpfte: „Und fassen Sie nichts an.“

McGregor seufzte auf. Ein Empfangskomitee hatte er ohnehin nicht erwartet, aber ein wenig mehr Entgegenkommen. Nun, das gehörte wohl auch zu den Erfahrungswerten eines Detektivs. Warten.
„Sehr willkommen scheinen wir nicht zu sein“, meinte er zu seinem Assistenten. Um die Wartezeit etwas zu verkürzen, fragte er nach einigen Minuten auch: „Haben Sie an die Taschenlampen gedacht? Ich möchte ungern in den uns erwartenden Räumlichkeiten im Dunkeln tappen.“
Preacher überprüfte den Inhalt seines Rucksacks. „Ja, Sir. Zwei Taschenlampen und mehrere Ersatzbatterien.“ Dass er noch an die Handschuhe, die Plastikbeutel und diversen anderen Utensilien gedacht hatte, verschwieg er. Es war schließlich selbstverständlich, dass er

dafür verantwortlich war. Dieser heutige Auftrag barg ohnehin bereits in der Vorbereitung Unheimliches und der Anblick der tief unter dem Schlossareal befindlichen Verliese schürte Ängstlichkeit.
Es nützte nichts. Eben an diesem Hort des Schreckens hatte die Auftraggeberin besagte Aufregung erfahren und die Detektei damit beauftragt, den Fall zu lösen. Es wäre auch wirklich zu tragisch, wenn sich der Vorfall wiederholen sollte, der Miss Courtney widerfahren war und bei der Lady beinahe einen Herzinfarkt ausgelöst hatte.
Widerwilligkeit spiegelte sich in Bornbutters Faltenwurf, seinem Gesicht.
„Sie können passieren. Ich soll Sie bis zum Abstieg begleiten. Damit Sie sich nicht verlaufen“, kicherte der Alte hämisch.
McGregor und Preacher mussten immer wieder im Schritt innehalten, als sie dem unfreiwilligen Führer folgten. Der bewegte sich so betont langsam fort, dass sie ihm sonst auf die Fersen getreten wären.
Altehrwürdige Säulen schienen die Fortsetzung der Baumallee vor dem Schloss darzustellen. Gemauerte Gargoyls hockten in Nischen und beobachteten mit seltsam schimmernden Augen die Vorbeitrottenden. Steinerne Ritter wachten über den sich nun öffnenden Innenhof des Schlosses.
Preacher spürte kalte Schauer in seinem Rücken. Alles wirkte hier mehr als bedrohlich. Und dass es in den Verliesen nicht einladender sein würde, konnte sich Sebastian schon ausrechnen.
„Na, Sie Leuchte“, schimpfte Bornbutter, als der Assistent ihn beinahe umrannte. Der Alte war so plötzlich vor einem im Boden eingelassenen Gitter stehengeblieben, dass der geistig abwesende Preacher in den Mann hineingelaufen war.
„Wenn Sie in den kalten und feuchten Gängen…“ Ein hinterlistiges Glitzern etablierte sich bei der Schilderung in den Augen Bornbutters, „auch so unbeholfen sind….dann sehen wir uns bestimmt nicht wieder.“
McGregor registrierte, dass der Alte ihnen Angst einjagen wollte. Was würde sie wirklich in den ‚Hall of Death“, wie die Verliese hier genannt wurden, erwarten? Ganz wohl war auch ihm nicht mehr bei der Sache und er beglückwünschte sich zu dem Entschluss, vor Abfahrt nach Brendhill Castle, die Polizei informiert zu haben. Man würde nach ihnen suchen, wenn sie sich bis zum übernächsten Morgen nicht melden sollten.
Bornbutter wies zu den ehernen Griffen, die im Staub des Schlosshofes rostig in den Ringen hingen. „Wenn sich die Herren selbst bemühen wollen.“
Unter Aufbietung all ihrer Kräfte hievten der Detektiv und sein Assistent das massive Gitter so weit auf, dass der Torwächter den Keil aus dunklem Holz darunter-schieben konnte. So wurde verhindert, dass der Eingang zum unterirdischen Tunnelsystem von selbst wieder zufallen konnte.
Mit einer einladenden Handbewegung wies Bornbutter auf die baufällige Holztreppe, deren Sprossen sich bald in undurchdringlicher Dunkelheit verloren. „Wenn Sie bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht wieder hier oben sind, haben Sie Pech gehabt. Dann habe ich Dienstschluss.“
Dass das auch nicht weiter schlimm wäre, weil sie dann eben irgendwo im Schlossgebäude Unterschlupf finden könnten, wurde durch die Aussage des Alten gegenstandslos.
„Aus Sicherheitsgründen werde ich das Gitter schließen lassen.“ Weiter brauchte er das gar nicht auszuführen. Den Rest konnten sich McGregor und Preacher denken.
„Gehen wir“, raunte der ‚Schotte‘ seinem Assistenten zu. „Bevor noch mehr Dummheit aus dem Schrumpfkopf rauskommt, als nötig ist.“
Die Augen Bornbutters verengten sich zu Schlitzen. Hatte er die unrühmliche Beschreibung seiner Person trotz gedämpfter Lautstärke verstanden?

Der Abstieg in die Tiefe gestaltete sich als akrobatische Meisterleistung. Waren am Beginn der baufälligen Leiter noch alle Sprossen vorhanden, tappte Preacher dann mehr als einmal ins Leere, als sie den letzten Schimmer Tageslicht hinter sich gelassen hatten.
„Mist“, schimpfte Sebastian, als sein Fuß, bei dem Versuch die Sprosse zu treffen, neuerlich im Nichts landete. Holzsplitter hatten sich bereits erinnernd in die Handflächen eingegraben, als er zum wiederholten Male eine Rutschpartie hinter sich bringen musste, um wieder Fuß zu fassen.
McGregor bewies mit seinem folgenden Kommentar eindrucksvoll, dass er das nötige Zeug hatte, um jede Situation zu meistern. „Haben Sie sich doch nicht so, Kneatcher. Seien Sie froh, dass Sie wenigstens Ihre Hände wo anklammern können. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ohne Haltegriffe eine Sprosse nach der nächsten erstasten.“
Sebastian verkniff sich eine Antwort auf den versuchten Scherz. Wenigstens reichte die mangelhafte Abstiegsmöglichkeit bis zum Boden des Schachtes. Preacher kramte im Rucksack nach den Taschenlampen. Selten zuvor hatte er sich über den Lichtkegel so gefreut, wie in dieser Sekunde.
„Sehr schön“, kommentierte McGregor. „Ist ja schon die halbe Miete. Wir müssen jetzt da lang.“
Ratlos sah ihn sein Assistent an. „Wohin, Sir?“
„Bleacher, konzentrieren Sie sich“, maßregelte der Meisterdetektiv. „Es gibt nur einen Gang.“
„Sir?“ Preacher hatte soeben etwas überdacht.
„Was gibt es?“, murrte McGregor genervt. Es widerstrebte ihm, die Möglichkeit einer Übernachtung in den modrig feuchten Gemäuern in Betracht zu ziehen.
Sebastian Preacher dachte laut: „Können Sie mir sagen, wie Miss Courtney hier heruntergekommen sein soll?“
Der ‚Schotte‘ musste neidlos anerkennen, dass er daran nicht gedacht hatte. Abgesehen davon, dass der Radius des Schachtes wohl oder übel nicht für die üppige Fülle der Lady maßgeschneidert war, schien es undenkbar, dass die alte Dame diesen hindernisreichen Abstieg gemeistert hätte.

Den berechtigten Vorwurf Preachers, dass es vielleicht doch erstrebenswerter gewesen wäre, den Plan genauer zu studieren, musste sich McGregor gefallen lassen. Denn der übliche Eingang in die dunkle Verlieswelt lag im Thronzimmer des Schlosses. Gemauerte breite Treppen, für auch noch so gehschwache Besucher geeignet.
Allerdings wurden – als die Verliese noch Aktualität besaßen – die Gefangenen auch über diesen ‚Schlund‘ in die Tiefe gebracht, um ihnen die Aussichtlosigkeit einer Flucht zu demonstrieren. Wollte Bornbutter sie in eine Falle locken?
Eine Ratte huschte vor den Füßen Preachers in eine Mauerritze. Erschrocken zuckte der Assistent zurück und fluchte leise: „Sehr einladend hier unten.“
Erik McGregor verhielt im Schritt. „Halt, Wheatcher. Hören Sie das auch?“
„Was?“ Sebastian hielt den Atem an und blickte nervös um sich.
„Ach nichts“, knurrte McGregor, „es war nur Ihr lauter Atem.“
Die nächsten Meter legten die Männer schweigend zurück. Laut Plan mussten sie bald an die Stelle kommen, an der das Verbrechen geschehen war. Sorgfältig musterte der ‚Schotte‘ die durchsichtigen Rinnsale, die sich über nackte Felswände ihren nassen Weg zum sandigen Boden bahnten. Woher das Wasser kam und wo es sich sammelte, entzog sich seiner Kenntnis.
Rostige Gitter, verschlossen mit einer mehrmals um die Stäbe gewundenen Kette. Die erste Zelle des Verlieses.
„Ob da wohl noch jemand drin ist?“, hauchte Preacher – merklich angespannt - seine Frage in die Dunkelheit abseits des Taschenlampenlichts.
„Sie können ja“, polterte McGregor, „mal laut rufen.“
Preacher war beleidigt, und das kam selten vor. „Ich meine ja nur. Die Kette sieht nicht so aus, als ob sie in der letzten Zeit erneuert worden wäre. Und für den Fall, dass jemand hinter diesen Stäben auf sein Urteil gewartet hat – der wartet dann noch immer.“
McGregor wischte mit der Hand durch die abgestandene Luft. „Nonsens.“ Er positionierte das Licht seiner Lampe so, dass er den Plan besser lesen konnte. „Hier, da muss es sein.“ Der Detektiv stoppte vor einem Raum, in den sich zaghaft, durch eine Mauerritze, ein Schimmer Tageslicht stahl. „Gehen Sie schon hinein, Gneatcher“, wies er seinen Assistenten an und fuchtelte auffordernd mit der rechten Hand.
„Warum ich?“ Preacher zögerte. Ihm war dieser Ort nicht geheuer. Hier unten wehte ein Hauch von Verbrechen und lag der Geruch von Verwesung. Auf das Vorrecht, als Erster in diese Zelle hineinzustolpern, konnte er gerne verzichten.
Wer konnte schon sagen, ob da drinnen nicht noch der Geist eines hier Gefangenen herum schwebte? Sebastian war gewöhnt, dass sie außerordentliche Fälle bearbeiteten. Aber das hier war einen Hauch zu viel für den sensiblen Assistenten. Er wollte den Triumph, den Fall gelöst zu haben, gerne seinem Chef überlassen. Dass allerdings McGregor ähnliche Überlegungen hegte, darauf wäre Preacher nie gekommen.
Auch der ‚Schotte‘ scheute sich davor, diesen Ort des Verbrechens näher zu inspizieren. Was, wenn die Lady doch recht hatte? Er verzichtete gerne auf die Bekanntschaft dieser klebrigen Hände, die immer präsenter zu werden schienen, je mehr Miss Courtney herumgefuchtelt hatte. „Nun“, schluckte der Detektiv „dann werde ich Mut beweisen.“ Dass dabei sein Herz in Richtung Hose rutschte und sich Schweißtröpfchen in seinem Nacken bildeten, verriet er wohlweislich nicht. Nur die Stimme klang anders als sonst, als McGregor krächzte: „Leuchten Sie wenigstens ordentlich, damit ich dem Kerl gleich eine überziehen kann, wenn er mir zu nahe kommt.“
Seltsam. Diese Zelle schien irgendwie kein Ende zu haben. Immer tiefer und tiefer in den Raum musste Erik McGregor seinen Schritt lenken. Leises Flüstern klang von irgendwo her. Es klang wie die Stimme von Bornbutter. Was hatte der mit der Sache zu tun? Ein kalter Lufthauch huschte über das angespannte Gesicht des ‚Schotten‘. Woher mochte dieser Luftzug kommen? Gab es hier noch weitere Türen?
Als der Detektiv gerade seinem Assistenten zurufen wollte, dass der ein paar Schritte in die Zelle machen müsste, um mit dem Strahl der Taschenlampe den Raum weiter auszuleuchten, passierte es.
Ein selbsthaftendes Netz legte sich über das Gesicht des Mutigen. Vergeblich versuchte er, das grausige Zeug abzustreifen. Geräuschvoll plumpste die Taschenlampe auf den Boden. McGregors Augen mussten sich an die plötzliche Dunkelheit gewöhnen, die ihn nun umfing. An seinem rechten Ohr spürte er ein seltsames Kribbeln, als ob Finger an der Ohrmuschel entlang streichen würden. Nackte Angst packte den Mann. Die widerlichen Fänge schienen ihm die Luft zu nehmen.
„Preeeeeacher!“ Ein angstvoller Schrei hallte durch die Zelle.
Sebastian horchte auf. Der Chef hatte ihn bei seinem richtigen Namen gerufen. Es musste etwas Unvorhergesehenes und Schreckliches geschehen sein. Aufgelöst rannte Preacher los und versuchte, sich zu orientieren. „Sir? Wo sind Sie?“
Eine Stimme, die aus dem rechten Bereich des Dunkels zu kommen schien, antwortete: „Das weiß ich doch nicht, Sie Dussel. Denken Sie, dass es hier drin Straßenbezeichnungen gibt?“
Preacher vermochte die verwinkelte Zelle nicht richtig auszuleuchten. Hastig stolperte der Assistent weiter. Nicht ganz uneigennützig. Denn alleine wollte er in diesem Verlies keinesfalls bleiben.
Wenige Augenblicke später stand er neben McGregor und warf bewundernde Blicke auf den Meisterdetektiv.
Ja, Erik McGregor hatte es wieder einmal geschafft. Er hatte den Fall geklärt und das Verbrechen gelöst. „Machen Sie Fotos, Leatcher. Damit auch die Nachwelt noch von unseren Taten berichten wird.“


Es war gar nicht so einfach, das filigrane Spinnennetz, in dessen klebrigen Fäden sich das rote Halstuch Miss Courtneys verfangen hatte, bei dem schwachen Licht auf Zelluloid zu bannen.


~~~~~~~ Ende ~~~~~~




Impressum

Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Bildmaterialien: O-Foto Tanja Krafft /Borkum
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2012

Alle Rechte vorbehalten

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