Ein Fest des Friedens -- ein Fest, an dem wir uns wieder auf die wahren Werte des Lebens besinnen sollten.
Weihnachten
In den Schaufenstern glänzten Silbersterne und lockten bunte Päckchen, Christbaumkugeln, Girlanden, Weihnachtslieder … das waren die Straßen der Reichen.
Beschädigte Hausmauern. Zerschlagene Fensterscheiben. Ab und zu lockerten missglückte Graffitis mit ihren bunten Farben die Tristesse des Armenviertels auf. Die hereinbrechende Dämmerung verhüllte das Elend barmherzig unter einem grauen Mantel.
Chick hatte den Kragen seiner zerschlissenen Jacke höher gezogen. Es war bitter kalt geworden. Der Weihnachtstag würde wohl in Schnee versinken. Weihnachten – das Fest der Geschenke. Nicht so bei Chick, dem Hinkenden, der den Strickrand seiner verfilzten Wollmütze tief in die Stirn gerollt hatte. Hier, in der Hundertelften Straße dachte niemand an Geschenke. Eher daran, wie man die Kälte überstehen sollte. Heizmaterial konnte sich selten jemand leisten. Man nahm, was man bekommen konnte – zum Beispiel Leergebinde aus Karton oder Holz, die Einkaufstempel zur Entsorgung vor ihren Lagerhallen stapelten.
Es war nicht nur die Armut, die diese Straßenzüge prägte. Die ganze Gegend hier war zum Ghetto geworden. Warum? Wie lange schon? Chick wusste darauf keine Antwort. Er war hier aufgewachsen und kannte es nicht anders. Prügeleien unter den Schwarzen waren an der Tagesordnung. Eine Art Machtspiel, dem sich jeder – willentlich oder nicht – unterwerfen musste. Wer überleben wollte, musste sich dieses Recht oft schmerzhaft erkämpfen.
Bei einer dieser Auseinandersetzungen hatte ihm ein Kontrahent das Messer ins Bein gerammt. Seither hinkte Chick Mamboa. Und seither litt er mehr als andere.
Er wollte nicht so sein wie sie. Nicht ständig betteln. Nicht im Menschengedränge den Wohlhabenden die Geldbörsen aus den Taschen ziehen. Seine Mutter hatte versucht, ihm Ehrfurcht beizubringen. Ehrfurcht vor Gott. Und dass es kein Glück brachte, sich an Hab und Gut der Anderen zu bereichern.Was hatte Mutter schon gewusst?
Hätte sie geahnt, wie die Zeiten sich änderten, hätte sie noch immer an „IHN“ geglaubt? Hätte sie immer noch seine Werte hochgelobt?
Mamboa grub die klammen Finger tiefer in die zerrissenen Taschen seiner ausgebleichten Jeans. Im Halbschatten einer zuckenden Neonreklametafel entdeckte er eine sich duckende, menschliche Silhouette. Neugierig beobachtete Chick das Geschehen. Jemand, den er noch nicht erkennen konnte, machte sich am Schloss eines chromblitzenden Chevy zu schaffen. Warum solch ein Luxusschlitten hier parkte, war nur zu erahnen. Mamboa warf einen kurzen Blick zu dem Fenster im zweiten Stock des „Etablissements“. Fahles Licht schimmerte durch die rote Gardine und ließ es so fast weihnachtlich erscheinen. Der gebürtige Schwarzafrikaner zuckte gelangweilt mit den Schultern, horchte aber auf, als er leises Fluchen hörte.
Die Person, die sich im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit am Schloss des Wagens zu schaffen machte, stieß ungehobelte Ausdrücke aus, weil sich die Drahtschlinge scheinbar erfolglos im Zylinder drehte.
Chick kickte eine leere und zusammengepresste Coladose in Richtung Fahrbahn. Die Straße war fast menschenleer und das scheppernde Geräusch der Blechbüchse war in der Stille der Dämmerung meilenweit zu hören.
Der augenscheinliche Dieb verharrte in hockenden Position an der Autotür. Misstrauisch schaute er auf und schätzte die Lage ein. Nein, es würde ihm keine Gefahr von dem Kumpel dort drohen. Erstens war der Mann ebenso von dunkler Hautfarbe und zweitens hinkte er.
Dennoch schwang Nervosität in der Frage mit: „Hey, Mann! Was geht ab?“
Irrte Chick Mamboa sich oder klang diese Stimme nach einem höchstens fünfzehnjährigen Burschen? Egal, es hatte ihn nicht zu interessieren und die Antwort fiel entsprechend kurz aus: „Alles cool, Mann!“
Gefrierender Atem kroch aus Chicks Mund. Es war wirklich arschkalt und er wollte nichts anderes als nur schnell heim. Zwar gab es in seinen vier Wänden keinen Ofen, den er heizen konnte, aber warme Decken, unter denen er sich verkriechen würde.
Chick versuchte zu ignorieren, dass er hinter seinem Rücken weiter das Kratzen des Drahtes auf dem Autoblech hörte. Es war nicht sein Ding – es ging ihn nichts an.
Nach ein paar Schritten hielt Chick Mamboa jedoch inne. Er hatte plötzlich seine Meinung geändert. Aufseufzend schlurfte er zurück. Bei der Limousine stoppte er und wollte mit einem Nicken zu dem Burschen wissen: „Muss das sein?“
Irritiert blickte Josh auf. Der Junge war noch nicht mal so alt, als Chick vermutet hatte und die kindliche Rechtfertigung „Ich will weg hier, Mann. Irgendwohin, wo’s warm ist.“ klang bestimmt, aber gleichzeitig hilflos.
„Coole Idee“, stimmte Chick verstehend zu, „wäre ich auch gerne.“
Josh sprang hoch. Seine Augen glänzten euphorisch. Die flache Hand des Teenagers klatschte auf das Autodach, als er den Älteren einlud: „Komm doch mit. In dem Wagen ist locker Platz für zwei.“
Mamboa versenkte die frierenden Handflächen noch tiefer in seinen Hosentaschen. Die beißende Kälte machte selbst das Sprechen schwer: „Aber wenn sie uns erwischen, sitzen wir in einem Loch. Dort ist zwar auch Platz für zwei – aber sicher nicht so toll, wie du es dir ausmalst.“
„Hey!“, motzte der Teenager aufsässig, „du bist nicht mein Vater. Zieh Leine, wenn du nicht mitkommen willst und lass mich mein Ding machen.“
Der Hinkende wusste nicht warum, aber er gab nicht auf: „Schon klar, Mann. Vielleicht überlegst es dir doch noch. Ich weiß nämlich einen coolen Platz, wohin wir beide gehen könnten.“
Der Junge war neugierig geworden. „Wo wäre das?“, wollte er wissen. „Wie lange dauert’s, bis wir dort sind?“
„Dreiviertel Stunde“, überlegte Mamboa. Seine Mutter hatte immer gesagt, man solle stets versuchen, die Menschen auf den rechten Weg zu geleiten. Irgendwann würde dann ein Wunder geschehen. Wie dieses „Wunder“ aussehen sollte, hatte seine Ma‘ ihm natürlich nicht verraten.„Nachher kannst du dein ‚Ding‘ noch immer noch durchziehen“, fügte er deshalb schnell hinzu. Aber tief in sich drinnen spürte Chick, dass in dieser Nacht etwas Besonderes geschah.
Josh kam tatsächlich ins Grübeln. Erstens kroch die Kälte bereits unter sein viel zu dünnes Shirt und zweitens war abzusehen, dass sich das Autoschloss infolge Unerfahrenheit nicht so leicht knacken lassen würde. Er zuckte mit den Schultern. Eine Stunde mehr oder weniger – kein Problem. Zeit hatte der elternlose Bursche genug.
Bunte Leuchtreklamen erhellten die breiten Gehwege. Leben erfüllte die Straßen. In dicke Pelzmäntel oder Parkas gehüllt, eilten die Leute mit unzähligen Einkaufstüten zu ihrem wohlig warmen Zuhause.
Der Mann, der eben den Deckel über seinem Bratkartoffelofen schließen wollte, rief die beiden Dunkelhäutigen zu sich. „Hier, die sind für euch. Heute kauft sie mir doch keiner mehr ab.“ Eine wohlwollende Geste, die weder Josh noch Chick oft erfahren durften.
Mamboa schluckte. War das vielleicht so ein Wunder, wie Mutter es versprochen hatte? Verlegen spürte er etwas Nasses an seiner Wange herunter laufen. Die Kälte. Natürlich die Kälte.
Sich an den aufgeheizten Papiertütchen wärmend, lief das ungleiche Duo weiter. Niemand nahm Notiz von den beiden. Josh drängte sich ein wenig näher an seinen Begleiter. Wohin der Hinkende wohl strebte? Chick hatte kein Wort gesagt, wohin sie laufen wollten. Der Duft von Bratäpfeln, Honig und Tannengrün lag in der Luft. Rundliche Weihnachtsmänner lockten vor den Einkaufszentren mit ihrem „ho-ho-ho“ Besucher in die wohltemperierten Verkaufstempel, wo noch Geschenke in letzter Minute gekauft werden konnten. Kinder strahlten in Vorfreude zu den Spielwaren, die in den überladenen Schaufenstern angeboten wurden. Betriebsamkeit, die für die meisten in einem beschaulichen Weihnachtsabend mit gutem Essen und sorglosem Gelächter enden wüde.
Abrupt hielt Chick an und Josh stolperte beinahe über die Beine des neuen Freundes. Dann sah er ihn, den riesigen Weihnachtsbaum vor dem Rockefeller Center. Lichterketten schaukelten im auffrischenden Wind. Erste Schneeflocken wirbelten vom Himmel. Aus den Buden, die um den festlich erleuchteten Platz, aufgebaut waren, klangen Weihnachtslieder und zog verführerischer Duft nach Leckereien durch den Abend.
Hier am Lower Placa gab es keine Standesdünkel; hier traf sich die vornehme Gesellschaft ebenso wie die vom Leben Benachteiligten. Zumindest heute.
Die beiden afrikastämmigen Besucher des weihnachtlichen Markts tummelten sich zwischen all den Passanten, die keine Ahnung von anderer Leute Sorgen und Nöten hatten.
Dennoch – heute war irgendwie ein Glückstag für Josh und Chick. Die gesellige Runde, die nach ausgiebigem Punschgenuss das nächste Weihnachtslied anstimmte, zeigte sich spendierfreudig. Ein bärtiger Brillenträger drückte sowohl dem Burschen als auch seinem Begleiter je einen Becher mit dem warmen, alkoholischen Getränk in die Hand. „Wohl bekomm‘s und Frohe Weihnachten.“
Es war nicht nur die Wärme des Getränks, die sich in Chick und Josh ausbreitete. Heute hatten ihre Seelen Herzensgüte und Wohlwollen erfahren.
Ein alter weißhaariger Mann stand in der Nähe. Seine Blicke ruhten auf den beiden Schwarzen.
„Seht nur!“ Der Alte lächelte freundlich, als sie ihn bemerkten. „Es beginnt zu schneien. Das ist jedes Mal wie ein Wunder - nicht wahr?“ Am Himmel zerfiel der Schweif einer Sternschnuppe in glitzernde Kristalle.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 14.11.2011
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