Zart schimmerte das Morgenrot durch die aufsteigenden Nebel. Die Steppe von Askaya lag scheinbar unberührt – schien noch zu schlafen.
Ebenso die Stadt Burghal, eine ehemalige Karawanserei. Die Tage, da die Steppenreiter der Pasador – die ganz in Schwarz gekleideten Burhada – noch ruhelos ihrem Nomadenleben fristeten, waren vorüber. Kalif Baba Dunsun nutzte die Lage der ummauerten Herberge, die Reisenden ein sicherer Zufluchtsort gewesen war, für seinen Wunsch nach Sesshaftigkeit. Ließ für sich und seine Angehörigen einen Palast errichten – Shingralas. Seine Untertanen forderte er auf, sich wetterfeste Behausungen zu errichten. Die askayische Hochebene war fruchtbar und bot der Bevölkerung genügend Nahrung. Aus dem Wandervolk war ein Volk der Ackerbauern und Jäger geworden. Baba Dunsun hatte die besten Steppenreiter des Landes unter seiner Herrschaft vereint - die Pasador. Unter Führung des ehrgeizigen Alaybegi, wie ein Kommandant solch einer Schar genannt wurde, war eine Elitetruppe entstanden – die Burhada. Ausgebildete Kämpfer und Krieger, deren schwarze Umhänge beim scharfen Ritt im Wind flatterten und mit den schwarzglänzenden Leibern ihrer Rappen verschmolzen. Ihr Anführer war Bahadir. Von hochgewachsener Statur, aus fürstlichem Hause – ein Mann, der die strengen Regeln der Steppenreiter hütete und darauf achtete, dass niemand je dieser Schar zugehörig sein würde, der dem Kodex nicht entsprach.
Jahre waren seither ins Land gezogen.
Langsam keimte die Saat des Neides bei anderen Völkergruppen. Selbsternannte Herrscher schickten ihre Häscher aus. Die Zeit des Friedens war vorüber.
Der Morgentau netzte die biegsamen Halme und wob ein glitzerndes Netz über die unberührte Landschaft. Ruhe lag über der fruchtbaren Hochebene. Ruhe? Erbarmungslos krähte der erste Hahn lauthals seinen Weckruf.
„Aishin, sind die Pferde gesattelt?“, schnaufte eine nach Atem ringende Stimme. „Die Herren werden gleich kommen.“ Der Stallmeister trug seinen behäbigen Bauch vor sich her und ließ seine wulstigen Finger darauf trommeln. Figurschmeichelnd verbarg das weite Übergewand die menschliche Fülle. Das Gesicht des Mannes war aufgedunsen und Schweißtropfen drängten unter dem Turban hervor und benetzten die Stirn.
Die höher gestiegene Sonne hatte begonnen, ihre Strahlen über das Land zu werfen und durch die Oberlichte der Stalltür drangen die ersten goldenen Streifen. Die Pferdeköpfe waren über das frische Heu gebeugt, das ihnen Aishin in die Boxen geworfen hatte. Alle Pferde waren sorgfältig gestriegelt und fertig aufgezäumt. Ciftikar, der Stallmeister wusste, dass die Steppenreiter nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Alsbald würden sie mit forschem Schritt die Stallungen betreten und ihre zum Ausritt bereiten Pferde erwarten. Nur ein einziger Grund der Unzufriedenheit würde genügen und er, Ciftikar, zur Rechenschaft gezogen werden. Und das würde bedeuten, keine Sonderrationen Fleisch und Mehl am Ende der Woche zu erhalten. Welch schlimme Aussichten.
„Leventos sei Dank!“ Der Stallmeister schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Aus dem Stall drangen beruhigende Geräusche. Denn seit Aishin hier Dienst tat, hatte er keine Strafen mehr zu befürchten. Der Junge war zwar schweigsam, aber zu jeder Arbeit zu gebrauchen. Mit gespielter Anstrengung hob Ciftikar den Riegel aus der Verankerung und zog das schwere Holztor zur Gänze auf die Seite. Natürlich nur um den Anschein zu erwecken, als arbeite man – damit sich selbst bezeichnend – seit Stunden. Den Aspekt, dass er seine Leibesfülle kaum durch einen Türspalt zwängen konnte, ließ er dezent außer Acht. Als Ciftikar der aufgezäumten Pferde ansichtig wurde, glänzten seine kleinen Augen, die fast unter den gewaltigen Auspolsterungen seiner Wangen verschwanden.
„Guter Junge. Kannst dir heute Abend ein paar Kartoffeln für deine Mutter holen.“
Aishin nickte dem Stallmeister dankend zu und zog den schweren Karren mit Mist aus dem Pferdestall. Das Hemd des Jungen war viel zu groß für ihn, die Hosenbeine waren am Ende umgeschlagen, sonst wäre er daraufgetreten. Ein paar blonde Strähnen stahlen sich aus der eigenwilligen Kopfbedeckung, die einem Helm oder Hut ähnelte. Turban konnte man das kunstvolle Ding, dessen Herkunft höchst ungewiss war, kaum nennen. Das Gesicht war schmutzig und die dreckigen Spuren verbargen die feinen Züge des jugendlichen Stallburschen. Um den Hals hatte er ein buntes Tuch geschlungen, das den Blick auf seinen Nacken verbarg. Die Hände, die sich um die Griffe des Karrens gelegt hatten, hätte man als Kinderhände vermuten können, würden sie nicht so fest zupacken.
„Na, Aishin, lässt er dich schon wieder alles alleine schleppen?“, lachte Fatihel, der als erster der Reiter den Stall betrat. Zum Stallmeister gewandt wurde die Stimme ernster: „He, Ciftikar, schwingt doch auch einmal die Heugabel und lasst den Burschen an Eurer statt ein wenig ruhen.“
„Ich bin seit den frühen Stunden auf den Beinen, mein Herr. Eure Pferde sind fertig und…“ Weiter kam der Behäbige gar nicht mit seiner Rechtfertigung.
„Und da sich unsere Rösser nicht alleine aufzäumen können, und Ihr erst mit den ersten Sonnenstrahlen den Stall betreten habt, wie ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe“, enthüllte Fathiel das gutgeglaubte Geheimnis, „wer wird dann wohl dafür gesorgt haben, dass nun alles bereit ist?“
Die Schweißtropfen auf Ciftikars Gesicht begannen sich zu sammeln und in kleinen Bächen über sein Gesicht zu laufen.
„Schon wieder Streit in aller Frühe?“, wollte der Recke wissen, der soeben mit zwölf Männern die Stallungen betrat.
„Nein, kein Streit.“ Fathiel schüttelte den Kopf. „Nur das altbekannte Problem, Alaybegi.“ Ein Nicken in Ciftikars Richtung genügte dem Anführer der Reiterschar. Man würde sich irgendwann Konsequenzen überlegen müssen.
Aishin hatte sich schnell noch aus dem Tor gezwängt, bevor die Männer aufsaßen und ihre Pferde zum Stadttor lenkten.
„Aishin, du hast deine Sache gut gemacht. Unsere Pferde sind wohlgenährt und gut gepflegt, sie können es kaum erwarten, ihre gekämmten Mähnen im Wind flattern zu lassen“, lobte der Pasador den Burschen. Aishin hatte sich an die Wände des Holzzaunes neben dem Stall gedrückt um die Reiter nicht zu behindern.
„Danke mein Herr, Ihr seid sehr gütig“, hörte man nun die wohlklingende Stimme des Jungen, der seinen Kopf ehrfürchtig neigte. Diese Stimme verwunderte manchen, sie passte so gar nicht zu einem Jungen. Aber man tat es ab, er war wohl noch nicht erwachsen genug. Die sanften, grünbraunen Augen folgten den davonpreschenden Reitern.
Fathiel musste seiner Empörung Luft machen: „Es ist wirklich schade um den Jungen. Ciftikar lässt ihn den ganzen Tag schuften und er selbst erntet die Früchte des Lobes für die Arbeit die ein anderer getan.“
„Es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen“, entgegnete Bahadir, „dass der Junge großartige Arbeit leistet. Gerne hätte ich ihn auf einen unserer Ausritte mitgenommen, doch weiß ich nicht, ob er dafür nicht noch zu jung ist. Was wäre, wenn wir auf schießwütige Schärgen Baphumentos treffen und wir kämpfen müssten? Die Samniten kennen keinen Unterschied zwischen Erwachsenen und Jungen, die noch fast Kinder sind.“
„Natürlich ist das richtig. Scheich Baphumento weiß in seinem Neid nicht auseinanderzuhalten, wer ihm gefährlich sein könnte.“, stimmte Fathiel zu und ergänzte: „Aber einmal muss Aishin es lernen, sonst wird er immer Stallbursche bleiben.“
Zwei Reiter, die als Vorhut unterwegs gewesen waren, parierten ihre Pferde vor dem Hauptmann: „Wir haben Spuren gesichtet, es müssen ungefähr an die zwanzig von ihnen sein.“
„Lasst uns nachsehen!“, befahl Bahadir. „Los Männer!“ Die Reiterschar folgte augenblicklich dem Befehl ihres Hauptmannes, dem Alaybegi, und folgte der Spur, die in Richtung des nahen Nadelwaldes führte.
„War ganz schön in Ordnung von dir, dass du mich nicht verpetzt hast“, keuchte der nun aus allen Poren schwitzende Ciftikar zu Aishin. „Hier, die sind für dich.“ Er reichte dem Jungen ein paar wunderschöne Äpfel, die ansonsten zu dieser Jahreszeit noch nicht zu haben waren. Als er den verwunderten Blick des Stallburschen sah, flüsterte er verschwörerisch: „In meinem Keller habe ich viele dieser Köstlichkeiten gelagert, aber das darf niemand wissen, verstehst du?“ Aishin nickte, nahm die Äpfel und steckte sie in seine Hosentaschen.
„Ich kümmere mich jetzt um die Pferde der Begima und des Kalifen, wenn es Recht ist?“, fragte Aishin mit leiser Stimme.
„Geh nur, mein Junge. Meine Gebeine müssen nun ein wenig ruhen, es war ein anstrengender Morgen.“ Ciftikar wälzte sich in Richtung Stalltor. Er war zwar bequem und ließ wirklich alles, was irgendwie den Anschein von Arbeit hatte, den Jungen erledigen, doch billigte er Aishin immer wieder kleine Gaben zu. Einmal schenkte er ihm ein paar Äpfel oder Karotten. Das nächste Mal war es ein Hemd, das ihm wieder zu klein geworden war - was gar nicht so selten passierte. Aus einem solchen nähte dann Aishins Mutter zwei Oberkleider für das Kind. In einzelnen Fällen ließ der Stallmeister den Jungen auf einem der Pferde reiten.
Allerdings mit einer Ausnahme. Das Pferd des Kalifen war für jeglichen Einwohner, selbst die Reiter der Burhada tabu. Cagatay stammte von den ursprünglichsten Pferden dieses Kontinents. Den Astarci, den Steppenkönigen, wie sie auch genannt wurden. Bei ihrem Galopp verschmolzen sie mit der Landschaft und man konnte meinen, dass sie über Stock und Stein einfach hinwegflogen. Wild und unbezähmbar und mit einem Willen, den für gewöhnlich kein Mensch brechen konnte. Baba Dunsun hatte seinerzeit das Fohlen vor der Horde der räudigen Steppenwölfe gerettet. Das Muttertier war den geifernden Fangzähnen bereits zum Opfer gefallen und Cagatay in wilder Panik einfach davongestoben. Die keifenden Räuber, die sich bereits an dem warmen Blut der Stute gütlich taten und in die noch zuckenden Flanken ihre messerscharfen Zähne schlugen, hatten die Flucht nicht gleich bemerkt.
Der Kalif war mit seinen Männern in den Ländereien unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Durch das Gekläffe aufmerksam gemacht, folgten sie den Lauten und entdeckten die blutigen Spuren einer erfolgreichen Jagd der haarigen Vierbeiner.
„Seht!“, rief einer der Reiter. „Ein Jungtier. Es muss ein Astarci-Fohlen sein.“ Während die Steppenreiter einen Pfeilregen auf die überraschten Wölfe niedergehen ließen, hob Baba Dunsun das Fohlen einfach vor sich in den Sattel und nahm es mit nach Burghal.
Der Rappe erhielt den Namen Cagatay. Niemand außer dem Kalifen konnte sich dem Pferd nähern, geschweige denn es reiten. Bis, ja bis Aishin den Stalldienst übernommen hatte. Eine fast magische Anziehungskraft schien zwischen dem stolzen Ross und dem zarten Jungen zu bestehen.
Wie gesagt, ein Vorzug besonderer Güte, wenn Aishin ausreiten durfte. Denn das Reitervolk ließ keinen auf ihre edlen Rösser, der nicht zu den Askayador oder gar zur Burhada des Alaybegi gehörte.
Cagatay stampfte unwillig mit den Hufen. Schon lange war sein Besitzer nicht mehr ausgeritten. Das Herumstehen im Stall wollte dem edlen Rappen nicht gefallen. Doch außer Aishin durfte niemand diesem Hengst näher als bis zur Tür seiner Box kommen. Weder Bahadir und selbst die Nichte des Kalifen hatte noch keinen Zugang zu dem Astarci gefunden. Die Askayador vermieden, dem unberechenbaren Pferd zu nahe zu kommen und auch Bahadir, der Neffe des Kalifen bevorzugte, die Versorgung Cagatays Aishin zu überlassen.
„Hallo, meine Schönheit. Wie geht es dir heute?“, raunte Aishin in Cagatays Ohr. Auf der ausgestreckten Hand bot er dem Hengst einen der Äpfel an, den er von Ciftikar erhalten hatte. Die klugen Augen des Tieres richteten sich sofort auf den Gönner des schmackhaften Stückchens Obst. Die Finger des Jungen klopften den muskulösen Hals des Tieres und strichen zart über die Nüstern. Ein leises Schnauben war die Antwort auf diese Berührungen.
„Soll ich dein Fell glänzen lassen, du Großkalif der Rösser?“, schmeichelte Aishin. Als hätte der Hengst den Jungen verstanden, stieg er zurück und ließ so ein Öffnen seiner Boxtüre zu. Der Junge trat furchtlos zu dem großen Tier und begann es zu striegeln. Leise summte er eine beruhigende Melodie vor sich hin. Die Lider des Pferdes legten sich über die Augen, die langen Wimpern zuckten. Es war fast als würde es schlafen und sich dem Genuss der Bürstenstriche ergeben.
Die Schritte waren leicht und hinterließen keinen Laut auf dem steinernen Boden des Palastes. Ein Schatten huschte entlang der grauen Mauern und löste sich in Nichts auf, als Turgay auf die weitläufige und sonnenüberflutete Terrasse trat. Von hier aus überblickte man die Hochebene von Askaya. Am Horizont erhoben sich die schneebedeckten Gipfel Malaghards.
Die Augen der jungen Frau erzählten von Trauer und der Wind spielte mit dem langen, blonden Haaren als wolle er damit Trost spenden. Turgays Körperhaltung wurde dem Ausdruck Jugend nicht gerecht und ähnelte der einer alten Frau. >Eine Begima muss stark sein<. Tapfere Worte, die sich die Nichte des Kalifen selbst suggerierte.
Turgay lenkte ihren Schritt zu den Stallungen nahe dem Palast. Es war ihr wieder nicht gelungen, mit ihrem Oheim zu sprechen. Stets war dieser schleimige, widerliche „Heiler“ Rimmit an dessen Seite. Keine Antwort kam mehr aus des Kalifen Mund, nur unverständliches Gekrächze, während sich seine grauen, kalten Finger um die Lehnen des Throns klammerten. Auf den Handoberflächen mehrten sich kreisrunde rote Flecken mit eitrigen Pusteln. Das Gesicht war eingefallen und unzählige Falten bedeckten die einstigen stolzen Konturen des Kalifen von Askaya. Wie wichtig wäre es gerade jetzt, wenn sich der Kalif seiner Aufgaben bewusst werden könnte. Ihr Bruder, Bahadir, hatte ihr erzählt, dass die Steppenreiter bei ihren Ausritten immer öfter auf die Spuren herumwildernder Samniten trafen. Die ersten Übergriffe und Rachefeldzüge der neidischen Nachbarvölker auf entlegene Orte des Reiches, kleine Fischerdörfer, hatten bereits stattgefunden.
Ehe die Frau noch den Stall erreichte, drang gleichmäßiges, lautes Schnarchen an ihr Ohr. Ein feines Lächeln huschte über das sonst so ernste Gesicht der Begima. Dieses Schnarchen gehörte gewiss zu Ciftikar. Ihr Bruder hatte ihr berichtet, dass seit einiger Zeit ein junger Stallbursche – Aishin – Ciftikar zur Hand ging und der alte Stallmeister nun die meiste Zeit damit verbrachte, seinen beleibten Körper in den Schatten zu legen und zu schlafen.
Leise betrat Turgay die Stallungen. Die meisten Boxen waren leer, da die Reiter bereits am frühen Morgen Burghal verlassen hatten. Eine lockende Melodie lag in der Luft und die Frau folgte dem Klang der wohltuenden Stimme.
Trogen sie ihre Sinne? Turgays Augen weiteten sich und sie glaubte an einen Streich, den ihre Sinne ihr spielten. Das wilde und sonst unbezähmbare Pferd ihres Onkels gab sich den gleichmäßigen Strichen der Bürste in Aishins Händen hin. Zwar war es Turgay bekannt, dass Aishin sich dem Hengst so weit nähern durfte, um ihn gefahrlos zu füttern, doch diese Zutraulichkeit verblüffte die Begima doch.
Cagatay hatte sofort die Schritte, und waren sie noch so leise, vernommen. Er schlug seine Lider auf und begann unruhig die Luft durch seine Nüstern zu blasen. „Was ist los, mein Guter? Bin ich dir nicht schnell genug?“, war die fragende Stimme aus dem Dunkel der Box zu hören. Turgay lauschte dem Klang der Stimme. Sie passte so gar nicht zu einem Jungen.
„Aishin, bist du das?“
Erschrocken trat der Angesprochene aus dem Schatten des Pferdes. „Verzeiht, Herrin.“ Ein kurzes Räuspern und der Junge verbesserte sich: „Begima.“ Derselbe Sinn wohnte in den Worten, dennoch bevorzugte Turgay die alte Sprache ihrer Vorväter und bestand darauf, dass man sie Begima nannte. „Doch das Pferd Eures Onkels steht seit Wochen im Stall, hat kein Sonnenlicht gesehen und keine Hand auf seinem Fell gespürt. Er tat mir leid.“ Tief verneigte sich Aishin vor der Nichte des Kalifen.
„Steh auf.“ Turgay war näher gekommen und hieß den Jungen sich erheben. „Doch sprich, wie hast du es fertig gebracht, so nahe an das Pferd zu kommen. Diese Gunst war – soweit ich weiß – bis jetzt immer meinem Onkel vorbehalten?“
„Ich weiß es nicht, Begima", bekannte Aishin. "Doch schienen Cagatay meine Lieder zu gefallen, da er beschlossen hat, mich zu ihm zu lassen. Könnt Ihr den Kalifen nicht dazu bewegen, auf seinem Pferd ein wenig auszureiten? Das Pferd würde dringend Bewegung brauchen.“ Abwartend sah der Junge zu der Frau auf.
„Könntest du denn das Pferd auch reiten?“, wollte Turgay nun wissen und schluckte die Antwort auf die eigentliche Frage nach ihrem Oheim hinunter.
„Vielleicht, ich weiß es nicht“, erwiderte Aishin leise. Er hatte sich bemüht, seine Stimme etwas männlicher klingen zu lassen, was Turgay lächelnd bemerkte. Aishin musste noch sehr jung sein. „Wie alt bist du, Aishin?“, kam Turgays Frage unvermittelt.
Aishin stotterte. „Zwa…ich wollte sagen zwölf und drei, also fünfzehn glaube ich. Genau weiß ich es nicht, Herrin, verzeiht.“
Turgay trat verwundert auf den Jungen zu und wollte mit ihrer Hand sein Gesicht zu sich drehen. Der Bursche zuckte zurück. Hatte Angst, dass sie ihn schlagen wollte, weil er sie wieder mit dem falschen Namen angesprochen hatte. Aishin war sich in diesem Moment nicht bewusst, dass er die Begima lediglich neugierig gemacht hatte. Schutzsuchend griff er in Cagatays Mähne, der leicht zu tänzeln begann. Mit ihrem Vorhaben, den Jungen zu berühren hatte sich Turgay auch dem Hengst genähert. Rasch musste sie in der Bewegung innehalten, denn der Rapphengst begann widerwillig mit seinen Vorderhufen nach ihr zu treten und schaffte so einen Abstand zwischen dem Stallburschen und der Nichte des Kalifen.
„Schon gut“, beschwichtigte sie gleich, „ich werde deinem Freund kein Leid zufügen.“ Turgay würde über diesen Vorfall mit ihrem Bruder sprechen. Zwar wurde von den jungen Burschen und Mädchen nicht verlangt, dass sie schreiben oder lesen konnten, doch diese Antwort auf die Frage nach seinem Alter hatte sie stutzig gemacht. Sie war sicher, dass der Junge erst >zwanzig< sagen wollte. Wäre Cagatay nicht dazwischengetreten, hätte sie Aishin näher ans Licht gezogen und so vielleicht die Wahrheit herausgefunden.
„Hmm, fünfzehn also",fasste die Begima Aishins Rechenaufgabe zusammen. "Wie du meinst. Bitte sattle mir mein Pferd, ich möchte ein wenig ausreiten. Und du, du wirst versuchen Cagatay zu reiten und mit mir kommen“, bestimmte Turgay.
„Aber Begima, Herrin“, erhob Aishin erschrocken Einspruch. „Das ist das Pferd des Kalifen.“
Die Herrin nickte und erklärte dem Verdutzten: „Und es muss laufen dürfen, wie du gesagt hast. Beeil dich, ich möchte zurück sein, bevor die Dunkelheit hereinbricht. Die Zeiten sind nicht mehr sicher. Wilde Geschöpfe treiben sich herum in unseren Landen.“
Aishin neigte ergeben seinen Kopf. Nicht die Aussicht, auf diesem Pferd reiten zu dürfen, verunsicherte den Stalljungen. Er war sich sicher, dass Cagatay ihn aufsitzen lassen würde. Doch hatte er die fragenden Augen der Begima bemerkt, als er sein Alter hervorstotterte. Er durfte keinen Fehler machen. Eilig begab er sich zu Lerria, der Stute Turgays. Geschickt zog er den Sattelgurt über der Reitdecke fest. Er reichte der Herrin, die ihn immer noch neugierig beobachtete, die Zügel ihres Pferdes. Turgay stieg behände in den Sattel und wandte sich nach dem Burschen um. Würde es ihm gelingen, Cagatay zu satteln und aufzusitzen?
Aishin war wieder leise flüsternd zu dem nervösen Hengst getreten.„Ruhig, mein Großer. Wir werden jetzt ausreiten. Lässt du mich aufsitzen? Ich werde deinen Rücken auch nicht mit einem Sattel quälen. Nur die Zügel muss ich fassen.“ Beruhigend strich er wieder über die Nüstern und hatte seine Worte in die aufgerichteten Ohren des Pferdes gesprochen. Turgay traute ihren Augen nicht, als der Knabe mit einer Leichtigkeit auf den Rücken des Hengstes sprang und ihm den Hals tätschelte. Leicht berührten des Jungen Füße die Flanken des Pferdes und augenblicklich setzte sich Cagatay in Trab. Mit leichten Schnalzlauten dirigierte Aishin das Ross aus dem Stall.
Ciftikar, den das Stampfen der Hufe aufgeweckt hatte, erblickte Aishin, der als erster aus dem Stall kam. „Bist du verrückt, das ist des Kalifen Pferd, du kannst doch nicht...“, versuchte er neben dem Pferd herzulaufen. Nach wenigen Schritten musste er dieses Unterfangen jedoch wieder beenden, da ihm die Luft für weitere Bewegung ausging.
„Es ist in Ordnung Ciftikar“, beruhigte Turgay den aufgebrachten Stallmeister. „Ich habe dem Jungen gesagt, er soll das Pferd bewegen.“ Die Reiterin trieb Lerria zur Eile, denn Cagatay hatte bereits das Tor erreicht.
„Aishin, warte. Wir wollen gemeinsam reiten“, rief sie dem Jungen nach.
Der Bursche zügelte das Pferd, was diesem nicht gefallen wollte, da es endlich wieder die Weiten Askayas erblickte und seine Hufe über die Ebenen donnern lassen wollte.
„Verzeiht, Begima!", entschuldigte sich der Reiter bekümmert. "Doch Cagatay hungert nach einem schnellen Ritt und wenn Ihr mir gestattet, werde ich ihn laufen lassen und danach zu Euch zurückkehren.“
„Wirst du zurückkehren, Aishin?“, lautete die besorgte Frage Turgays. Vielleicht hatte der Junge nur darauf gewartet, dieses Pferd in die Finger zu bekommen und würde nun damit in den Ländern Askayas für immer verschwinden. Als die Begima in die erschrockenen Augen des Jungen blickte, die solch eine Sanftmut ausstrahlten, schalt sie ihre Gedanken.
„Herrin!" Es klang fast wie ein gequälter Aufschrei. "Das ist das Pferd des Kalifen. Nie würde ich es wagen, es nicht rechtzeitig in seinen Stall zu bringen oder es seinem Herrn fernhalten wollen. Schade, dass Ihr so von mir denkt.“
Aishin wandte sich ab und Turgay glaubte, das Glitzern von aufsteigenden Tränen in seinen Augen zu erkennen. Tränen bei einem Jungen? Wer war dieser Bursche? Nur jemand, der vehement die Anrede ‚Herrin‘ anstelle von ‚Begima‘ anwandte?
Die Nichte des Kalifen begleitete die einladende Handbewegung mit den Worten: „Reite, mein junger Freund. Ich weiß jetzt, dass du Cagatay wohlbehalten zurückbringen wirst.“
Ein letzter Blick, ob diese Frau ihm auch wirklich erlaubt hatte, dieses herrliche Pferd unter ihm laufen zu lassen. Zum Zeichen ihrer Zustimmung nickte der schöne Kopf nochmals. „Nun reite los!“
Cagatay hatte gespürt, dass Aishin die Zügel lockerer ließ und seine kleinen Füße in seine Flanken drückte. Das Pferd trabte an, um nach kurzer Zeit in gestreckten Galopp zu fallen. Die Hufe des Hengstes berührten kaum noch den steinigen Boden. Aishin hatte seinen Körper nahe an den Hals des Tieres gelegt und ermunterte den Rappen zu Sprüngen über Büsche oder kleine Felsformationen. Reiter und Pferd waren zu einer Einheit verschmolzen und flogen über alle Hindernisse hinweg, als wären sie nicht existent.
Der Reiter konnte nicht sehen, dass ihm neben Turgays bewunderndem Blick noch weitere folgten. Ungläubig, was sich ihren Augen darbot.
„Täuschen meine Augen mich",raunte Fatihel, "oder ist das Cagatay, das Pferd Eures Onkels?“ Bahadir stockte der Atem, als der Hengst in halsbrecherischem Tempo auf die kleine Felsgruppe zuflog. Er konnte noch erkennen, dass der Reiter, der sich an das Pferd geschmiegt hatte, die Zügel zur Seite nahm um es nicht beim Sprung zu behindern. Mühelos setzte Cagatay über das Hindernis und galoppierte in unverminderter Geschwindigkeit weiter.
„Eure Schwester, Alaybegi“, deutete einer seiner Männer in Richtung der Frau.
Auch Turgay hatte ihren Bruder und die Männer erkannt. Sie ließ Lerria in leichten Galopp fallen und ritt den Askayador entgegen.
Der Blick ihres Bruders erforderte Antworten und rasch erklärte die Reiterin, um sich zu rechtfertigen: „Aishin war in seiner Box, er hat ihn gestriegelt und das Pferd schien es zu genießen, fast als würde es schlafen. Als ich näher kam und eine Antwort auf eine Frage verlangte, verteidigte das Pferd den Jungen. So gestattete ich, dass er versuchen sollte, aufzusitzen. Cagatay steht seit Wochen untätig im Stall, er braucht Bewegung.“
Bahadir lächelte verständnisvoll. „Du schuldest mir keine Erklärung. Nur verwunderte mich der Anblick eines fremden Reiters auf unseres Onkels Pferd. Aishin ist ein sehr guter Reiter, wie ich sehe. Vielleicht sollten wir ihn doch einmal mitnehmen auf unserem Erkundungsritt“, meinte er zu Fatihel.
„Er ist viel zu jung!“, warf Turgay ein. „Erst fünfzehn - hat er mir gesagt. Aber darüber muss ich mit dir noch sprechen“, flüsterte sie die letzten Worte an Bahadirs Ohr.
Aishin genoss es, den Wind in seinem Gesicht zu spüren. Er liebte es, auf dem Rücken eines Pferdes durch die Ebenen Askayas zu galoppieren. Unendliche Freiheit breitete sich in seinem Herzen aus. Seinem Herz, das sooft wie Feuer brannte, und in seiner Brust so laut schlug, dass er meinte, man müsste es laut und deutlich weithin hören. Als der Junge Cagatay wieder mehr zügelte und mit leichtem Ruck veranlasste, seine Laufrichtung zu ändern, wurde er der nahenden Reiterschar gewahr. Unruhig griff der Bursche nach seiner Kopfbedeckung, da er gemerkt hatte, dass sie sich lockerte und einige widerspenstige Strähnen bereits darunter hervorquollen. Rasch befestigte Aishin seinen seltsamen Kopfschutz und überlegte gleichzeitig, wie er einer unliebsamen Begegnung entgehen konnte. Er musste vor allen im Stall sein, und das, ohne unhöflich zu wirken.
Der junge Reiter lenkte Cagatay näher an die Gruppe um Bahadir heran. Als er in Rufweite war, hörten ihn Turgay und ihr Bruder mit etwas heiserer Stimme: „Ihr habt nun bessere Begleitung, Begima. Ich werde Cagatay vor Euren Pferden in den Stall bringen, damit er nicht unruhig wird.“ >Verzeih, mein Freund, dass ich mich deiner bediene, um hier weg zu kommen
Dieses Kapitel ist als Leseprobe zum Roman gedacht, der bereits in Bearbeitung und kurz vor Fertigstellung ist.
Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Danke an Cathy für das tolle Cover