Wenn du an der Sanduhr drehst …
Vibrieren schüttelte meinen Körper. Die Schwärze vor den Augen vernebelte meinen Blick. Ein Kreislaufzusammenbruch? Zumindest sprachen die Symptome dafür. Ich stützte meine Arme haltsuchend auf die Schreibtischplatte. Meine Finger umklammerten noch immer die Sanduhr, als sich mein Umfeld wieder zu lichten begann.
Nur, die Umgebung war eine andere. Das Rieseln des feinkörnigen weißen Sandes in seinem Glas war verebbt.
Auf glänzenden Metallfronten spiegelten sich geschäftig durch die Straße laufenden Menschen … Halt, das waren ja keine Menschen. Oder doch?
„Akriat, milanso!“ Erschrocken wandte ich mich auf die Seite, von der die Stimme kam. Eine fremde Sprache, dennoch verstand ich den Sinn der Worte. Die, die … ähm, wie sollte ich die Erscheinung definieren? Jedenfalls hatte mich die unzweifelhaft weibliche Gestalt mit einem „Hallo, willkommen!“ begrüßt.
„Hmm, ja, danke“, stotterte ich unbeholfen heraus. Das sagenhafte Lächeln Torandas werde ich wohl nie vergessen.
„Komm!“ Sie nahm mich einfach an der Hand und zog mich mit sich. Die Passanten, denen wir begegneten, grüßten mit einem Kopfnicken oder einem ebenfalls kurzen „Akriat!“
„Sieh dich um, während wir zur Anmeldung laufen“, forderte meine Begleiterin mich auf, „vielleicht hast du in der nächsten Zeit nicht so viel Gelegenheit dazu.“
„Wie meinst du das?“, erkundigte ich mich neugierig. „Und wie heißt du überhaupt?“
Das Kichern war fast kindlich, als sie antwortete: „Toranda. Ich bin Toranda.“
„Freut mich, dich kennenzulernen, Toranda“, erwiderte ich höflich. „Mein Name ist Johann.“
Ihr hautenges Catsuite wechselte die Farbe. Vorhin hatte es doch violett geschillert. Jetzt war es tiefblau, wie die geheimnisvolle Unterwasserwelt des Ozeans.
Toranda neigte ihren Kopf. „Johann?“ Sie vermochte meinen Namen kaum auszusprechen, so ungeläufig war ihr die Lautfolge unserer, also meiner, Sprache.
„Dein Name ist Movuhoj. Man wird es dir erklären.“ Täuschte ich mich, oder war ihr Blick ehrfürchtig gewesen, als sie „meinen“ Namen ausgesprochen hatte?
Wir wechselten in den folgenden Minuten kein Wort und langsam begann ich zu realisieren, dass ich hier in einer anderen Welt gelandet war. Einer fremden Welt, die mit der meinen so viel gemeinsam hatte wie ein Stein mit einem Schwamm.
Das Spiegelbild meiner Person faszinierte mich. Mehr als einmal sah ich zur Seite um mein verändertes Aussehen in den Spiegelwänden der Häuserfronten zu betrachten. Der Vergleich der vorhin erwähnten Gemeinsamkeit traf auch hier vollends zu. Von meinem schmächtigen Körper, meiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit durch ein verkrüppeltes Bein und dem sonstigen Aussehen war keine Spur. Das Grün meines, hmm…. wie sollte ich diese Bekleidung bezeichnen?, „Anzuges“ schimmerte wie poliertes Email.
>Grozama/Tungaw - Neuzugänge/Verwaltung< prangte an der glänzenden Tür.
„Setz dich“, forderte Toranda mich auf, „es wird ein Weilchen dauern, bis man dich hineinbittet.“
Ich folgte ihrer Aufforderung und nahm auf der bankähnlichen Sitzgelegenheit Platz. Meine Begleiterin tippte eine Zahlenkombination in die neben der Metallschiebewand eingelassene Tastatur. Der Code wurde durch das gelbblinkende Signal bestätigt.
Mein Verlangen, einen bewundernden Pfiff loszulassen, verkniff ich mir in letzter Minute. Das, nunmehr wieder violett schimmernde, Kleidungsstück schien mit ihrem ebenmäßigen Körper zu verschmelzen. War es vielleicht gar keine Bekleidung, sondern ihre Haut? Der Teint ihres makellosen Gesichts glich dem der südlichen Länder meiner Herkunft. Sanftes goldbraun, in dem ein Paar atemberaubend schöne Augen mit blitzenden grünen Pupillen, ein wohlgeformtes Näschen und ein schön geschwungenes Lippenpaar eingegossen waren. Das pechschwarzes Haar war zu einer kompliziert erscheinenden Hochsteckfrisur geschlungen. Die in den silbernen Schuhen steckenden Füße gehörten zu nie enden wollenden Beinen. Am Rücken waren Schwingen mit einer sicherlich respektablen Spannweite gefaltet.
„Wenn du mit deinem Ganzkörperscan fertig bist“, schmunzelte Toranda, der mein offensichtliches Anstarren aufgefallen war, „können wir hineingehen. Man hat dich bereits aufgerufen.“
„Man hat mich aufgerufen?“, staunte ich. „Das ist mir nicht aufgefallen. Jedenfalls hörte ich niemanden ‚Johann Prekorcny‘ sagen.“
Wieder dieses Lächeln, als sie antwortete: „Hast du schon vergessen? Dein Name ist M-o-v-u-h-o-j. Es ist an der Zeit, dass du ihn dir merkst.“
Wie verbirgt man den Zustand, der mich beim Eintreten in den fensterlosen Büroraum vereinnahmte? Gelesen hatte ich davon. In irgendwelchen zukunftsangehauchten Filmen hatte ich solche Wesen auch schon gesehen. Aber hautnah gegenüberstehen? Das war etwas ganz anderes. Ich nehme an, mein Mund blieb – eine höfliche Begrüßungsformel verschluckend – offen stehen.
„Geh weiter“, zischte Torandas Stimme mit unüberhörbarer Ungeduld an mein Ohr.
„Nehmt Platz, Gospir Movuhoj!“ Die singende Stimme des Verwaltungsangestellten schmerzte in meinen Ohren. Der Klang war unnatürlich hoch und die Ultraschallfrequenz für meine akustischen Resonatoren ein Albtraum. Unwillkürlich legte ich meine Hände schützend über die Ohrmuscheln.
„Verzeiht Gospir“, bat die Gestalt sofort um Entschuldigung. „Ich vergaß, dass Eure Lärmtoleranz noch lernbedürftig ist.“
Er oder Es, wie auch immer man diesen halb menschlichen und halb maschinellen Körper in ein bestimmtes Geschlecht einordnen wollte, wies erneut auf den gläsernen Hocker.
„Danke“, erwiderte ich nun meinerseits höflich. Misstrauisch nahm ich auf dem zerbrechlich wirkenden Teil Platz.
Toranda lächelte wieder einmal wissend: „Du kannst dich ruhig mit deinem gesamten Gewicht auf den Stuhl setzen. Klarsax ist ein unzerbrechliches Material.“
„Gospir Movuhoj, ich begrüße Euch im Namen N-A-D-R-A-X herzlich in unserer Welt“, zitierte das geschlechtslose Wesen aus der Verwaltung seinen Text. „Mein Name ist Lengar Bendol und ich werde mich bemühen, Euch alles Nötige in Kürze zu erklären.“
„Lengar?“, überlegte ich für mich, „Bendol?“ Nie gehört und von „Nadrax“ schon gar nicht …. Wo bitte war ich hier gelandet? Vorsichtig strich ich mit der Hand über den grünen Stoff meiner neuen Bekleidung. Kühle Glätte. Eigenartig, dass meine Rechte immer noch die Sanduhr umklammerte. Die Glaskolben ließen sich nicht mehr drehen, wie ich schon vor einiger Zeit bemerkt hatte.
„Bitte!“ Lengar Bendol streckte seine Hand aus.
Ahnungslos, was von mir erwartet wurde, streckte auch ich meine Hand nach vorne. Ich dachte an eine Begrüßungszeremonie, wie bei uns üblich – das Reichen der Hände.
Der Cyborg schüttelte missbilligend den Kopf. „Das Glas bitte!“
„Was will er?“, raunte ich zu Toranda.
„Dein Lebensglas!“, flüsterte mein schönes Begrüßungskommando.
„Lebensglas?“ Das war doch nichts anderes als eine gewöhnliche Sanduhr aus dem Billigshop um die Ecke. Von mir aus. Sollte er das Teil doch haben. Wenn ich wieder zurückwäre, könnte ich mir eine neue kaufen. Aber Moment – wie sollte ich hier überhaupt wieder wegkommen? Ich hatte ja nicht mal den Schimmer einer Ahnung, wo genau ich hier gelandet war. Und wie? Und warum?
„Solange Ihr das Glas in Händen habt, könnt Ihr nicht vollständig begreifen“, erklärte Lengar mit einem Seufzen. Konnte dieses Individuum Gedanken lesen?
Auf dem Schreibtisch, der ebenfalls aus diesem Klarsax hergestellt war, leuchteten zwei gelbe Ringe auf. Die metallenen Finger dieses Lengar Irgendwie tippten zweimal auf die Schaltkreise. Die silbrige Wand zu meiner Linken schob sich lautlos nach unten und ein meterhohes Regal wurde sichtbar.
Toranda verneigte sich vor dem Cyborg und schließlich auch vor mir.
„Bitte, gib mir das Glas – ich werde es für dich in die Symbirge stellen. Deines bekommt einen besonderen Platz“, wisperte Toranda geheimnisvoll. „Dort, bei den grünen ...“
„Wozu ist das? Kann mir nun endlich jemand erklären …“ Meine Stimme wurde ungeduldig und hektisch.
„Gleich“, beruhigte mich die Schöne. Sie nahm mir die Sanduhr aus der Hand. Willenlos hatte ich die Umklammerung gelöst. Ein Pudding hätte im Moment wohl mehr Gegenwehr gezeigt als meine Finger.
Mein Relikt aus dem kleinen Einkaufsladen fand seinen Platz in einem leeren Feld zwischen zwei weiteren durchscheinenden „Lebensgläsern“. Ich hörte ein saugendes Geräusch. Meine Sanduhr befand sich nun hinter einer unsichtbaren Schranke.
Zentnerschwere Last fiel von mir ab. Mein Blick begann sich zu schärfen. Ich erkannte das pulsierende Herz zwischen den Leitungsstäben des Maschinenkörpers vis a vis.
Lengar Bendol lächelte. Nun, er versuchte es.
„Ihr wurdet ausgewählt“, begann er seine Aufklärungsstunde. Seine Stimme klang nun anders, fremdartig blechern.
„Jedes Glas gehört zu einem der Auserwählten. Die Farbe ist ein Hinweis darauf, welcher Kategorie jemand zugeordnet ist. Eure Aufgabe wird sein …..“
Meine Gehirnzellen begannen zu arbeiten. Wie ein Speichermedium registrierte ich die Informationen, die mein Gegenüber mir herunterbetete.
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„Tooooooooooraaaaaaaaaaaaaaaaaandddaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa“, hallte das Echo meines Hilferufs von den gigantischen Felsformationen wider.
„Ich sterbe“, wisperte ich dann kläglich und presste meine Lider aufeinander. Jede Sekunde brachte mich dem unvermeidbaren Aufprall auf der Steinwüste näher. Wie ein Geschoß raste ich an den grauen Wänden vorbei. Der irre Luftdruck zerrte die Haut meines Gesichtes bis zu den Ohren. Selbst mein Schatten hielt mit der Fallgeschwindigkeit nicht Schritt und verlor sich irgendwo in den Felsnischen.
„Du musst deine Flügel benutzen“, kämpfte Torandas Stimme gegen den Wind und meine Unkenntnis.
„Wie?“, schrie ich verzweifelt. Der Druck in meinen Ohren betäubte meine Sinne.
Ein rasender Schmerz zuckte über mein Rückgrat.
Toranda zerrte an meinen Flügeln. „Rasch. Du musst dich beeilen.“
„Vieles wird neu für Euch sein. Euer eigener Körper wird ein anderer sein, als Ihr ihn kennt. Lernt rasch, sonst ist Eure Zeit nur kurz“, hämmerten ein Teil der Worte des Cyborgs in meinem Kopf.
Der Aufwind, der unter meine ausgebreiteten Schwingen fuhr, riss mich in die Höhe. Nein, der Mensch war nicht zum Fliegen geboren. Dessen war ich mir sicher. Der Inhalt meines Magens stieg in mir hoch und ergoss sich über meine grünschillernde Montur.
Doch war ich überhaupt noch ein Mensch? Das Gefieder in meinem Rücken ließ mich zweifeln.
Anders als Torandas violette Federschwingen klirrten meine Flughilfen metallisch. Tausende und Abertausende filigran verarbeiteter Federn vibrierten im Luftzug.
Ein Tag verging schneller als der andere. Lernen, lernen und nochmals lernen. Als wäre ich ein Kleinkind, das von einem Tag zum anderen erwachsen werden musste. Fliegen war noch das geringste aller „Übel“ gewesen, das ich erlernen sollte. Während der Einschulungsphase verpasste Toranda mir einen Schnelldurchgang in der Sprache der Nadrax. Schmerzhaft war die Erfahrung, wenn ich „andir“ mit „rindal“ verwechselte und mir den Gaumen mit der suppenähnlichen Speise verbrühte.
Trotzig wollte ich mich der Fähigkeit widersetzen, die Sprungkraft meiner Beine zu testen.
„Was bringt es mir, wenn ich zehn Meter hoch springen kann. Dann fliege ich eben“, erklärte ich störrisch.
Ich gestehe, Toranda hatte es nicht leicht mit mir. In all dieser Zeit vergaß ich fast, wer ich wirklich war. Das heißt, einmal gewesen war. Undeutlich verschwand meine Vergangenheit. So, als würde jemand das Fernsehprogramm umschalten, wenn ein falscher Sender eingestellt war.
„Du darfst nicht so viel denken“, mahnte meine Lehrmeisterin, wenn sie merkte, dass meine Gedanken abschweiften und ich sinnierte, wie es gewesen war, als ich an meinem Schreibtisch gesessen hatte.
„Sind diese Leute da“, wunderte ich mich, „alle so hier her gekommen wie ich?“
„Manche, nicht alle.“ Das Catsuite änderte wieder einmal seine Farbe, wie immer, wenn Emotionsschwankungen durch den schönen Frauenleib geisterten. Zurückhaltend, wenn nicht sogar sehr einsilbig waren Torandas Antworten auf solche Fragen nach Herkunft und Sinn dessen, was ich hier lernte.
Dunkelheit, die das Ende eines Tages signalisierte, gab es hier nicht. Wenn mein Körper nach Ruhe verlangte, legte ich mich auf eine der Pritschen in dem allgemeinen Ruheraum. Eine Kuppel aus Klorsax schloss sich zischend über mir und automatisch verdunkelte sich das Material.
„Wie Sterne“, wisperte ich zu mir, als wie immer die kleinen Lichtpunkte auf der dunklen Scheibe aufflammten. Imaginäre Himmelskörper auf einem imaginären Himmel. Die Kuppel über mir war nur eine verkleinerte Version des riesigen Schildes, das sich über Nadrax spannte. In dieser künstlichen Atmosphäre herrschte ewiger Tag, ohne dass ein Sonnenstrahl je mein Gesicht berührte.
Die Dunkelheit wirkte entspannend und lud zum Träumen ein. Doch - Träume waren hier keine Träume. Gehirnwäsche wäre der bessere Ausdruck.
Das verzerrte Gesicht des Cyborgs aus der Verwaltung tauchte schemenhaft vor meinem inneren Auge auf.
„…Eure Aufgabe wird sein, einst der Herrscherin von NADRAX zu dienen. Ihr Leben werdet Ihr beschützen, Gospir Movuhoj. Ihr werdet Teil einer neuen Weltenordnung sein. Miterleben, wie das Volk von Nadrax über armselige Spezies herrschen wird. Euch wurde die Gabe zuteil, über unermessliche Kräfte zu verfügen. Dennoch ist Euer Leben verwirkt, wenn Ihr den Wünschen unserer Heiligkeit nicht entsprecht.“
Diese Aussagen erklärten vielleicht, warum ich nach einer Schlafpause meist schweißgebadet erwachte.
Während meiner Ruhephase blieb der Pandal leer. Niemand sonst suchte in dieser Zeit den Ort der Entspannung und Regeneration auf. Anfangs war es mir nicht aufgefallen. Ich war viel zu müde um darüber nachzudenken.
Es nervte langsam, dass die Leute auf der Straße an mir vorbeiliefen, als wäre ich nicht vorhanden. Zwar neigten sie nach wie vor ehrerbietig ihre Köpfe, aber niemand wagte den Versuch, das Wort an mich zu richten.
„Toranda“, wagte ich den Vorstoß, „wann kann ich mit Leuten zusammentreffen, die wie ich sozusagen ausgewählt worden sind?“
„Hab noch Geduld!“ war meist das Einzige, das sie darauf antwortete.
Wie lange hatte man mich von anderen ferngehalten? Waren es Tage? Wochen? Oder gar Jahre? Ich wusste es nicht mehr. Weder eine Uhr noch ein Kalender ermöglichten eine Zeitrechnung, wie ich sie kannte.
Ja, ich erregte Aufsehen, wenn ich an Torandas Seite durch die Straßen wandelte. Das lag nicht alleine an meiner Kleidung. Die meisten überragte ich mittlerweile um mehrere Haupteslängen.
„Bin ich gewachsen, seit ich hier bin?“, wunderte ich mich. Mein volles langes Haar, das über die Schultern wallte wippte beim Schütteln des Kopfes.
Toranda nickte zustimmend. „Du wächst ständig. Mit jeder erfüllten Prüfung, jedem Gelernten und jedem Grad des Vergessens wirst du stärker und mächtiger.“ Ein Hauch von Stolz war aus ihrer Stimme zu hören. Immerhin hatte sie einen Löwenanteil an meinen Erfolgen.
„Moment!“, unterbrach ich an diesem schicksalshaften Tag ihre Reden. „Wie meinst du das mit dem Vergessen?“ Hellhörig geworden hielt ich damals im Schritt inne und riss die Frau ungewollt grob herum.
Grüne Pupillen wechselten zu rubinrot. Torandas Schwingen breiteten sich aus und aus ihrem Catsuite wuchsen feine Nadeln. In diesem Moment hatte ich eine Verbündete verloren.
„Nie wieder“, pfauchte sie, „nie wieder wirst du mich so grob behandeln. Lengar Bendol hatte Recht. Du bist nicht so leicht zu beeinflussen, wie viele vor dir.“ Torandas Stimme knirschte wie aneinander reibende Styroporplatten. Ein furchtbares Geräusch, das mein Trommelfell zum Schwingen brachte.
Seither konnte man das Verhältnis zwischen der Nadrax und mir als äußert gespannt bezeichnen.
Möglicherweise war dieses Intermezzo auch der Grund, warum sie mir nicht zur Hilfe kam, als eine Horde Lynodryden über mich herfiel.
In der Zeit, wenn ich mein metallisches Gefieder reinigte, war ich nahezu hilflos. Die Schwingen weit gespreizt, kniete ich unbeholfen am Boden. Normalerweise wachte Toranda während dieser Zeit über mich. Diesmal sah sie nur gelangweilt ins Nichts, als die halbwüchsigen Randalierer herein-stürmten. Allesamt Cyborgs, jedoch schon mehr Maschine als Mensch.
„WIR wollen Kahajang beschützen“, brüllte der Lynodryd mit dem beißenden Mundgeruch. „Nicht ein hergelaufener Erdianer, der glaubt besser als wir zu sein.“
„Hey, nur mit der Ruhe. Ich habe mich nicht darum“, versuchte ich beschwichtigend zu erklären, „bemüht. Man hat mir diesen Job …“
Weiter war ich nicht gekommen, denn in diesem Moment spürte ich die Schneiden ihrer Meso-Klingen in meinen Beinen. Die Rippenstruktur der Waffe zerfetzte das Fleisch. Blut spritzte aus meinen Oberschenkeln. Mühsam konzentrierte ich mich darauf, meine Schwingen zu Waffen werden zu lassen. Die metallischen Federn sangen in der Luft, als ich die Flügel ausbreitete. Die Burschen wussten genau, dass sie gegen diesen Abwehrmechanismus keine Chance hatten. Hastig stachen sie weiter auf alles ein, was in ihren Augen zu menschlich war. Meine Arme, die ich schützend um meinen Brustkorb gelegt hatte, waren übersät mit Messerstichen. Erst als meine Flügel zum ersten Mal durch die Halle peitschten, verebbte der Angriff der Lynodryden. Schreiend flüchteten sie vor den spitzen Federn, die sogar die Legierung ihres Metallskeletts durchstießen.
Nur sehr langsam war Toranda von ihrem „Hochsitz“ herabgestiegen. Das war auch das letzte, das ich erkennen konnte, bevor mich Dunkelheit umgab.
Ein tickendes Geräusch neben meinem linken Ohr. Regelmäßiges Tropfen einer Flüssigkeit in eine Infusionsflasche ober mir. Bewegungsunfähig lag ich hier und starrte an die weiße Decke.
„Patient Movuhoj ist aufgewacht“, meldete eine Computerstimme.
Meine Augen versuchten mehr zu erkennen. Leicht verschwommen nahm ich die Apparate, die rund um mein Bett installiert waren, wahr. Eine Gestalt trat an mich heran.
„Könnt Ihr mich hören?“
„Laut und deutlich“, krächzte ich. „Wo bin ich?“ Das war wohl die obligate Frage, die jeder Patient stellte, wenn er aus einer Ohnmacht erwachte.
„In der technischen Abteilung der Krankenversorgung“, antwortete jemand mit vertrauenswürdiger Stimme.
„Technischen Abteilung?“ Mein Blick lichtete sich und die verschwommene Gestalt bekam ein Gesicht. Diesmal keine metallische Cyborgfratze, sondern ein menschliches Antlitz, das von leuchtend roten Haaren eingerahmt wurde.
Der Doc musste das Aufleuchten, das durch meine Augen gegangen war, bemerkt haben. Ein schelmisches Lächeln erschien auf seinen Zügen.
„So sieht also der Retter von Nadrax aus. Gar nicht sooooo übermenschlich, wie sie gesagt haben.“
Vorsichtig artikulierte ich meine nächste Frage: „Mensch?“
Er lachte laut auf: „Ja, ich bin auch irgendwie hierher gekommen nach Nadrax. Man hat mich als >Metaller< ausgebildet. Heißt“, beantwortete er meine stille Frage, „ich mache aus kaputten Menschen Cyborgs, indem ich ihnen metallische Ersatzteile einbaue.“
Meine Frage „Und was mache ich dann hier?“ war nur ein Hinauszögern der Tatsachen, die ich bereits erahnte und nicht wahrhaben wollte.
Der Blick des Arztes verfinsterte sich. Er tippte mit einem Laserpointer auf den Bildschirm an meiner rechten Seite. Meine Augen wanderten in dieselbe Richtung und fixierten gleichzeitig mit dem blauen Punkt die digitale Aufnahme.
„Das“, räusperte der Knochenflicker sich, „waren einmal menschliche Oberschenkel.“ Weiter brauchte er nichts zu sagen. Das Bild sprach für sich. Klaffende Wunden, fast abgetrennte Gliedmaßen bedurften keiner Erklärung.
„Heißt das, ich bin jetzt auch so ein Maschinenteil?“, schluckte ich geschockt und mein Unterbewusstsein hoffte auf eine andere Antwort, als die, die ich nun hören sollte.
„Tut mir leid, ja.“ Beruhigend legte der „Metaller“ seine Hand auf meine Schulter. „Man lernt damit zu leben. Es ist nicht so schlimm. Und, auch wenn DIE es hier nicht glauben wollen. Mensch bleibt Mensch. Ich habe schon viele von UNS hier behandelt. Auch wenn alle beteuerten, dass sie sich schon sämtliche Charaktereigenschaften der Nadrax angeeignet haben. Tief in ihrem Inneren waren sie immer noch Menschen.“
Endlich hatte ich jemanden gefunden, mit dem ich offen sprechen konnte.
„Was passiert hier wirklich? Und vor allem, WO bin ich hier wirklich?“ Ich wollte meinen Arm heben, mir mit der Hand über die Augen wischen. Die Tränen der Erleichterung wegwischen.
„Ruhig!“ Sanft beruhigte er meine Bewegung. „Auch der Arm ….. Aber besser der Arm, als das Herz. Da hätte ich nichts mehr machen können. “
Jetzt waren es nicht nur Tränen der Erleichterung, die über meine Wangen liefen. Salzige Rinnsale, die sich in meinen Mundwinkeln sammelten – eine rein menschliche Reaktion.
Alexander Kraspar setzte sich an meine Seite. Ich lag auf einer kühlen, antimagnetischen Platte, die Sterilität verströmte.
„Ein Bett wäre mir lieber“, rutschte mir heraus. Alexanders Lächeln wirkte verstehend. Die Aura, die von diesem, mir gleichen Lebewesen ausging, besänftigte meine Angst. Mein Pulsschlag fand in die Normalität zurück. Wenigstens für einige Zeit. Das schonungslose Statement Kraspars, das meinen – unseren – Lebensmittelpunkt beschrieb, ließ das Blut in meinen Adern frieren.
Ein Schüttelfrost jagte den anderen. Meine Lippen zitterten im transparenten Eisblau und meine Zähne schlugen bibbernd aufeinander. Meine Körper-temperatur sank auf lebensbedrohende Tiefstwerte wie mir schien, um im nächsten Augenblick in sengende Hitze umzuschlagen, die mir den Schweiß auf die Stirn trieb.
„Ruhig“, klang die besorgte Stimme Alexanders, „du musst versuchen, regelmäßig zu atmen. Tot nützt du niemandem was, am wenigsten dir selbst.“ Ich sah noch den gelblich bleichen Tropfen, der von der Injektionsnadel dem Gesetz der Schwerkraft folgte. Spürte einen Einstich – wo konnte ich nicht mehr lokalisieren. Der menschliche Teil meines Körpers rebellierte. Blutbahnen und Muskelfasern widersetzten sich dem kalten Metall, mit dem sie mittels komplizierter Technologie eine Symbiose bilden sollten.
„Johann!“ – Stille – „Johann!“
Der altersschwache Viertakter hinter meiner Stirn werkelte noch sehr langsam. „Johann?“ Den Namen hatte ich schon sehr lange nicht mehr gehört. Woher wusste der Sprecher ihn?
„Mensch, wach auf. Tu mir das nicht an.“
„Was an?“, krächzte eine unbekannte Stimme. Kamen diese hölzernen Töne wirklich aus meinem Mund?
„Wenn du mir unten den Händen wegstirbst, bin ich meinen Job als Knochendoktor hier los. Und das wäre wahrscheinlich noch die harmloseste Tatsache, die mir blühen könnte.“
Alexander Kraspar fuhr sich erregt durch seine rote Haarpracht. Sein Gesicht wirkte angespannt und um Jahre gealtert. Ruckartig öffnete und schloss ich meine Augenlider. Endlich nahm meine Umgebung wieder Gestalt an.
„Na da bist du ja wieder.“ Der Stein, den ich nun plumpsen hörte, dürfte ein Riesenmaß besessen haben. Dass Alexander zum freundschaftlichen „du“ übergegangen war, empfand ich als beruhigend und vertraut.
„Hmm“, schluckte ich und versuchte durch mehrmaliges Räuspern meiner Stimme wieder einen normalen Klang zu verleihen. „Ist ja nochmal gut gegangen, wie es scheint. Doch sag, habe ich diese irrsinnigen Zukunftsaussichten unsere Personen betreffend, im Delirium gesehen, oder ist das die Realität?“
„Leider Letzteres“, kam verhalten leise aus Kraspars Mund. „Du musst leise sprechen. Leute der Tungaw patrouillieren am Gang. Mir scheint, du bist wirklich wichtig für sie.“
Wichtig! Was war schon wichtig? Alleine der Gedanke, dass ich dieser herrschsüchtigen Furie, wie der Doc diese Herrscherin von Nadrax beschrieben hatte, helfen sollte, andere Spezies zu vernichten, ließ mich erneut erschauern.
„Du kippst mir doch nicht wieder weg?“, argwöhnte Alexander.
So gut es meine Schmerzen zuließen, schüttelte ich verneinend den Kopf. „Ich bleibe. Obwohl – eigentlich bin ich mir nicht sicher, ob ich das überhaupt will.“
„Das, mein Lieber ist nicht deine Entscheidung“, klärte der „Metaller“ mich auf, „solange dein Lebensglas sicher in der Symbirge verwahrt ist, wirst du leben. Allerdings schien mir, dass Toranda ziemlich verärgert war, als sie dich hier abgeliefert hat. Das hat noch niemand vor dir geschafft.“
Ahnungslos und neugierig fragte ich nach: „Heißt das, dass Toranda immer für so Typen abgestellt wird, die von irgendwo hier her kommen?“
„Richtig geraten!“ Alexanders Hände klatschten zusammen, als wollte er applaudieren. „Und sie bleibt bei ihren Schützlingen, bis sie ihre Aufgabe übernehmen können oder sterben. Normalerweise.“
Toll, das waren ja wirklich Top-Neuigkeiten. Fast hätte mein Begrüßungskommando ja erlebt, wie ich neben ihr krepiere ohne dass sie auch nur einen Handstreich zu meiner Rettung unternommen hätte. Ihr Ärger war wohl wirklich unbeschreiblich. „Zicke!“
Der Cyborgspezialist, der zu seinem „Ersatzteilkoffer“ unterwegs war, blickte über die Schulter zu mir zurück. „Wie, beziehungsweise Wen meinst du?“
„Toranda“, bemüßigte ich mich eines harmlosen Tonfalls. „Ich hab sie doch nur einmal etwas unwirsch an den Schultern gepackt.“
„Autsch!“ Alexander kniff die Augen zusammen, als hätte ihn persönlich ein Schmerz durchbohrt.
„Warum >autsch<?“ Ich verstand nicht, was der Doc meinte.
„Bei Toranda sitzen sämtliche Nervenenden in den Schultern. Sie wurden dort gebündelt, als man die Metalllegierungen über ihren Armen schloss. Stell dir vor, jemand würde dir deine Pupillen in den Kopf drücken.“
Der Vergleich war krass, aber ich verstand, was mein „Monteur“ gemeint hatte. Eine Frage brannte mir noch auf der Zunge: „Das heißt, Toranda ist auch ein Cyborg?“
„Blitzkneißer!“, lachte Kraspar. „Das hast du vorher noch nie bemerkt? Allerdings ist Toranda ein C-Cyborg. Hast du dich nie gefragt, ob das, was sie an ihrem Körper trägt, sowas wie Kleidung oder ihre Haut ist?“
Natürlich hatte ich mich das gefragt – dennoch erschütterte mich die Antwort ein wenig. Im Laufe der Zeit hatte ich mich an die Schöne an meiner Seite gewöhnt gehabt. Weit hergeholt könnte man unsere Beziehung, die keine war, wie eine Lebensabschnittspartnerschaft bezeichnen. Ich würde mich bei Toranda für meine Unwissenheit und Unbedachtheit entschuldigen. Wenn ich noch je die Gelegenheit dazu bekommen sollte.
Die Türe zu meinem Isolationszimmer klappte automatisch auf. Im entstehenden Luftzug pendelte die Plastikflasche mit der Infusionslösung über mir hin und her.
„Wie ist Euer Befinden Gospir?“
Hinter den Metallplatten in seiner Wange schimmerte es bläulich. Das war mir bei unserer ersten Begegnung gar nicht aufgefallen. Lengar Bendals Fratze tauchte unmittelbar vor meinem Gesicht auf. Sein maschinelles Auge rollte wie eine Murmel in seiner Augenhöhle. Unheimlich sahen diese roten Äderchen in der weißen Gallertmasse aus. Warum hatte man sich bemüht dieses künstliche Teil so menschlich aussehen zu lassen? Wahrscheinlich wollte ich die Antwort gar nicht wissen. Mit unerfreulichen Wahrheiten war ich heute schon ausreichend konfrontiert worden.
„Dank Gospir Kraspar erfreue ich mich bester Gesundheit, beziehungsweise befindet sich meine Karosserie in havariertem Zustand“, ätzte ich.
Die Augenbraue auf der menschlichen Gesichtshälfte Bendals schob sich erstaunt nach oben. Die Reaktion war ihm zu emotional gewesen. Zynismus war auf Nadrax unbekannt. Diese Eigenschaft hatte man mit geeigneten Mitteln ausradiert.
„Ihr werdet in eine Rehabilitationseinheit überstellt, wo man Euch lehren wird, Euren neuen Körper kennen- und beherrschen zu lernen. Spezielle Fähigkeiten werden die ohnehin schon sehr ausgeprägten Optionen ergänzen.“
Ohne weiteres Wort, geschweige denn dem Hauch eines Grußes verließ der Cyborg das Krankenzimmer.
„Auch nicht gerade dein Freund“, säuselte Alexander und äffte respektlos die maskenhaften Grimassen auf dem Halbwärtsgesicht Lengar Bendals nach.
„Gibt es sowas wie Freundschaft hier überhaupt?“, gab ich nachdenklich zurück.
>Pandalkor< prangte auf der leuchtendorangen Mosaiktafel. Ich wurde durch sterile Gänge geleitet. Kein Laut war zu hören. War ich hier der einzige Rekonvaleszent in dem Reha-Klinikum? Zwei bekannte Namen sprangen mir ins Auge: >Grozama< und >Tungaw<. Wenigstens wusste ich, dass ich mich in Kürze in der Verwaltungseinheit für Neuzugänge befinden würde. Ich hatte erneut einen Bendal-ähnlichen Cyborg erwartet und wurde …. überrascht. Positiv überrascht. Ein blonder Engel erwartete mich bereits, mit einem entwaffnenden Lächeln auf dem Gesicht.
„Gospir Movuhoj, wir freuen uns, dass Ihre Genesung so weit fortgeschritten ist, dass Sie bereits an einer cyberkinetischen Therapie teilnehmen können. Wenn Sie mir bitte folgen wollen. Ich bringe Sie auf Ihr Zimmer.“
Irgendwie hatte ich gedacht, dass sie gar nicht mehr in ihrem Redefluss zu stoppen wäre. Die Notwendigkeit, dass ich etwas sagen musste, oder konnte, bestand in keinem Moment. Scheinbar war ohnehin alles schon in meinen Akten vermerkt, die diese kurzbeinige Blondine an ihre Brust drückte. Tja, der erste Eindruck war schnell geschwunden, als Lydra Halg ihren Platz hinter dem Schreibtisch verlassen hatte. Blitzende Chromgestellte symbolisierten Beine.
Ein Blick in die spiegelnde Wandfläche verriet mir sofort, dass mein Erscheinungsbild aber kein anderes war. Auf ebensolchen metallischen Prothesen stakste ich hinter Lydra her. Der beißende Geruch, der mir schon beim Eintreten in das Gebäude aufgefallen war, reizte meine Schleimhäute und zog einen heftigen Niesanfall nach sich. Der mitleidige Blick der Halbfrau traf mich.
„Sie werden sich daran gewöhnen.“
Himmel, warum musste ich mich immer an etwas gewöhnen? Genau jetzt - in diesem Moment – reifte der Entschluss, dass ich meine Sinne beisammen halten musste. Ich wollte hier weg – wieder in mein stinknormales Leben zurück. Meine körperlichen Behinderungen wollte ich gerne in Kauf nehmen. Nur schlichtweg weg von hier …
Dieses Vorhaben scheiterte jedoch in mehreren Instanzen. Das Pandalkor glich der Festung auf einer Gefängnisinsel. Jedes Fenster war mit dicken Gitterstäben verbarrikadiert. Ob man damit die Insassen am Ausbrechen beziehungsweise Verschwinden, oder Leute am Eindringen hindern wollte, war nicht klar erkennbar. Jedenfalls war es angsteinflößend und ein dezenter Klaustrophobie Kick machte sich bemerkbar.
Grundlegend das schwerere Problem war jedoch, dass ich mein Lebensglas wieder an mich bringen musste. Und DAS schien schier unmöglich. Alexander Kraspar hatte es mir verraten. Und auch, dass es schon viele vor mir gegeben hatte, die versucht hatten, das Stundenglas wieder an sich zu bringen. Einige waren schon beim Eintreten in das Verwaltungsgebäude gescheitert, weil ihre Hektik zu offensichtlich und eine gesetzeswidrige Tat förmlich zu riechen war. Andere mussten erkennen, dass die Symbirge wohl nur bestimmten Personen Zutritt gewährte.
Gelangweilt ließ ich die Übungen über mich ergehen. Es schien wirklich so, dass sich etwas in meinem Körper oder meinen Blutbahnen befand, das die Heilung schneller voranschreiten ließ, als üblicherweise dafür anberaumt war. Schon nach einigen Tagen war ich in der Lage, meine neuen Körperteile vollständig zu beherrschen. Einige meiner Federkiele waren beim Transport in die Klinik zu Bruch gegangen. Man hatte sie bereits ersetzt.
„Hmm, du bist wirklich wesentlich ausdauernder und stärker als alle deine Vorgänger“, bemerkte Alexander Kraspar bei seinem letzten Besuch. Interessiert studierte er meine Krankenblätter auf dem Laptop neben meiner „Pritsche“, wie ich die Liegestatt lieblos bezeichnete.
„Hast du eine Ahnung, wie lange ich noch hier bleiben muss?“ Diese ewige Warterei zehrte an meinen Nerven. Abgesehen davon trug ich mich immer mehr mit dem Gedanken, in das Verwaltungsgebäude einzudringen um meine Sanduhr an mich zu bringen. Natürlich konnte Alexander meinem Gedankensprung nicht sofort folgen, als ich mich ihm zuwandte und fragte: „Kommst du mit?“
Etwas planlos blickte Kraspar zu mir herüber. „Wohin soll ich mitkommen? Zu Kahajang? Das ist mir verboten.“
„Das hatte ich nicht gemeint.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ob du mitkommst, wenn ich meine, und wenn du willst, auch deine, Sanduhr hole?“
„Du bist verrückt. Ich habe dir doch gesagt, dass du dabei dein Leben verwirkst. Entweder kontaminieren sie dich oder du landest im Stratak.“ Das Entsetzen in dem Gesicht des Arztes war nicht gespielt. „Und alles was du in deinem alten Leben je von Alcatraz gehört hast ist ein Kinderkarussel gegen das, was dich im Stratak erwartet. Vergiss es einfach.“
Natürlich hatte ich gehört und auch registriert, was Alexander gesagt hatte. Trotzdem – ich ignorierte es geflissentlich.
„Kommst du nun mit, oder willst du für immer hier bleiben?“, wiederholte ich meine Frage.
Die Leute der Tungwar schienen immer den unpassendsten Moment für ihr Erscheinen zu wählen. Gemeinsam mit der Therapeutin traten zwei Verwaltungscyborgs ein.
„Man wird Euch morgen unserer Heiligkeit vorstellen“, klackte der metallene Mund. „Ihr seid bereit, Eure Aufgabe zu übernehmen.“
„Und was soll ich dann ….“, versuchte ich eine Zwischenfrage zu stellen, die sofort von dem zweiten Tungwar unterbrochen wurde.
„Wir sind nicht befugt, derartige Fragen zu beantworten. Ihr erfahrt alles Notwendige morgen auf Eurer Reise. Toranda wird Euch begleiten.“
Wie gewöhnlich folgte keine Verabschiedung. Die beiden Blechbüchsen wandten sich nach ihren Ansprachen sofort wieder dem Ausgang zu.
„Ich hole Sie dann nachher zur letzten Therapie“, verlautete der kleine Quälgeist, der mich nachher wieder Stunden mit langweiligen Übungen konfrontieren würde. Mit einem sehr seltsam anzusehenden Augenzwinkern blinzelte sie zu Alexander und flötete: „Ich will Ihnen noch einen kurzen Moment mit Ihrem Freund gönnen. Sie werden ihn ja nun nie wieder sehen.“
Das hatte gesessen.
„Wieso? Was heißt das“, wandte ich mich fragend an Kraspar, „ich werde dich nie wieder sehen?“
„Wenn du bei Kahajang in Diensten stehst, steigst du automatisch in eine andere Ebene auf, wie das hier bezeichnet wird. Dann hast du mit der „gemeinen“ Rasse nichts mehr zu tun.“ Auch der Doc war sichtlich betroffen. Zu überraschend kam der bevorstehende Abschied zwischen den Freunden, die sie in der Zwischenzeit geworden waren.
„Und wer kann mich hindern, zu dir zu kommen?“, überlegte ich laut.
„Genaugenommen nur die Heiligkeit selbst. Ihre Macht ist unbeschreibbar. Du wirst es sehen“, seufzte Alexander. Ein fester Händedruck. „Leb wohl mein Freund. Vielleicht findest du wirklich eine Möglichkeit …wofür auch immer.“ Wehmut lag in diesen Worten.
„Ich werde zurückkommen und wir werden gemeinsam von hier weggehen“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich verspreche es.“
„Versprich nicht, was du nicht halten kannst. Trotzdem danke.“
Das nervös blinkende Licht an der Türkante erinnerte Alexander Kraspar daran, dass er jetzt gehen sollte.
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„Toranda“, schmeichelte ich, „ich möchte mich bei dir entschuldigen.“
Die Frau warf ihre schwarzen Haare mit einer eckigen Handbewegung zurück. „Hmm.“
„Heißt das, dass wir wieder Freunde sind?“, wagte ich den nächsten Vorstoß.
„Vielleicht!“
Nun ja – ich wusste schließlich, dass Toranda nie eine Frau der großen und vielen Worte gewesen war.
Ich segelte lautlos durch den wolkenlosen Raum. Toranda musste einige Male mit ihren Schwingen schlagen um meine Fluggeschwindigkeit zu halten.
Hier oben war es still, noch stiller als ich es ohnehin schon die ganze Zeit empfunden hatte. Einmal mehr fragte ich mich, wie ein Körper hier Schatten werfen konnte, ohne dass eine Lichtquelle, wie es auf der Erde zum Beispiel die Sonne war, vorhanden war.
„Verlangsame deinen Flug“, wies Toranda mich an, „wir landen gleich.“
Angestrengt blickte ich nach allen Seiten. Eine platinfarbige Plattform tauchte in absehbarer Ferne auf. Dahinter türmte sich ein Palast aus Klarsax. Menschen oder auch Cyborgs konnte ich auf die Entfernung noch nicht erkennen.
„Ist Kahajang ein Cyborg oder ein Mensch?“ Meine Neugierde würde sich wohl nie bezähmen lassen.
Toranda schüttelte den Kopf. „Warum willst du immer alles wissen? Du wirst es in Kürze sehen.“
Unser Gleitflug ging in einen Sinkflug über und wir verloren stetig an Höhe.
Dass selbst Cyborgs staunen können, bemerkte ich wenig später, als meine singenden Schwingen sich geräuschvoll auf meinem Rücken falteten. Die Spannweite meiner Flügel hatte nahezu die gesamte Plattform überschattet.
„Gib Acht, was du sagst und wie du es sagst“, warnte Toranda mich auf einmal. „Jedes deiner Worte wird auf Kahajangs Waagschale geworfen und geprüft. Machst du einen Fehler, dann ..“
„Ich weiß schon“, erzählte ich unbefangen im Plauderton, „ dann wartet Stratak auf mich.“
Es hatte wirklich Spaß gemacht, Torandas Mund zu sehen, der vor Staunen offen blieb.
Auf Nadrax hatte man es wohl darauf abgesehen, mir zu beweisen, dass es immer noch etwas gab, was das Übrige an Imposantheit übertraf.
Sollte die Nichtfarbe Weiß, die hier allerorts dominierte, etwa Unschuld vorgaukeln? Lachhaft.
Spielerisch glitten meine Hände über die hintereinander aufgereihten Riesenfernrohre. Richtigerweise wurden sie als Galaxmeter bezeichnet, wie Toranda mir gleich erklärte – natürlich nicht, ohne gleich belehrend hinzuzufügen:
„Lass deine Finger davon. Erst bis Kahajang dir die Genehmigung erteilt, darfst du diese Geräte anfassen.“
Die letzten Schritte musste ich alleine gehen.
Dann der Schock. Ich wusste nicht, ob ich mir ein brüllendes Lachen verkneifen oder mir ein staunendes >Aahh
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2011
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