„Aufstehen, Kleiner Bär!“ Sanft rüttelte Nahomi ihren Sohn. Von dem Jungen war nur der Haarschopf zu sehen, der Rest war eingerollt in eine Decke aus Bärenfell.
Daher war auch das dünne Stimmchen kaum zu hören, das da nuschelte: „Schon? Es ist doch noch sooo früh. Nur ein bisschen noch …“
„Hmm, ich dachte, du wolltest Vater begleiten, wenn er auf die Jagd geht“, raunte Nahomi und lächelte verschmitzt, „aber dann sage ich ihm eben, dass du zu müde bist.“
„Müde?“, klang es plötzlich hellwach von der Bettstatt her. „Ich bin doch nicht müde. Natürlich geh ich mit Vater auf die Jagd.“ Das würde sich Kleiner Bär nie und nimmer entgehen lassen. Immerhin hatte er schon sieben Winter gesehen und war sehr stolz darauf, dass Wedelnder Biber ihn mitnehmen wollte. Blitzschnell war der Indianerjunge unter seinem Fell hervorgekrochen und hatte sich den Lendenschurz umgebunden. Es war ein ganz besonderes Kleidungsstück. Denn seine Mutter hatte darauf einen weißen Bären gestickt. Als Symbol für Glück und Hoffnung, die Kleiner Bär immer begleiten sollten.
Nahomi lachte leise vor sich hin. „Ach, so schnell bist du nie wach wenn ich dich bitte, Wasser vom Fluss zu holen.“
Betreten scharrte Kleiner Bär mit den Mokassins auf dem Boden. Seine Mama hatte ja recht. Vor dem Wasserholen drückte er sich ganz gerne. Am Fluss traf er immer nur Mädchen, die sich kichernd die Hände vor den Mund pressten, wenn er mit seinem kleinen Bogen und den Minipfeilen ans Ufer trat. Ein Indianerjunge musste doch aber immer für den Fall der Fälle gerüstet sein und seine „Waffen“ mittragen. Das würden Mädchen nie verstehen. „Ich will mich bessern, Mutter“, sagte er gerade mal so laut, dass irgendein Ton über seine Lippen huschte. Insgeheim hoffte der Junge, dass Mutter es vielleicht überhören würde.
Doch Nahomi hatte sehr gute Ohren und ein gutmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich werde dich gerne erinnern, Kleiner Bär. Jetzt komm und trink deine Milch. Dein Vater wartet bei den Pferden auf dich.“
Freudig nahm Kleiner Bär die Schale mit der lauwarmen Milch und schlürfte leise die herrliche Flüssigkeit hinunter. Dazu reichte die Mutter ihm selbstgebackenes Fladenbrot. „Hmm!“ Der Bub strahlte zufrieden. „Das schmeckt gut. Danke Mutter! Dafür werden wir dir heute auch etwas von der Jagd mitbringen. Vielleicht einen ganzen Bären.“
Von einem Moment zum anderen wurde Nahomi ernst. „Kleiner Bär, du hast eine Decke aus Bärenfell, die dich wärmt. Wir haben noch Vorräte an saftigem Bärenschinken genug. Jetzt ist nicht die Zeit, einen Bären zu jagen.“
„Ja, aber …“, setzte Kleiner Bär zum Sprechen an.
Nahomi aber schüttelte den Kopf und antworte nur kurz: „Sprich mit deinem Vater darüber. Er wird es dir erklären. Jetzt geh!“
Der Indianerjunge schaute recht unglücklich drein. War seine Mutter jetzt böse? Er verstand nicht, warum sie nicht noch einen Bären jagen sollten. So ein großer Grizzly würde doch den Fleischvorrat aufstocken und ein Ersatzfell konnte man doch auch brauchen, oder? Aber gut, er würde mit Wedelnder Biber darüber sprechen. Er war der Mann und er würde verstehen.
Eilig packte Kleiner Bär seinen Bogen und steckte die Pfeile in den ledernen Köcher. Auf seinem Weg zur Pferdekoppel lief er an den Zelten seiner Freunde vorbei. Stolz rief er ihnen zu: „Ich gehe mit meinem Vater auf die Jagd. Wir werden mit reicher Beute zurückkehren. Vielleicht sogar mit einem …“ Ein Blick zurück, und er sah Nahomi, die ihm vom Zelteingang aus nachblickte. Besser jetzt nichts von einem Bären sagen, dachte der Junge und rief „… großen Fisch!“
„Haha“, lachte Kriechender Otter, der gemeinsam mit Kleiner Bär gerne in den nahen Wald zum Spielen ging, „um einen Fisch zu fangen, brauchst du aber nicht Pfeil und Bogen.“
Beleidigt schürzte Kleiner Bär die Lippen und lief noch ein bisschen schneller. Wedelnder Biber wartete schon auf seinen Sohn. Der Vater saß bereits auf seinem gescheckten Pferd und hob den kleinen Jungen lachend vor sich auf den Rücken des Appaloosa. „Willkommen, Kleiner Bär. Bist du ausgeruht für einen langen Tag?“
„Ja, Vater!“ Die dunklen Haare reichten Kleiner Bär schon weit über den Rücken, und nur ein schmales Band um seine Stirn hielt sie nach hinten zurück. Ehrfürchtig sah das Kind manchmal zum gewaltigen Federschmuck, den der Vater bei speziellen Anlässen trug. Natürlich nicht, wenn sie zur Jagd ritten. Dann wäre diese Kopfzier nur hinderlich. Kleiner Bär durfte noch keine Feder anstecken. Die musste er sich erst verdienen, wenn er eine erfolgreiche Jagd hinter sich gebracht hatte. Vielleicht heute?
Da fiel es ihm auch gleich wieder ein. „Vater?“
„Was gibt es, Kleiner Bär?“ Trotzdem er mit seinem Sohn sprach, warf Wedelnder Biber aufmerksame Blicke auf seine Umgebung. Er wollte Kleiner Bär heute gerne zeigen, wie man einen der zahlreichen Feldhasen erlegte, die hier wohnten. Umso erstaunter war er über die Frage, die jetzt folgte.
„Jagen wir heute einen Bären? Einen ganz großen?“
Sie hatten den Waldrand erreicht und Wedelnder Biber hielt das Pferd an. Ein kurzer Befehl genügte und der Hengst würde hier warten, bis sein Reiter zurückkehrte. Der Vater nahm seinen Sohn bei der Hand und zog ihn sanft in Richtung der hohen Tannen. „Komm!“
Kleiner Bär war nun fest davon überzeugt, dass sein Vater mit ihm auf die Pirsch nach einem Grizzly gehen wollte.
Weicher Waldboden war mit unzähligen Nadeln der umstehenden Bäume bedeckt. Sträucher wucherten über saftigem Moos und das Zwitschern der Vögel war zu hören. „Was siehst du, mein Sohn?“, wollte Wedelnder Biber wissen.
„Den Wald, Vater!“, antwortete Kleiner Bär. „Treffen wir hier auf den …“
„Nur den Wald? Benutze deine Augen und deine Sinne, um zu erkennen.“ Die Stimme des Vaters klang ein bisschen anders als sonst, ernster. „Siehst du den Strauch mit den Beeren?“
Kleiner Bär blickte um sich und entdeckte die Pflanze, die der Vater gemeint hatte. Viele saftige rote Beeren hingen daran. „Ja, wollen wir die mitnehmen?“ Vielleicht sollten ihnen diese Früchte für die nächsten Stunden Nahrung sein? Der Indianerjunge machte sich schon auf den Weg, um ein paar der Beeren zu pflücken.
„Halt!“, widersprach Wedelnder Biber. „Wir brauchen keine Beeren. Deine Mutter hat uns etwas Trockenfleisch mitgegeben. Das reicht für den Hunger. Und der Bach wird uns Wasser spenden.“
„Warum wolltest du dann wissen, ob ich den Strauch sehe?“ Kleiner Bär verstand nun gar nichts mehr.
„Siehst“, fragte der Vater weiter, „du auch die Vögel, die in den Ästen der Bäume sitzen?“
„Ja, aber …“
„Du weißt, Kleiner Bär, dass diese Vögel gerne die Beeren dieses Strauches fressen?“ Wedelnder Biber wusste, dass Nahomi diese kleinen Geheimnisse der Natur ihrem Sohn schon weitergegeben hatte.
„Ja, aber …“
„Und“, unterbrach der Vater abermals seinen Sohn, „fragst du dich nicht, warum sie nicht den Reichtum der Beeren plündern. Jetzt, wo die Früchte so zahlreich und prachtvoll auf den Sträuchern sitzen?“
Kleiner Bär kicherte. „Weil sie satt sind. Wenn sie jetzt noch etwas fressen, fallen sie von den Bäumen oder können nicht mehr fliegen, weil sie zu schwer sind.“
Wedelnder Biber nickte zustimmend. „Richtig, mein Sohn. Ich möchte dich nun etwas fragen. Ist dir kalt, wenn du schläfst?“
Kleiner Bär schüttelte den Kopf. „Nein, Vater, unter meinem Bärenfell ist es wohlig warm.“
„Sind unsere Vorräte erschöpft?“
„Ach wo“, lachte der Indianerjunge, „Mutter hat noch einen großen Bärenschinken hängen und …“
Mit einer geschmeidigen Bewegung drehte der Indianer sich zu seinem Sohn herum und hockte sich vor ihm auf den Boden. „Und wozu sollten wir deiner Meinung nach dann einen Bären jagen? Der nächste Winter ist noch fern, unsere Vorratskammern sind gefüllt. Der Fluss bietet uns Fische im Überfluss. Auf dem Feld tummeln sich die langohrigen Hasen, die nur zu gerne die Früchte unserer Felder vernaschen und die Wasservögel legen Eier. Würden wir ein so großes Tier jagen, würden unsere Vorräte überquellen und verderben. Verstehst du, was ich dir sagen will?“
Kleiner Bär wirkte betroffen. So hatte er die Sache noch nie betrachtet. „Aber wie wird man dann ein großer Jäger?“ Die Chance, eine Feder für Jagdglück zu bekommen, sah der Indianerjunge in immer größere Ferne schwinden.
Wedelnder Biber legte seine Hand auf die Schulter des Sohnes und erklärte ihm: „Ein großer Jäger wirst du dann, wenn du lernst, das von der Natur anzunehmen, was sie dir zu jeder Jahreszeit bieten kann. Verlange nicht im Überfluss, was du ohnehin nicht verzehren kannst. Schätze dich glücklich, dass uns das Wasser, das Feld und die Luft Nahrung geben, wenn es uns danach verlangt. Lerne, wie die Tiere jagen. Nämlich dann, wenn es von Nöten ist. Wir leben mit den Tieren. Nicht, um sie des Ruhmes wegen zu töten.“
Ganz glücklich sah Kleiner Biber jetzt nicht drein. Vom Jagderlebnis zur Standpauke war es doch ein großer Schritt. Einen kleinen Versuch wollte er dennoch wagen: „Aber so eine Feder …“
„Wirst du bekommen, wenn du das, was ich gesagt habe, verstanden hast.“ Nicht mehr und nicht weniger sprach der Vater. Mit diesen Worten bedeutete er dem Kind, ihm weiter in den Wald zu folgen. Ohne auf das vorangegangene Gespräch einzugehen, zeigte Wedelnder Biber seinem Sohn verschiedene Sträucher, seltsame Gewächse, die aus dem Boden schossen oder fette Insekten, die über den Nadelteppich huschten. Zu jeder Pflanze, jedem Getier wusste der weise Vater eine Geschichte und Kleiner Bär hatte bald seinen Wunsch vergessen, einen Bären zu jagen.
Sie gelangten zu einem sprudelnden Bachlauf und konnten darin Fische sehen, die versuchten, gegen die Strömung zu schwimmen. Immer wieder sprangen die glänzenden Leiber aus dem Wasser und beinahe sah es aus, als würden sie fliegen. Plötzlich duckte sich Wedelnder Biber und raunte: „Sieh nur!“
Kleiner Biber brachte vor Staunen fast seinen Mund nicht mehr zu. Bachaufwärts stand ein großes Tier im Wasser und fischte nach den springenden Wasserbewohnern. Neben sich auf einem flachen Stein lag seine Beute. Die großen Tatzen fuhren in die glitzernden Wellen und in den scharfen Krallen zappelte der nächste Fang.
„Ein weißer Bär!“, flüsterte Kleiner Bär ehrfürchtig. Der Medizinmann hatte erzählt, dass jene, die dem weißen Bären begegneten, von großem Glück gesegnet sein würden.
Sehr vorsichtig und darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, schlichen Vater und Sohn noch näher an den riesigen Bären heran. Auch Wedelnder Biber hatte nie zuvor ein so mächtiges Tier gesehen.
Der weiße Grizzly hielt in seinen Bewegungen inne und seine knopfartigen Augen blickten in ihre Richtung. Hatte er sie gewittert? Der Angriff eines so großen Raubtieres würde für die Indianer sehr schmerzvoll, wenn nicht sogar tödlich sein. Wedelnder Biber machte sich Vorwürfe, sich - entgegen aller Vernunft - mit seinem Sohn dem Bären so weit genähert zu haben.
Kleiner Bär trat in kindlicher Naivität noch einen Schritt nach vorn und stand jetzt nur wenige Meter vor dem weißen Bären. Die Kinderstimme klang zaghaft und gar nicht mutig: „Ich bin Kleiner Bär und du bist sicher Großer Bär. Das hat der Medizinmann gesagt. Und ich verspreche dir, dass ich keine Bären jagen werde, wenn es nicht unbedingt notwendig ist.“
Vom anderen Bachufer drang ein lautes Brummen und der Grizzly richtete sich zu seiner vollen und sehr beeindruckenden Größe auf. Es war wie eine gläserne Brücke, die zwischen dem Jungen und dem Bären bestand und dann langsam im Sonnenlicht schmolz.
Mit einem weiteren Brummen griff der weiße Bär nach dem größten Fisch, der neben ihm darauf wartete, gefressen zu werden. Der Grizzly holte kurz aus und mit einem kraftvollen Schwung landete dieser Fisch vor den Füßen von Kleiner Bär.
„Er, er“, stotterte der Indianerjunge, „hat mir einen Fisch geschenkt.“
Wedelnder Biber strich seinem Sohn über den Kopf. „Der weiße Bär hat das Gute in dir erkannt. Mache nun deinem Namen alle Ehre, mein Kind.“
„Danke!“, rief Kleiner Bär dem mächtigen Grizzly nach, der soeben ins Unterholz auf der anderen Seite des Baches brach. „Und ich werde mein Versprechen halten!“
Kleiner Bär hatte an diesem Tag seine erste Feder bekommen. Viele weitere folgten und er wurde ein weiser und guter Häuptling seines Stammes.
Lange lebten sie im Einklang mit der Natur und ihren Gesetzen.
Es ist schade, dass diese Einsicht heute bei den Menschen nicht mehr vorhanden ist. Vielleicht bräuchten auch wir die Erfahrungen, die dieser kleine Indianerjunge gemacht hat, um zu begreifen, dass wir uns nicht nur gedankenlos an der Natur bedienen können.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 23.02.2012
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