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Julia




Sanft umspielten leichte Wellen Julias Beine. Sie schwenkte ihren Sandeimer im flachen Wasser, um ihn mit Salzwasser zu füllen. Wer ordentliche Sandburgen bauen will, braucht schließlich diesen unerlässlichen Baustoff um wunderschöne Bauwerke zu kreieren.
„Mama, guck“, rief Julia begeistert, „eine Blume für meine Burg“. Das Mädchen mit dem kurzgeschorenen Haar fischte eine anschwimmende Schlingpflanze – irgendwo weit draußen von der Strömung mitgenommen – aus dem Meer.
Die Mutter lächelte glücklich. Welche Empfindungen in der jungen Frau tobten, konnte niemand nachvollziehen. Zumindest niemand der hier sonst faul herum liegenden Badegäste, die nur kritisch den Kopf schüttelten, weil das Kind so laut gerufen hatte, dass es den stundenlangen Schönheitsschlaf eines Urlaubsgastes unterbrochen hatte. „Keine Erziehung . Zu meiner Zeit hätte ein Kind nicht so schreien dürfen.“

„Zu Ihrer Zeit würde das Kind auch nicht leben“, bemühte sich Julias Mutter um eine ruhige Stimme. „Nicht mehr.“
Das anhaltende Kopfschütteln der beleibten Frau auf der ächzenden Campingliege ignorierte Hannah Breuer. Sie wollte nicht diskutieren. Nicht jetzt. Nicht später. Gar nicht. Was wussten die Leute schon? Wen interessierte es, wie es anderen Menschen ging? Nur jeder für sich selbst verantwortlich. Jeder auf sein eigenes Wohl bedacht.

„Ja, mein Schatz“, antwortete Hannah nun endlich ihrer Tochter, „eine wunderschöne Blume. Wir werden einen besonderen Platz für sie finden auf deiner Burg.“
Julia hüpfte ungelenk auf ihren sehr dünnen Beinen zurück zum Badehandtuch. Sie strahlte über das ganze Gesicht. So sehr hatte sie sich gewünscht, einmal ans Meer zu fahren. Die Wellen an ihren Füßen zu spüren, das Salz auf ihrer Haut zu fühlen. In Büchern hatte sie davon gelesen. Ihre Mama hatte ihr Fotos im Internet gezeigt.
Vor einigen Wochen hatte sich eine entscheidende Änderung ergeben, was Julia betraf. Endlich grünes Licht! Einem Urlaub an den Küsten des Mittelmeers stand nichts entgegen. Das Mädchen wohnte mit seiner Mutter in einem Appartement. So konnten die beiden nach Herzenslust ihren Tagesablauf selbst bestimmen. Wann sie aufstehen und frühstücken wollten. Oder wann sie ein Joghurt aus dem Kühlschrank lockte. Und wenn sie mitten in der Nacht Lust auf einen Tee auf der Terrasse hatten und dabei die Sterne am unendlichen Himmelszelt bewunderten, war es genau so recht.

Das Kind schippte Sand in den Eimer, bis sich eine formbare Masse aus dem Sand-Wasser-Gemisch gebildet hatte. Mit beiden Händen formte Julia nun Kugeln und setzte sie vorsichtig aufeinander. Eine nach der anderen. Diesen Vorgang hatte sie schon mehrmals wiederholt und die Burg „Leuchtental“, wie Julia sie genannt hatte, wuchs stolz aus dem sandigen Boden.
Hannah konnte gar nicht oft genug auf den Auslöser ihres Fotoapparates drücken. Mindestens ebenso oft musste sie Tränen der Rührung zurückhalten. Wie sehr hatte sie diesen Augenblick herbeigesehnt. Nicht mehr daran geglaubt, dass er je kommen würde. Mit Julias Kommentaren, Wörtern oder Freudenrufen, füllte die Mutter Zeile um Zeile des Notizblocks. Abends, wenn die Tochter schon schlief, übertrug Hannah die Fotos auf ihren Laptop und tippte die mitgeschriebenen Notizen ein. Alles fein säuberlich in das angelegte Fotobuch. Eine herausragende Erfindung dieser Tage, wie die Mutter fand. Diese vier Wochen, die sie hier gemeinsam verbringen wollten, würden buchfüllend sein.

Eine Stimme weckte Hannah aus ihren Überlegungen.
„Darf ich mitbauen? Schau mal, ich hab ganz tolle Muscheln , die könnten wir auf den Burgwall setzen.“ Ein Junge mit schlackernder Badeshort, der ungefähr so alt wie Julia zu sein schien, hielt dem Mädchen die offenen Hände, gefüllt mit Muscheln, hin.
Kinder kennen keinen Scheu, keine Antipathie, keine Berührungsängste. Der Bub hatte nur kurz auf das ungewöhnlich kurze Haar und die wimpernlosen Augen geschaut.
Als Julia ihn aber offen und freundlich anblickte und meinte: „Ja, komm spiel mit mir.“, hockte er sich auch schon an ihrer Seite auf den Sand und platzierte geschickt die Muscheln auf der Erhöhung, die den schützenden Wall der Burg darstellte.
„Magst auch einen Wehrgraben bauen?“, überlegte Peter und kratzte sich, wie ein Erwachsener, gedankenverloren am Kinn. „Wenn wir hier einen Graben ziehen, können wir das bis zum Meer verlängern.“ Julia war Feuer und Flamme für diesen Vorschlag.
„Mama, Mama“, jubelte sie – natürlich wieder zu laut für manche umliegende Badegäste - , „wir bauen einen Bach zum Meer.“
„Ist gut, meine Kleine. Es wird sicher ganz großartig, was ihr zwei da macht.“ Heute war wohl so etwas wie ihr Glückstag, überlegte Hannah.
Erst Julia, die sich so gut hier akklimatisiert hatte, so glücklich war und jetzt dieser Junge, der sich so selbstverständlich zu ihrer Tochter gesetzt hatte. Als ob alles ganz normal und Julia ein ganz gewöhnliches Mädchen von sieben Jahren wäre.

Die Kinder waren in ihrem Element. Matschverschmierte Hände, lachende Gesichter und auf Julias Kopf mittlerweile ein buntes Tuch, das die empfindliche Haut vor der Sonne schützte.
„Wollen wir schwimmen gehen?“, unterbrach Peter ganz plötzlich das Spiel, „mir ist schon so heiß.“ Er wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn.
„Ich kann nicht schwimmen“, antwortete Julia kleinlaut, „ich hatte noch keine Zeit, es zu lernen.“
Peter sah sie teils überrascht, teils fragend an.
„Dort, wo ich war“, erklärte das Mädchen, „ gab es kein Wasser zum Schwimmen, nur zum Waschen.“
Hannah hielt die Luft an. Wie würde Peter reagieren?
„Ist kein Problem, soll ich es dir lernen?“, bot der Junge an.
„Aber du bist doch selbst noch ein Kind“, staunte Julia, „wie willst du mir das Schwimmen beibringen?“
Peter hielt Julia die Hand hin. „Komm einfach mit.“
Das Mädchen griff danach und lief, wieder mit etwas unkoordinierten Beinbewegungen zum Meer. Kurz davon wandte sie sich um. Aber sie hätte es sich denken können. Ihre Mama war natürlich schon da. Sie würde sie nicht im Stich lassen. Sie hatte es bisher nicht getan und würde es nie tun. Auf ihre Mama konnte Julia sich verlassen. Obwohl sie genau wusste, dass es nicht immer leicht für sie gewesen war. Es gab keinen Papa, so wie bei anderen Kindern. Der Papa war im Himmel. Wahrscheinlich war er jetzt auch irgendwo in der Nähe und passte auf, damit ihr, Julia, kein Leid geschah.

Die Schwimmflügel sahen fast witzig auf den dünnen Ärmchen aus und Peter schüttelte bedenklich den Kopf.
„Nein, das geht so nicht“, warf er altersklug ein, „da rutscht Julia heraus. Ich komme gleich wieder. Wartet hier.“ Sprach’s und lief in Richtung der Pinien, deren Zweige bis tief an den Boden reichten und dahinter genügend Schatten boten.
„Denkst du, ich kann das wirklich lernen?“ Verunsichert blickte Julia zu Hannah. Mit den Füßen im Wasser zu stehen, oder an Mamas Hand den Körper kurz ins Nass zu tauchen, war eine Sache. Aber auf dem Wasser schwimmen, eine ganz andere. Ehe Hannah antworten konnte, hatte Julia noch eine Frage: „Glaubst du, dass Peter wiederkommt? Oder ist er jetzt böse auf mich?“
Hannah schluckte. Sie wusste auf beide Fragen keine richtigen Antworten. Keine Ahnung, ob Julia schon so weit war, ihren Körper mit Schwimmbewegungen über Wasser zu halten. Ob Peter zuletzt doch gespürt hatte, dass mit Julia etwas anders war, als sonst bei Mädchen in diesem Alter? Hatte er Angst bekommen, ekelte er sich gar? Die Mutter wischte diesen letzten Gedanken wieder weg. Nein, ekeln musste man sich vor Julia nicht. Schließlich war sie nicht aussätzig. Dass sie schmaler, blasser und vielleicht nicht so hübsch war mit ihren kurzgeschorenen Haaren, mochte ein Grund sein, warum andere Menschen sie mieden, oder zumindest mitleidig belächelten.
Mutter und Tochter wurden ihrer Fragen und ausstehenden Antworten enthoben. Peter schwenkte etwas Weißes in seinen Händen. Er legte den Gürtel aus weißen Schwimmhilfen um Julias Mitte. „Kannst du das bitte zusammenbinden“, bat er Hannah um Hilfe, „es soll nämlich halten. Aber ich kann keine gescheite Schleife binden, sagt mein Vater immer.“
Lächelnd übernahm die Mutter die langen Schnüre und knotete sie so, dass keine Gefahr bestand, dass sie sich plötzlich lösen würden. Hannahs Mann hatte auch seine Probleme mit dem Binden von Schleifen gehabt. Welch ein Zufall.

„Wir bleiben erst da, wo das Wasser nicht tiefer ist, als dass du noch stehen kannst. Hast du Angst?“, fragte Peter vorsichtig in Julias Richtung.
„Nein.“ Julia schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Angst. Die habe ich mir schon abgewöhnt.“
Hannah war stolz auf ihre Tochter. Diese Kämpfernatur hatte ihr geholfen, jetzt hier sein zu können. Julia hatte nie aufgegeben, tapfer alles ertragen. Das Hier und Jetzt war die Belohnung.
Peter hechtete mit einem Sprung ins Wasser und schwamm zügig einige Runden. Bewundernd folgten ihm Julias Blicke. „Wow, du kannst aber gut schwimmen.“
„Mein Papa sagt immer, ich schwimme wie ein Fisch“, lachte der Bub, „wer weiß, vielleicht wachsen mir eines Tages Flossen und ich bin ein Delphin.“
Julia wurde von einem Moment auf den anderen sehr ernst. „Wenn du ganz fest an etwas glaubst, kann es eintreten. Weißt du das nicht?“
„Doch. Ich weiß es, ebenso wie du.“ Das Wasser perlte von seiner Haut und seine Augen glänzten stärker als zuvor. Das Haar klebte an seinem Kopf, dass es beinahe so aussah, wie bei Julia. Auch sein Blick war ernst geworden. „Komm jetzt!“

Kalte Schauer liefen über Hannahs Arme. Das Meer war doch lau und überhaupt nicht kalt. Sie konnte es sich nicht erklären. Es war nur so – so eigenartig gewesen, wie Peter gemeint hatte, dass er ebenso wüsste, dass Wünsche, die man mit einer Intensität lebt, wie zum Beispiel Julia es getan hatte, Wahrheit werden konnten. Die Mutter hielt die Digitalkamera hoch, drückte den Auslöser. Einmal, zweimal ……
Was war das für ein Schatten bei Peters Beinen? Erschrocken zuckte Hannah zurück. Sollte ein Hai …? Nein, hier war das Wasser viel zu seicht für einen Raubfisch dieser Größe. Sie wischte sich über die Augen.
Julia hatte sich vertrauensvoll Peters Führung überlassen. Er war ständig an ihrer Seite und gab seine Anleitungen ganz leise. So, als sollten sie nur für das Mädchen bestimmt sein. Es war gleichzeitig berührend, wie sensibel der Junge auf das Mädchen einging, andererseits auch fast unheimlich, als Hannah nach nur wenigen Minuten die exakten Schwimmbewegungen ihrer Tochter verfolgte.
„Wir geben diese Schlauchdinger an den Armen jetzt weg“, bestimmte Peter zielstrebig, „die stören Julia nur beim Schwimmen.“ Ehe Hannah sich versah, hielt sie die Schwimmflügel in der linken Hand.
„Ich kann schwimmen“, rief – einmal mehr zu laut – Julia begeistert, „schau, Mama, ich kann schwimmen.“
Hannah konnte es nicht glauben. Zwar war Julia noch durch diesen Bauchgurt gesichert, aber es schien, als bräuchte sie den überhaupt nicht. Die Mutter sah zu Peter. Er tauchte soeben kurz unter Wasser um gleich wieder mit einem Sprung aufzutauchen und sich gleich einem spielenden Delfin im Meer zu tummeln. Bei dem letzten Sprung – Hannah hatte die Luft angehalten – Peters Beine waren verschwunden. Schwarz glänzend an deren Stelle die starken Flossen eines Meeressäugers. Hannah musste sich setzen. Gerade konnte sie noch verhindern, dass sie die Digitalkamera ins Wasser sinken ließ.
„Ich nehme Julia ein bisschen weiter mit hinaus“, flüsterte Peters Stimme an ihr Ohr, „es wird ihr nichts geschehen. Sie wird ganz gesund. Ich verspreche es.“
„Wer“, schluckte Hannah erneut, „wer bist du?“
„Nur jemand, der es gut mit euch meint“, lächelte der Junge. Er hatte seinen Oberkörper an ihrer Seite aufgerichtet. Den Teil des Körpers, wo die Beine mit dem Fischleib verschmolzen waren, hielt er unter Wasser. „Die anderen Leute würden es nicht verstehen.“ Peter hatte Hannahs Blick richtig gedeutet. „Sie verstehen selten, wenn solche Dinge geschehen. Dabei könnte jeder, wenn er sich drauf einließe, sein Märchen leben.“
Das Lachen ihrer Tochter – viele Meter weit weg vom Strand – drang an Hannahs Ohr. In ihrer linken Hand noch immer die Schwimmflügel und dieses weiße Etwas, das jetzt aussah, wie eine einfache Plastiktüte. Nur in ihrer Vorstellung hatte es vorhin wie ein Gurt ausgesehen. Der Blick der Mutter irrte nach hinten. Dorthin, wohin Peter erst verschwunden war. Im Schatten der Pinien musste der Vater des Jungen sein. Er würde vielleicht Antworten wissen.
Hannah schob die tiefhängenden Äste zur Seite. Da war niemand. Auch keine Abdrücke im Sand – nicht einmal die von dem Jungen, der vor kurzer Zeit hier gelaufen war.
Hannah spähte zum Meer hinaus.

„Seht nur“, rief einer Strandbesucher, „da draußen ist ein Delfin.“ Mehrere Leute standen auf, hielten sich die Hände zum Schutz gegen die blendende Sonne über die Augen, um das Schauspiel zu beobachten. „Und da ist doch dieses kleine Mädchen, das vorhin hier gespielt hat. Sie hält sich an seiner Rückenflosse fest.“
Tränen liefen über Hannahs Gesicht. Peter, ihr verstorbener Mann, Julias Vater, war ein richtiger Delfin-Narr gewesen. Überall im Haus hingen Bilder von diesen liebenswerten Meeresbewohnern. „Das sind richtige Lebensretter“, hatte er ihr immer wieder erklärt. „Wenn irgendjemand einmal Julia helfen wird können, wird es ein Delfin sein.“ Hannah hatte damals gelacht.
Kurze Zeit später war bei Julia ein bösartiger Tumor entdeckt worden und Peters Krankheit bereits fortgeschritten.
Das Mädchen war vier Jahre alt gewesen, als der Vater seinen Kampf gegen den Krebs verlor. Julia lag zu dieser Zeit geschwächt von unzähligen Therapien und Operationen im Krankenhaus.
Hannah war alleine gewesen. Alleine mit ihren Sorgen und ihrem Schmerz. Den geschnitzten Delfin hatte sie Peter auf seine letzte Reise mitgegeben. Hannahs Lachen war mit ihrem Mann begraben worden.
Heute konnte sie wieder ihrem Herzen Luft machen – sie hatte verstanden – und das Lachen war zurückgekehrt.

Die Flut spülte den Wassergraben zur Sandburg weg. „Sieh nur, Mama, die Muscheln sind noch immer da. Ich darf sie mit nach Hause nehmen, hat Peter gesagt. Er braucht sie jetzt nicht mehr.“


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Tag der Veröffentlichung: 25.07.2011

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