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Kapitel 1





„Kath, steh auf! Du kommst sonst zu spät zur Schule. Das macht einen schlechten Eindruck auf die Lehrer, wenn man gleich am ersten Schultag zu spät kommt.“ Meine Mutter! Immer wusste sie irgendetwas an mir rumzunörgeln. Kath, wenn du dies nicht tust, passiert das und das, wenn du nicht um sieben wieder zu Hause bist, kommen die Dämonen und fressen dich und wenn du direkt zu deinem ersten Schultag in der neuen Klasse zu spät kommst, wird das bei den Lehrern einen schlechten Eindruck hinterlassen. Blablabla. Immer das Gleiche mit ihr.
„Ist gut.", rief ich zu ihr herunter. Ich schob die Decke von mir weg und blickte ins gleißend helle Tageslicht. Sofort verspürte ich den Drang mir die Decke wieder über den Kopf zu ziehen und alles zu vergessen. Zurück in die Traumwelt, aus der mich meine Mutter vor fünf Minuten geweckt hatte. Doch ich war stark. Durch die Augen blinzelnd stolperte ich mit meinen megagroßen Quadratlatschen zum Schrank. Mit meinen einmeterfünfundzwanzig war ich ziemlich klein für mein Alter, aber meine Füße waren im Prinzip das komplette Gegenteil. Riesig, ungefähr Schuhgröße achtunddreißig, rundlich und mit großen leicht krummen Zehen bestückt.
Nachdem ich mich für eine modische Jeans und einem süßen grauen T-Shirt entschieden hatte, kramte ich noch schnell eine Unterhose und ein paar saubere Riesensocken aus der Schublade und verschwand wie der Blitz und ohne Geräusch im Bad. Nachdem ich mich fertig gemacht hatte, ging ich runter.
Mein Bruder Karen war schon da in unserer kleinen voll gestopften Küche an dem Miniesstisch, der dort stand und kaute genüsslich an seinem Brötchen mit Frischkäse und Erdbeermarmelade rum. Ich kam heute in das Soltauer Gymnasium, nachdem wir schon an die eine Million Mal umgezogen waren. Glücklicherweise hatten wir diesmal bis nach der fünften Klasse warten können, sodass wir nicht Mitten im Schuljahr die Klasse wechseln mussten. Mal ehrlich, es ist total bescheuert, wenn man in einen Raum kommt, wo sich alle Leute schon kennen. Das war zwar dieses Mal auch so, aber zum neuen Schuljahr kommen immer mal andere Leute, und da fragen sich nicht alle, was hat die denn angestellt, dass die zu uns kommen musste. Man findet einfach viel besser Anschluss zu den Mitschülern. Ich habe damit eigentlich keine Probleme, aber es fühlt sich schon blöd an, wenn man wie einen Außerirdischen angestarrt wird, wenn man einfach nur ein Klassenzimmer betritt. Aber ich finde immer Anschluss an die anderen. Manchmal dauert es eben etwas länger.
Karen hatte da schon mehr Pech. Aber das lag wohl eher an seinen Noten. Ich meine, ich bin ja nicht schlecht in der Schule, sogar eine der Besten, aber Karen schießt weit über das Ziel hinaus. Er schreibt nur Einsen, macht nur eins a Hausaufgaben und kriegt nur Einsen. Und das allerschlimmste ist, er braucht noch nicht einmal irgendetwas lernen! Ich an seiner Stelle wäre schon lange von der Schule abgegangen und hätte irgendwas Sinnvolles mit meiner Zeit angefangen. Schoppen gehen zum Beispiel, oder telefonieren. Aber wenn mir die Schule doch sowieso nichts mehr beibringen kann, warum gehe ich dann noch hin? Naja, ich war halt ein Normalo, was die Schule anging. Im Gegensatz zu meinem tollen großen Bruder Karen, der mit seinen vierzehn Jahren schon in die Zehnte ging und Schule für so ausnahmslos wichtig hielt, dass er nicht mal zu Hause bleibt, wenn er erkältet war. Streber!
„Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du ziehst das tolle Kleid an, das Oma dir gestrickt hat.“ Ach wie schön. Sie hatte also doch gemerkt, dass ich da war. Schade, denn eigentlich wollte ich mich ohne Essen zur Tür raus schleichen und schnell zur Schule rennen, damit sie nicht merkte, dass ich weg war. Natürlich wäre ich beim Bäcker vorbei gelaufen und hätte mir noch ein Brötchen geholt. Die Verkäuferin konnte mich gut leiden. Aber nun war es zu spät. Okay, dann lasse ich mir halt etwas anderes einfallen, um sie los zu werden, spätestens in der Schule. Aber sie ging ja sowieso Arbeiten. Meine Mutter war Kinderärztin im Heidekreis-Klinikum GmbH Krankenhaus Soltau. Ich ließ meinen Blick durchs Wohn- und Esszimmer schweifen und war über die beiden Räume erschüttert. Überall lag Müll rum, die Couch war total zerknautscht, auf dem Esstisch lagerten sich Essensreste und das weiße Tischtuch sah auch nicht mehr so aus wie früher. Versteht mich nicht falsch, ich habe keinen Ordnungsfimmel und bin auch nicht im Sternzeichen Jungfrau geboren – die haben nämlich immer ein – sondern im Zwilling. Aber dieses Zimmer sah einfach nur noch chaotisch aus! Ach, wenn Paps nur noch hier wäre. Er hätte wie immer alles im Griff gehabt. Aber Papa war tot. Er starb vier Jahre nach meiner Geburt. An Krebs. Traurig, aber ich kann mich kaum an ihn erinnern und da ist immer noch dieser schreckliche Schmerz … Stopp, das reichte! Weiter brauchte ich nicht zurück denken. „Du Mama, wolltest du nicht aufräumen?“ Damit riskierte ich einen Bösen Blick, aber nur, weil ich mich genau hinter sie gestellt hatte, und sie mit großen flehenden Augen angesehen. Leicht genervt antwortete sie: „Ja Kathie wollte ich, aber bis unsere Gäste kommen dauert es noch eine Weile. Was magst du denn essen?“ „Ähm … Ich nehm ein Käsebrot mit Zaziki.“ Immer wenn ich leicht nervös war, – und das war eigentlich immer der Fall, wenn ich eine neue Schule zum ersten Mal besuchte – aß ich dies. Es schmeckte einfach irrsinnig gut und beruhigte mich irgendwie. Meine Mutter strich mir sanft eine Strähne aus dem Gesicht. Wir hatten beide die gleichen kastanienbraunen Locken. Es glänzte so geheimnisvoll in der Sonne, dass mein Spitzname im Kindergarten Rehlein war. Auch Karen hatte dieselbe Farbe, nur war seins halblang und glatt und seine Augen unterschieden sich von unseren. Sie waren tannennadelgrün und, wie die unseres Vaters, mit den goldenen und silbernen Punkten, die ich so liebte. Meine und die von Mama waren hellgrau, was uns sehr träumerisch aussehen ließ, doch wir hatten nichts dagegen. Im Gegenteil. Die Jungs schauten mir immer nach und Mama die jungen noch unverheirateten Männer. „Na dann hab ich ja Glück, dass ich das Richtige für mein Rehlein gemacht hab. Hier ist auch schon dein Brot. Setzt dich doch gerade zu deinem Bruder.“ „Geht’s auch schief?“, sagte ich und biss in mein Brot Das war immer so ein Spiel zwischen uns. Ich ließ mich mit meinem Roggenbrötchen Karen gegenüber auf den Stuhl fallen. „Und, schon aufgeregt?“ „Würde ich sonst hier mit einem Zaziki-Käse-Brötchen sitzen und auf dem Stuhl hin und her hüpfen?“ Er lachte. Karens Stimme klang schon sehr Tief. Er war wohl nicht nur der beste in der Klasse, sondern auch der Erwachsenste – obwohl er am jüngsten war! Jetzt beim Lachen klang sie wunderbar sanft. Die Mädchen mussten alle auf ihn fliegen, obwohl er Außenseiter war. Doch ich wusste, dass seine Stimme auch schräg und gemein klingen konnte – Hey, er ist mein Bruder, also streiten wir uns auch. „Karen, wie viele seit ihr in der Klasse?“ Er war schon vor zwei Tagen in der Schule gewesen. Ich kam jetzt erst. Mama wollte mich bis heute noch da behalten. Ich weiß nicht wieso. Karens Augen lachten immer noch. „Wir sind zweiunddreißig.“ „Wow, doch so viele.“ Wir waren eigentlich beide kleinere Klassen gewöhnt, doch Mama wollte uns dieses Mal auf eine öffentliche Schule schicken. Ich wusste nicht warum, fand es aber so besser. So lernt man wenigstens die Leute aus der Stadt kennen. Ich glaube, wenn ich Karen nicht hätte, hätte ich diese Privatschulenzeit nicht überlebt. Nicht, dass ich dort keine Freunde gehabt hätte. Es ist nur so, dass man dort meist auf einem Internat lebt. Und da die Grundschule und weiterführende bei uns immer zusammen gelegt waren, hatten wir uns jeden Tag gesehen. Ich leide nämlich unter dem schrecklichen Heimwehsyndrom. Er ist der beste große Bruder, den man sich wünschen kann. „Dann also los. Ich bin der Meinung, dir fehlt noch was, Katha. Meinst du nicht auch Karen?“, sagte Mama und schaute zu ihm herüber. Er nickte und schon war sie im Keller verschwunden. Karen und ich hatten gerade aufgegessen, als Mama wieder hochkam. „Neue Schulsachen!“, kreischte ich. Ich hatte mir einen dunkelblauen Ranzen von Darkine mit Zubehör gewünscht und bekommen. „Danke, danke, danke!!!! Das ist so lieb!“ Damit drückte ich beiden einen Kuss auf die Wange, schwang mir den Darkine auf den Rücken und huschte schon zum Auto. Mama schaffte es gerade noch die Türen zu öffnen, bevor ich sie mit wilden Gesten darauf aufmerksam machen musste. Ich hörte, wie mein Bruder zu ihr sagte: „Hoffentlich gefällt ihr die neue Schule auch so gut.“ Meine Mutter seufzte und sah mich besorgt an. Karen sagte noch etwas, doch da hatte ich schon die Autotür hinter mir zugeschlagen und konnte nur noch sehen, wie Mama nickte. „Kommt ihr jetzt mal? Wir haben nur noch fünf Minuten! Ich will nicht zu spät kommen, sonst hinterlässt das einen schlechten Eindruck bei den Lehrern, stimmt’s Mama?“ „Ja, Schatz. Wir kommen!“, lachte sie und ihre Besorgnis war wie vom Winde verweht. Karen setzte sich nach vorn in unser silbernes Mercedes-Cabrio und Mama ließ das Dach runter. Die Fahrt war kurz, aber schön. Wenn ich gewusst hätte, das dies meine letzte Fahrt mit Mama und Karen in diesem Auto – eigentlich in überhaupt einem Auto – gewesen wäre, hätte ich nicht vor Nervosität auf meinen Fingernägeln gekaut und von Mama deswegen böse Blicke aus dem Rückspiegel kassiert, sondern hätte lauthals den Song im Radio mitgesungen.

Mein mulmiges Gefühl im Magen, das ich der Nervosität zu schrieb, verstärkte sich, als ich das braungelbe Gebäude der Schule sah. Es war einfach riesig. An der linken Seite vom Haupteingang stand von oben nach unten in großen schwarzen Blockbuchstaben geschrieben GYMNASIUM SOLTAU. Ich öffnete die Tür und ging den Flur entlang, Karen begleitete mich zum Sekretariat und verschwand dann in Richtung seiner Klasse. Ich klopfte an. „Ja, bitte.“, ertönte eine tiefe Frauenstimme und ich trat ein. Eine etwas ältere Blondine mit getönten roten Strähnchen und einer randlosen Brille auf der Nase blickte auf und sah mich skeptisch an. „Hallo“, sagte ich schüchtern und schalt mich gleich. Ich brauchte doch keine Angst vor einer Sekretärin haben, oder? Wenn ich mich da mal nicht täuschte. Ihre wasserblauen Augen ruhten noch einen Moment auf mir, dann kramte sie in den Akten und sagte desinteressiert: „Was möchtest du? Müsstest du nicht im Unterricht sein?“ Und genau in diesem Moment schellte es. ‚Na, klasse!’, dachte ich. ‚Jetzt komm ich auch noch zu spät. Das kann ja heiter werden.’ Ich schaute auf und blickte die Frau kühn an. „Mein Name ist Katharina Storm. Ich bin neu hier und brauche noch meinen Stundenplan und die Klasse, in die ich soll.“ Jetzt blickte sie wieder zu mir, doch ihre Augen waren von kühlem Interesse, so als sei ich ein Versuch, dessen großartige Bedeutung ihr erst jetzt klar würde, nur wollte sie nicht, dass jemand davon erfährt. „Ach, wenn das so ist. Hier ist dein Stundenplan, und damit du dich nicht verläufst ein Raumplaner. Ich habe im Moment noch zu tun, aber falls du Fragen hast, wende dich doch bitte an die Lehrer. Du bist in Raum hunderteinundzwanzig. Noch irgendwelche Fragen?“ Ich schüttelte den Kopf, bedankte mich und ging hinaus auf den Flur. Da stand ich nun, mutterseelenallein und nur mit einem Raumplaner und den Schulstunden in der Hand. Ich sah auf den Raumplan. Hunderteinundzwanzig befand sich im ersten Stock des Gebäudes, also wandte ich mich den Treppen zu und ging nach oben, nicht aber ohne vorher noch einen Blick auf den Stundenplan zu werfen. Mathe! Na da konnte der Tag ja nur noch besser werden. Wie sehr ich mich doch irrte.

Oh, Gott sei Dank! Auch wenn ich nicht an dich glaube, habe ich die erste Stunde überlebt. Eine Stunde Mathe an einem Mittwoch. Ich fasse es nicht, wie die Leute vom Stundenplan nur so einen Müll zusammenreimen können. Mal ehrlich: Wer denkt morgens direkt nach dem Aufstehen schon an Mathe? Das ist einfach nur absurd. Aber unser Mathelehrer Herr Schöllen, klein mit einer Halbglatze und blutunterlaufenen Augen, war ganz okay. Natürlich hatten wir Hausaufgaben bekommen – Kein Lehrer nimmt auch Rücksicht auf mich! Ich sah nach, was wir als nächstes hatten. Musik, auch hier im Raum. Musik war okay. Es machte mir Spaß neue Melodien zu hören oder zu erfinden. Auch Notenlesen war eines der leichtesten Übungen für mich. Ich spielte ja auch schon seit fünf Jahren Harfe, also kein Wunder. Aber Musik hatte schon immer einen gewissen Reiz auf mich ausgeübt, auch schon im Kindergarten. Da hatte ich immer ein schmales Glas – die wir eigentlich nicht benutzen sollten – halbvoll mit Wasser gefüllt und mich draußen in den Wind gestellt. Der Klang, als er über den Rand des Glases blies, war einfach unbeschreiblich schön – erst später fand ich raus, dass man dieses Instrument auch Glasharfe nannte. Komischerweise hatte bei mir immer der Wind geweht, doch darauf habe ich nie geachtet.
In meinem Neuen Klassenzimmer hatte jemand das Fenster geöffnet und die warme, aber frische Luft von draußen wehte hinein. Die Tür des Raumes war offen und es zog. Ich stand auf und ging zum Fenster, als ein Windstoß mich frösteln ließ. Es war wie ein kalter, klarer Atemhauch, der ein Wispern mit sich brachte. Doch das war nicht, was mich ängstigte. Es war, dass ich verstand, was dort gewispert wurde. „Das Unglück ist nahe! Du wirst mich nicht aufhalten können! Verschwinde von der Bildfläche kleine Sarana, du kannst mich sowieso nicht stoppen!“ Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken und ich schmiss schnell das Fenster zu. „Kathie? Was ist denn auf einmal los?“, fragte eine sanfte feminine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um und sah in das Gesicht meiner ersten Freundin auf dieser Schule. Tascha hatte lange, pechschwarze Haare, die zu einem Bauernzopf geflochten waren und eine Haut so dunkel wie das Fell eines Rehs. Man würde vermuten, dass ihre Augen von einem samtigen dunklen Braun waren, doch stattdessen hatten sie die Farbe von einem drohenden Sturm. Grau, so dunkel, dass es fast schwarz wirkte mit einzelnen silbrig gezackten Linien, die wie Blitze aussahen. Tascha war von natur aus sehr dünn und hier in der Klassenhirachie so was wie die Herrscherin. Sie war Klassensprecherin und konnte gut reden. Es war gut, sie als Freundin zu haben. Tascha ist nämlich sanftmütiger als man es ihr zugetraut hätte. Und das in Kombinationen mit ihrem Aussehen und vor allem ihrer Blitzaugen machte sie wahrscheinlich so richtig beliebt. Auch bei den Jungs kam sie gut an, aber nicht so gut wie Caro, meine zweite Freundin. Ihr weizengoldenes Haar war gewellt, wie das eines Filmstars, ihre Augen fast durchsichtig. Caro sah aus als hätte sie noch nie was von Kohlehydrate gehört, obwohl sie auch jetzt schon wieder an einem Erdnussbutterbrot mit Erdbeermarmelade und Gouda hing und das beste: Natürlich auf Weißbrot. Dabei lachte sie über einen Witz, den ihr gerade eben der Junge mit den dunkelblonden Haaren erzählt hatte. Ich glaube er hieß Thomas. Er mochte mich nicht. Ich wusste nicht, woher ich das weiß, aber er mochte mich überhaupt nicht. Beruhte auf Gegenseitigkeit. Schon als ich in seine stechenden silberblauen Augen geblickt hatte, waren wir uns einig, dass wir uns nicht ausstehen konnten. Mir egal. Es sollten mich ja schließlich nicht alle lieben. Es klingelte zur nächsten Stunde und eine kleine Lehrerin kam hereingewuselt. Frau Schmidt, wusste ich von meinem Stundenplan. „Guten Morgen, Kinder“, sagte sie und wir antworteten mit diesem in die Länge gezogen „Guten Morgen, Frau Schmidt“. Ich ging auf meinen Platz zurück und blieb Tascha noch eine Antwort schuldig. Frau Schmidt hatte gerade begonnen etwas zu erzählen, als es an der Tür klopfte. „Herein!“, rief sie mit leicht genervter Stimme, als wüsste sie schon, wer gleich den Raum betreten würde. Die Tür wurde geöffnet und ein dürrer Junge mit ebenso braunem Haar wie ich kam herein. Er trug eine Brille mit schalem Rand und dahinter waren graue Augen mit goldbraunen Pünktchen. Frau Schmidt seufzte und runzelte die Stirn. „Harry Ceres, darf ich den Tag noch erleben, an dem du endlich mal mittwochs pünktlich in der Schule bist? Dir einen Vortrag darüber zu halten, wie wichtig der Unterricht für dich ist, brauche ich ja wohl nicht mehr.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn kritisch an. „Tschuldigung Frau Schmidt. Ich würde Ihnen ja gerne sagen, dass es nicht mehr vorkommen würde, aber das wäre leider gelogen. Hier ist die Entschuldigung.“, sagte er mit einer wundervoll sanften Stimme, dass ich fast dahin geschmolzen wäre, während er nach vorne ging und Frau Schmidt die Entschuldigung gab. Dann setzte er sich zu meinem Entsetzen auch noch neben mich und packte seine Schulsachen aus, während unsere Lehrerin mit dem Unterricht fortfuhr, als wäre nichts geschehen. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und merkte, wie meine Hände schwitzig wurden. Als er alle seine Sachen rausgeholt hatte, sah er mich an. Und erstarrte. Nur für einen winzigen Augenblick, doch ich sah genau, wie er zusammengezuckt war, als ihn mein Blick getroffen hatte. Dann blickte er mich fragend an und ich begriff, dass er meinen Namen wissen wollte. Ich nahm einen Kuli und schrieb auf den offenen vor mir liegenden Block, der noch darauf wartete, dass er benutzt wurde.

Katharina.

Mehr nicht. Ich schob den Block rüber und er nahm einen Stift und schrieb darunter:

Und weiter?

Was für eine ordentliche Handschrift für einen Jungen. Selbst meine sah dagegen aus wie eine Sauklaue, und ich schrieb wirklich ordentlich.

Storm.
Interessanter Name... Weißt du warum?

Ich schüttelte den Kopf und er schrieb weiter.

Ich hab dich hier noch nie gesehen. Woher kommst du?
Wohne seit Anfang der Sommerferien hier in Soltau. Davor habe ich mal einige Zeit lang in Baden-Württemberg am Bodensee gelebt und das vierte Schuljahr habe ich teils in England, teils in Spanien verbracht. Das fünfte Schuljahr war ich in Hamburg und jetzt bin ich hier. Wie sieht’s bei dir aus?


Er lächelte und zog den Block zu sich rüber.

Wow, da hast du ja schon ganz schön viel von der Welt gesehen. Ich bin nur in den USA geboren. Deswegen Harry. Aber seit der zweiten Klasse bin ich hier in Soltau. Wann hast du Geburtstag?

Ich sah in an und lächelte. Irgendwie war es süß, wie er versuchte mir die Informationen aus der Nase zu ziehen. Er schaute auf und grinste unschuldig zurück, wohl wissend, dass ich seinen Plan durchschaut hatte. Ich schrieb ihm aber trotzdem die Antwort.

20.6.2001
Und du?

Er sah mich an und rechnete. Dann lächelte er wieder.

12.10.2000, fast ein Jahr älter als du.

Thomas hatte das Fenster geöffnet und wieder fuhr einer dieser eisigen Windstöße zu mir herüber. Versuch nicht mich aufzuhalten! Ich bin viel zu stark für dich. Du kannst mich nicht bezwingen! Verschwinde, so lange es noch geht. Ein widerwärtiges Lachen erklang und ich wusste, wenn ich nicht sofort aus diesem Zimmer verschwand, würde ich durchdrehen. Ich sah zu Harry und meine Augen flehten ihn an, baten, dass er auch diese Stimme gehört habe. Harrys Blick war wie aus Stein. Er murmelte mir zu: „Tu so als wäre dir schlecht“, wobei ich wahrscheinlich aussah wie ein Käse und meldete sich. „Ja, Harry.“ Frau Schmidt hatte ihn dran genommen. „Frau Schmidt, ich glaube, Katharina geht es nicht so gut, um genau zu sein, glaube ich, geht es ihr miserabel.“ Frau Schmidt schaute mich besorgt an. „Ach herrje, Katarina, geh doch am besten Mal für ein paar Minuten nach draußen, vielleicht geht es dir dann besser. Harry, du gehst mit.“, ordnete sie an. Ich ging zu Tür und hatte mittlerweile wirklich das Gefühl mich übergeben zu müssen. Harry kam hinter mir her und ich spürte, wie Taschas besorgter Blick auf mir ruhte. Echt, sie war eine wunderbare Freundin. Als die Tür hinter uns ins Schloss fiel, brach ich zitternd zusammen und wäre fast auf den Boden geknallt, wenn Harry mich nicht aufgefangen hätte. Er stützte mich, bis wir draußen auf dem Schulhof waren. Ich ließ mich auf den Boden fallen und rang erschöpft nach Luft. Er setzte sich neben mich und wartete, bis ich mich erholt hatte. „Was hast du gehört?“, fragte er mich vorsichtig, als wüsste er, dass ich diese Worte nicht noch einmal wiedergeben konnte. Aber ich wusste, er musste sie hören. „Ich ... Ich soll verschwinden. Und es ... es ist zu stark für mich. Und vorhin, wo du noch nicht da warst, da hat es auch gesagt, ich solle verschwinden. Und es hat mich irgendwie komisch genannt. Sari ... Saro...“ Ich stockte die ganze Zeit und Tränen rollten mir über die Wangen. „Sarana?“ Harrys Stimme war ausdruckslos. Ich nickte und wunderte mich nicht, woher er den Namen kannte. „Was ist das, Harry? Wer sagt so was?“ Ich sah ihn hilflos an, wollte eigentlich nicht weinen, nicht vor ihm, konnte die Tränen aber nicht zurück halten. „Hey, Katharina. Wein doch nicht.“ Er sah mich betroffen an und wusste nicht was zu tun war. Ich schaute auf meine Uhr und sah, dass wir noch grob fünf Minuten bis zur großen Pause hatten. Schnell trocknete ich meine Tränen und Harry hielt mir wortlos ein Taschentuch hin. Ich nahm es und schnäuzte mich. Danach ging ich kurz auf die Toilette, um zu schauen, wie schlimm ich aussah. Es ging. Zweimal kaltes Wasser ins Gesicht, trocknen lassen und ich sah fast aus wie neu. Zum wiederholten Mal war ich froh, dass ich mich nicht schminkte. Mein Gesicht wäre sonst wirklich im Eimer gewesen. Es klingelte zur Pause und ich ging wieder auf den Schulhof. Harry hatte auf mich an der Stelle gewartet, wo ich ihn stehen gelassen hatte und führte mich jetzt in eine dunklere Ecke, etwas abseits von dem ganzen Trubel. Hier im Schatten war es auch nicht so heiß, sodass man nicht in der schwülen Luft nach Atem ringen musste. Eine leichte Brise wehte hier und Harry sah mich an. Ich fühlte mich besser in dieser Umgebung, auch wenn mir nicht ganz wohl in meiner Haut war, als ich ihm gegenüberstand. Ihm schien es irgendwie ähnlich zu gehen, denn er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Dann fasste er den Mut und fing an. „Du weißt nicht, was Sarana bedeutet, oder?“ Ich schüttelte den Kopf. „Dacht ich mir ...“ Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment kam mein Bruder um die Ecke und sah mich. „Hey, Kath! Und, die ersten zwei Stunden überlebt?“, fragte er grinsend. Dann sah er Harry und seine Miene verdüsterte sich augenblicklich. Sie schienen eine Art Gedankenkommunikation zu führen, dann wandte sich Karen mit leicht gezwungenem Lächeln zu mir. „Kann ich kurz mit dir alleine sprechen, Kath?“, fragte er, als sei ihm Harrys Gegenwart zu wider. Ich nickte und warf Harry einen aufmerksamen Blick zu, den er mit Bedacht erwiderte. Karen wandte sich ab und ich folgte ihm, Harrys Blick in meinem Rücken unangenehm spürend. Als wir uns außer Hörweite befanden, drehte er sich zu mir um und sah mir ins Gesicht, seine dunkelgrünen Augen steinhart. „Katharina.“, fing er an, was mich beunruhigte. Er nannte mich nie, wirklich nie Katharina. Er hatte diverse Spitznamen für mich erfunden, wie zum Beispiel Kathalein, Kathunka, Katscha, Kitty, Kara, Katha, Kath, Kathy und manch mal einfach nur K. Aber niemals nannte er mich Katharina. Ich versuchte seinem Blick so gut es ging standzuhalten. „Ich bitte dich: Halte dich von diesem Harry Ceres fern, sehr weit fern. Er ist kein guter Umgang für ... andere.“ Tja, Bruderherz, da hättest du früher dran sein müssen, denn jetzt sitze ich neben ihn und habe mich schon so gut wie in ihn verschossen, dachte ich. Karens Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an, so dass ich mich fragen musste, ob ich das jetzt laut gesagt hatte oder nicht. Er blickte weg und schaute in Harrys Richtung, der stumm im Schatten stand und uns beobachtete. Dann sah mein Bruder mich wieder an und ich erkannte tiefe Verletzlichkeit in seinen Augen. „Ich kann dich nur drum bitten, es zu tun. Aber egal was du machst, ich bin immer dein Bruder und werde es bis in alle Ewigkeit bleiben. Ich bin für dich da, jeder Zeit, klar?“ Ich sah Tränen in seinen Augen und umarmte ihn, damit er meine nicht sah. Sanft legte Karen seine Arme um mich und drückte mich fest an sich. „Ich bin auch immer für dich da, ja?“, flüsterte ich erstickt und merkte, wie Karen nickte. Hätte ich zu diesem Augenblick schon gewusst, dass er sein Versprechen nicht gehalten hätte, hätte ich ihm eine gescheuert, und zwar so doll, wie es mir mit den damaligen Kräften möglich gewesen wäre.
Ich trottete wieder zu Harry zurück, mit den Gedanken an Karens Worte. Ich bitte dich: Halte dich von diesem Harry Ceres fern, sehr weit fern. Er ist kein guter Umgang für ... andere. Ich hatte das Gefühl, dass er meinte, dass Harry kein guter Umgang für mich war. Ich hatte vergessen, wo Harry und ich aufgehört hatten uns zu unterhalten, doch Tascha kam mit Caro zu uns und fragte mich, wie es mir ginge. „Besser, danke.“, antwortete ich und es stimmte. Ich fühlte mich erstaunlich gut, wie neugeboren, fast. Caro sah ein wenig mies gelaunt aus, doch als ich sie nach dem Grund fragte, winkte sie verächtlich ab. „Ach, Thomas, dieser Penner hat vorhin gemeint, du und Harry würden nur zusammen rausgehen, weil ihr in einander verschossen seid. Da hab ich ihm gehörig die Meinung gegeigt. Das Dumme ist nur, dass es mir schon wieder Leid tut ihn so angefahren zu haben.“, knurrte Caro. Harry runzelte belustig die Stirn, sagte aber nichts, während ich vor Wut kochte. Dieses Arschloch! Wenn ich den in die Finger bekam würde er noch bereuen, das gesagt zu haben. „Wo ist der Kerl? Ich will sehen, was er noch sagt, wenn ich seinen Kiefer demoliert habe!“ Ich knirschte mit den Zähnen. „Du brauchst ihn nicht zu suchen. Er hat gesagt, dass er in der Pause bei uns vorbei kommt, um dem ‚Liebespaar’ beim Knutschen zu gucken zu können.“, äffte Caro Thomas nach. Wenn ich nicht so sauer gewesen wäre, hätte ich vermutlich gelacht, doch ich wollte diesem Mistkerl unbedingt ein paar Manieren einprügeln. Auch Harry schmunzelte jetzt nicht mehr. In seinem Blick lag jetzt auch Wut. Aber viel mehr überraschte mich die große Sorge, die, glaube ich, mir galt. Und wo man schon gerade vom Teufel spricht, kommt er natürlich auch um die Ecke spaziert mit diesem fiesen Grinsen im Gesicht, das ich ihm am liebsten ausgeprügelt hätte. Ich war zwar ziemlich klein, hatte aber beim Kick-Boxen die Juniorenmeisterschaft gewonnen und machte im Moment Karate. Ich blickte ihn grimmig an. Wenn er auch nur ein Wort über meine so genannte „Liebesbeziehung“ zu Harry verlor, würde er sein „blaues“ Wunder erleben. Thomas setzte schon zu einer blöden Bemerkung an und ich machte mich Kampfbereit, als der Wind auffrischte und wieder diese seltsam flüsternde Stimme da war. Du bist zu spät, Königin der Bändiger! Du wirst nichts mehr ausrichten können, denn, wenn du kommst, sind alle tot. Verschwinde und stell dich nicht gegen mich, du kannst mich nicht bezwingen! Ich stand da, wie erstarrt. Die Stimme lachte ein grausam kaltes Lachen, das immer leiser wurde, als würde der Wind es forttragen. Ich brach zusammen und sackte zum zweiten Mal an diesem Tag in Harrys Arme.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Beste Freundin, die den Namen der Hauptdarstellerin trägt. Auf eine Verewigung, die lange anhält...

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