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Vermisst mich nicht

„Wie geht es dir, Jakob?“, fragte die sanfte Stimme einer Frau. Eine kühle Hand legte sich auf die Stirn des Jungen, die fiebrig heiß glühte.
„Ich hab sie wieder gesehen“, flüsterte der Bub. „Und heute hat sie sogar mit mir gesprochen.“ Jakob versuchte, sich aufzurichten, doch die Hand der Frau hielt ihn zurück.
„Bleib doch bitte liegen, Jakob. Du weißt, dass du dich nicht aufregen sollst.“ Es tat der Frau im Herzen weh, den Buben so hilflos daliegen zu sehen. Ob die Erscheinungen, von denen er seit einigen Tagen erzählte, Fieberträume waren? Wunschvorstellungen?
Mit einem schwachen Seufzen versank Jakobs Kopf wieder in dem gelb-weißen Kissen. Heute schmerzte sein Kopf mehr als gestern und er hatte das Gefühl, als bohrten tausende Nadeln in seine Stirn. Dankbar genoss er die Streicheleinheiten der Besucherin an seinem Bett. Ihre Finger waren so sanft, die über seine Wangen strichen und sie ließen ihn ein klein wenig den Schmerz vergessen.
Sie schüttelte die Decke auf und ein kühlender Hauch huschte auf die dünnen Beinchen darunter. Jakob ließ ein leises „Ah, das tut gut.“ hören. Ein feines Lächeln zog über das Gesicht der Frau. Dieser Junge war doch wirklich für alles Gute dankbar, das man ihm angedeihen ließ.
„Ich“, versprach die Frau, „komme nachher noch einmal und bringe dir etwas Tee und ein Stück Kuchen.“
„Und ich“, lächelte der Junge versonnen, „rede wieder mit ihr.“
Die Tür hatte sich hinter der Frau geschlossen. Zuvor hatte sie ihm noch einmal aufmunternd zugenickt.

„Bist du da?“, raunte Jakob in die Stille seines Zimmers. Die Wände des Raumes schienen sich auf ihn zuzubewegen. Es machte ihm Angst. Nur wenn er die kleine Fee am Fußende seines Bettes erblickte, fand sein wild schlagendes Herz Ruhe.
Durchscheinende zarte Flügel tauchten aus dem Nichts auf. Dunkle Locken umrahmten ein alabasterfarbiges Gesichtchen.
„Sicher doch“, wisperte das Wesen vergnügt. Obwohl, die Stimme klang vergnügt --- dennoch lag ein ernster Ausdruck auf dem Gesicht der zauberhaften Fee.
Fee? Gab es denn so etwas überhaupt?

Jakob war vor acht Tagen zwölf Jahre alt geworden. Viele Geschenke türmten sich auf seinem Bett. Raschelndes Papier, seidige Bänder und unzählige Glückwunschkarten – der Bub strahlte über das ganze Gesicht. Und just in dem Moment, als er erschöpft von der Aufregung des Tages seine Augen schließen wollte um ein wenig zu schlafen, erschien Naurelia zum ersten Mal. Der pochende Schmerz, der sich eben noch bemerkbar machen wollte, verblasste ob der Erscheinung der Fee.
„Ich bin“, stellte sich das zarte Wesen vor, „Naurelia. Deine ganz persönliche Fee. Stets zu Diensten.“ Jakob gelang sogar ein Lachen, als Naurelia sich in einer Verbeugung versuchte und dabei über eine Falte in der Decke auf dem Bett stolperte.
„Eine Fee?“ Ungläubig fragte der Bub nach. Aus Märchenbüchern kannte er solche Gestalten. Aber das waren eben Märchen. Geschichten, die jemand erfunden hatte um Kinder zu begeistern und in ihren Bann zu ziehen.
Nachdem die Verbeugung etwas misslungen war, hatte Naurelia sich auf die Zehenspitze Jakobs gesetzt. Die lugte nämlich vorwitzig aus der Bettdecke hervor.

„Ja, eine Fee. Du glaubst doch an Feen?“, vergewisserte sie sich. Erst als Jakob bejahend genickt hatte, fuhr das Flügelwesen mit seinen Erzählungen fort. Und es erzählte viel und lange ……
Am nächsten Morgen wusste der Bub gar nicht mehr, ob er das alles nur geträumt hatte, oder ob das wunderschöne Mädchen mit den zarten Schmetterlingsflügeln wirklich auf seinem Bett gesessen hatte. Ungeduldig blickte Jakob in seinem Zimmer umher, ob Naurelia denn nicht wieder erscheinen würde.
Und sie erschien – wieder genau in einem Augenblick, da ein blitzartiger Schmerz durch Jakobs Kopf schoss. Der Anblick Naurelias war abermals so tröstlich und ihre Erzählungen so kurzweilig, dass der Bub seine Pein vergessen konnte. Die Fee erzählte von ihrer Heimat. Den vielen Bäumen, den grünen Wiesen und den spielenden Kindern, die vergnügt miteinander auf dem kurzgeschnittenen Rasen herumtobten. Bei dieser Schilderung war Jakob ein bisschen nachdenklich geworden.
„Ich würde auch gerne so herumtoben“, seufzte er unglücklich. Ein kurzer Seitenblick fiel auf die dünnen Kanülen, über die eine gelbliche Flüssigkeit in seine Venen transportiert wurde. Glasige Schleier überzogen Jakobs Pupillen. Tränen tropften auf die Bettdecke.

Naurelia postierte sich gut sichtbar auf dem Knie des Jungen, das er zu dem Zeitpunkt angewinkelt hatte und der wie ein hoher Aussichtspunkt für die kleine Fee wirkte.
„Wirst du, Jakob“, sprach die Fee mit belegter Stimme, „wirst du ganz bestimmt. Eines Tages wirst du mich dorthin begleiten. Deine Schmerzen werden vergehen und du wirst mit den Kindern spielen.“
Jeden Abend erschien Naurelia nun in Jakobs Zimmer. Und seit gestern auch tagsüber, wenn der Bub alleine in dem lichtdurchfluteten Raum war. Wie eben jetzt.

„Was denkst du, Jakob?“ Naurelia hatten ihren Kopf schief gelegt und betrachtete die vielen Schläuche, die alle in dem kleinen Jungenkörper endeten. „Möchtest du mich zu der Blumenwiese begleiten? Mit den Kindern spielen?“
„Möchten schon“, rang sich der Bub eine Antwort ab. Heute wollten die Schmerzen gar kein Ende nehmen. „Aber ich denke, ich bin gerade heute viel zu schwach dazu.“ Wieder rollte eine Träne über seine Wange – trocknete aber auf ihrem Weg auf der fieberheißen Haut.

Naurelia nickte wissend und die Flügel der Fee schienen zu wachsen. „Sieh nur, ich kann dir ein wenig Luft zufächeln.“ Ein liebevolles Lächeln manifestierte sich auf dem Feengesicht. Die gesamte Gestalt der heimlichen Besucherin schien größer zu werden. Bis letztendlich eine wunderschöne Frau neben Jakobs Bett stand. Mit großen Augen starrte der Bub auf die Gestalt, die hell und gütig auf ihn niederblickte.
„Aber“, warf der Bub ein, „meine Mama weiß dann nicht, wo ich bin.“
Die Fee lächelte erneut und reichte Jakob die Hand. „Wir werden deiner Mama eine Nachricht hinterlassen. Sie wird sich freuen, dass du Spielgefährten gefunden hast. Komm!“

Zögernd hob Jakob die Hand. Es fiel ihm heute noch schwerer als die Tage zuvor. Die Kraft schien aus seinem Körper zu weichen. Der Wunsch nach der friedlichen Idylle, von der Naurelia in ihren Erzählungen berichtet hatte, wuchs. Da war eben nur noch diese Sorge, dass seine Mama sich ängstigen könnte.
„Sie wird sich keine Sorgen machen“, las die Fee in den Gedanken des Jungen. Ihre Finger schlossen sich fest und sicher um die Hand Jakobs.
„Du bist gar keine Fee – du bist ein Engel, oder?“ Die Stimme des Jungen wurde zu einem Hauch, einem Flüstern.

Eine Gruppe Kinder kam auf Jakob zu und umringte ihn. Noch unsicher blickte der Bub zu Naurelia, die ihm freundlich zunickte. „Geh nur – du bist jetzt zu Hause.“

„Dein Kuchen, Jakob!“, verkündete Schwester Roswitha. Der Bub sah so zufrieden aus, wie er da schlief in seinem Bett. In seinen Händen hielt er eine weiße Feder und als die Krankenschwester näherkam schrieben sich wie von Geisterhand Worte auf die Bettdecke.

„Vermisst mich nicht. Ich bin bei Freunden in einem großen Garten. Es geht mir gut. In Liebe – Jakob.“

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Texte: Alle Rechte bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 01.10.2011

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