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Kapitel 1

Kapitel 1

 

Jacek

 

Annes Anblick ließ meinen Magen rebellieren. Dabei hatte ich noch gar kein Mittagessen gehabt.

Ihre geschmeidige, kastanienbraune Löwenmähne, die unschuldigen, großen Rehaugen, das süße, zierliche Stupsnäschen und die Finger -gerade ihre filigranen, gut manikürten Finger- brachten mich zum Schäumen.

Noch nie hatte ich jemanden gehasst. Aber diese Person war verdammt nah dran die Erste zu werden.

Nur noch ein dämliches Wort, aus ihrem dämlichen, mit Lipgloss beschmierten, Mund und ich würde schreien, das schwor ich mir innerlich.

 

„Guten Morgen ihr Lieben!“, trällerte Felicitas Diederich, die Leiterin der Theater AG, in die Runde. Keiner der Schüler korrigierte sie, dass es bereits nachmittags um kurz nach drei war.

„Ihr müsst entschuldigen, dass in den ersten drei Wochen des Schuljahres keine AG stattfinden konnte. Doch die große Bühne hatte mich gerufen…“ Verträumt blickte sie gen Decke, schien dort ihre Träume zu sehen, anstatt wackeliger Leuchten, die einem auf den Kopf zu fallen drohten, wenn man sich falsch unter ihnen bewegte.

Es dauerte ein paar Minuten, in denen sie nur starrte, und starrte, und starrte, ehe eines der Mädels hustete und den Bann brach.

„Oh, wo waren wir?“ Ein wenig orientierungslos blickte Felicitas von einem zum anderen, schien schließlich ihren roten Faden wiedergefunden zu haben und plapperte weiter, als wäre nichts geschehen.

„Ach richtig. Das Stück für die diesjährige Halbjahresfeier. Gibt es Vorschläge?“

Im Bruchteil einer Sekunde schoss Annes Arm nach oben. Noch ehe die Leiterin ihr das Wort erteilen konnte, brach ‚Romeo und Julia‘ aus ihr heraus.

„NEIN!“ Ungehalten schrie ich auf.

Ich hatte es geschworen.

Ich. Hatte. Es. Geschworen!

„Nicht SCHON WIEDER Shakespeare! Den haben wir die letzten vier Jahre bereits aufgeführt. Können wir nicht einmal etwas anderes machen? Schiller vielleicht. Immerhin sind wir an einem Schiller-Gymnasium. Oder Büchner… oder ein Stück, das der Obdachlose aus der Bahnhofstraße geschrieben hat. Alles, wirklich ALLES, bloß kein Shakespeare!“

Zornig zogen sich Annes akkurat gezupfte Augenbrauen zusammen.

Das „Wie kannst DU es nur wagen MIR zu wiedersprechen?“ war kurz davor in Leuchtbuchstaben über ihrem Kopf aufzuleuchten.

„Warum regst du dich so auf? Wir stimmen jedes Jahr ab. Und jedes Jahr gewinnt mein Vorschlag.“ Pikiert spitzte sie die Lippen und schaute von unter her auf mich herab, als wäre ich ein überdimensionales, ekliges Insekt. Das hielt mich wie immer nicht davon ab ihr weiter böse Blicke zuzuwerfen.

Verächtlich schnaubend fragte ich sie, woran das wohl liegen könnte. Keines der Mädchen wollte es sich mit ihr verscherzen, deshalb stimmten sie alle für das, was auch immer Anne ausgesucht hatte. Ich und die vier anderen Jungs der Gruppe kamen dagegen einfach nicht an.

„Shakespeare wird langsam langweilig. Keiner will schon wieder etwas von diesem Kerl sehen, oder dich in der Hauptrolle, so nebenbei bemerkt.“

Die Rehaugen begannen Funken zu sprühen.

Ein Blickduell, Braun gegen Grau. Warm gegen kalt. Die Ruhe vor dem Sturm.

Alle Mitglieder der Theater AG sanken ein Stück in ihren Sitzen ein, warfen sich unsichere Blicke zu, ehe das Unwetter über ihren Köpfen zu tosen begann.

Was genau wir beiden uns an den Kopf geworfen hatten und welche unfreundlichen Schimpfworte fielen, wollte danach keiner so recht wissen.

Wenn Anne und ich aufeinander trafen, ein doch eher seltenes Phänomen (kaum zu glauben aber wahr), zog man die Köpfe ein und wartete bis das schlimmste vorbei war.

Jeder hielt sich daran. Außer Felicitas. Diese erhob sich wagemutig und trieb uns auseinander.

„Kinder, Kinder, KINDER! RUHE!“ Das schrille Kreischen, ähnlich einer Kreissäge, ließ Anne und mich verstummen. Widerwillig. Hatten wir uns doch noch SO viel zu sagen.

„Setzt euch hin“, wies sie an und hörte erst auf zu starren wie eine Verrückte, als wir auf sie hörten zu unseren Plätzen zurück gingen.

„Lasst uns das ganze diskutieren wie vernünftige Menschen.“

„Tzzzz“, zischte es ganz dezent aus meiner Ecke. Als könnte diese Person –nicht gerade unauffällig starrte ich zu Anne- irgendetwas Vernünftiges sagen.

„Also, noch einmal von vorne. Gibt es Vorschläge welches Stück aufgeführt werden soll?“

Ruhe.

Dann: „Romeo und Julia!“

Erneut brach Geschrei aus. Heftiger als zuvor.

Wortfetzen die „Miststück“, „Arschloch“ und der gleichen hätten ergeben können flogen durch die Luft, ehe das Kettensägengeräusch es zum zweiten Mal schaffte für Ruhe zu sorgen.

„Das REICHT. ICH bestimme das Stück. Und damit es für das nächste Mal nicht wieder eine solche Szene geben kann teilt ihr euch auf. Zwei Gruppen. Das Publikum bewertet. Die Gruppe deren Stück besser ankommt gewinnt und darf entscheiden was das nächste Mal gespielt wird. VERSTANDEN?!?“

Alle nickten. Auch ich, zu perplex irgendwas anderes zu tun. Noch nie hatte ich die Diederich so oft hintereinander schreien gehört.

„Gut, dann teilt euch jetzt bitte auf.“

„Ich nehm die Mädchen!“ Annes Ton ließ verlauten, dass dies ihr letztes Wort war und wenn sie nicht sofort ihren Willen bekäme würde sie einen Tobsuchtsanfall simulieren bis jeder der dagegen war nachgab.

„Gleichgroße Gruppen. Findest du es nicht unfair zwölf Mädchen gegen fünf Jungs antreten zu lassen?“

Ehe Felicitas und Anne diskutieren konnten ging ich dazwischen und stellte mich, zum Erstaunen aller auf die Seite der Brünetten. „Jungs gegen Mädchen ist in Ordnung. Dann können alle sehen, dass die da selbst in der Überzahl weniger Talent haben als wir.“

„Talent? Ihr? Davon träumst du wohl?“

„Und von was träumst du? Titten die man endlich mal zeigen kann, ohne sich zu schämen? Diese schrumpeligen Pflaumen die sie an dich angenagelt haben waren ja wohl ein mieser Scherz!“

„Wichser!“

„Hure!“

„Schluss jetzt! Keine Schimpfworte in diesen heiligen Hallen!“ Beinahe schon ehrfürchtig hob die einzige Erwachsene im Raum die Arme, deutete auf die abgenutzten Sitze und die Bühne des Auditoriums, welche von einem ebenso abgenutzten roten Vorhang verdeckt wurde.

„Ich warne euch“, fügte sie an, als wir sie ignorieren und weiter schimpfen wollten. „…noch eine Beleidigung, von irgendwem und derjenige ist raus. Der darf die Bühne putzen, Requisiten schleppen oder Perücken richten, aber nicht auftreten. VERSTANDEN!?“

Streng richtete die das staubgraue Barett auf ihrem kupferfarbenen Bob zurecht. Sollte uns das einschüchtern? Die Stunde hatte sie im Theaterunterricht definitiv versäumt. Leider nicht die, in der gesagt wurde: zieh durch was du androhst.

Das hatte unsere Gruppe auf die harte Tour lernen müssen, weshalb alle widerwillig nickten und sich ihrem Schicksal ergaben.

„Gut. Noch Fragen?“

Alle verneinten, außer Franziska, ein Mädchen aus der siebten Klasse, die noch recht zaghaft und schüchtern die Hand hob.

„Welches Stück spielen wir eigentlich?“

Gute Frage.

Als ich das verzückte Lächeln, auf den bonbonfarbenen Lippen der AG Leiterin sah, war ich mir sicher, dass die Antwort mir noch weniger gefallen würde, als Romeo und Julia.

„Eines meiner eigenen Stücke. Love Stage. Eine wundervoll, herzerweichende Liebesgeschichte.“

Dass Lukas neben mir einwandte, dass wir aber nur Jungs wären und so doch keine Liebesgeschichte spielen konnten überhörte die große Künstlerin, da sie von neuem in fremden Sphären schwebte und vom tosenden Applaus ihrer Fans träumte.

Das war doch nicht zu glauben...

Wir sollten ein Stück der Ortsbekannten Theaterautorin/-regisseurin/-darstellerin Felicia D. –und bitte als Feliischaa Diii, gesprochen sonst fuhr sie aus der Haut- spielen.

Eine, ohne Zweifel, schnulzige Romanze allerfeinster Güte.

Was hatte ich mir da nur eingebrockt? Hätte ich nicht Romeo und Julia zustimmen können?

Und damit Anne –der diebischen Elster- den Willen lassen?

Nie im Leben!

Da spielte ich doch lieber eine Liebesschnulze. Nur mit Kerlen. Die mir nicht im Geringsten zusagten. Und weniger schauspielerisches Talent besaßen als mein linker Schnürsenkel…

„Bevor wir für heute Schluss machen, würde ich gerne noch die Rollen verteilen.“

Schluss machen.

Das klang gut. Schluss machen, würde uns retten.

Nicht falsch verstehen, ich liebte die Theater AG. Außer heute.

Aber das schlimmste war ja überstanden.

In fünf Minuten konnte ich hier raus. In fünf Minuten konnte ich mit dem Bus zu Vivianne fahren und mich auf einen ruhigen Freitagnachmittag mit meinen Mädels freuen.

Während ich noch vor mich hinträumte, was wir alles machen könnten, teilte Felicitas die Rollen zu. Erst als mein Name fiel horchte ich auf.

„Jago. Du und Anne spielt beide Milla, die Tochter des Kurfürsten von Hagen. Janine du bist Annes Zweit Besetzung falls sie nicht auftreten kann.“

Ich war am Arsch.

Ich war so am Arsch.

Ich würde vor der ganzen Schule, vielleicht sogar vor der ganzen Stadt, eine kitschige Liebesgeschichte mit einem der Jungs spielen müssen!

Sich öffentlich als Schwul zu outen hätte das schwerste in meiner Schulzeit sein müssen. Doch das hier… schlug ein Outing um Längen.

Ich kannte die Stücke der Diederich. Das konnte nicht gut gehen.

Jetzt war ich nicht mehr der schwule Kerl aus der Theater AG, der egal in welcher Rolle glänzte, nein, nun würde ich stattdessen der schwule Kerl sein, der als Frau über die Bühne schwebte und einen dieser Hänflinge anschmachtete.

Große Klasse. Wirklich.

Im Moment hasste ich mein Leben. Und Anne. Und Frau Diederich…

Meine nicht vorhandene Hassliste hatte sich ganz plötzlich, ganz stark vergrößert.

Oh Gott, ich war mehr als am Arsch… vielleicht musste ich die Schule wechseln, ich…

Atmete tief durch und schimpfte mich einen Narren.

So etwas würde MICH doch nicht aus der Bahn werfen.

Ich stand über diesen Dingen.

Ich würde dieses Stück zu einem Hit machen und denen, die mich gerade so dämlich belächelten, so dermaßen in den Arsch treten, dass sie nicht mehr wussten in welchem Jahrhundert sie lebten. Vor allem Anne, dem zufrieden grinsenden Miststück.

Ganz einfach.

Sollte ich halt ein Mädchen spielen. Damit konnte ich leben. Immerhin war ich Profi, oder zumindest auf dem besten Weg dahin, außerdem war Milla die Hauptrolle und die stand mir ohne Frage zu.

Und falls es doch schief ging, konnte ich mich immerhin gleich bei den Mädels ausheulen oder im schlimmsten Fall fluchtartig das Land, in einer Nacht- und Nebelaktion, verlassen.

Alles halb so wild!

 

 

Noah

 

Das Weiße des Spiegeleis war noch labberig, als ich, gedanklich noch im Bett liegend, mit der Gabel hinein stach.

Eklig.

Das bemerkte selbst einer in meinem Zombiezustand.

Mama wuselte jedoch um mich herum, weshalb ich es nicht einfach in der Müll werfen konnte, wie sonst immer, wenn sie versuchte Eier zu machen. Die Eier meine Mutter waren abartig eklig.

Absolut nicht essbar.

„Magst du noch etwas vom Ei mein Schatz?“ Fröhlich deutete sie auf noch mehr schlabberige Masse.

„Danke Ma, hab noch.“ Gähnen aus vollstem Herzen.

Weshalb musste Schule auch so zeitig losgehen?

Um zwölf, nach der Mittagspause, wäre eine gute Zeit. Und nur bis um drei. Sonst blieb ja am Nachmittag weniger Zeit für wichtige Sachen.

Ein erneutes Gähnen richtete ich als Dank an meine Mutter, die den zweiten Pott Kaffee vor mir absetzte.

Der würde helfen mich zu wecken. Zumindest so weit, dass ich auf dem Weg zur Schule nicht einschlief.

„Denk dran, ich bin heute erst spät zuhause. Martha aus dem Büro ist krank, ich muss ihre Akten mit bearbeiten.“ Liebevoll strich sie durch die kurzen blonden Haare. Nur widerwillig ließ ich es mir gefallen.

Wie alt war ich bitte? Neun?

„Ist gut, Ma.“

„Gehst du heute mit deinen Freunden weg?“

„Weiß noch nicht, Ma.“

„Melde dich wenn du über Nacht wegleibst, ok? Oder wenn du getrunken hast, dann hol ich dich ab.“

„Ja…“

„Brauchst du noch Geld für das Abendessen? Du könntest dir etwas liefern lassen.“

„Nein Ma. Alles gut. Danke.“

Heimlich mit den Augen rollend -die nicht so himmelblau strahlten wie die meiner Mutter, sondern an die Matschpfützen erinnerten, wie auch der zweite meiner Erzeuger sie hatte- schob ich das Glibber-Ei beiseite.

„Musst du schon los?“ Erstaunt richteten sich blaue Augen auf die Küchenuhr überm Kühlschrank. Erst kurz nach sieben.

Dennoch nickte ich. „Wollte mit Pascha was wegen der Hausaufgaben für Chemie durchgehen.“

Lüge.

Ich würde zwanzig Minuten dumm auf dem Schulhof warten, ehe mein bester Freund kam, nur um meiner überfürsorglichen Mutter zu entkommen.

Ich hasste solche Tage.

Meistens liebte ich meine Mutter. Sie war nett. Machte mir die Wäsche. Kochte, was abgesehen von ihrem Ei auch wirklich gut schmeckte.

Doch an manchen Tagen, so wie heute, dachte sie vermutlich, sie wäre eine schlechte Mutter, würde ihr Kind vernachlässigen, ihm nicht die Liebe zukommen lassen, die ein Kind brauchte wenn es keinen Vater im Haus hatte.

Überkompensation hatte ihr Therapeut es genannt, wenn ich mich recht erinnerte. Wenn sie von ihrem Therapeuten sprach schaltete ich ab. Manchmal glaubte ich, sie würde irgendwelche Ängste und Probleme erfinden nur um in seiner Nähe zu sein. Hundert Prozent sicher war ich jedoch nicht. Die Panik auf ihrem Gesicht, wenn ein kleiner Hund ihr schwanzwedelnd zu nahe kam oder eine Maus ihr im Garten begegnete wirkte zu echt, um erfunden zu sein.

„Ach so…“ Enttäuscht sackte sie ein Stück zusammen. Versuchte es jedoch hastig, mit einem halbherzigen Lächeln zu überspielen. „Dann viel Spaß in der Schule, mein Schatz.“

„Klar, Ma.“ Automatisch beugte ich mich zu ihr hinunter, damit sie mir ihr allmorgendliches Küsschen auf die Wange drücken konnte.

Das stimmte sie etwas fröhlicher.

Vielleicht hatte ich Glück und sie würde nicht panisch bei Dr. Friedrich anrufen, um zu jammern, dass sie alles falsch machte, dass sie eine schlechte Mutter war.

 

Schnurrend sprang das Motorrad an.

Freiheit.

Wenigstens für einen Moment.

Tief durchatmend ließ ich mich die Einfahrt rückwärts herunter kullern.

Die Straße war leer. Um diese Uhrzeit wirkte unsere Wohngegend immer wie ausgestorben. Nur der Opa von gegenüber führte seine Katze, an einer blinkenden Leine, spazieren. Alle seltsam hier.

Noch ein Grund mehr um im nächsten Sommer von hier zu verschwinden.

 

Auf dem Weg zur Schule ignorierte ich nicht wie sonst sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen. Heute ließ ich mir Zeit. Wollte den miesen Morgen vergessen.

Vielleicht sollte ich mal mit Oma reden? Die könnte Mutter zurechtweisen oder aufmuntern. Oder einfach dazu zwingen nicht mehr so abhängig von diesem scheiß Therapeuten zu sein.

Sie war keine miese Mutter. Sie ließ sich schlicht und ergreifend zu viel einreden.

 

Wie erwartet kam ich, trotz der heute vorbildlichen Fahrweise, zu zeitig an. Ein paar vereinzelte Schüler trieben sich schon auf dem sonst so leeren Schulhof herum. Der Rest würde erst in zehn Minuten mit den Bussen hier angeschwemmt werden.

Ausnahmsweise störte es mich nicht, allein vor der Schule herumzulungern.

Die frische Luft tat gut. Ließ mich vergessen, dass Mama wieder zu anhänglich war, dass sie sich wieder vorwürfe machte und ich nicht wusste wie man ihr helfen konnte… und dass ich ohne Frühstück die nächsten vier Unterrichtsstunden durchstehen musste, ehe es in der Mensa etwas zu essen gab.

Wie aufs Stichwort grummelte es in meinem Bauch.

„Hoffentlich hat Pascha was dabei…“ murmelte ich beinahe schon weinerlich, während ich Helm, Rucksack und schließlich mich selbst, auf den Steinstufen vor dem Haupteingang, parkte.

 

„He, was machst du schon hier?“

Ein Fuß stieß unsanft gegen meinen.

Nur langsam wandte ich das Gesicht von der Morgensonne ab, um zu sehen wer es wagte und mich zurück in die Realität riss.

Eigentlich unnötig. Meinen besten Freund erkannte ich auch mit geschlossenen Augen.

„Meiner Mutter entkommen.“

„Gluckenmodus?“ Pascha kannte die Antwort ohne sie zu hören. Dennoch wartete er ein Nicken ab, ehe er mich auf die Füße zog, mir ungefragt einen Müsliriegel in die Finger drückte und wir hinterm Schulgebäude verschwanden um unbemerkt eine rauchen zu können.

Zur Mittagszeit war die Lehreraufsicht gnadenlos, so musste die noch verbleibende Zeit vor dem Stundenklingeln sinnvoll genutzt werden.

„Wolltest du nicht eigentlich aufhören?“ Pascha fischte in seinem Rucksack nach der Schachtel, hielt sie mir entgegen.

„Wolltest du es nicht?“

Lachend schüttelten wir die Köpfe und zündeten unsre Kippen an.

Wollen wollten wir so manches und sollen noch mehr, doch manchmal fanden wir beide es leichter einfach dem Drang nachzugeben.

 

„Wir sollten uns beeilen…“ brummte ich schließlich, als ich meine Kippe ausgetreten hatte und auf Paschas Uhr schielte.

„Hm“, kam es einsilbig von ihm, ehe er sich seufzend über die abrasierte Kopfhälfte fuhr und seine Zigarette ebenfalls mit seinen löchrigen Turnschuhen dem Erdboden gleich machte.

Ächzend kam er auf die langen Beine, mit denen er mich um ein ganzes Stück überragte.

„Man hab ich Bock auf die Wieland…“

„Ist die nicht krank? Dachte wir haben beim Kunze Vertretung…“

Schulterzucken.

„Warum hast du eigentlich grüne Haare?“ Von der Seite her schielte ich zu Pascha, der sich nur grinsend über die kurzen grünen Stoppeln strich, ehe er versuchte die längeren, dunklen Strähnen kunstvoll auf der anderen Seite des Kopfes zu drapieren.

Das war Antwort genug.

Pascha tat vieles einfach aus einer Laune heraus.

„Diva…“

„Du Muschi bist ja nur neidisch, weil mir so was steht…“

„Schon klar…“

Kabbelnd betraten wir das Chemiezimmer, in welchem der Rest des Kurses die Abwesenheit eines Lehrkörpers nutzte und Lärm für drei Klassen machte.

Neugierig blickte Pascha auf meine Notizen, als ich diese achtlos auf den Tisch warf.

„Lässt du mich Aufgabe drei abschreiben?“

„Seh ich aus, als hätte ich Aufgabe drei verstanden?“

 

Die Vertretung, Dr. Frieder Kunze, Fossil aus der Kreidezeit, hatte einige Mühe die 12b zur Ruhe zu bewegen. Ganze 15 Minuten kostete es ihn, alle auf ihre Plätze zu schicken und die Anwesenheitsliste abzuarbeiten.

„Gräfe, Noah.“ Ich hob die Hand als mein Name fiel, blickte jedoch nicht vom Handy meines Freundes auf. Zu gebannt starrte ich auf den Bildschirm über den das Video flimmerte, welches sich seit Tagen wie ein Virus in der Schule verbreitet hatte.

„Nowak, Pawel.“

„Pfwahahahahaha…“ lachend schlug Paschas Kopf auf den Tisch, als er aufgerufen wurde. Der bitterböse Blick des Lehrers durchbohrte ihn, schaffte es jedoch nicht ihn um Schweigen zu bringen.

„Nowak… Klappe halten oder sie fliegen raus und holen den versäumten Stoff in der neunten Stunde nach!“

„Tschuldige, aber die Katze ist…“

„Ihre Katze interessiert mich nicht Nowak… Und was haben sie überhaupt mit Ihren Haaren angestellt? Furchtbar diese Hippies heutzutage!“ Den letzten Satz mehr zu sich murmelnd widmete er sich von neuem der Anwesenheitsliste.

Hippie?, formten Paschas Lippen stumm.

Keine Ahnung… antwortete ich mit einem Schulterzucken. Für den Kunze waren vermutlich alle Schüler, die nicht aussahen wie er in seiner Jugend, Hippies.

 

Die Doppelstunden Chemie und Mathe –beim Hausdrachen Fiedler- überstanden und ein belegtes Brötchen in der Hand haltend schlenderte ich über den Schulhof.

Einige der jüngeren Schüler schauten unverhohlen zu mir auf, sagten jedoch nichts, als ich vorbei lief und mich zu einer kleinen Gruppe aus der 12 a stellte, bei der Pascha sich niedergelassen hatte.

„Da bist du ja! Dachte schon du bist gestorben!“

Lachen schwappte mir entgegen.

Ich wollte nicht hier sein. Die Typen nervten.

Du hast einen Ruf zu wahren, also reiß dich zusammen, ermahnte ich mich nachdrücklich, während sich ein Grinsen auf meine Lippen zwang und ich den Typen neben Pascha unsanft von der Bank schubste.

„He, was soll…“

Ignorier den Kerl. Wie auch immer er hieß. Mirko? Markus? Egal.

 

Ich war noch nicht ganz fertig mit dem Brötchen, als sich jemand neben mich, auf das kleine Stück freie Sitzfläche, quetschte.

Julia, die Nervensäge aus der 11a. Jeder aus der Zwölften hatte schon etwas mit ihr gehabt. Außer mir. Allein der Gedanke daran es mit IHR zu tun widerte mich an. Wer wusste schon was man sich bei ihr alles einfing. Da lehnte ich doch dankend ab und wurde schräg angesehen, denn immerhin: welcher Kerl mit Augen im Kopf würde diese Granate abweisen?

Nein, Schlampen waren nicht mein Typ. Außerdem trug sie zu viel Make-up und die Brüste quollen aus ihrem kurzen Top hervor. Absolut unästhetisch.

„Hey Noah.“ Ihr hohes, wenn man richtig hinhörte, quietschiges Stimmchen verschlimmerte die Sache um ein vielfaches.

„Warum guckst du so abwesend?“

Wie lange konnte ich sie wohl ignorieren? Würde sie irgendwann aufgeben? Nein sie war hartnäckig, genau wie Fußpilz. Womöglich sogar schlimmer.

„Geht’s dir denn nicht gut?“ Als sie mir die Hand auf die Stirn legen wollte reichte es. Unsanft griff ich nach ihrem Handgelenk und schob sie beiseite.

„Julia… du nervst. Verpiss dich einfach.“

Stumm klappte ihr Mund auf, ehe sie krebsrot anlief, mir ein „Penner“ an den Kopf warf und aufgebracht davon stolzierte. Auffällig viele Jungs, selbst die jüngeren starrten ihr dabei hinterher.

„He..“ Pascha, der von dem ganzen wenig mitbekommen hatte, stieß mir mit dem Ellenbogen in die Rippen.

„Siehst du die da?“ Aufgeregt deutete er quer über den Schulhof zur Tischtennisplatte, auf denen sich drei Leute breitgemacht hatten.

„Wer genau? Kurz Blond? Kurz Braun oder Braun mit Zopf und Brille?“

„Kurze blonde Haare, mit dem hübschen Näschen im Buch.“

„Hm.“

„Heiß, oder?“ Pascha erwartete wirklich eine Antwort. Was wollte er hören? Wollte er Bestätigung? Dachte er, wenn ich ja sagte, ich sei Konkurrenz?

„Bist du nicht eigentlich mit Tina zusammen?“, wechselte ich kurzerhand das Thema. Eine Diskussion, ob Blondi ‚heiß‘ war oder nicht, brauchte ich vor Geschichte bestimmt nicht. Konnte mich so kaum schon auf die Auswirkungen des zweiten Weltkrieges konzentrieren.

„Ach…“, lax winkte er ab. „Die ist doch schon seit Mittwoch abgeschrieben.“

„Seid ihr nicht Dienstag erst zusammen gekommen?“

„Ja…“ Mit einem einzigen Wort, schaffte der Grünhaarige es, auszudrücken, dass dieser eine Tag schon zu viel des Guten war.

Verständlich.

Tina war zwar hübsch, aber nervig. Lag womöglich daran, dass sie Julias beste Freundin war.

 

 

Jacek

 

 

Die fünf Haltestellen mit dem Bus vergingen wie im Flug. Auch wenn ich gern auf den Kinderwagen verzichtet hätte, der mir mehr als einmal über den Fuß gerollt war.

Meine Laune war bereits ohne plattgefahrene Füße im Keller, ich wollte bloß noch zu Via und Bryn um mich ausheulen zu können.

Die euphorische ‚Ich-schaff-alles‘-Einstellung hielt bis zum Schultor. Danach wollte ich nur noch heulen, die AG verlassen und mich in seinem Bett vergraben bis die Welt unterging oder von Außerirdischen überrannt wurde.

 

Vias Haus unterschied sich kaum von den umstehenden Häusern.

Alle in klinischem Weiß gehalten. Mit gepflegtem Vorgarten. Blühende Blumenrabatten, akkurat kurzer Rasen, mit weißen Liegestühlen gespickt. Den einzigen Unterschied, konnte man am Briefkasten festmachen. Vias Mutter, die Kinderärztin Dr. Wehrmeister liebte exotische Briefkästen, weshalb mich ein breit grinsender Frosch mit Zigarette zwischen den Lippen anstarrte, den Namen der Familie lässig auf den Oberschenkel tätowiert.

„Die Dinger werden jedes Jahr abartiger…“ murmelte ich zu niemand bestimmtem, während ich das Tor öffnete und hoffte, dass auch dieses Jahr, der Briefkasten auf mysteriöse Weise verschwinden würde. (Für diese mysteriöse Weise wollte ich aber nicht mit Via und Bryn im Suff nach draußen schleichen und das Ding im nahegelegenen Tümpel versenken müssen. Schon wieder! Letztes Halloween war mir eine Lehre!)

Noch an das letzte Jahr denkend, erreichte ich die Haustür und hielt den Klingelknopf solange gedrückt, bis Vivianne genervt aus ihrem Zimmer nach unten getrampelt kam und die Tür aufriss.

Hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen?

Neeeein.

Via und Bryn durften gern wissen, dass ich schlecht drauf und es diesmal todernst war!

 

„Ich hasse einfach ALLES!“ theatralisch riss ich die Tür zum Zimmer meiner Freundin auf und warf mich, das Gesicht voran, auf das Kingsize Bett. Sofort versuchten die vielen, mit etlichem Kitsch verzierten Kissen mich zu ersticken.

Bryn die in einem Sessel neben dem Bett saß, die Nase in einem dicken Wälzer vergraben, mit einem Zahnstocher Knabberkram aus ihrer Zahnspange pulend, hob kaum merklich die Augenrauen. Das einzige Zeichen, welches erkennen ließ, dass sie bemerkte, dass das fehlende Schäfchen endlich eingetroffen war.

„Und warum hasst du ALLES? Nach dem Unterricht war doch alles gut.“ Seufzend betrachtete Vivianne meine Rückansicht. Das ‚Wie kann man nur so übertreiben?‘ stand ihr ins Gesicht geschrieben und zwar so offensichtlich, dass ich nicht einmal hinschauen musste

Seufzend ließ sie sich in den zweiten Sessel im Zimmer fallen. Ich würde darauf wetten, dass sie sich erst die Brille richtete und dann begann ihre dicken schwarzen Haare –absolute Pferdeloten!- zu einem Zopf zu flechten. Wäre ich nicht so angefressen würde ich jetzt nachsehen, stattdessen sprang ich aufgebracht vom Bett, warf die Arme in die Luft und begann über den pinkfarbenen Langflorteppich zu tigern, während ich ihr ein bissiges „Wegen Anne!“ entgegen rief.

Eine halbe Stunde später hatte ich mein Herz ausgeschüttet und saß wie ein Häufchen Elend auf Viviannes Bett.

„Und was mach ich jetzt?“ Weinerlich schaute ich von einem Sessel zum anderen.

„Deine Eier suchen!“, waren die ersten Worte, die Bryn zum Besten gab, seit ich hier angekommen war. (AUA, Im Übrigen. Meine Eier sind genau da wo sie sein sollten Besten Dank auch) Selbst wenn sie ihr Buch noch immer nicht beiseitelegen wollte. „Dieses unmännliche Gejammer ist ja nicht um Aushalten. Wie kann man sich nur so schwul verhalten, wegen eines verfickten Theaterstückes was keine Sau interessieren wird?“

Hallo? Ich war schwul! Da konnte man das Wort schwul doch nicht als Beleidigung nehmen!

Anstatt sauer zu werden nickte ich jedoch nur. „Hast ja Recht. Sorry. Keine Ahnung was mit mir los war.“

„Ich hab immer Recht. Kapier es endlich.“ Bryns Augen wanderten zurück auf die vergilbten Seiten vor sich.

„Jaja… Hast du für heute irgendwas geplant? Muss meinen Bus um 19:07 Uhr kriegen Tommy und ich wollen heute Abend einen Film zusammen ansehen, kann also nichts Extravagantes mitmachen.“

„Was vom Chinesen bestellen, über Anne lästern und das Stück der Diederich von vorn bis hinten schlecht machen? Habt ihr eigentlich schon die Texte bekommen?“

„Nein, erst am Montag.“

„Wie das? Dachte die Frau hat immer eine Millionen Kopien ihrer Stücke dabei, damit sie auch ja jeder lesen kann.“ Allein bei der Erinnerung an das halbe Jahr Theater AG in der siebten Klasse –in dem Vivianne schriftlich bestätigt wurde, dass sie so viel Talent hatte wie eine platt gefahrene Birne- überfielen sie –offensichtlich- heiße und kalte Schauer.

„Diesmal nicht. Hat vielleicht schon damit gerechnet gehabt, dass wieder einer Shakespeare vorschlägt.“ Mir war das Ganze auch schon merkwürdig vorgekommen, hatte es jedoch mit einem Schulterzucken abgetan. Dann musste ich mir wenigstens nicht das Wochenende mit solch einem Stuss vermiesen.

Doch der Stuss hatte nächstes Jahr ein Ende. In meinem Abschlussjahr konnten die Jungs… oder besser ich, bestimmen was aufgeführt wurde. Dazu mussten wir nur die Mädels schlagen.

Konnte doch gar nicht so schwer sein, wir müssten nur…

„Au!“

Eine Tempobox traf mich am Kopf, während ich darüber fantasierte Anne zu schlagen.

„Hör auf zu träumen. Sag endlich was du vom Chinesen willst, denn wenn ich in 25 Minuten meine gebackenen Bananen nicht in Händen halte, dann esse ich dich!“ Ihre grünen Augen funkelten zur mir herüber wie fiese Giftschlagen.

Eine Hungrige Bryn war nie gut. Eine Hungrige Bryn war fast so schlimm wie eine Bryn, die man tatsächlich Brynhild genannt hatte. (Noch ein Fehler den ich im Suff begangen hatte. Ich hatte Bryn dank ihrer geblümten Mädchenbluse und dem Glockenrock unterschätzt, doch die Kopfnuss die sie meiner Nase verpasst hatte, hatte es in sich gehabt.)

„Bestell mir die vier.“ Rief ich hastig zu Via, die bereits am Telefon hing um zu bestellen.

„Weißt du überhaupt was die Nummer vier ist?“

„Nein. Bestell einfach. Ich will nicht das sie mich frisst…“ Nur vorsichtshalber brachte ich ein paar Meter Sicherheitsabstand zwischen mich und meine engelsgleiche Freundin, deren Zahnspange gefährlich aufblitzte.

 

Der Lieferservice war schnell, brachte Bryn ihr Essen in unter 25 Minuten und retteten damit ein unschuldiges Leben, sodass ich es schaffte pünktlich den letzten Bus nach Hause zu erwischen.

Diesmal war zum Glück kein Kinderwagen im Bus zu sehen. Sodass ich die nächste halbe Stunde in einem fast leeren Bus verbrachte, bis ich schließlich an meiner Haltestelle ausstieg und die fünfhundert Meter bis nach Hause lief.

 

„Tommy?“ rief ich lautstark in den Flur hinein, kaum dass ich die Haustür aufgeschlossen hatte.

„Küche!“

Lächelnd warf ich meine Schlüssel auf den Schrank im Flur und folgte der tiefen Stimme.

„Riecht gut. Was wird das?“

„Hab Kekse gebacken.“

„Im Sommer?“

„Na an Weihnachten kann das jeder, oder?“ Tommy, der mindestens einen Kopf größer war als ich, grinste breit, ehe er einen Arm um meine Schulter legte. „Außerdem musst du doch groß und stark werden, kleine Lilie.“

„Nenn mich nicht so du großer Trottel.“ Spielerisch boxte ich meinem Bruder in die Seite. Dieser lachte nur und zerzauste mir die glatten Haare.

Vermutlich hätte niemand geglaubt das Tomasz und ich in irgendeiner Weise verwand waren. Ich war maximal normal gebaut, während Tomasz an einen Schrank erinnerte, mit Dreitagebart, Tattoo auf dem Arm und einem Piercing in der Nase.

Nur unsre Haare waren farblich beinahe identisch auch wenn Tommys Kopf wilde kurze Locken zierten.

Und doch…

„Hey Kleiner… Träum nicht. Such dir schon Mal einen Film aus. Milch und Kekse bring ich gleich rüber.“

Sanft wie das Lämmchen, das er war, schubste er mich in Richtung Wohnzimmer wo ich mich auf der Couch breit machte und die DVDs durchschaute, die auf dem Tisch verteilt lagen.

„Kommst du endlich? Ich will Kekse! Und Eistee!“

 

 

Noah

 

 

Loui und Couki krakeelten, als Pascha die Haustür aufschloss. Gerade rechtzeitig konnte er die Tür hinter uns ins Schloss fallen lassen, als auch schon ein blauer und ein grüner Federpuschel auf ihn zugeschossen kamen.

Das Begrüßungskommando, ließ sich noch immer laut zwitschernd, auf Pawels Haarnest sinken. Der Grüne schien aufgeregt erzählen zu wollen, was ihm spannendes widerfahren war, während die Blaue langsam verstummte und begann mich zu mustern.

„Wag es dir Couki. Du kackst mir nicht wieder auf die Schulter“, knurrte ich sie an als ich den Blick der Vogeldame bemerkte, der wie gebannt auf meiner Schulter haftete. „Das Hemd ist neu. Federvieh.“ Und es war weiß. Und ich wusste, wie beschissen Vogelkacke war.

Couki schien das ganze jedoch als Einladung aufzufassen, denn mit ein paar Flügelschlägen flatterte sie von Paschas Kopf, zur zuvor anvisierten Schulter und ließ sich nicht wieder von dort vertreiben.

„Mann, warum liebt die dich so? Loui wird noch eifersüchtig und hackt dir die Augen aus.“ Doch Loui blieb unbeeindruckt vom Verhalten seiner Frau. Gelassen flog er zurück zur offenen Käfigtür, knabberte an ein paar Körnern herum und flirtete schließlich mit seinem eigenen Spiegelbild.

Sollte Couki auch mal probieren. Wäre mir persönlich lieber als das Vieh auf meinem Hemd sitzen zu haben.

„Joana?“ Keine Reaktion als Pawel nach seiner Schwester rief.

„Elendes Plag. Sie weiß doch genau, dass sie die Vögel einsperren soll wenn sie weggeht.“

Ich hörte nicht zu, als mein Freund sich über seine kleine Schwester aufregte. Stattdessen versuchte ich das Federvieh von meiner Schulter zu vertreiben. Mit pusten –schien ihr zu gefallen, zumindest zwitscherte sie leise und zufrieden klingend vor sich hin, während sie sich ein bisschen aufplusterte. Mit Schulter schütteln –machte ihr auch nichts aus, je mehr ich schüttelte, desto fester krallte sie sich an mir fest.

Sogar mit dem Finger wollte ich sie beiseiteschieben… Das Biest hüpfte einfach auf meinen Finger und von dort aus zurück auf die Schulter. Wieder. Und wieder. Und wieder. Wie bei einem Spiel.

„Dann bleib halt sitzen du Mistvieh.“

Könnten Vögel grinsen, würde die Wellensittichdame es genau in diesem Moment, dem Moment ihres Sieges, tun. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Blödes Vieh.

„Pizza bestellen?“ Ich hatte gar nicht bemerkt, wie Pascha in der Küche verschwunden war. Erst als dieser ins Wohnzimmer zurück kam und mit einem Flyer vor meiner Nase herumwedelte fiel mir auf das es zu Ruhig im Raum war.

„Klar. Bestell mir eine Quattro Formaggi mit extra Käse.“

 

Eine dreiviertel Stunde später saßen wir in Pawels Saustall, aßen die Pizzen und versuchten uns nebenbei auf der PS4 gegenseitig fertig zu machen.

Die Kontroller starben dabei einen super fettigen Heldentod.

„Iglouwisonpaseman“

„Hä?“

Ich schluckte den zu großen Bissen Pizza hinunter, ehe ich wiederholte, dass ich glaubte wir sollten besser Pause machen, ehe die Kontroller implodierten, oder so.

Hatte keine Ahnung von der Technik, aber bei unserem Glück würden die genau das tun.

„Ist ja langweilig…“, brummte Pascha, stellte das Spiel dennoch auf Pause.

Stumm vernichteten wir den Rest unserer Pizzen.

Pawel war der Erste, der das Schweigen brach, als er fertig war. „Ich glaub Couki liebt dich mehr als Loui.“

„Glaub ich auch…“ Missmutig schielte ich zu dem dösenden Vogel, der noch immer meine Schulter als Sitzplatz missbrauchte.

„Und ich glaub sie hat dir auf die Schulter gekackt…“

 

Unter viel Gekreisch und Gezeter –nicht alles kam vom Vogel- verfrachteten wir den Wellensittich schließlich in ihren Käfig. Beleidigt drehte sie uns –vor allem mir- den Rücken zu, würdigte uns keines weiteren Blickes.

Konnte mir nur recht sein.

„Kann ich mein Hemd bei dir auswaschen?“

„Klar. Soll ich dir ein Shirt von mir leihen in der Zwischenzeit?“

Angewidert verzog ich das Gesicht.

„Lieber geh ich oben ohne, als rumzulaufen wie ein Penner.“

„Ey!“

Ich liebte Pascha. Ganz ehrlich. Wenn einer der Bruder war, den ich nie hatte, dann er. Doch er war eine Schlampe. In jedem möglichen Sinn.

Eine Freundin/Bekanntschaft nach der anderen, das Zimmer eine Müllhalde –eine schmutzige Unterhose lag da schon seit den Osterferien- und die Klamotten… davon wollte ich gar nicht reden.

Wenn mir der Sinn nach löchrigen Shirts stand dann… nein… soweit würde es nie kommen. Da konnten sämtliche Höllen zufrieren.

 

Um kurz nach zwei fielen uns schließlich die Augen zu. Das Spielen hatten wir vertagt und stattdessen beschlossen alle Folgen von Game of Thrones zu schauen.

Tja, daraus wurde nichts. Nach der zweiten Folge, lagen wir laut schnarchend auf Paschas Bett. Er, sich breiter machend, als er eh schon war und ich die Arme um sein Bein schlingend und es als Kuscheltier benutzend. Haarig genug war es dafür ja.

Am Morgen wurde ich für diese Kuschelaktion gnadenlos aus dem Bett gekickt.

„Arsch…“ Knurrte ich meinen besten Freund an. Überlegte, ob ich einfach auf dem Boden weiterschlafen konnte, doch da rumste es auch schon vor der Tür und aus war es mit der Ruhe.

Paschas Mutter schrie Joana an, die wie es schien, jetzt erst nach Hause gekommen war, ohne vorher Bescheid gegeben zu haben, dass sie überhaupt weg war. Joana, 16 und stur wie man in diesem Alter nun mal war, plärrte zurück. In einer Lautstärke die verboten werden sollte.

„Bleibsuzmfrüschk?“

Da ich so ein guter Freund war, konnte ich erahnen was genau er von mir wollte.

Mein Körper schrie nach Kaffee und frischen Brötchen, deren Duft mittlerweile unter der Tür hindurch zu uns gewabbert kam, dennoch lehnte ich nach kurzem Überlegen ab.

Eine wütende Agnes Nowak UND eine Joana die mir ständig schöne Augen machte? Nein danke. Das hielt niemand aus.

„Nee… fahr besser heim. Gucken ob meine Mutter sich wieder Vorwürfe macht.“

Pascha war einer der wenigen Menschen, die wussten, dass meine Mutter nicht immer die fröhliche Frau war, die sie nach außen hin gab.

„Is gut. Grüß schön.“ Gähnend zog er sich die Decke über die verwuschelten Haare –an das Grün musste ich mich noch immer gewöhnen- und machte sich dran, einfach weiter zu schlafen.

„Du weißt wies raus geht… nich?“ Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern döste bereits wieder ein, als er das ‚nich‘ noch auf den Lippen hatte.

So ein Schnarchsack.

 

Ächzend sammelte ich meine Knochen vom Boden auf, ebenso meine Jeans, schlich ins Bad, wo ich mein mittlerweile wieder sauberes Hemd fand und zog mich an.

Ich spielte mit dem Gedanken mich still und heimlich aus dem Haus zu schleichen, doch mein Helm musste irgendwo in der Küche oder dem Wohnzimmer liegen, sodass ich die Familie Nowak, die eindeutig schlechte Laune hatte, doch kurz begrüßen musste.

Agnes funkelte mich erst wütend an, hielt mich womöglich für ihren Sohn, setzte jedoch ein Lächeln auf als sie mich erkannte.

„Noah, mein Lieber. Pawel hatte gar nicht gesagt, dass du zu besuch kommst. Warte ich hol dir noch ein Gedeck. Du isst doch bestimmt mit, nicht?“

Sie wuselte bereits an mir vorbei und wühlte in diversen Küchenschränken herum, ehe ich dankend ablehnte.

„Ich kann leider nicht bleiben Agnes. Tut mir leid. Aber Ma wollte heute irgendwas mit mir machen. Deshalb sollte ich mich beeilen, ist schon recht spät.“

„Wie schade. Aber beim nächsten Mal bleibst du länger, ja?“

„Oh ja, beim nächsten mal musst du unbedingt länger bleiben“; mischte sich nun auch Joana ein, die mich mit den Wimpern klimpernd, anstrahlte.

Das Zeichen für mich, schnellstmöglich von hier zu verschwinden.

„Klar Agnes. Jetzt muss ich aber wirklich los. Du hast nicht zufällig meinen Helm gesehen?“

Paschas Mutter schüttelte mit dem Kopf. Ihre kurzen dunklen Locken hüpften dabei wild um ihren Kopf. „Hast du sie gesehen?“ Ihr Blick glitt an mir vorbei zu ihrem Mann, Bartosz, der den Kopf hinter einer Zeitung vergraben hatte.

„Schuhschrank“, brummte er ohne aufzusehen oder gar irgendeine Emotion durchscheinen zu lassen.

Paschas Vater war seltsam. Er hatte sich zwar nie schlecht mir gegenüber verhalten. Doch konnte man auch nie eine Gefühlsregung bei ihm erkennen. Es war, als wäre er eine Bronzestatue die sich zwar bewegen und reden konnte, jedoch nie auch nur ein Mundwinkelzucken oder Naserümpfen zustande brachte.

„Vielen Dank.“

Ein Brummen kam hinter der Zeitung hervor. Ich deutete es als „gern geschehen“.

„Bis zum nächsten Mal. Lasst euch das Frühstück noch schmecken.“ Und schon war ich weg. Schnappte mir auf dem Weg nach draußen zu meinem Motorrad den Helm vom Schuhschrank und war heilfroh, Joanas Blick endlich entkommen zu sein.

Seit sie sich für Jungs interessierte war sie gruselig.

Auf dem Weg nach Hause hielt ich beim Bäcker an. Grade so hatte ich die letzten Brötchen erwischt, ehe er schließen wollte. Heute quatschte die Verkäuferin auch nicht so lange wie sonst. Hatte wohl was vor.

Zu schade.

Gerade heute, wo ich nicht scharf darauf war nach Hause zu kommen, hielt mich keiner davon ab. Wie es sonst immer der Fall war.

Kein Verlass mehr auf die Leute.

Vielleicht könnte ich zu Pascha zurück und mich dort bis morgen früh einquartieren…

Seufzend parkte ich das Motorrad in der Einfahrt, den Garagenschlüssel hatte ich im Haus vergessen, als ich gestern zur Schule gefahren war. „Ma? Bin zuhause!“

Geschirr klapperte in der Küche, jedoch kam keine Reaktion.

Ein Blick in die Küche verriet warum. Meine Mutter trug ihre übertrieben großen Kopfhörer. Hin und wieder schien sie stumm mit den Lippen Worte zu formen. Ein Indiz dafür, dass sie sich wieder eines dieser scheußlichen Selbsthilfedinger anhörte.

Wie gerne würde ich sämtliche Dateien von ihrem Handy, dem PC, dem USB-Stick für das Autoradio und von ihrem I-Pod löschen.

„Warum tust du dir diesen Scheiß immer wieder an?“ fragte ich sie, während ich ihr die Kopfhörer von den Ohren zog und ihr einen Kuss auf die Wange gab.

Erstaunt sah sie von ihren nassen Händen auf. Wann immer sie verunsichert war, begann sie zu spülen, trotz des funktionierenden Geschirrspülers direkt neben ihr. Zu spülen und sich diesen Schrott anzutun.

„Lass uns frühstücken. Ich hab Brötchen mit.“

Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht.

„Du bist ein Engel. Gib mir nur fünf Minuten. Dann bin ich mit den Tellern fertig und die Lektion geht auch nur noch ein paar Minuten.“

Unwillig verzog ich das Gesicht.

Ich sollte am besten sämtliche Abspielgeräte vernichten, nicht nur die Dateien.

Während meine Mutter sich weiter diesem Schwachsinn hingab, brachte ich meinen Rucksack in mein Zimmer, ehe ich den Tisch in der Küche fürs Frühstück deckte.

 

 

 

--------

Hallo zusammen.

Eigentlich trau ich mich gar nicht was neues hochzuladen, da ich Radugi Lovit immer noch nicht fertig gestellt habe....

Aber egal...

 

Was haltet ihr von den Jungs so weit?

Lohnt es sich weiter zu machen?

 

PS: Cover wird irgendwann noch verändert

PPS: Wer nen ordentlichen Klappentext schreiben möchte: immer her damit...

Kapitel 2

 

Kapitel 2

 

Jacek

 

Konnte ein Theaterstück wirklich so mies sein?

Mit etwas Ellenbogeneinsatz hatte ich es geschafft einen der letzten Plätze im Bus zu ergattern damit ich in Ruhe beginnen konnte meinen Text zu lernen und dann das.

Das musste man sich auf der Zunge zergehen lassen.

                        Kurfürst von Hagen, seine Frau, der Diener Bückling

                        betreten den Salon

            Kurfürst (sich umsehend) Wo ist meine Tochter?

            Bückling Nicht hier mein Herr…

            Kurfürst Das seh ich! (Lauter werdend, das Gesicht rot vor Zorn) Hol sie                                                                     zu uns du Tölpel.

            Bückling (sich ängstlich verneigend) Sehr wohl Herr.

                                                                                              (ab)

 

Ja, ich wollte auch den Bückling machen und verschwinden so schnell es ging. Obwohl meine Rolle noch nicht einmal aufgetaucht war.

Dennoch las ich weiter.

Als Schauspieler musste man sich auch mit beschissenen Rollen zufrieden geben.

Den Dialog des Kurfürsten und seiner Frau übersprang ich.

Ganze fünf Seiten musste ich blättern, bis Bückling Ludmilla gefunden und in den Salon verfrachtet hatte.

           

                                 Tochter des Kurfürsten Ludmilla von Hagen und Bückling             

                                 betreten den Salon

           

            Kurfürst (mit strenger Miene) Setz dich, Kind. Deine Mutter und ich haben dir                         

                          gute Neuigkeiten zu überbringen.

             Ludmilla (zu sich selbst sprechend, von den Eltern abgewandt) Eure guten                        

                           Neuigkeiten können nur Unglück über meine arme Seel‘, mein armes                

                           Herze bringen.

                           (sich den Eltern zuwendend) Welch gute Neuigkeiten habt ihr zu      

                            berichten Vater? Welch Neuigkeiten bringen Euch Anlass zur Freude?

            Kurfürst (mit ausladenden Bewegungen) Freiwald!

            Ludmilla (mit Verwunderung) Freiwald? Was ist mit ihm?

                           (zu sich selbst sprechend) Untergegangen beim Bad im See? Dem  

                           Unhold würd es recht geschehen.

             Kurfürst Vermählt wirst du mit ihm. Heut Morgen nach der Kirche bat er um                

                          deine Hand.

             Kurfürstin (Verzückt) Solch wunderbare Neuigkeit. Welch glückliche      

                             Verbindung. Meine Tochter als Gattin des edlen Barons.

             Ludmilla Aber Vater…

              Kurfürst (sie unterbrechend)             Zum nächsten Sonntag wirst du vermählt sein.

            Ludmilla Aber Vater, das sind keine fünf Tage…

            Kurfürst                                                           Zerbrich nicht deinen  

                        hübschen Kopf mein Kind. Das Fest wird groß. Die Gäste reichlich.

                        Aus allen Landen werden sie kommen. Die Boten bereits heute Morgen ausgeschickt,

                        erreicht sie schon bald die frohe Kunde.

             Ludmilla Aber Vater…

              Kurfürst                     Nur keine Bange Kind, zum Bangen bleibt keine Zeit. Bückling!

            Bückling (eilt zum Kurfürst) Ihr wünscht Herr?

            Kurfürst                     Zur Schneiderin sollst du eilen. Das beste Kleid für meine Tochter.

                         Die Schönste Braut wird sie im Land sein.

                        Und nun hinfort mit euch!

                                                           (Kurfürstin, Bückling ab)

              Ludmilla (auf ihren Vater zutretend) Vater…

             Kurfürst                                             Auch du Kind! Reichlich ist zu erledigen bis zur Hochzeit.

                 (sie davon winkend, die Stirn in Falten gelegt, mit dem Geiste nicht mehr anwesend)

                                                           (Ludmilla ab)

 

Nur mit Mühe und Not schaffte ich es, nicht in den Bus zu kotzen, der zu meiner Rettung endlich an der Haltestelle vor der Schule hielt.

Warum musste die Diederich uns mit solchem Mist quälen? Warum fabrizierte ihr krankes Hirn einen solchen Dreck? Und warum zur Hölle hatte ich nicht einfach Shakespeare zugestimmt. Der Mann wusste zumindest mit Worten umzugehen und eine Geschichte zu erzählen.

Dann dachte ich an Anne und wusste warum.

Die Mistkuh musste sich mit genau der gleichen Grütze herumquälen! Geschah ihr recht. Und noch mehr würde es ihr Recht geschehen, wenn ich sie mit dieser Rolle in Grund und Boden stampfen würde!

„Denkst du an Anne?“ Vias Stimme ertönte aus heiterem Himmel neben mir.

„Wieso?“ Misstrauisch musterte ich meine Freundin. Konnte sie neuerdings Gedankenlesen?

„Du würgst deinen Text, wie ein Huhn, dem du den Gar ausmachen willst.“

Erstaunt betrachtete ich das kleine Heftchen in meinen Fingern, geknickt und zerknittert. Ups. Doch kein Gedankenlesen. Nur die übliche, verräterische Körpersprache.

„Wo ist Bryn?“ Lenkte ich das Thema von Anne ab, ehe ich Felicitas erklären musste, warum zur Hölle ich ihr wunderbares Meisterwerk in winzige Fetzen gerissen hatte.

„Kommt später.“

 

„Hast du wieder einen schlechten Tag?“ Ohne richtige Begrüßung ließ Bryn sich, in der Pause vor der zweiten Stunde, neben uns auf einen freien Platz fallen.

„Nein… ich glaub ich finde mich langsam mit dem Stück a…“ – „Ich meinte nicht dich, oh großer Künstler, sondern Uncle Sam hier.“ Vielsagend deutete die Blonde auf Vivianne, die heute, anstatt des adretten Faltenrockes mit passender Bluse und Kniestrümpfen im Schuluniform-Look, in schlabberige Uncle-Sam Jogginghosen und ein Muscle-Shirt gehüllt war.

„Stimmt… Du trägst dein ‚Ich hab einen schlechten Tag‘ Outfit. Und du hast noch nichts von deinem Problem erzählt, also willst du gar nicht drüber reden, und das bedeutet es ist etwas Ernstes!“

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitz. Man war ich stolz auf meine Fähigkeit solche Dinge zu erkennen.

„Schon klar Sherlock… du siehst das offensichtliche. Aber jetzt raus mit der Sprache Via. Was bedrückt dich.“

Ehrlich? Ich liebte Bryn. Abgöttisch. Doch heute war sie ein dämliches Miststück. Muss wohl beim Zahnarzt gewesen sein. Das letzte Mal, dass sie so mies drauf war, war vor den letzten Osterferien, als sie das Zaumzeug für ihre angeblich schiefen Zähne angelegt bekommen hatte.

Seht ihr, ich war wirklich ein Sherlock. Kam ganz alleine drauf, ohne dass eine der beiden mir davon erzählen musste. Bryn sollte besser nicht so herablassend über meine Kombinationsgabe sprechen.

„Meine Eltern…“

Oh Schreck. Wenn Via so begann, sollte man die Koffer packen und ins Outback oder den Dschungel oder die Arktis auswandern.

„… Das Praktikum nach den Winterferien… Die zwei haben mir nicht mal die Chance gelassen selbst etwas zu suchen. Mein Vater erzählte mir heute Morgen ganz stolz, dass er mir einen Platz in der Praxis seines Freundes besorgt hat. Ich kann mich ja SO glücklich schätzen. Dr.Winter war solch ein begnadeter Chirurg! Erzittern muss man vor Ehrfurcht! Und ich, ICH darf bei ihm ein Praktikum machen….“ Viviannes Stimme zitterte, ehe sie wütend auf den Tisch schlug. Der schlafende Typ vor uns, zuckte ganz erschrocken zusammen.

„Ich hasse es wenn sie das tun! Ich will kein Praktikum in einer Praxis machen. Ich will nicht werden wie sie! Ich will ja nicht mal studieren, schon gar nicht Medizin! Nach der Schule will ich einfach nur weg hier. Nach Afrika um Schulen zu bauen. Für Menschenrechte in den ‚dunklen‘ Gegenden der Welt Kämpfen… Irgendwas… Nur kein spießiger Mediziner werden wie die zwei es sind. Ich…“

Beruhigend legte ich meiner Freundin eine Hand auf die Schulter, während Bryn ihr die Brille auf der Nase zurecht rückte.

„Das Praktikum ist noch lange hin. Such dir bis dahin doch selbst noch einen Platz, überzeug deine Eltern, dass du für dein gewähltes Praktikum besser geeignet bist… oder fälsch einfach ihre Unterschriften und tritt das Praktikum ohne ihr Wissen an.“

„Und das soll klappen? Du kennst meine Eltern…“ Nun war sie an einem Punkt angekommen, an dem Tränen in ihr aufwallten und herausbrachen.

Zeit für mich sie in Bryns Arme zu drücken und eine volle Blase vorzutäuschen. Oder einen Magen-Darm-Infekt. Wenn das Thema Eltern oder deren Zukunftspläne für sie angesprochen wurden flossen die Tränen lange. Da reichte es nicht einfach nur kurz pinkeln zu gehen.

Verdammt.

 

 

Noah

 

 

„Was zum Henker treibst du da eigentlich?“

Es war verdächtig wie ruhig Pascha neben der Bank auf der Wiese hockte, zusammengekauert und manchmal leise vor sich hin lachend. Wie die Bösen im Märchen.

„Ich?“ Ertappt schaute er auf. „Nichts?“

Mein Blick fiel auf das glitzernde, pinkfarbene Handy, das er versuchte in seinen Riesenpranken zu verstecken.

Skeptisch schaute ich von Pascha zu den Mädels auf der Weitsprunganlage. Alle quasselten ununterbrochen aufeinander ein, mit zwei Ausnahmen. Ausnahme eins: die arme Sau die in diesen verdreckten Sand springen musste. Ausnahme zwei: Clara. Diese betastete panisch ihre pinkfarbenen Shorts. Wieder und wieder und wieder. Zwischendurch drehte sie sich, wie ein Hund, im Kreis und tastete die Hose erneut ab.

„Hast du Claras Telefon geklaut?“

„Ich?“ Wie auf Kommando weiteten sich seine Augen, fast wie die Katze meiner Oma wenn sie vortäuschte am Verhungern zu sein, obwohl das dumme Fressvieh eine Stunde zuvor erst Futter bekommen hatte.

Und beinahe schon schimmerte das Licht in ihnen wie in schlechten Animes.

„Ich würde doch nie der armen Clara das Handy klauen. Es ist ihr rein zufällig aus der Hosentasche gefallen. Und damit keiner ausversehen drauftritt halt ich es jetzt in den Händen.“

„Klar“ schnaubte ich ihm verächtlich entgegen. Er hatte auch schon mal besser gelogen. „Was willst du mit dem Ding?“

„N…“

„Und komm mir jetzt nicht mit nichts. Du hast darauf rumgetippt. Also raus damit.“

„Das liebe, süße Clärchen hat ungezogene Bildchen von sich gemacht… und ich hab es ganz spontan an diverse, zufällig ausgewählte Nummern geschickt.“

„Wisch die Abdrücke, die deine Schmierfinger hinterlassen haben, weg ehe du das Ding zurückgibst. Die verraten dich eindeutig. Und glaub mir… Clara würde dir den Kopf abreißen wenn sie wüsste, dass DU der Übeltäter bist.“

Diabolisch grinsend aktivierte er die Tastensperre und wischte mit seinem löchrigen Sportshirt die verräterischen Spuren weg, während der Sportlehrer nach uns rief.

 

„Was für Weicheier…“ Kopfschüttelnd beobachtete Pascha wie die restlichen Kerle der beiden zwölften Klassen, nach und nach, schniefend ihre letzten Runden beendeten und sich um den Sportlehrer herum versammelten.

„Kann ja nicht jeder seine Runden, bei dieser Hitze, schneller durchziehen als eine altersschwache Schildkröte“ versuchte ich die anderen zu verteidigen, doch dieses wehleidige Jammern… nein… ging gar nicht. Auslachen musste man diese Jammerlappen.

„Gräfe!“

Wenn man nicht grade vom Lehrer ins Visier genommen wurde.

„Ja?“

„Zeigen sie den Herren hier, dass schönes Wetter keine Ausrede ist, nicht am Sportunterricht teilnehmen zu können.“ Vielsagend deutete der Graumüller, der seinem Namen alle Ehre machte, auf das Metallkonstrukt neben der Laufstrecke.

„Ein paar Klimmzüge sollten für das starke Geschlecht immer machbar sein!“

 

Während wir als letztes zu den Umkleidekabinen aufbrachen warfen die anderen mir noch immer böse Blicke zu, gerade so, als wäre es meine Schuld, dass Klimmzüge für sie ein Ding der Unmöglichkeit waren.

„Ey, guck mal. Ist das nicht die Süße von der Tischtennisplatte?“ Paschas Ellenbogen bohrte sich ohne Vorwarnung in meine Seite, während er wild mit der Hand des anderen Armes in Richtung Schulgebäude fuchtelte.

„Was weiß ich denn?“ Als merkte ich mir, wen der Kerl wann süß fand. Änderte sich sowieso ständig. Dennoch schaute ich auf, einfach um so zu tun, als interessierte es mich. Gott, war ich ein guter Freund.

„Wer ist das überhaupt?“

Schulterzucken. „Weiß nicht. Die muss eine Klasse unter uns sein. Den Rest find ich schon noch raus.“

„Ein Name wäre schon mal nicht schlecht. Dann kassierst du vielleicht auch nicht noch einen Mittelfinger.“

Denn gerade heraus wie mein bester Freund nun einmal war, plärrte er der Blonden irgendetwas quer über den Hof entgegen, woraufhin diese erst zu ihrer Freundin im Sportoutfit schaute und schließlich kopfschüttelnd den Mittelfinger in unsere Richtung streckte.

Bei mir hätte er für so eine Anmache einen Schlag ins Gesicht geerntet.

 

Beim Betreten der Umkleidekabine schauten zwei Augenpaare gelangweilt auf, ignorierten uns jedoch und noch ehe wir die Duschen betreten konnten fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss und ließen uns allen zurück.

Ich wusste warum wir nach dem Sport trödelten. Gemeinsam mit den anderen Kerlen duschen? Bloß nicht. Pascha war das höchste der Gefühle, jedoch nur, da er mich von Anfang an praktisch dazu zwang.

Weder wollte ich die käsigen Labberärsche dieser Typen, noch deren Gehänge näher betrachten.

„Das nächste Mal sollten wir vor den anderen duschen gehen!“

Skeptisch schielte ich über die Schulterhohe Trennwand.

„Spinnst du?“

„Nein! Weißt du wie langweilig es ist jedes Mal nur dich Adonis anschauen zu müssen. Ich will mal Frischfleisch ansehen….“

Mir klappte die Kinnlade herunter. War das sein Ernst?

Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte ich ihn an. Stumm. Er würde zusammenbrechen wenn ich dies lange genug tat.

„Hör auf mich so anzusehen. Is ja gruselig, Mann…“ Sein Duschgel flog über die Duschwand und verfehlte mich um ein ganzes Stück. Zielen konnte er beim besten Willen nicht.

„Wenn einer gruselig ist dann du.“ Kopfschüttelnd stellte ich das Wasser ab. Paschas Duschgel ignorierte ich gekonnt. Sollte der Spinner seinen Scheiß selber holen. Warum schmeißt der Vollidiot bitte damit.

„Ach komm. Das war ein Witz. Ich will die Typen doch nur anstarren bis sie sich winden, weil es ihnen unangenehm ist. Bei dir geht das nicht mehr. Du scheinst immun zu sein.“

Eher nicht, nein. Sagte ich ihm aber nicht, sonst fing er wieder an mich beim Duschen mit seinem Psychopathen-Blick anzustarren… der mich dann zusammenbrechen ließ.

Da kam erneut die Frage auf: Warum war ich mit so was befreundet?

 

Die verschwitzten Sportsachen und das nasse Handtuch in die Sporttasche stopfend wartete ich darauf, das Pascha endlich fertig wurde. Der stand noch immer, fröhlich summend, unter dem Wasserstrahl.

„Man, hör auf dir einen runter zu holen und mach hin. Hab nicht ewig Zeit. Du weißt das ich zu meinem Alten muss!“

Der Kerl holte sich hoffentlich keinen runter. Sonst würde das noch eine Weile dauern.

„Tu ich nicht. Ich will nur den ekligen Sportplatzdreck wegwaschen. Ordentlich. Weißt du wie eklig das Zeug ist wenn dir das in die Arschritze kriecht oder dir den Sack wund schubbert? Nicht cool. Also ruhe. Ich muss mich konzentrieren um alles zu erwischen!“

Zu viele Infos.

Viel, zu viele Infos. Dennoch musste ich ihm Recht geben. Das Zeug schlich sich in alle Ritzen und scheuerte wie nichts Gutes.

„Hast du eine Ahnung wie lange es noch dauern wird?“ rief ich, nach nicht mal einer Minute genervt in Richtung der Duschen.

„Alter, nerv nicht!“

Augenrollend kramte ich im Rucksack nach meinem Telefon. Wenn ich warten musste konnte ich auch Mails checken oder die Sprachnachrichten meiner Mutter abhören oder wild aufs Display tippen um Monster zu killen.

Mails gab es keine.

Ma hatte bis jetzt auch nur zwei Nachrichten hinterlassen. Sollte dran denken zu meinem Vater zu fahren. Abendessen mit der netten Familie. Und sie hatte Kuchen von Oma mitgebracht. Im Schrank mit den Tellern verstaut. Sie wäre spät noch unterwegs.

Ob sie ihren scheiß Psychodoc rumgekriegt hatte?

Buäh, wollte gar nicht wissen was und mit wem meine Mutter es trieb.

Was mich irritierte war die Nachricht von Pinkie Pie. War das nicht dieses seltsame Pferdevieh aus der Kindersendung?

Woher hatte das Vieh meine Nummer? Und warum war es in meinem eingespeichert?

Immer noch irritiert öffnete ich das Gespräch und wünschte, es nicht getan zu haben.

„Nowak du Pottsau! Musstest du Claras Muschifotos auch an mich schicken? Ich wollte nie wissen wie die ohne alles aussieht!“

Konnte ich Clara jemals wieder in die Augen sehen ohne kotzen zu müssen? Vermutlich nicht.

Ehe der Ekel sich weiter in mein Hirn fressen konnte löschte ich die Nachricht. Leider nur vom Telefon, meine Netzhaut hatte dummerweise noch keine Löschen-Taste. Sollte einer dringend erfinden

 

„Wann musst du weg?“ Schmatzend schielte Pascha zu mir herauf.

Widerwillig warf ich einen Blick auf die Uhr, brumme das ‚halbe Stunde‘ als Antwort und stiere weiter von der Parkbank auf in den wolkenlosen Himmel.

„Willst du ‚nen Berliner?“

„Pfannkuchen.“

„Die sind aber nicht in der Pfanne gemacht…“

„Hier heißen sie aber Pfannkuchen. Wenn du Berliner willst musst du wegziehen.“

„Penner…“ Augenrollend griff er zum dritten Mal in die Bäckertüte, griff sich einen der vielen Pfannkuchen und biss hinein. Am falschen Ende.

Die Marmelade klatschte ihm aufs Shirt.

„Siehst du was du gemacht hast. Du hast das Ding beleidigt weil du es als Pfannkuchen beleidigst…“

Angewidert verzog er das Gesicht, ehe er sich mit den Schultern zuckend dran machte den Fleck weg zu lecken. Eklig.

„Willst du dich ernsthaft weiter streiten? Wir können gerne meine letzte halbe Stunde in Freiheit damit verbringen zurück zum Bäcker zu gehen und die Bäckereifachverkäuferin nach ihrer Meinung fragen.“

„Musst du echt schon wieder hin? Warst doch letzte Woche erst…“

„Leider.“

Schweigend machte ich Platz auf der Parkbank, als Pascha sich von der Wiese hievte. Wie ein nasser Sack plumpste er neben mich.

„Willst du echt keinen?“ Erneut drückte er mir die Bäckertüte beinahe ins Gesicht, hatte er die beginnende Diskussion über den korrekten Namen des Backwerks richtig als Ablehnung angesehen.

„Lass mal.“

Das eine Mal, dass ich satt zum Essen erschienen war, bereute ich noch heute zu tiefst. Rita kochte, sehr gut und sehr viel und wenn du nicht mindestens drei Mal Nachschlag nimmst stopft sie es dir persönlich in den Hals, ohne Rücksicht auf Verluste.

Besagter Verlust war in diesem Fall mein Mageninhalt… auf dem teuren Perser. Hässliches Teil. War nicht schade drum… um das gute Essen jedoch schon. Und um meinen Magen. Lag nach der ganzen Aktion zwei Tage krank im Bett, dank Magenschmerzen.

„Soll ich dich nach Hause fahren?“

„So gern ich dich auf deinem Motorrad auch befummel…“ Grinsend fuhr Pascha sich durch die grünen Strähnen. Die Farbe war immer noch gewöhnungsbedürftig. „Aber ich bleib noch ne Weile… Esse meine Berliner…“

„Und verschreckst arme kleine Kinder und wehrlose Omis?“ Vermutete ich und erhielt ein noch breiteres Grinsen dafür.

„Du kennst mich…“

„Das macht mir ja grade Sorgen…“ Kopfschüttelnd erhob ich mich. Einige Knochen knackten unangenehm. Den Rucksack warf ich mir über eine Schulter. „Benimm dich so weit, dass die Leute nicht die Polizei rufen… schon wieder… Okay?“

„Kann nichts versprechen.“

„Nowak…“

Abwehrend hob er die Hände in die Höhe. Schwor mir dann jedoch hoch und heilig sich zu benehmen.

Ich glaubte ihm. Wenn auch nur um ruhigen Gewissens den Park hinter mir lassen und mich auf den Weg in die Hölle machen zu können.

 

 

Jacek

 

 

Die erste Probe für das Theaterstück –ich musste mir verbieten es als Theaterschund zu betiteln- dauerte länger als geplant. Doch was hatte ich auch erwartet. Selbst mir fiel es schwer, zwei Sätze dieses Humbugs korrekt aneinander zu reihen.

Jeder Shakespeare Monolog war einfacher zu behalten als dieses… Zeug.

Wie viel länger die Probe gedauert hatte merkte ich jedoch erst, als ich Tommys Auto vor dem Altbau entdeckte.

„Tommy?“ rief ich in die ruhige Wohnung hinein, erhielt jedoch keine Antwort.

Wäre es nicht meine eigene Wohnung, dann wäre ich in diesem Moment schreiend davon gerannt, da irgendwie jeder Horrorfilm oder jeder Krimi mit so etwas begann.

Routiniert warf ich meinen Schlüssel auf den Schuhschrank im Flur, stellte die Schuhe an ihren Platz auf der Fußmatte und brachte meine Schultasche auf mein Zimmer.

Ich sah mich um, als müsste irgendetwas sich verändert haben. Doch alles sah aus wie immer.

Weiße Wände. Alte Poster von Theatervorstellungen, Kinofilmen und Schauspielern die weit vor meiner Zeit gestorben waren.

Schulbücher, Hefter und lose Zettel Sammlungen stapelten sich auf dem Schreibtisch.

Notizhefte und mit bunten Haftnotizen gespickte Skripte diverser Theaterstücke verteilten sich rings um das kleine Bett.

Alles normal.

Nur das ordentlich gemachte Bett zeigte mir, dass irgendetwas nicht stimmte.

Ich machte nie mein Bett.

Tomazs hingegen…

Seufzend verließ ich mein Zimmer und folgte dem Geräusch von raschelndem Papier in die Küche.

„Hey…“

Mein Bruder saß am Tisch, diverse Zettel vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, die Hände in die kurzen Locken gegraben. Er schreckte aus den Gedanken, als ich ihn ansprach.

„Oh, hey Kleiner. Wo warst du so lange? Hab mir schon Sorgen gemacht“, murmelte er halbherzig, während er die Blätter achtlos auf einen Stapel schob, ganz darauf bedacht, dass ich sie nicht sah.

Wie immer.

„Die Probe hat länger gedauert. Hätte schreiben sollen. Tut mir leid.“ Mein Blick ruhte auf dem Papierstapel in Tommys Händen. „Was ist das? Ist irgendwas passiert? Du siehst aus als wärst du etwas neben der Spur.“

„Hatte nur Stress auf Arbeit, einer ist krank geworden...“

Das schien keine Lüge zu sein. Keine Komplette. Mein Bruder war der mieseste Lügner der nördlichen Hemisphäre.

„Okay…“ Dennoch war ich unzufrieden mit der Antwort. Normalerweise war er nur so drauf wenn das Jugendamt sich ankündigte. Doch die waren erst da gewesen. Also konnte das ausgeschlossen werden.

Verdammt! War es zu viel verlangt mir zu sagen was das Problem war? Ich war keine Zehn mehr… Ich…

„Wir müssen noch einkaufen…“

Ich starrte missmutig in den Kühlschrank. Na wenigstens konnte ich mich so aus Frust nicht vollstopfen. Der Jogurt der mir entgegen blinzelte war bereits vor Weihnachten abgelaufen, jedoch nie entsorgt worden…

Den kann man bestimmt noch essen. Mit diesen Worten wurde er jedes Mal bestimmt zurück in die hinterste Ecke geschoben und ein paar Wochen später erneut entdeckt und für ‚noch essbar‘ befunden.

Gegessen wurde er nie.

Ich sollte ihn wegschmeißen… doch anstatt das richtige zu tun, schloss ich die Kühlschranktür und schaute abwartend zu Tommy.

„Ja, mach dich fertig. Wir fahren gleich. Ich muss morgen zeitig raus. Bräuers Arbeit mit übernehmen. Und dich lass ich nicht soweit allein Tüten schleppen…“ murmelte er mehr zu sich selbst, ehe er in seinem Zimmer verschwand und mit Autoschlüssel und Brieftasche bewaffnet zurück kam.

 

Der dichte Feierabendverkehr ließ uns nur langsam vorankommen. Auch der Parkplatz des Supermarktes quoll beinahe über. Hektisch rannten Menschen unter Zeitdruck in den Laden hinein und wieder hinaus. Als würde etwas Ruhe, etwas weniger Hektik und Stress sie umbringen.

„Ich hätte heute Morgen einkaufen sollen…“ Kopfschüttelnd und leise auf Polnisch fluchend parkte er das Auto. In der entlegensten Ecke des Parkplatzes. Von hier aus konnte man den Supermarkt nur noch erahnen, dafür hatte man jedoch freien Blick auf die wilden Tiere die kreischend und tobend in ihren Autos saßen oder sich versuchten mit den Einkaufswagen gegenseitig kalt zu machen.

Alle irre in der großen Stadt sag ich dazu nur. In solchen Momenten wünschte ich mir die Kleinstadtidylle zurück in der ich aufgewachsen war.

 

Mit einem Wagen bewaffnet schlängelten wir uns durch die Massen an schreienden Kindern, verzweifelten Müttern und gestressten Berufstätigen.

„Sacken wir das nötigste ein und dann raus hier…“

Da konnte ich nur zustimmen.

Beinahe in Rekordzeit suchten wir alles was dringend benötigt wurde zusammen und fanden uns an den verstopften Kassen ein. Wie fast immer erwischten wir die, an der die Auszubildende saß, welche ständig Probleme mit der Technik hatte. Natürlich erst nachdem wir alles aufs Band gepackt hatten und an keine andere Kasse mehr wechseln konnten.

Als wir dann endlich bezahlt hatten, die Einkäufe im Auto verstaut waren und wir nach einer halben Ewigkeit als Linksabbieger vom Parkplatz auf die Hauptstraße fahren konnten, ließ der Stress nach.

 

Schweigend verstauten wir die Einkäufe in den Schränken. Das Schweigen lag aber nicht an mir. Ich hasste diese Ruhe zwischen uns, die so an den Nerven zerrte, weil irgendetwas schief lief.

„Tommy… lass mich den Rest einräumen, ok? Du siehst aus, als könntest du ein laaaaanges Bad vertragen. Keine Widerworte. Entspann dich. Dein Kollege ist krank und du musst alle Gelegenheiten zur Entspannung nutzen die du kriegen kannst.“

Er sah aus, als wollte er mir widersprechen, dann gab er jedoch nach.

„Danke, Kleiner.“

Es juckte mir in den Fingern, in Tommys Zimmer herumzuschnüffeln und den Brief zu finden, der seine Verstimmtheit verursacht hatte, doch ich hielt mich zurück. Zum Schnüffeln hatte ich null Talent. Also blieb ich brav, verstaute den Rest der Lebensmittel und machte mich schließlich dran, Abendbrot zu kochen.

 

„Haben wir heute die Rollen getauscht?“ Mein Bruder klang skeptisch. Doch die Frage traf die Sache ganz gut.

Sonst war er es der mich aus der Küche drängte. Ich sollte die Zeit genießen die ich ohne größere Pflichten habe.

„Nur heute. Gewöhn dich nicht dran. Und jetzt setz dich. Ich hab alle meine kulinarischen Fähigkeiten eingesetzt um dieses wunderbare French Toast mit Beilage zu machen.“

Ja… Kochen war nicht meins. Deshalb hatte normalerweise Tommy Küchendienst. Ich war schon mal froh, dass mir dieses verfluchte Toastbrot nicht angebrannt ist. Nicht allzu sehr zumindest. Den verkokelten Rand wird man schon nicht rausschmecken.

Der erste Biss belehrte mich eines Besseren. Doch Tommy ließ sich nichts anmerken. Er aß seinen Teller leer –nahm sogar Nachschlag- als wäre der Fraß irgendeine Delikatesse.

Entweder versuchte er ein guter Bruder zu sein und meine Gefühle nicht zu verletzen, oder ihm ging zu viel durch den Kopf, als dass er überhaupt mitbekommen würde was er da in sich reinschaufelte.

„Bist du böse wenn ich mich gleich ins Bett verziehe?“ Fragend schaute er zu mir, ehe er das Geschirr in der Spüle versenkte.

„Geh nur. Gute Nacht.“

Dobranoc, braciszek.” Als er mich anlächelte und mir die Haare verwuschelte, sah er aus, als wäre er fertig mit der Welt. Viel älter als er eigentlich war. „Und danke für das... Essen.”

Das Wort Essen kam ihm schwer über die Lippen. Mir auch. Ehrlich. Ich wunderte mich noch immer wie sein Magen mehr als eine Portion davon ertrug.

„Und vergiss deine Hausaufgaben nicht.“ Versucht streng schaute er mich an, konnte jedoch nicht ernst bleiben.

Die schlurfenden Schritte wurden langsam leiser und verschwanden schließlich ganz, nachdem die Tür zu Tommys Schlafzimmer ins Schloss fiel.

Seufzend schielte ich von meinem schmutzigen Geschirr zur Spüle. Musste ich ein schlechtes Gewissen haben wenn ich keine Lust hatte jetzt abzuwaschen?

Nein, beschloss ich ganz spontan und stellte es einfach

Zum schmutzigen Rest. Der würde bis morgen schon nicht weglaufen. Außerdem musste ich mich wirklich noch an meine Hausaufgaben setzen.

 

Auf meinem Bett machte ich es mir mit dem Chemiebuch bequem. Der Tisch war zu voll gestellt um wirklich genutzt werden zu können.

Doch die bequeme Position trug nicht unbedingt dazu bei, dass ich viel schaffte.

Nach zwei gelesenen Seiten schlief ich ein und durfte mich am nächsten Morgen bei meinen beiden Grazien einkratzen –mit viel Schokolade- damit sie mich abschreiben ließen.

 

 

Noah

 

 

Ätzend.

Mehr fiel mir nicht zu dieser schicken Wohngegend mit den schicken Villen ein.

Groß und ausladend.

Als bräuchten fünf Personen sechs Badezimmer! Von den vielen Schlafzimmern und Räumen von denen ich nicht einmal wusste wozu sie genutzt wurden, ganz einmal abgesehen.

Mein erster Reflex war es, wie immer wenn ich hier in der Auffahrt stand, zu fliehen. Doch dann würde meine Mutter mich mit diesem Blick ansehen, der zeigte, dass sie unzufrieden mit meinem Verhalten war. Wie ich es hasste.

Ehe ich wirklich davon rennen konnte, um mich bei Pascha zu verkriechen und nie wieder von dort wegzuwollen, drückte ich den auf hochglanzpolierten Klingelknopf und zuckte zusammen, als die Tür aufgerissen wurde noch ehe ich den Knopf losgelassen hatte.

„Gooootttt!“

„Rita reicht. Und jetzt komm rein. Du hast schon geschlagene zwölf Minuten vor der Tür gestanden. Ein neuer Rekord.“

Nachdem das plötzliche Herzrasen verschwunden war, lächelte ich Rita an.

„Mein Sonnenschein. Der einzige Lichtblick an Tagen wie diesen…“

Sie rollte die treuen, rehbraunen Augen, ehe sie mich in ihre Arme zog.

„Wäre ich doch nur vierzig Jahr jünger…“ Gespielt seufzte sie auf, nahm mir Rucksack und Motorradhelm ab und reichte mir extrem flauschige Hausschuhe.

Zum Glück nicht rosa, wie die der Mädchen.

„Aber jetzt komm. Alle warten auf dich.“ Mit einem aufmunterndem Lächeln, wusste sie doch wie ungern ich hier war, führte sie mich durch den großen Eingangsbereich zum Esszimmer.

Alles weiß und protzig. Goldene Kerzenleuchter. Als müsse man mit seinem Geld angeben.

„Da bist du ja endlich.“ Vier Augenpaare richteten sich auf mich, als ich das Esszimmer betrat. Der Mann am Kopfende des Tisches schaute streng zu mir herüber, als hätte ich ihm wertvolle Zeit gestohlen, die er mit Arbeit hätte verbringen können. Die blonden Haare akkurat kurz gehalten, mit grauen Strähnen versetzt, ließen sein Gesicht noch kantiger wirken als es von Natur aus war. Breite Schultern wie immer in das obligatorische weiße Hemd gehüllt, die Krawatte locker umgelegt.

Mein Vater. Dominant wie eh und je.

Zu seiner linken saß Monica, meine Stiefmutter. Eine zierliche Mitvierzigerin, mit piekfeiner Hochsteckfrisur, die das herzförmige Gesicht mit den hohen Wangenknochen gut zur Geltung brachte und adrettem cremefarbenem Kostüm. Kam wohl direkt von Arbeit.

Neben ihr Bianca, die ältere der beiden Töchter. Rechts neben meinem Vater war ein freier Platz, ehe Rosalie, meine jüngste Schwester kam.

Monica schaute als hätte sie auf eine Zitrone gebissen. Die dezent geschminkten Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Wer konnte es ihr verübeln? An ihrer Stelle würde ich ganz andere Sachen machen.

Doch ehe ich tiefer in diese Gedankensphären eindringen konnte, schlangen sich zwei paar dünne Ärmchen um meinen Bauch. Aufgeregt plapperten die Mädchen los, ohne auf die andere zu achten. Das blanke Wortchaos.

Ruhe kehrte erst wieder ein, als Monica ihre Töchter zurück an ihre Plätze beorderte und Rita, der Hausengel, das Essen auftrug.

 

Lang währte diese Ruhe jedoch nicht, da Bianca schon während der Suppe, fröhlich über ihren neuen Zahnschmuck schimpfte.

Seit Anfang der Woche musste sie sich nun schon mit dieser grässlichen Zahnspange herumschlagen. Na wenigstens sind die Gummidinger da pink. Darauf stehen die anderen Mädels in der Schule. So oder so ähnlich drückte sie sich aus. Ganz konnte ich das nicht verstehen. Mit Löffel im Mund redete es sich nicht unbedingt glasklar.

„Und, hast du schon einen Jungen gefunden den du magst?“

Ich vermutete, dass mein Vater schwer damit zu kämpfen hatte die Suppe nicht über den Tisch zu spucken als ich diese Frage äußerte. Biancas ‚ieeeeh‘ schien ihn jedoch davon abzuhalten. Wenn auch nur kurz. Da nun auch Rosa sich einschaltete.

„Also ich mag den Peter. Der Teilt immer seine Kekse mit mir. Und trägt meinen Ranzen.“

Zufrieden nickte ich, auch wenn es mich irritierte. Müssten die zwei nicht genau anders herum reagieren?

Egal. Um meinen Vater zu ärgern Fragte ich einfach weiter.

„Und? Händchen halten und Küssen?“

Stolz grinste die neunjährige. „Na klar. Für die Kekse kriegt er immer nen Schmatzer auf die Wange. Und damit er mit zwei Ranzen nicht umfällt muss ich seine Hand festhalten. Logisch oder?“

„Klar.“ Innerlich lachte ich vor mich hin. Klar war mir bei meinen kleinen Schwestern nichts. Mit neun hatte ich an so was noch gar kein Interesse. Da fand man es schon peinlich der Mutti einen Kuss zu geben. Auch wenn es ganz heimlich zuhause vorm ins Bett gehen war.

Monica ersparte meinem Vater einen gewaltigen Herzinfarkt indem sie das Gespräch in die Hand nahm.

„Und, wie sieht es bei dir aus? Wenn die Mädchen hier schon beichten. Gibt es endlich ein Mädchen das dir gefällt?“

Es wunderte mich, dass sie mit mir redete und nicht klang als wäre sie gerade in einen Hundehaufen getreten und nun zu tiefst angeekelt.

„Nein… ich halt es da wie Bianca… Ieh.“

„Hm…“ Monica wartete bis das Hauptgericht aufgetragen wurde ehe sie weiter sprach. Das längste Gespräch bisher, das sie freiwillig mit mir geführt hatte. „Dann einen Jungen vielleicht?“

Diesmal war mein Vater nicht der einzige, der sich am Essen verschluckte.

„Was?“ Entsetzt starrte ich sie an, sah jedoch, dass die Frage ihr bitter ernst war. „Nein. Auch da… nichts…“

„Na das kommt schon noch. Keine Sorge.“ Wohl zufrieden mit der Länge des Gespräches beendete meine Stiefmutter es, indem sie begann, den Braten auf ihrem Teller in kleine, akkurate Vierecke zu schneiden.

 

Bis zum Nachtisch hielten es alle durch, das Schweigen aufrecht zu erhalten. War mir ganz lieb. Ein Gespräch würde meinen Aufenthalt hier nur in die Länge ziehen. Das versuchte ich jedes Mal zu vermeiden.

Nach ihrem Eis, verschwanden die Mädchen auf ihre Zimmer, hatten beide schließlich noch mit ihren Hausaufgaben zu kämpfen.

„Wie läuft es in der Schule?“

„Gut…“ Wenn man bedachte, dass das Schuljahr noch nicht so weit fortgeschritten war und die Noten somit rar gesät waren.

Mein Vater schnaubte, was seinen buschigen Oberlippenbart zum Beben brachte. Das Ding war schon seit jeher ein Graus für mich, auch als er noch blond und nicht grau vor sich hinwuchs. Wenigstens stutze er ihn regelmäßig, sodass kein Essen darin hängen blieb. Entweder war das Monicas Verdienst oder arbeitsbedingt zu erklären.

„Hast du schon einen Plan, wie es nach dem Abi weitergehen soll. Du bist im Abschlussjahr, nicht?“ Erneut kam Monicas Beitrag unerwartet, weshalb ich einen Moment brauchte um ihr zu antworten.

Abwartend strich sie sich über die perfekt frisierten, erdbeerblonden Haare. In diesem Licht erkannte man den Rotstich, den beide Mädchen geerbt hatten, überdeutlich.

„Ist es, und… nicht wirklich. Nur weg von hier. Die Stadt kotzt mich langsam an.“

´Mist. Das ganze klang ehrlicher als beabsichtigt.

„Du willst weg?“ Verwundert stellte mein Erzeuger sein Weinglas zurück auf den Tisch. Meines hatte ich noch nicht angerührt. Aus Prinzip nicht. Warum sollte ich Wein trinken der mehrere hundert Euro kostete, wenn es Menschen gab –selbst hier im Umkreis- die sich keine warme Mahlzeit leisten konnten.

„Ja.“ Ich war mir noch nicht sicher, doch ich konnte so tun als ob. Wenn auch nur um meinen Vater zu ärgern, hoffte der immerhin darauf, dass ich irgendwann ins Familiengeschäft einsteigen würde.

Wollte ich das denn? Irgendwann eine Sicherheitsfirma leiten? Klar, es klang cool und brachte Unmengen an Geld ein, bei dem Kundenstamm der in den letzten fast 25 Jahren aufgebaut wurde.

Doch konnte ich mit diesem Mann zusammen arbeiten?

Bianca würde das Unternehmen wahrscheinlich besser leiten können. War sie bereits heute schon besser mit Zahlen und Menschen als ich.

„Was ist mit Tamara? Willst du deine Mutter einfach so zurücklassen? In ihrer… Verfassung?“

Mein Vater lenkte das Gespräch auf meine Ma. Augenblicklich verfinsterte sich Monicas Blick.

Sie hatte aber auch einen unsensiblen Klotz geheiratet. Ob sie sich vor 26 Jahren darüber im Klaren war?

„Sie übersteht es schon.“ Bitteres Lachen sprudelte aus mir heraus. „Du hast es schließlich nicht anders gemacht und sie hat es überlebt, oder? Nichts was Dr. Friedrich nicht wieder richten könnte.“

Ehe er etwas erwidern konnte stand ich auf und entschuldigte mich mit einer schlechten Lüge.

„Ich muss dann gehen. Hausaufgaben.“ Emotionslos schaute ich meinen Vater an, wandte mich dann jedoch an Monica. „Viel Glück für die neue Kampagne. Die startet nächsten Montag nicht? Diesmal gewinnst du bestimmt. Bis nächste Woche.“ Die Verabschiedung von meiner Stiefmutter fiel nicht viel herzlicher aus, als die meines Erzeugers, jedoch nicht ganz so steif wie sonst.

„Komm gut nach Hause. Im Feierabendverkehr ist es gefährlich.“

Oha. Vierzehn Jahre und sie taute langsam auf. Das konnte noch sehr interessant werden.

In der Eingangshalle tauschte ich die Hausschuhe zurück gegen meine Straßenschuhe und schnappte mir meinen Rucksack. Ehe ich jedoch zur Haustür gelangen und verschwinden konnte, stellte Rita sich mir in den Weg. Ein Lächeln auf den Lippen. Wie immer.

„Hier, mein Kleiner.“ Verschwörerisch flüsternd drückte sie mir eine gigantische Tupperdose in die Hand. „Das kannst du dir und deiner Mutter warm machen. Ich hab zu viel gekocht. Wir würden es morgen nur wegwerfen.“

Auch das: wie immer.

„Mein Engel.“ Dankend stopfte ich die Dose in meinen Rucksack, verabschiedete mich von der Haushälterin und wünschte mir, wie jedes Mal, sie einfach mitnehmen zu können.

 

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Erst mal: Sorry es hat mir auf BX die Formatierung des Theaterstückes zerschossen. Also wenn es unsauber ist tut es mir leid.

Zweitens: ich versuche jeden Samstag/ Sonntag ein neues Kapitel zu bringen.

Ob es nächste Woche (19/20.3.) klappt ist unsicher, da ich zur LBM gehen werde.

Kapitel 3

 

 

 

Jacek

 

„Nochmal! Das ist ja im Kopf nicht auszuhalten!“

Wie weh mir der Hals vom vielen herumschreien tat, glaubte mir keiner.

Seit mehr als einer Stunde übten wir die ersten Szenen und doch wurde es nicht besser. Das Gegenteil war eher der Fall.

Ich hoffte nur, dass Anne die gleichen, beschissenen Probleme hatte wie ich.

„Zurück auf Anfang. Akt vier, erste Szene. Und strengt euch an, ich will, dass wir das Stück heute einmal durchproben.“ Ich wollte schließlich wissen welches Ausmaß dieses Grauen noch annehmen würde. Die letzte Probe war nicht wirklich ergiebig gewesen in der Hinsicht.

Alle Jungs folgten der Anweisung. Außer Paul. Der durfte durchatmen und warten, bis seine Rolle wieder mitspielen durfte.

 

Lukas, der Kurfürst von Hagen, begann mit seinem Monolog. Es wunderte mich, dass keiner von uns im Stehen eingeschlafen war. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wie Felicitas es schaffte das Zeug zu schreiben, ohne in ein Koma zu fallen.

Das schauspielerische Talent der Jungs hatte arg nachgelassen, die nichtssagenden Ausdrücke auf ihren Gesichtern, die monotonen Stimmen die den Text herunter leierten… da schaute ich doch lieber aufs Skript als auf die Bühne. Und das sollte viel heißen.

 

                        Kurfürst von Hagen und Bückling betreten den Garten,

                        Diener bereiten die Hochzeitsfeierlichkeiten vor.

 

                    Kurfürst Wunderbar, wunderbar. Der Tag der Hochzeit ist gekommen.

                        Ich dulde keine Zwischenfälle, Bückling. Postiere Wachen überall.                               Kein Gesinde ruiniert diese Hochzeit. Jeder der es wagt diese                                          Hochzeit zu stören wird…

(Baron von Freiwald betritt den Garten, entdeckt den Kurfürsten und bewegt sich mit schnellen Schritten zu ihm)

                        Freiwald! Sohn! Noch nicht, doch bald! Noch vor                                                           Sonnenuntergang seid Ihr der Mann des Tages.

                    Freiwald Bald… Bald ist eine viel zu lange Zeit, in dieser Situation…

 

Ich vermutete, dass ich ausdruckslos begann aufs Papier zu starren und erst zu mir kam als Benny an mir rüttelte.

„Du bist dran.“

„Was?“ Irritiert schaute ich mich um. Die Jungs schauten mich abwartend an, verkniffen sich hier und da ein fieses Grinsen.

„Dein Einsatz.“

„Schon gut.“ Nachdem ich Hannes auf den Hinterkopf geschlagen hatte, betrat ich die Bühne, besah meinen Text und konnte es nicht fassen.

„Was denkt die sich dabei? Soll ich hier tatsächlich ohne Kurfürstin den Mutter-Tochter-Streit spielen?“

Mein Stolz drängte mich dazu, es zu probieren.

Ganz mies war es am Ende nicht. Leider wirkte Ludmilla dadurch wie eine geisteskranke Furie, nicht wie eine verzweifelte, verliebte Frau.

Ändern… das musste sich ändern. Und wenn Felicitas es nicht bis zur nächsten Probe richten konnte, dann ich. Doch dann…

Meine Drohung den gesamten Wisch neu zu gestalten konnte ich noch nicht einmal zu Ende formulieren, da trat auch schon die Schöpferin allen Übels durch die Tür und beehrte uns, ganze 73 Minuten zu spät, mit ihrer Anwesenheit.

„Ein reizender Tag, meine Lieben. Findet ihr nicht?“ Fröhlich strahlte sie in die Runde, bekam jedoch einen fragenden Ausdruck, als sie unsere missmutigen Mienen bemerkte.

„Was habt ihr nur alle? Es ist ein wunderschöner Tag! Und ihr seht aus wie zehn Tage Regenwetter. Das ruiniert glatt meine gute Laune.“

Gerne hätte ich ihr gesagt, was meine Laune zurzeit ruinierte, doch wie könnte ich ihr zartes Künstlerherz so brutal brechen? Ich musste vorsichtig sein und sie langsam und unmerklich emotional fertig machen. Ihr Stück war aber auch Scheiße.

Tochter des Kurfürsten soll heiraten. Sie will aber nicht, flieht deswegen aus dem trauten Heim, schließt sich einer Truppe von fahrenden Schauspielern an, verliebt sich, wird jedoch von den Wachen ihres Vaters zurückgeholt und zur Hochzeit gezwungen. Bevor das Ja-Wort gesprochen werden kann, taucht die Liebe ihres Lebens auf, lässt die Hochzeit platzen und beansprucht die Braut nach einem dramatischen Duell für sich selbst…

So vorhersehbar, klischeehaft, ätzend, das allerletzte… Keine Ahnung wie ich es noch beschreiben konnte.

„Also was das angeht, Feli…“, setzte Benny an, schaute dann jedoch verzweifelt zu mir und schwieg.

Schon klar Kleiner. Nur weil ich hier fast der Älteste war musste ich die Schläge einstecken. Verräter. Anstatt, dass wir alle zusammen vermitteln wie schlecht ihr Stück ist, sucht ihr euch einen Sündenbock der am Ende an allem Schuld ist.

„Wir sollten über die Proben reden. Bitte.“ Weil ich so ein netter Kerl war, hakte ich mich bei Felicitas unter und brachte Benny und Co aus der Schussbahn. Rache schwor ich seinem mickrigen kleinen Arsch dennoch.

Eifrig nickte die AG-Leiterin, entfernte sich ein Stück von den anderen und ließ sich mit mir in eine der Sitzreihen im Auditorium sinken.

„Was gibt es denn zu besprechen, Jago. Du weißt, dass ich euch keine weiteren Proben hier drin beschaffen kann. Gerechtigkeit und alles“, plapperte die Rothaarige wild gestikulierend vor sich hin.

Bei dem Wort Gerechtigkeit musste ich mir ein Schnauben verkneifen. Hier war selten etwas gerecht. Angefangen von der Mitgliederzahl der beiden Gruppen. Von den Kostümen, über welche ich mir lieber noch keine Gedanken machte, einmal abgesehen.

„Keine weiteren Proben. Hast du schon gesagt. Es geht eher darum wie die Proben laufen. Oder auch nicht.“ Sei nett!, ermahnte ich mich in Gedanken mehr als einmal.

Ihre Augenbrauen zogen sich in Zeitlupe zusammen. Das ganze Gesicht drückte Unverständnis aus. Also setzte ich zu einer Erklärung an. Ganz sanft und zärtlich, wie…

„Der Dialog im vierten Akt zwischen Milla und der Mutter ist absolut scheiße und kann so beim besten Willen nicht gespielt werden.“

…ein Holzhammer.

War nicht ganz so gelaufen wie geplant doch nun war es raus.

„Bitte?“ Das ‚Ich –glaub-ich-hab-mich-verhört‘ schwang deutlich in ihrer Stimme mit. Wenn das kein Indiz für ihren Unmut war, dann die zu dünnen Strichen zusammengepressten Lippen. Kein Orangefarbener Lippenstift mehr sichtbar. Da war ich mir nicht sicher ob es gut oder schlecht war. Meine Augen dankten es mir. Grässliche Farbe.

„Wir können den Dialog nicht spielen.“

„Und warum nicht?“ Zickte sie mich tatsächlich an, während ihre bitterbösen Blicke mich durchbohrten. Kritik vertrug sie offensichtlich nicht gut.

„Weil es ein Dialog ist.“

„Ja und?“

„Wir haben keine Kurfürstin, somit auch niemanden mit dem Milla den Dialog führen könnte.“

„Tsss.“ Zischend stand sie auf, warf die Arme in die Luft und rief mir irgendwas von wegen ‚faule Möchtegernschauspieler die jegliche Herausforderungen scheuen‘ entgegen. Dazu sagte ich einfach mal nichts. Stattdessen lächelte ich sie an und dachte mir den Rest. Das Wort untalentiert durchstreifte dabei immer wieder meine Gedanken.

„Jetzt hör auf zu jammern Jacek, wenn ihr die Mädchen schlagen wollt –die sich im übrigen NIE beschweren- dann legt einen Gang zu und probt endlich. Diese Ausrede ist absolut lächerlich!“

Und somit war ich gezwungen den ganzen Dialog noch einmal zu halten. Förderte nicht unbedingt den Gedanken, dass ich normal im Kopf war. Vielleicht war ich Geisteskrank und das hier war keine Probe an einer Schule sondern ein Irrenhaus…

Eher nicht…

So viel Glück hatte ich nicht.

Mürrisch ging ich zurück auf die Bühne, warf den Jungs, die sich das Lachen nur schwer verkneifen konnten, einen bösen Blick zu und begann den Dialog von neuem.

 

War mir das ganze unangenehm? Ja.

War das jedoch egal, als ich die Bühne betrat? Oh ja.

Tief durchatmen. Konzentrieren. Jetzt war nicht die Zeit sich zu beschweren, jetzt war die Zeit eine verzweifelte Frau zu spielen die einfach nicht heiraten will und deshalb mit einer imaginären Person streitet.

Ganz einfach.

 

„Das könnt ihr mir nicht antun!“ Meine Stimme würde mich heute Abend hassen für diesen harten, viel zu hohen Stimmeinsatz.

„Das Beste wollt Ihr für mich? Eher das Beste für Euch!“

„Wirklich Mutter? Mehr fällt Euch nicht ein? Wenn Freiwald solch eine gute Partie ist, dann heiratet Ihr ihn. Was Ihr mit ihm zu schaffen habt ist offensichtlich!“

Fast eine ganze Seite voller schön verpackter Beleidigungen und was die Mutter doch bitte mit diesem Hurensohn anstellen soll, folgte.

Wenn man drüber nachdacht konnte man schon echt in Verlegenheit geraten. Darum dachte ich nicht über das nach, was ich da auf die leere Stelle auf der Bühne brüllte.

„Ich kann diesen Mann nicht heiraten Mutter! Eher sterbe ich!“

Gerade noch aufgebracht wurde ich ruhig. Den Tränen nahe, wie Milla, war ich noch nicht.

„Nein Mutter. Das würdest du nicht tun. Oder? Mutter…“

Tränen wären auch Verschwendung gewesen. Denn schon war Milla wieder am Schreien und Toben. Ein Glück ließ sie das Fluchen sein. Diesmal.

„Fasst mich nicht an! Hört ihr nicht? – Mutter, wagt es nicht! Mutter! Wie könnt Ihr das eurem einzigen Kind antun?!“

 

Felicitas verzog das Gesicht, als die letzte Zeile des einseitig geführten Dialoges verklang.

„Ja… Nein, das geht so nicht… Ich schreib es euch um. Am Montag schick ich euch die Änderungen per E-Mail.“ Ein Schauer überlief sie und ließ sie frösteln. War also nicht nur mir schlecht geworden bei dem Ganzen.

„Danke.“ Na wenigstens hatte die Frau es eingesehen. Ohne Mutter und Wachen, die Ludmilla aus dem Zimmer zur Trauung zerrten machte es keinen Sinn… egal wie viel Mühe ich mir gab.

 

Eine halbe Stunde nach dem Desaster schickte Felicitas uns nach Hause, mit dem Hinweis, dass wir definitiv noch einiges an Übung bräuchten und dringend vorm Schlafen gehen unsere Texte durchgehen sollten.

Impertinente, bescheuerte… Nein! Freundlich lächeln und gehen.

„Bis morgen Felicitas.“

Ehe sie es sich anders überlegen konnte und wir noch eine Stunde üben durften, verließen wir geschlossen das Auditorium.

„Wollen wir noch Eis essen gehen? Ist ja grad mal kurz nach drei“, schlug Paul vor.

Eigentlich wollte ich nicht, dennoch stimmte ich kurzerhand zu.

Immerhin konnte man so noch etwas Dampf über die Probe heute ablassen.

 

 

Noah

 

 

Gelangweilt dümpelte ich mit ein paar anderen aus meiner Klasse, vor einem der Klassenzimmer herum. Warum Pascha beschlossen hatte das wir warten mussten? Keine Ahnung. Vermutlich wartete einer der Kerle auf seine Freundin die noch im Zimmer war und alle anderen warteten solidarisch mit.

Wieso wir das taten war mir genauso ein Rätsel, wie Frauen die zusammen auf Toilette gingen. Konnten die nicht alleine kacken? Machten die so was überhaupt? Vielleicht dünsteten sie auch Rosenwasser und Feinstaub aus…

Quatsch! Das Warten schlug mir nur aufs Gehirn. Das, oder das dämliche Gequatsche dieser Halbaffen.

„Warum sind wir hier? Wir könnten schon auf dem Weg zu dir sein und endlich etwas essen!“ Zischend wandte ich mich an Pascha. Agnes war heute auf Besuch eingestellt und würde demnach kochen und zwar so gut, dass ich es beinahe schon schmecken konnte, alleine vom dran denken.

„Ach… kennst das doch…“ Schulterzuckend schaute Pascha kurz zu mir, ehe er sich wieder der Runde zuwandte.

Großartig, musste ich mich wirklich alleine langweilen?

Sah ganz danach aus. Ein paar der Jungs und mittlerweile auch zwei Mädels, die das Klassenzimmer verlassen hatten –fehlten aber immer noch welche, denn wir blieben weiter stehen- drängten sich um mich und versuchten mich in ihre Gespräche einzubeziehen. Mit mäßigem Erfolg. Mehr als ein paar hmm‘s und ah‘s konnte ich mir beim besten Willen nicht abringen.

Lag es an mir oder konnten Mitschüler echt langweilig? All die süßen kleinen Klone die nichts anderes konnten als dem Leitschaf nachzuhecheln.

 

Das vibrieren meiner Hose nahm ich als Ausrede und klinkte mich aus dem ganzen aus. War vermutlich meine Mutter die mir schrieb, dennoch eine willkommene Ablenkung.

Als mich das Bild einer winzigen Eule mit überdimensionalen Augen angrinste wusste ich, dass es nicht meine Mutter war.

>Soll mir das Bild irgendwas sagen?< Tippte ich den üblichen Spruch ins Handy und schickte die Nachricht ab. Ich konnte die Sekunden zählen bis die Antwort eintrudelte.

>>Blödmann<< Auch das übliche.

>>Bist du morgen Abend dabei?<< die obligatorischen 20 Sekunden nach dem Blödmann wurden genau eingehalten.

>Wo dabei?< Kurz überlegte ich, ob ich wüsste was gemeint war, beschloss dann aber, nein, ich hatte keine Ahnung wo ich dabei sein sollte.

>>Party im Plus18. Was sonst?<<

>Dachte deine Mutti hat was gegen wenn du dorthin gehst< Entgegen meines sonstigen Nachrichtenstils setzte ich einen grinsenden Smiley dahinter, nur damit er mich dafür nicht in den Arsch treten konnte, wenn er mir das nächste Mal über den Weg lief.

>>Alter… ich bin fast 20. Meine Mutter kann mir gar nichts sagen!<<

>Sicher? Das letzte Mal hat sie dich ganz schön im Griff gehabt…<

>>Das war vor fast vier Wochen!<<

War es ernsthaft so lange her, dass wir beide zusammen im Haus meines Vaters hockten und dafür beteten endlich entkommen zu können?

Seine Eltern sind zwei der Top-Makler dieser Stadt. Hatten meinem Vater und Monica damals die Villa schmackhaft gemacht. Seitdem trafen die beiden Frauen sich regelmäßig zum Essen. Wenn wir Pech hatten mussten wir auch anwesend sein. Am Anfang war es ernsthaft nervig. Genau wie der Kerl. Lang und dürr wie eine Babygiraffe. Tollpatschig ohne Ende…

War leider im Meerjungfrauen Outfit mit passender, grüner Perücke absolut entzückend. Zumindest wenn ich einen zu viel getrunken hatte. Und mir nicht klar war, wer mir im Plus18 auf die Füße trat.

Eigentlich war es ja Pascha gewesen der mit ihm getanzt hatte, bis er ihn weitergerecht hatte, da er mal wo hin musste. Dachte das sollte heißen er muss aufs Klo, war aber anscheinend der Hinweis, dass er kein Interesse mehr hatte, da er eine dralle Blondine entdeckt hatte und mit ihr nach Hause wollte.

Lange Geschichte kurz: er begann er mir herumzugrabbeln, kotzte sich auf meinen Schuhen aus, war urplötzlich nüchtern genug um mich zu erkennen und schaffte es irgendwie mir meine Telefonnummer aus dem Kreuz zu leiern.

Seitdem verstanden wir uns ganz gut, wenn wir denn mal Kontakt hatten. Was meistens kurz vor oder nach den Essen der Mutterfraktion der Fall war, oder wenn er die Vermutung hatte ich würde mich vernachlässigt fühlen… Keine Ahnung wie er darauf kam.

>Schon klar. Was ist morgen im Plus18 los?< Zu noch einer Kostümparty würde ich mich unter Garantie nicht hinreißen lassen. Bei einer 80er Party sähe es schon ganz anders aus.

 

Erst als das Gesprächsklima sich änderte und Pascha darauf verzichtete weiterzureden sah ich von meinem Telefon auf und steckte es zurück in die Tasche. Konnte auch später weiterschreiben.

„Guck dir die mal an…“ flüsterte Tina, viel zu laut, niemand bestimmtem zu und deutete auf ein paar Schüler die den Schulflur entlang auf uns zukamen.

„Solche Freaks…“ „Brünette Zicke“ neben Tina meldete sich zu Wort.

„Bist ja nur sauer weil er dir einen Korb gegeben hat…“ Paschas Brummen war so leise, dass nur ich es hören konnte. Oder ich war der einzige den es interessierte.

Warum die zwei Grazien lästerten konnte ich beim besten Willen nicht erklären. Vielleicht weil der eine Kerl zu lang und dünn war, oder weil der kleine pummelige als Kind einmal zu viel an seinen Windpocken gekratzt hat, oder weil zwei andere einfach purer Durchschnitt waren oder weil der letzte aussah als wäre er ungekämmt. Vielleicht aber auch weil keiner von ihnen teure Markenklamotten trug. Tina und ihre Freundinnen gehörten zu der Sorte Mädels für die du unten durch warst, wenn du kein Shirt für 120€ anhattest.

„Was für langweiligen Scheiß die Möchtegern-Schauspieler wohl dieses Jahr wieder aufführen werden?“

„Ja… ernsthaft. Wäre die Anwesenheit nicht Pflicht dann…“

Wieder lästerten die beiden so laut, dass es unmöglich für die fünf Jungs war, sie nicht zu hören und doch gingen sie ohne mit der Wimper zu zucken an uns vorbei. Die waren Banausen sicherlich gewohnt.

Das Grüppchen war fast an uns vorbei, als auch Tino und Niels mitlästerten. Weiter unter der Gürtellinie als die Zicken.

„…und Schwuchteln machen Theater, oder?“

Ich bekam nicht Tinos ganzen Satz mit, wusste jedoch so viel: nicht gut. Hinter uns war ein Lehrer im Zimmer und wenn das hier ausartete waren wir alle dran.

Abrupt hielt der Ungekämmte inne, der Rest der Truppe tat es ihm gleich, auch wenn die leicht blass um die Nasen wurden. Wie in Zeitlupe drehte er sich in unsere Richtung, das Lächeln Engelsgleich.

Jetzt machte Paschas gemurmelte Aussage auch Sinn. Tina war scharf auf den Typen gewesen –bei solch einem Engelsgesicht machte sie auch einmal Ausnahmen was die Klamotten betraf- und er hat sie abblitzen lassen.

„Schwuchteln, ja?“ Das Klimpern seiner Wimpern war irritierend. Machte das ganze engelsgleiche Auftreten irgendwie zunichte.

Leise schnaubend lachte ich kurz auf. Der Kerl erinnerte mich an diese miesen, fiesen Horrorfilme in denen kleine Mädchen mitspielten, welche dich erst zuckersüß anlächelten und dann deine Eingeweide heraus rissen, um sie zum Frühstück zu verschlingen.

Graue Augen bohrten sich in meinen Schädel.

Jup. Die eisigen Schauer gehörten ebenfalls in Horrorfilme.

„Warum tretet ihr dann nicht bei? Die einzigen Schwuchteln im Umkreis von drei Kilometern stehen direkt vor mir.“

Die Kerle neben mir knurrten aufgebracht, dabei waren sie selber Schuld.

Doch warum starrte die Horrorpuppe mich immer noch an? Und warum wurde ich so unglaublich sauer?

Wichtiger jedoch war, wieso meine Faust mit seinem Gesicht kollidierte.

 

 

Jacek

 

 

Das letzte dass ich sah, als ich laut krachend zu Boden ging?

Rot, eine Faust und Pawel der entsetzt das Gesicht verzog.

Meine Wut war für den Moment verflogen. Das pochende Gefühl, welches sich in meinem Kopf ausbreitete, beanspruchte sämtliche Hirnkapazitäten die nicht zum Atmen benötigt wurden.

Ein schrilles Fiepen, das klang wie „Gräfe zur Direktorin“ durchbrach kurzzeitig das Rauschen in meinen Ohren.

Die Töne passten gar nicht zur gescheckten Decke. Total irritierend. Warum war die gescheckt?

Ein schmales Gesicht mit blondem Dutt schob sich in mein schummeriges Sichtfeld, betrachtete mich kritisch.

Wild begann eine Hand vor meinem Gesicht herumzufuchteln. Die Lippen bewegten sich. Immer gleich. Immer wieder dasselbe.

„Hörst du mich? Wie geht es dir?“

Irgendwann drangen die Worte zu mir durch. Das Pochen in meinem Gesicht nahm ein ganzes Stück zu und auch der Tunnelblick verschwand ein Stück.

„Au…“ murrte ich leise, während ich versuchte mit der Hand den Ursprung des Schmerzes auszumachen.

Lippen? Fühlten sich nur eklig klebrig an, taten aber nicht weh.

Kaum das die Fingerspitzen über den Nasenrücken strichen bereute ich es. Das Pochen verstärkte sich zu einem Hämmern –so fühlte sich also ein Baum wenn der Specht auf ihn einhackte- das mit Sicherheit zu einer fetten Migräne führen würde. Blutige Finger drängten sich in mein Blickfeld. Ein flaues Gefühl machte sich in meinem Magen breit. Blut war keine gute Idee… Ächzend fiel meine Hand zurück auf den Boden.

„Kannst du dich aufsetzen?“ Wieder fuchtelte die Lehrerin in meinem Blickfeld herum. Konnte die das bitte lassen? Da wurde man ja Seekrank von.

Aufsetzen klang jedoch gut. Der Boden war zu kalt, trotz des noch recht warmen Wetters. Und er war eklig. Wer wusste schon wo die ganzen schmutzigen Füße die hier tagtäglich langschlurften noch alles waren.

Mein Nicken scheiterte kläglich, dennoch schaffte ich es mich in eine halbwegs sitzende Position zu hieven. Zwei paar helfende Arme sorgten dafür, dass ich nicht zurück auf den Boden knallte. Dafür war ich ihnen sehr dankbar.

Die Arme waren es schließlich auch, die mir auf die Füße halfen und dafür sorgten, dass ich in der Blutlache zu meinen Füßen nicht ausrutschte.

Ich war nicht gläubig… dennoch betete ich inständig, dass das nicht zu mir gehörte.

„Könnt ihr zwei ihn ins Krankenzimmer bringen? Ich komm gleich nach und schau nach ihm.“

Ob die Arme etwas sagten weiß ich nicht mehr, doch sie schienen zugestimmt zu haben, denn zusammen setzten wir uns in Bewegung. Auf dem langen Marsch durchs Schulhaus zur Krankenschwester. Ein Glück hatten wir so was.

Das eine Paar Arme entpuppte sich als Benny, der an die Tür zum Krankenzimmer klopfte. Während er Frau Schlegel eine Kurzfassung der Geschehnisse gab, verfrachtete Paul mich auf die einzige Liege in dem winzigen Raum. Kaum das Benny ausgesprochen hatte stürzte die rüstige –eigentlich-seit-zwei-Jahren-Rentnerin-doch-wegen-Personalmangels-noch-immer-im-Dienst- Schwester sich auf mich.

Erfahrene Finger drückten auf meinem Gesicht herum, fanden jeden Punkt, der besonders wehtat, mit einer Präzision auf die man nur neidisch sein konnte.

„Geht ihr zwei doch schon. Die anderen warten sicher schon. Wolltet schließlich Eis essen gehen“, brummelte ich in Richtung der Jungs, als die Schlegel sich erhob um Desinfektionsmittel und Tupfer zu besorgen.

„Bist du sicher? Wir können auch…“ setzte Paul an.

„Ihr wollt doch nur meine weinerlichen Mädchenschreie hören… Haut endlich ab. Ich komm schon klar.“ Ich versuchte witzig zu sein, doch eigentlich hatte ich nur keine Lust, mich wirklich vor den Jungs zum Affen zu machen.

Zu meiner Erleichterung nickten beide zögernd und verschwanden schließlich aus dem Zimmer.

 

Das notdürftige Verarzten, ging entgegen aller Befürchtungen relativ schmerzfrei über die Bühne.

Im schmalen Spiegel neben der Pritsche begutachtete ich ihr Werk. Kunstvoll hatte sie mir ein schmutzig-weißes Pflaster über die Nase geklebt –wozu auch immer- und alle sichtbaren Blutspuren von meinem Gesicht entfernt. Mein Shirt hingegen war ruiniert. Konnte man maximal noch als Kostüm gebrauchen, für diverse Splatter-Szenen, falls ich in unserem Bad kein gutes Fleckenmittel fand.

Ruppig wurde mir eine Taschentuchbox in die Hand gedrückt, während sie ebenso sanft etwas Kaltes in meinen Nacken klatschte.

„Damit müsste das Nasenbluten gleich nachlassen. Solltest dennoch besser zum Arzt gehen, kann hier leider nicht nachschauen ob etwas gebrochen ist, Kleiner.“

Das Klopfen an der Tür hielt mich davon ab, darauf zu antworten. Warum war ich bitte für all ‚Kleiner‘? Ich war nicht klein. Höchstens Durchschnitt.

„Ist der Patient verarztet Helga?“ Die blonde Lehrerin von gerade eben steckte den Kopf zur Tür hinein, ehe sie eintrat.

Von ihrem Schreibtisch aus brummt Helga etwas, das nach einer Zustimmung klang.

„Großartig. Dann werde ich dich zur Direktorin begleiten. Wenn dir dazu wohl genug ist?“ Plötzlich brach ihr Elan ab. Meine Nase musste echt beschissener aussehen als gedacht.

Großartig.

„Alles okay…“ murmelte ich, nachdem ich die Optionen abgewogen hatte. Weiter hier bleiben, in diesem muffigen kleinen Zimmer oder zur Direktorin. Vielleicht hatte Traudl wieder so leckere Bonbons im Vorzimmer stehen.

 

 

Noah

 

Irmtraud Weser – Sekretärin.

Seit gut einer viertel Stunde lachte mich das Namensschild, vom überfüllten Tisch der Schulsekretärin her, aus.

Außer dem klacken der Fingernägel auf der Tastatur war nichts zu hören. Nachdem ich hier abgeliefert worden war hatte sie sich nur einmal erhoben und ein Telefonat geführt. Das erste, um mich bei der Direktorin anzumelden, das zweite um meine Mutter in die Schule zu zitieren. Seitdem saß die Frau kerzengerade auf ihrem Bürostuhl, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet.

Erst das leise Klopfen an der Tür, ließ sie innehalten und auf sehen.

Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, als die Lehrerin eintrat, wegen der ich hier saß. Oder eher, der Kerl den ich geschlagen hatte, schaffte es die stoische Sekretärin in eine gesprächige Klatschtante zu verwandeln.

Die Arbeit am Computer schien vergessen, als er den Stuhl belegte, der am weitesten von mir entfernt stand.

Konnte ich ihm nicht verübeln. An seiner Stelle wäre ich vor der Tür stehen geblieben bis meine Eltern hier aufschlugen.

 

Leise, fast schon flüsternd redete sie mit dem Kerl, während sie ihren Stuhl näher zu ihm rollte.

„Ich hab bei dir zuhause niemanden erreicht Jago. Soll ich dich hiernach nach Hause fahren? Oder zum Arzt? Sieht übel aus.“

„Halb so wild“, murmelte er mit einem Schulterzucken. Der Gesichtsausdruck verriet, er war alles andere als davon überzeugt. „Nach Hause reicht. Auf das Starren im Bus hab ich echt keine Lust.“

„Bist du sicher? Nicht das noch irgendwas…“

„Alles ok. Hab ich doch gesagt. Das blutet nur etwas… siehst du hat schon fast aufgehört…“ Demonstrativ hielt er ihr das blutige Taschentuch entgegen.

Mich überzeugte das nicht gerade.

Sie anscheinend auch nicht. Doch ehe sie dazu etwas sagen konnte, klopfte es erneut an der Tür.

Auf das ‚herein‘ der Weser betrat meine Mutter, gehetzt wirkend, das Zimmer.

Viel hatte dir Sekretärin ihr am Telefon nicht erzählt, doch sie schien eins und eins zusammen zuzählen, als sie erst mich und dann den anderen Typen musterte.

Kopfschüttelnd setzte sie sich neben mich, sagte jedoch nichts. Große Enttäuschung! Schrie ihre Haltung. Da würde wohl wieder ein Besuch beim Friedrich anstehen… Ob für sie oder mich, darüber war ich noch unschlüssig. Vermutlich drehte sie es sich in ihrem Köpfchen schon wieder so zurecht, dass es alles ihre Schuld war, dass sie bei meiner Erziehung versagt hatte…

War ganz nett, dass sie nicht sofort die Schuld bei mir suchte. Doch wenn ich einem Mitschüler die Nase blutig schlug hatte das rein gar nichts mit ihr zu tun.

 

„Ihr dürft rein.“ Ich hatte gar nicht bemerkt, wie die Weser im Büro der Direktorin verschwunden war. Erst als sie die Tür von innen öffnete und uns hereinbat stellte ich fest, dass irgendetwas fehlte.

Im Gänsemarsch betraten wir das Zimmer. Erst ich, dann meine Mutter. Mit etwas Abstand folgte der Typ –den ich echt nicht mehr Typ nennen sollte, doch wie er hieß wusste ich auch nicht. Irgendwas mit J hatte die Weser gemurmelt.

„Frau Gräfe…“ Mit einem geschäftlichen Lächeln und festem Händedruck begrüßte die Direktorin meine Mutter. Das pfirsichfarbene Kostüm wirkte fehl am Platz, doch wusste ich, dass die Westermann nicht streng aussehen musste um zum Drachen zu mutieren.

Sie war die eiserne Faust der Schule. So oder so ähnlich…

„Zielinski… Wo ist ihr Vormund?“

„Arbeiten. Ist aber auch nur ne Lappalie. Kein Grund ein Großaufgebot zu starten.“ Seufzend ließ er sich in einen der drei Stühle fallen, gerade so als ahnte er schon, was folgen würde.

„Lappalie? Ihre Nase sieht mir nicht wie eine Lappalie aus. In meiner Schule dulde ich keine Gewalt!“ In Rage schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch. Ihr Blick drohte mich im hohen Bogen aus der Schule zu schmeißen.

„Frau Westermann? Wieso klären wir die Sache nicht erst einmal. Ich wüsste gerne um was es geht. Die Nase des jungen Mannes hier sieht wirklich schlimm aus, doch weiß ich beim besten Willen nicht, was mein Sohn damit zu tun hat.“

„Das Ganze ist wirklich halb so wild“, mischte sich der Zielinski-Typ erneut ein.

„Aber deine Nase blutet“, hielt nun auch meine Mutter dagegen. „Erklärt doch bitte was passiert ist.“

Schon wieder wollte der Kerl irgendetwas sagen. Das neue Taschentuch sah bereits wieder aus wie Sau.

„Ein paar Schüler haben gelästert. Er hat was dagegen gesagt und ich bin ausgetickt und hab ihn geschlagen. Ganz einfach.“

Gar nichts war einfach. Wie zur Hölle sollte ich erklären, warum ich einen Kerl, mit dem ich noch nie ein Wort gewechselt hatte, geschlagen hatte?

Ich hatte rot gesehen bei seinem Kommentar. Dabei wusste ich nicht mal ob er es überhaupt an mich gerichtet hatte oder ob er nur geschaut hat weil ich gelacht hatte.

„Daran ist nichts einfach Noah!“ Aufgebracht warf die Westermann die Arme in die Luft. „Gewalt wird an dieser Schule nicht toleriert. Ich hab Schüler bereits wegen weniger suspendiert! Ist dir das klar?“

„Glasklar…“

Oh das gäbe mehr als eine Sitzung beim Friedrich. Allein das Wort Suspendierung trieb meine Mutter nahe an einen Nervenzusammenbruch, was würde passieren wenn die Westermann es wirklich durchzog?

Ich war eindeutig so am Arsch…

Ich wollte nur noch kotzen. Und mich verkriechen. Und Pascha auch ins Gesicht schlagen, weil er mich zu diesen hirnlosen Affen gezerrt hatte.

„Frau Westermann?“ Gedämpft ertönte die Zielinski-Stimme. Während die Direktorin weitere Ausführungen über die Konsequenzen meines Handelns gemacht hatte, musste er das Taschentuch gewechselt haben. Es wirkte weißer als zuvor. Wenn auch nur minimal. „Suspendierung ist wirklich zu hart. Es war ja nicht allein seine Schuld. Klar ist zuschlagen keine optimale Reaktion gewesen, aber immerhin hab ich ihn beleidigt. Hätte ich so auch nicht auf mir sitzen lassen.“

„Wie haben Sie denn Noah beleidigt Jacek?“ Skeptisch wurde eine braune Augenbraue in die Höhe gezogen. Die Randlose Brille auf der Nase nach oben geschoben.

Der Anblick lenkte mich eine Weile so sehr ab, dass ich erst später bemerkte, dass der Kerl endlich einen Namen hatte.

Jacek.

Klang seltsam. Andere hätten ihn alleine dafür geschlagen. Eigentlich war ich doch ein Heiliger, oder?

…ja klar. Träum weiter.

„Ich hab ihn wohl als Schwuchtel bezeichnet… Zusammen mit dem Rest der Gruppe.“

„Schwuchtel?“

„Ja?“

Einen Moment kämpfte die Westermann mit ihrer Fassung.

„Warum?“ War das Einzige, was sie hervor brachte.

„Einer der Anderen hat gemeint das nur Schwuchteln in der Theater AG wären. Das wollte ich nicht so auf mir sitzen lassen und hab nur gemeint, dass die ja dann auch beitreten müssten… da sie die einzigen Schwuchteln wären die ich sehen könnte.“

„Erneut… warum?“

„Ich weiß, dass man Leute nicht so nennt. Auch wenn das in meinem Fall fast so ist, wie ein Mädchen das einen Kerl herablassend als Mädchen bezeichnet… Aber ich war gestresst okay? Die Proben laufen Scheiße und dank dieser Kack-Idee von wegen Mädchen gegen Jungs sind wir so dermaßen unterbesetzt das ich kotzen könnte!“

„Wortwahl!“

„‘Tschuldigung.“

Seufzend vergrub die Direktorin hinter ihrem Tisch das Gesicht in den Händen. Fieberhaft schien sie zu überlegen wie sie die Sache klären konnte.

Das einzige was ich in dem Moment dachte war: keine Suspendierung, keine Suspendierung, alles nur keine Suspendierung!

„Okay… Jacek. Die nächsten zwei Wochen, melden sie sich jeden Montag bis Mittwoch bei der Vertrauenslehrerin. Die hat genug für Sie zu tun. In der Hoffnung, dass Sie das nächste Mal ihre Wortwahl überdenken.“

Ergeben nickte der Brünette. Hätte ihn schlimmer treffen können.

Dann schauten die wässrig blauen Adleraugen zu mir.

„Noah. Ich heiße Gewalt immer noch nicht gut. Egal welche Gründe dazu vorliegen. Doch ich sehe von einer Suspendierung ab.“

Ja! Innerlich jubelte ich, das in der Luft schwebende ‚Aber‘ vollkommen ignorierend.

„Dafür werden sie bis zur Aufführung der Theater-AG beitreten und diese tatkräftig unterstützen. Kommt mir zu Ohren, dass sie sich weigern, dann…“

Nein… Dann sollt sie mich besser suspendieren. Ernsthaft? Theater—AG?

„Natürlich. Vielen Dank Frau Westermann. Noah wird nicht eine der Proben verpassen. Versprochen.“ Ausgerechnet meine Mutter besiegelte meinen Untergang.

Mein Ruf wäre erledigt, meine Würde am Ende, mein Leben vorbei…

„Reiß dich zusammen!“ flötete eine Stimme in meinem Kopf die verdammt nach Pawel klang. „Scheiß drauf was die anderen denken. Rock das Kack-Stück und zeig diesen Muschis wer es drauf hat.“

„Wundervoll. Nun da das ganze geklärt ist…“

Damit wurden wir auch schon vor die Tür gesetzt.

Die Weser wartete bereits mit gepackter Handtasche und dünnem Jäckchen über den Arm gefaltet auf uns.

„Sicher dass du nicht zum Arzt willst?“

„Ja Traudl. Alles gut. Du wärst schon mein Lebensretter wenn du mich heimbringst.“

„Na gut…“

Die Sekretärin schenkte meiner Mutter und mir ein knappes Lächeln, als sie mit Jacek im Schlepptau ihr Büro verließ.

 

Auf dem Weg zum Parkplatz schwieg meine Mutter, was fast noch gruseliger war als im Büro der Direktorin zu sitzen… oder offiziell Mitglied bei den Theaterfutzis zu sein.

„Ma…“

„Ma… mich nicht an. Okay. Dein Verhalten war…“ nach Worten suchend zerknautschte sie ihre geliebte cremefarbene Handtasche. „Klären wir das zuhause. Ich muss noch kurz ins Büro. Du wirst dich hingegen ohne Umwege nach Hause begeben und mir deinen Motorrad Schlüssel auf den Tisch legen. Für dich steht in nächster Zeit Busfahren auf dem Plan. Und zwei Wochen kein Pawel. Verstanden?“

Dafür, dass sie es zuhause klären wollte, klärte sie schon recht viel hier auf dem Parkplatz.

Trotzdem nickte ich. Lieber jetzt zustimmen als sie zu verstimmen. Nicht das sie sich mit meinem Vater kurzschloss um nach anderen Strafen zu suchen.

 

 

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So nach so langer Zeit wieder da.

Aber ich hab die tolle Ausrede LBM und Hausarbeit mit Abgabe am 31.3. (14 Seiten sind so schwer zu schreiben...)

 

Bevor ich mich jezt beklage wie kurz das Kapitel war und wie schlecht es mir von der Hand ging... wünsch ich euch lieber frohe Ostern.

Bis nächste Woche

 

Kapitel 4

 

 

 

Jacek

 

 

Mit mulmigem Gefühl im Bauch lag ich im Bett und starrte die Decke an.

Meine Nase hatte bereits gestern Abend eine ungesunde Farbe angenommen. Ich wollte gar nicht wissen wie es jetzt aussah.

Kurz vor sechs, warf mein Wecker mir mit leuchtenden Ziffern entgegen. Viel zu zeitig, dennoch quälte ich mich aus dem Bett um mich fertig zu machen.

Hoffentlich fand Tommy es nicht seltsam das ich so zeitig aufstand.

Er wusste noch nichts von der ganzen Sache, die sich gestern auf dem Schulflur abgespielt hatte. Und wenn es nach mir ginge musste er auch nicht erfahren, dass ich eine draufgekriegt hatte.

Gestern Abend kam er zum Glück so spät, dass ich problemlos so tun konnte als würde ich bereits schlafen, sodass er mein Gesicht nicht sehen konnte.

Jetzt aber…

Leise hatte ich mich ins Bad geschlichen. Vom Spiegel aus schillerten mir die schönsten violett Töne entgegen. Das ganze erinnerte mich an einen Boxer, den man KO geschlagen hatte. Nur nicht ganz so sexy. Für sexy pulsierte meine Nase zu sehr. Für sexy tat es ebenfalls zu sehr weh.

„Scheiße…“ Seufzend sprang ich unter die Dusche. Die morgendliche Routine wurde in unter einer viertel Stunde abgearbeitet. Und das alles nur, damit genug zeit war, dieses Desaster zu überdecken.

Ich hoffte nur meine Theaterschminke war stark genug um auch das zu kaschieren. Bei dem riesigen Pickel im letzten Jahr, der Wochenlang fröhlich vor sich hin geleuchtet hatte, hatte es ganz gut funktioniert.

 

Mehr als eine halbe Stunde benötigte ich, um Schicht für Schicht auf mein Gesicht zu pinseln und so nach und nach das hässliche Lila verschwinden zu lassen. Sah doch ganz gut aus. Wenn man nun nicht zu genau hinsah fiel einem auch die Schwellung kaum auf.

Ich betete, dass Tommy zu müde zum genau hinschauen war. Sonst machte der sich wieder viel zu viele Sorgen. Bruderliebe in allen Ehren, doch er konnte definitiv übertreiben.

 

Ein Blick zum Wecker verriet mir, dass ich mich nicht noch länger vor dem Frühstück drücken konnte, ohne dass er Verdacht schöpfen würde.

Unwillig schnappte ich mir meine Tasche, trottete zur Küche und versuchte mich, so unauffällig wie möglich an den Küchentisch zu setzten.

Die ersten Minuten lief auch alles nach Plan ab.

Tomasz war mir einen kurzen Blick, gefolgt von einem gebrummten ‚Morgen‘ zu und spachtelte dann schön weiter.

Beinahe wollte ich schon erleichtert aufatmen, als er sein Geschirr neben die Spüle stellte und sich dran machte den Raum zu verlassen.

„Jacek…“

Oh, oh. So nannte er mich nur selten. Meistens wenn ich irgendetwas ausgefressen hatte. Und diesen Ton schlug er noch viel seltener an.

Ich war geliefert…

„Ja…?“ Unschuldig schaute ich zu ihm auf. Es fiel mir schwer ein Lächeln auf dem Gesicht zu behalten, während meine Nase pulsierte wie ein Daumen, den man mit einem Hammer bearbeitet hatte.

„Warum die Schminke?“

Ich wünschte mir ernsthaft, es würde so etwas folgen wie: „nur Mädchen tragen solches Zeug“ oder „Ich dachte du bist schwul und keine DragQueen“. Doch das tat es nicht. Nicht einmal der dazu passende Unterton schwang in seiner Stimme mit.

Als ich nicht antwortete griff er mit seinen riesigen Pranken nach meinem Kinn.

„Was ist passiert?“ Er bemühte sich sichtlich nicht auszurasten, doch die zum Strich zusammengepressten Lippen verrieten ihn.

„Nichts?“

„Ach ja?“ Mit hochgezogener Augenbraue drückte er seinen Zeigefinger auf meine Nase.

Nur schwer entkam ich dem Impuls ihm dafür in die Eier zu treten.

„Das sieht nicht aus wie nichts!“, erhob er nun doch seine Stimme. Mit den Fingern kratzte er hier und da die Schminke von meiner Haut.

„Und lüg mich nicht an! Ich hab den verpassten Anruf aus der Schule gesehen als ich nach Hause gekommen bin“, fiel er mir ins Wort, als ich mich tatsächlich herausreden wollte.

„Ich hab eins drauf gekriegt….“ Weg war Jacek mit der großen Klappe. Stattdessen saß sein kleiner, schüchterner und menschenscheuer Bruder auf meinem Platz und versuchte mit dem Metall des Stuhles zu verschmelzen.

Auf sein ‚von wem‘ antwortete ich nicht. Die Sache war geregelt. Ich wollte nicht das er einen auf Mafia machte und dem Typen eins reinwürgte.

Seufzend nahm er es hin. Er wusste, dass wir dieses Spiel ewig spielen konnten.

„Kratz dir das Zeug vom Gesicht. Ich will wissen wie schlimm es ist. Und dann fahren wir ins Krankenhaus…“

„Aber…“

„Abkratzen. Krankenhaus. Sofort!“ Tommy wurde selten laut. Und wenn er es wurde, dann kuschte man. Also nickte ich schlicht und ärgerte mich darüber, dass ich es erst versucht hatte. Die Mühe hätte ich mir sparen können. Großartig….

 

„Wie weit bist du?“ Ohne anzuklopfen betrat Tomasz mein Zimmer.

„Gleich fertig…“

Ich biss mir auf die Lippe, als ich versuchte den Rest der Schminke von meinem Gesicht zu rubbeln. Mit den richtigen Mitteln wäre es leichter gegangen, leider waren diese seit letztem Fasching aus. Nun ärgerte ich mich, dass ich keine neue Flasche gekauft hatte, nachdem Vivianne meine alte umgekippt und auf dem Teppich verteilt hatte.

„Gut. Ich hab in der Schule angerufen.“

 

Zehn Minuten später saßen wir in Tommys Auto. Eigentlich ein ganz niedliches Modell, nur wenn er hinterm Steuer saß wirkte es lächerlich, da es schien, als wäre das Auto um ihn herum gebaut worden. Zu klein für einen Schrank wie ihn.

Der Weg zum Krankenhaus dauerte dank Pendlerverkehr eine Gefühlte Ewigkeit.

Als wir den Parkplatz erreichten ergatterten wir den gefühlt letzten Platz. Die Notaufnahme sah nicht besser aus. Missmutig dreinblickende Kranke schielten uns noch missmutiger an. Ganz dringend wollte ich reißausnehmen, doch mein Bruder hatte mich bei der netten Schwester an der Anmeldung schon angemeldet und stierte mich nun böse an, bis ich mich brav setzte.

 

Ein paar Füße scharrten über den Boden. Zwei, drei Nasen wurden hochgezogen. Hier und da ertönte leises wimmern.

Ich versuchte die Geräusche um mich zu ignorieren. Den Kopf an Tommys Oberarm gelehnt –für die Schulter war ich eindeutig zu klein- schloss ich die Augen, versuchte die Wartezeit, die mir so elendslang erschien, zu überbrücken.

Doch mit geschlossenen Augen schien ich das Pochen in meiner Nase nicht nur fühlen, sondern auch hören zu können. Ekliges Gefühl. Dennoch besser als sich auf das Gejammer der anderen Todsterbenskranken zu konzentrieren.

 

Als eine Schwester endlich meinen Namen rief entkam mir beinah ein Jubelschrei. Endlich! Keine Minute länger hätte ich es in dieser Jammer-Kammer ausgehalten. Wehleidiges Pack.

Mit schnellen Schritten, die die Schmerzen Stoßweise gen Nase schickte, folgten wir der Schwester in ein Zimmer, wo bereits eine recht junge Frau wartete, deren Namensschild sie als ‚Dr. Wieland‘ auswies.

„Was haben wir denn?“ Fragend richtete sie den Blick auf uns und beantwortete sich mit einem ‚Ich seh‘ schon‘ die Frage selbst.

 

Das Resultat nach ihrer Untersuchung und einem Besuch der Röntgenmanschine: Gebrochen. Montagmorgen –ich Glückspilz, hatte sie tatsächlich morgens halb neun einen Termin für mich frei gehabt- würde meine Nase gerichtet werden, damit sie nicht schief zusammen wuchs.

Ob mich die zwei Tage Schulfrei und die Sportbefreiung freuten? Klar.

Dennoch hätte ich gerne drauf verzichtet.

Außerdem: wer wusste schon ob diese faulen Säcke meiner Gruppe das Stück üben würden wenn keiner da war, um sie anzutreiben.

 

 

Noah

 

„Deine Mutter hat dir echt das Motorrad weggenommen?“ Ungehemmt begann Pascha mich auszulachen, als er mich am Freitagmorgen, dem Tag nach dem fast-Verweis, im Bus zur Schule entdeckte.

Ich hasste Busse und Straßenbahnen. Eigentlich alle öffentlichen Verkehrsmittel.

Und dennoch saß ich in einem dieser grausamen Vehikel fest.

Danke auch.

„Lach nur, du Arsch.“

„Immer.“ Noch immer grinsend schmiss er sich neben mir auf den freien Sitz. Die langen Beine ragten dabei ungelenk in den Gang hinein.

„Sag mal…“

„Hm?“ Fragend zog ich eine Augenbraue nach oben und beobachtete den anderen durch die Spiegelung der Fensterscheibe. Den Kopf zu drehen, stellte gerade eine zu große Anstrengung dar. Dieser Bus raubte mir wirklich sämtliche Energie. Und dann wunderten sich die Lehrer warum die Schüler alle so fertig waren wenn sie in der Schule aufschlugen.

„Meinst du wir müssen in Musik echt dieses Kack-Lied vorsingen?“

Stöhnend überlegte ich, ob es sich lohne, mich aus dem Bus zu stürzen.

 

Bei meinem Glück zurzeit, hätte mir die Antwort auf Paschas Frage klar sein müssen.

Natürlich mussten wir dieses Kack-Lied singen. Sogar als erstes. Sonst hätten wir zwei gesanglichen Nullnummern uns ja noch irgendwie drücken können. Idiot. Wobei unser Lehrer nicht mal so Unrecht hätte mit dieser Vermutung… Mehr als einmal hatte Paschas Laktose Intoleranz uns gute Dienste erwiesen –wenn er denn gerade mal nicht die Tabletten nahm, um doch seine heißgeliebten Milchprodukte in sich reinzuschaufeln.

 

„Kommst noch mit zu mir?“ Die Klingel hatte uns vom Musikunterricht befreit. Hurra… wäre ich nun nicht gezwungen bei diesem scheiß Stück mitzumachen.

„Kann nicht. Muss ins Auditorium. Außerdem hab ich Pascha-Verbot, wie bereits erwähnt.“

„Was? Nein, Alter. Ich dachte das war ein Witz. Das kann Tamara nicht machen. Die weiß doch das ich ohne meine regelmäßige Dosis Noah abkratze, oder?“

Melodramatisch…

Vielleicht sollte ich ihn zu den Proben schicken. Würde sicher mehr bei rumkommen als bei mir. Schauspielern lag mir genauso sehr wie singen.

Vielleicht hatte ich ja glück und die würden mich nach der Probe rausschmeißen und nicht wiedersehen wollen. Oder mich als Baum oder Stein auf die Bühne stellen. Vielleicht auch als Säule. Irgendwas ohne Text. Verkrampft dastehen und nichts sagen konnte ich prima. Zumindest wenn mich die Erinnerung an die Aufführung in der dritten Klasse nicht ganz täuscht.

„Reg dich ab. Nach dem Wochenende hebt sie das Pascha-Verbot schon auf. Weißt doch wie ich bin wenn ich auf Entzug gesetzt werde.“

„Ja…“ Grinsend schlug der heute blauhaarige mir auf die Schulter und trottete zum Ausgang, während ich mich auf den Weg in die Kammer des Schreckens machte. Mit jedem Basilisken würde ich im Moment lieber kämpfen, glaubt mir.

Wenn ich mir genug Zeit ließ würden die vielleicht nicht merken, dass ich da bin und ich könnte bis zum Ende der Probe ruhig dasitzen und Hausaufgaben machen. Oder schlafen. Oder Löcher in die Luft starren. Irgendwas Sinnvolles halt.

 

Aus meinem schönen Plan wurde nichts, da ich trotz Schneckentempos tatsächlich der erste war. Verdammt.

Nach und nach trudelten ein paar Kerle ein, die allesamt so aussahen als hätten sie auch keine Lust hier zu sein. Warum war man bitte Mitglied in einer Theater-AG wenn man gar nicht hier sein wollte?

Die konnten ja nicht alle irgendwen geschlagen haben. Nicht mit diesen dünnen Streichholzärmchen.

Der Kerl mit der blutigen Nase tauchte gar nicht auf. Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Vielleicht hatte ich doch zu fest zugeschlagen…

Ach was, er war selber schuld. Was beleidigte der mich auch? Mir egal ob die anderen angefangen haben. Schließlich bin ICH nicht die anderen. Arsch.

 

„Aaah, du musst Noah sein, nicht? Die Direktorin sagte mir, dass wir einen Neuzugang erhalten würden.“ Ihr Blick verriet mir, trotz dass sie zuckersüß lächelte, dass si mich ohne Umschweife verpetzt und von der Schule hätte fliegen lassen, wenn ich nicht brav hiergesessen und gewartet hätte.

Blöde Kuh.

„Hm…“, mehr als ein Brummen brachte ich als Antwort nicht zu Stande. Reichte ihr aber anscheinend schon. Fröhlich plapperte sie weiter vor sich hin. Gerade so als würde sie nur reden um ihre eigene Stimme zu hören.

„Nun gut. Welche Rolle hätten wir noch für unseren Neuzugang?“ Nachdenklich griff sie sich ans spitze Kinn, ehe sie sich eine der roten Haarsträhnen hinters Ohr strich und mit sich selbst zu sprechen begann.

„Feli?“ Einer der Jungs –irgendwoher kannte ich den. Sport hatten wir glaub ich zusammen- riss die seltsame Tante aus ihrem Selbstgespräch.

„Ja, Paul? Was ist denn, ich denke gerade nach welche Rolle zu ihm passen könnte… seine Schultern sind leider nichts für eine Kurfürstin….“

„Er könnte meine Rolle kriegen. Ich glaub ich bin nicht bereit für die Rolle des Johannes.“

Sie schien zu überlegen. „Du könntest Recht haben. Und die Figur für den Johannes hätte Noah zweifelsohne.“ Bedächtig nickte sie eine Weile vor sich hin. Wirkte irgendwie lächerlich. Wie sollte man da die ganze Sache hier ernst nehmen? Kein Wunder das die Theater-AG eine Lachnummer war. Wobei meine Mutter immer begeistert war… ich hatte bis jetzt jedes Stück verschlafen, dem ich beiwohnen musste.

Händeklatschen holte mich in die Realität zurück.

„Wunderbar. Also Noah, du bist unser neuer Johannes. Und du Paul wirst eine Hervorragende Kurfürstin abgeben.“

Paul schien das Gesicht einzuschlafen, als er seine neue Rolle hörte. Tja, da hatte er wohl mit Zitronen gehandelt. Dachte ich zumindest, bis Felicitas mir einen Text in die Hand drückte und grob umriss, um was es in dem Stück geht.

Vielleicht war auch ich derjenige der am Arsch war und nicht der Kerl, der ein Frauenkostüm tragen durfte.

Hauptrolle. Eine beschissene Hauptrolle. Die auch noch einen der Anwesenden küssen musste.

„He… wer spielt diese Ludmilla-Tussi?“ zischte ich dem Typen neben mir zu. Klein und schmal und unscheinbar. Name unwichtig.

Zögernd schaute er zu mir auf. „Jago… Der fehlt heute…“

„Wer?“

„Der dem du die Nase gebrochen hast…“, mischte sich nun Paul ein, der sich grinsend in seinem Sitz zurück lehnte.

Ja… definitiv… Er war mit der Kurfürstin besser bedient als ich… Zu blöd, dass ich im Kleid nicht gut aussah….

 

„Noah, mein Lieber“, flötete Felicitas, nachdem sie ein paar der Jungs auf die Bühne gescheucht hatte, in meine Richtung. Widerwillig schaute ich auf, auch wenn ich nicht ihr ‚Lieber‘ war.

„Du schaust heute erst einmal zu. Bis zur nächsten Probe hast du Zeit dir deinen Text schon einmal anzuschauen. Je eher du ihn auswendig kannst, desto besser.“ Schon wendete sie sich zurück zur Bühne und ignorierte mich. Auch wenn ich bezweifelte, dass es mir gelingen würde, frühzeitig abzuhauen.

Dann konnte ich auch zusehen, was die so machen…

… oder auch nicht…

Nicht, dass die Kerle schlecht waren… aber dieses Stück… gestelzt, langweilig und so unlogisch… Ernsthaft… Was sollte das? Und da sollte ich mitmachen?

Skeptisch –und zugegebenermaßen bangend- blätterte ich durch das Skript, bis ich meine Roll fand. Besser ich fand jetzt heraus was auf mich zukam, als wenn ich deswegen zuhause einen Nervenzusammenbruch erlitt und Ma noch ihren heißgeliebten Doc anrief…

 

Irgendwann war die Probe zu Ende. Ebenso wie meine Nerven.

Erst dachte ich ernsthaft, ich hätte die humanste Rolle des ganzen Stückes erhalten. Fahrender Schauspieler. Auf dem Boden geblieben. Ganz ohne diesen ‚fancy‘ Kram. Bis er ganz plötzlich, sich Hals über Kopf in diese dahergelaufene Kurfürstentochter verliebt. (Von der man natürlich nicht wusste wer sie ist… Trotz piekfeiner Klamotten…)

Es war bestimmt auch ganz logisch, dass er sie unbedingt heiraten wollte… nach ein paar Tagen die er sie kennt… Und die Sache mit dem Duell um ihre Hand… Ja… nein. Welcher Schauspieler war besser im Schwertkampf als ein Adliger, der es von klein auf erlernt hatte? Und warum tat der Vater nichts dagegen? Es gab etliche Wachen, die ihn besiegen konnten oder ins Gefängnis werfen konnte, oder was auch immer. Eine Alien Invasion wäre logischer erschienen, als das Ende dieses Stückes…

Und ich hoffte ernsthaft der Kuss würde gestrichen werden.

Ich küsste bestimmt keinen Kerl den ich nicht kannte… Falsch… ich küsste gar keine Kerle. Wäre ja noch schöner. Tse

 

Jacek

 

Der Montag war ein einziger verschwommener Fleck.

Mein Gesicht wahr ein einziges wummern, gedämpft durch diverse Schmerzmittel, die ich intus hatte.

Dienstag zog ebenfalls an mir vorbei, ohne dass ich wirklich viel tat, außer hin und wieder im Bad zu verschwinden.

Erst Mittwoch schaffte ich es mich aufzuraffen und eine halbwegs normale Figur abzugeben.

„Wie geht’s dir?“ Lächelnd schob Tommy mir eine Schüssel mit Cornflakes vor die Nase, als ich mich ungelenk am Tisch niederließ.

„Wie vom Bus überrollt.“ Seufzend ertränkte ich die Flakes in Milch und schaufelte mir Löffel für Löffel in den Mund, ehe die Milch es schaffen konnte, das Zeug in widerwärtige Pampe zu verwandeln.

„Willst du nochmal zum Arzt gehen?“

Ich winkte ab, als er mich besorgt musterte.

„Geht schon. Morgen wird es schon wieder gehen. Notfalls hab ich die Schmerzmittel noch.“

Er wirkte unzufrieden, dennoch nickte er und brach schließlich zur Arbeit auf.

Und was sollte ich nun machen?

Seufzend beendete ich das Frühstück kurzerhand und schlich zurück auf mein Zimmer.

Schulstoff nachholen oder Hausaufgaben? Wenn Bryn schon so nett war mir das Zeug jeden Tag zukommen zu lassen.

„Nee….“ Von plötzlicher Unlust ergriffen kroch ich zurück in mein Bett. Schule hätte auch morgen noch Zeit. Heute konnte ich sinnvolleres tun. Schlafen beispielsweise.

 

Die Busfahrt zur Schule am Donnerstagmorgen war die Hölle. Zu laut für meinen dröhnenden Schädel –verdammt, die Tabletten sollten endlich wirken! Die Blicke, die mir die anderen Fahrgäste zuwarfen taten ihr Übriges. Sicher, ich stand gerne im Mittelpunkt, jedoch nicht so. Nicht wegen einer gebrochenen und gerichteten Nase, die in den wundervollsten Farben schimmerte und mir Kopfschmerzen bereitete. Auch wenn der Verband der über meine Nase geklebt wurde dies gut zu verdecken wusste.

„Boa. Scheiße. Echt übel…“, begrüßte mich Via, als ich den Schulhof betrat und mich zu meinen Freundinnen gesellte. Bryns Begrüßung fiel weniger herzlich aus. Grinsend zückte sie ihr Smartphone und sicherte diesen Moment für die Ewigkeit. Wenn ich die und ihre Vorliebe, alles zu fotografieren erwischte dann…

…nein. Zu anstrengend für den Kopf. Vielleicht hätte ich doch zum Arzt gehen sollen. Aber dann hätte Tomasz sich wieder unnötige Gedanken gemacht… Nein war schon in Ordnung so. Es sollten mich nur alle in Ruhe lassen.

 

An die Theaterprobe, die heute anstand, erinnerte ich mich erst, als meine Beine mich nach dem Unterricht, fast schon automatisch, zum Auditorium trugen.

Wie gewöhnlich war ich der erste, der den düstern Raum betrat.

Zu meinem Erstaunen war das neue Blondi, der zweite der Aufschlug. Einen Moment lang musterte er mich stumm. Sah so aus als wolle er etwas sagen. Setzte sich dann jedoch stumm ein paar Plätze von mir entfernt hin, das Gesicht im Skript verborgen. Dabei fiel mir ein…  Feli hatte gar keine Mail mit der neuen Szene geschickt. Musste ich sie dringend drauf ansprechen.

Wie aufs Stichwort flog die Doppeltür auf und Felicitas stolzierte den Gang entlang auf uns zu.

„Jago. Wie schön. Du bist zurück. Entzückend…“ Freudig strahlte sie mich an, ehe ihr Blick auf meine Nase fiel. „Uh… sieht ja übel aus. Ich hoffe das“ mit kreisenden Handbewegungen deutete sie auf mein Gesicht. „sieht bis zur Aufführung wieder gut aus. Sonst wirst du eine ganz entsetzliche Ludmilla abgeben.“

Ihre Feinfühligkeit und Anteilnahm rührte mich zu Tränen. Wirklich…

„Ja, das hoffe ich auch. Aber mal was anderes. Du hast mir die neue Szene nicht geschickt…“

„Ach du Dummerchen…“ Mit einer Hand tätschelte sie meine Wange, wofür ich sie ernsthaft schlagen wollte. Wäre ich nicht voll auf Schmerzmitteln hätte ich vielleicht auch die Koordination dafür. „Die Szene muss nicht umgeschrieben werden. Dank Noah haben wir eine Kurfürstin.“

„Er soll die Kurfürstin sein?“ Entsetzt –so entsetzt es mit gebrochener Nase und Verband ging- deutete ich auf den Blonden. „Er ist größer als der Kurfürst … und breiter… und… männlicher… und… ernsthaft… du willst IHN in ein Kleid stecken? Die werden ihm nie passen. Er könnte damit Hulk spielen und sämtliche Nähte platzen lassen.“ Erneut entsetzt stellte ich fest, dass ich mit dieses Bild gerade vorstellte. Nicht Blondi im Kleid sondern Blondi der Hulkmäßig seine Klamotten sprengte. Geniale Vorstellung. Im Nachhinein würde ich das jedoch auf die Medikamente schieben. Kerle die Schiss hatten ihren Platz im Schrank zu verlassen, waren echt nicht mehr mein Fall. Und der Typ saß so tief im Schrank, dass er sich darüber nicht mal bewusst sein dürfte. Armer Blondi.

…Medikamente… Sagte ich ja.

„Ach Jago… Natürlich nicht. Paul spielt die Kurfürstin. Hältst du mich für doof?“

Das ‚JA‘  dachte ich mir lieber nur. Stattdessen fragte ich sie, was dann nun mit der Johann Rolle sei. Mein Part ohne Johann war genauso dämlich wie mein Part ohne Kurfürstin!

„Du bist heute wirklich ein Dummerchen… Noah wird den Johann spielen. Ist doch logisch!“

Das Erscheinen der anderen Jungs verhinderte, dass ich ihr antworten konnte.

Nein, es war nicht logisch Felicitas! Der Kerl war neu und sollte gleich eine Hauptrolle kriegen? Konnte der überhaupt schauspielern? Ich hoffte es inständig…

 

Der Auftritt der fahrenden Schauspieler eröffnete die Theaterprobe und ließ mich einsehen, dass wir nächstes Jahr wohl wider Annes Kack spielen mussten… Vielen Dank auch. Da konnte nicht einmal ich etwas ausrichten…

Resignierend seufzte ich, als ich meinen Platz auf der Bühne einnahm.

…Nein… auch wenn ich mein Bestes gab, wurde er nicht wirklich besser… Annes Vorschläge ahoi…

Sprachen da schon wieder die Medikamente? Hoffentlich!

Gegen Anne verlieren kam gar nicht in die Tüte. Und wenn ich mit kostümierten Besenstielen auftreten musste. Ich würde dieser Kuh so in den knochigen, kleinen Arsch treten… im übertragenen Sinn.

 

„Noah!“ Der angebrüllte –ich hatte meine Lautstärke etwas verkalkuliert- zuckte kurz zusammen, blieb jedoch im Gang stehen. Den Rucksack über eine Schulter gehängt.

Gott wie schön wäre es, wenn er Talent hätte. Oder ein Paar engerer Hosen… Oder wenigstens die Schranktür ein kleines bisschen geöffnet…

Wunschdenken. Doch was nicht war konnte ja noch werden…

„Ja?“  unsicher schaute er von mir zur Tür und zurück. War ihm vielleicht unangenehm allein mit mir zu sein.

Hatte ich zu offensichtlich gestarrt?

Entweder das oder ich hab zu lange geschwiegen und wirkte dadurch wie einer dieser verrückten Typen, bei denen man lieber die Straßenseite wechselte.

„Ich hab keine Lust wegen dir gegen die Mädels zu verlieren. Verstanden? Aber so wie das gerade bei dir lief…“ Übertrieben genervt stöhnte ich auf. „Du weißt was ich meine, nehm ich an. Talentlosigkeit ist jedoch keine Ausrede. Was bedeutet, du kriegst Nachhilfe. Von mir. Und wag es dir abzulehnen. Sag mir wann du Zeit hast und wir proben können, oder ich zwing dich in sämtlichen großen Pausen dazu. Glaub mir.“

Einen Moment schien er zu überlegen. Unwillig, doch er tat es.

„Samstagvormittag. Bei mir“, presste er aus zusammengebissenen Zähnen hervor und ließ mich schließlich stehen.

Keine Erklärung wo er wohnte, noch was Vormittag bedeutete.

Ersteres ließ sich jedoch durch einen kurzen Besuch im Sekretariat herausfinden. Letzteres… wäre sein Problem. Dank der Sportbefreiung hatte ich den ganzen Tag Zeit und würde nicht davor zurück schrecken um acht Uhr morgens bei ihm Sturm zu klingeln. Alles zwischen Frühstück und Mittagessen zählte zum Vormittag. Wenn mir also danach war konnte ich um fünf Uhr morgens essen und um halb sechs bei ihm sein.

Kurz zog ich das tatsächlich in Erwägung… dann fiel mir jedoch ein, dass ich ihn ärgern wollte und nicht mich selbst. Also doch um acht. Oder neun. Oder so…

Irgendwann auf jeden Fall. Ich wollte gewinnen und nicht einmal sein fehlendes Talent würde mich davon abhalten. Koste es was es wolle. Dafür opferte ich gerne meinen Samstag.

 

 

Noah

 

Der Traum war schön.
Eine einsame Insel, Ruhe, Frieden, Sand und Meer.

Verschwommene Personen ohne Gesichter um mich herum.

Wie der Hawaiiurlaub im letzten Jahr.

Ja… Meeresrauschen, der salzige Geruch… und das kreischende Monster, das seine Tentakel um mich schlang und zu ertränken drohte.

 

Unsanft landete ich auf dem Boden, meine Decke in heilloser Unordnung um mich herumgewickelt.

Kein Monster. Nur meine Decke.

Dafür setzte das Kreischen erneut ein. Mit dem Unterschied, dass das Kreischen schlicht die Türklingel war, die man Minutenlang gedrückt hielt. An einem Samstag. Um… -ich schielte zum Wecker-… 8.04 Uhr.

Wenn das eines der Nachbarkinder war dann…

Knurrend wand ich mich aus dem Deckenhaufen, trapste schlecht gelaunt und Barfuß die Treppe nach unten und riss die Haustür auf. Eigentlich darauf aus, niemanden vorzufinden, sondern schlicht die klemmende Türklingel zu lösen.

Was ich nicht erwartet hatte war ein grinsendes Gesicht mit beklebter Nase.

„Was zum…“

„Es ist Samstag. Es ist Vormittag. Und es ist bei dir.“

Dreist schob er sich an mir vorbei. Sämtliche Proteste, dass es noch gar nicht Vormittag sei, ignorierend.

„Schick… Hier… Frühstück. Und vielleicht solltest du dir etwas anziehen… falls es dir peinlich ist in Boxer-Shorts zu üben.“ Grinsend drückte er mir eine Bäckertüte in die Finger und musterte er meine Aufmachung. Es dauerte eine Weile ehe mein schläfriges Hirn verstand, was er sagte.

„Wa… scheiße. Alter! Gott…“ Vor mich hin fluchend überlegte ich was zu tun war. Erst essen oder umziehen. Aber wohin mit den Brötchen… und der Kerl….

Scheiße war ich müde.

„Hier… deck den Tisch. Da ist die Küche… ich geh nach oben und werde wach. Verdammte Scheiße noch eins…“

 

Eine heiße Dusche sowie ein paar Hosen und ein Shirt später, fühlte ich mich wacher und traute mich tatsächlich zurück nach unten.

Der Kerl –Jacek! Er hat einen Namen, gewöhn dich dran… verdammt- hatte tatsächlich den Tisch gedeckt und wartete brav.

„Du weißt das kurz nach acht nicht ‚Vormittag‘ ist, oder?“

„Rein theoretisch ist kurz nach acht vor dem Mittag… Praktisch gesehen… solltest du dich nicht beschweren. Du bist talentfreier als ein Gartenstuhl. Ernsthaft… null Emotionen und steif wie ein Brett. Geht gar nicht. Um zu gewinnen brauch ich schon Hilfe. Die Aufführung ist schließlich keine One-Man-Show… Also“

„Schon klar. Keine Beleidigungen vorm Frühstück“, unterbrach ich ihn und durchsuchte die Bäckertüte.

Schweigend schaute er zu wie ich begann, mir ein Brötchen zu schmieren. Und schließlich ein zweites. Bevor ich zu dem dritten griff schaute ich ihn fragend an. „Isst du nichts?“

„Hatte schon…“ Ich vermutete, dass er das Gesicht verzog, was durch das Pflaster und den Mull mitten in seinem Gesicht nicht ganz zu erkennen war. Irgendwie bekam ich ein richtig schlechtes Gewissen.

„Sorry, dass ich dir eine reingehaun hab…“

„Eh…“ Er gab einen undefinierbaren Laut von sich, eher er mich fies angrinste. „In spätestens einer halben Stunde wird es dir noch mehr leidtun… glaub mir. Und glaub ja nicht, dass ich die Schwuchtel zurück nehme… hast es verdient bei solchen Freunden.“ Quietschend schob er den Stuhl zurück und erhob sich. „Beeil dich mit essen… Ich mach im Wohnzimmer mal Platz… ist doch gleich nebenan, oder?“

Ohne auf meine Antwort zu warten verließ er die Küche.

Dreist war er überhaupt nicht…

Und überhaupt… die Typen waren nicht meine Freunde. Konnte die ja noch nicht mal leiden. Ernsthaft… Ach Scheiße…

Kopfschüttelnd schmierte ich mir mein drittes Brötchen.

Mit dem vierten in der Hand folgte ich ihm schließlich ins Wohnzimmer.

Tisch, Sofa sowie die Sessel hatte er beiseitegeschoben, sodass mitten im Zimmer eine große freie Fläche entstanden war.

 

„Und jetzt?“

„…stopfst du dir das Ding in den Hals und dann proben wir. Je eher du besser wirst desto besser.“

„Und wenn ich nicht besser werde?“

„Ich tret dir solange in den Arsch, bis du es kannst.“

Darauf würde ich glatt wetten, auch wenn er in dem Schlabbershirt und der Jogginghose ziemlich schmächtig wirkte. Sein demoliertes Gesicht trug auch nicht gerade dazu bei, dass er männlicher wirkte… doch gut… ein bisschen.

Ein kleines Bisschen.

 

Eine gefühlte Ewigkeit später hielt ich ihn nur noch für eine Furie. Eine ganz fiese, schrill kreischende Furie.

„Gott, hast du immer einen verdammten Stock im Arsch?! Jeder gammelige Küchenschwamm hätte in dieser Rolle mehr Ausstrahlung als du. Und das war eine der leichten Szenen. Was machst du wenn die wichtigen Szenen kommen? Erstarren und klirrend zerspringen wenn du versteinert zu Boden fällst?

Mir gefällt das Stück genauso wenig wie dir und trotzdem…“

Ich ließ ihn zetern, bis meine Mutter das Wohnzimmer erstürmte. Bewaffnet mit einer zusammengerollten Yoga-Matte.

„Was…?“ Verwirrt starrte ich sie an.

Ebenso verwirrte schaute sie von Jacek zu mir. Wieder und wieder und wieder.

„Was ist hier los?“ Unsicher ließ sie die Matte zu Boden sinken.

„Proben? Für das Theaterstück?“ Wonach sah es denn sonst aus?

„Und das Geschrei? Ich dachte Einbrecher würden hier ihr Unwesen treiben…“

Und dann bewaffnete sie sich mit einer Yoga-Matte? Wirklich? Ich sollte der Frau Pfefferspray besorgen. Oder einen Schlagring. So konnte ich sie unmöglich auf die Straße lassen. Bei einem Überfall würde sie sonst vermutlich versuchen, den Angreifer mit ihrem Halstuch zu erschlagen…

„Ja… Entschuldigung Frau Gräfe. Aber ihr Sohn ist so… miserabel, dass es nicht anders ging. Und nun sollte ich langsam gehen. Ich werde zum Essen erwartet“, ergänzte er mit einem Blick zur Uhr, die tatsächlich kurz vor zwölf anzeigte.

„Sag mir Montag wann du Zeit hast. Nur Samstag proben wird nicht reichen. Bis dahin… üb deinen Text, damit wenigstens das sitzt.

Ich find die Tür. Man sieht sich.
Wiedersehen Frau Gräfe.“

Ohne Luft zu holen sprang er von einem Thema zum nächsten, ehe er meiner Mutter ein gewinnendes Lächeln zuwarf und aus dem Wohnzimmer stürmte. Kurz darauf fiel die Haustür ins Schloss und Ruhe kehrte ein.

„Das war…“

„…nett…“

Mir lag her ein ‚seltsam‘ auf der Zunge, aber okay. Meine Mutter wollte mit einer Matte Einbrecher vertreiben, warum das Ganze dann nicht nett finden.

Und wo meine Gedanken bereits wieder bei der Matte waren…

„Eine Yoga-Matte?“

Schulterzuckend hob meine Mutter ebendiese auf und klemmte sie sich unter den Arm.

„Hatte nichts anderes auf die Schnelle… und jetzt zieh dich um, Oma hat angerufen. Wir gehen mit ihr essen. Und richte das Wohnzimmer … es ist zwar schön, dass du deine Strafe so ernst nimmst aber… richte es einfach wieder. Du weißt ich kann nicht leiden, wenn man etwas umstellt.

 

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dumdumdum...

viel zu spät...

aber es kommt.

Hab beim Hausarbeit schreiben (die ich am Mittwoch endlich abgegeben hab) einfach vergessen an den Jungs zu schreiben....

Sorry

Kapitel 5

 

Kapitel 5

 

Jacek

 

„Du hast ihn ernsthaft am Samstag aus dem Bett geworfen?“ Erstaunt zog Bryn eine Augenbraue in die Höhe und legte tatsächlich ihr Buch zur Seite.

„Ach, Mädel. Wen interessiert das denn bitte? Stand er echt in Unterwäsche vor dir?“ Kopfschüttelnd betrachtete Vivianne unsre blonde Freundin, als wäre diese ein Alien, nur weil sie es doch tatsächlich gewagt hatte, eine irrelevante Frage zu stellen.

„Ja… Und?“

„Wie ‚und‘?“ Nun wurde ich angesehen wie ein Alien. „Details! Wir wollen Details!“ Das ‚du!‘, welches Bryn korrigierend einwarf wurde von der anderen gnadenlos ignoriert.

„Was denn für Details? Er hatte Boxer an. Die Dinger kennst du doch…“

„Aaaaaaalter…..“ stöhnend warf Via den Kopf in den Nacken und fuhr sich durch die Haare. Irgendwie machte es Spaß sie zu ärgern. Manchmal machten Bryn und ich es auch mit Absicht, nur um zu sehen wie lange sie braucht, um uns zu ‚Alter’n.

Via war einer der Menschen, die das Wort ‚Alter‘ am liebsten für immer aus dem Sprachgebrauch gestrichen hätten. Zusammen mit ‚Digga‘ und ‚deine Mudda‘. Doch manchmal, wenn ihre Geduld am Ende war, dann konnte auch sie nicht anders…

„…nun komm schon. Gib dem Äffchen Zucker! Meine Eltern haben schon wieder vom Praktikum angefangen. Ich brauch etwas um mich aufzumuntern. Also muntere mich auf und gib mir gefälligst Details! Und komm mir jetzt ja nicht mit: der hatte Schlabberdinger an da konnte man nichts sehen!“

„Wie du willst. Hatte er nicht. Die Dinger saßen echt gut. Waren sogar die edlen Dinger mit dem teuren Namen…“

„Edel. Und? Ansehnlich?“

Glich sie einer hungrigen Hyäne die ein saftiges Stück Fleisch sah?

Ja… ja das tat sie. Der arme Noah tat mir beinahe ein bisschen Leid.

„Sehr“, gab ich dennoch zu. Das musste ich dem Kerl echt lassen. Verschlafen, mit halb zusammen gekniffenen Augen und in enger Unterwäsche sah er zum Anbeißen aus. Da konnte er mir die Nase so oft gebrochen haben wie er wollte.

„Schwärmst du immer für Typen, die die Tendenz haben dir weh zu tun?“ Bryns ernster Blick ließ unsre verträumt-schwärmerische Stimmung verfliegen. Spaßbremse.

„Tu ich nicht. Außerdem hat Via angefangen.“

„Ja, ja. Ich bin Schuld. Alles klar. Aber ehrlich mal… so gut?“

„Ja…“

Theatralisch seufzend, legte Via ihren Kopf auf meine Schulter und blickte, genau wie ich, verträumt gen Himmel.

„Den würde ich bestimmt nicht von der Bettkannte schubsen…“

Bryn und ich lachten gemeinsam auf. Warum sie lachte wusste ich nicht…

„Als ob der dich da überhaupt rein lässt…“

Empört plusterte meine Freundin ihre Wangen auf.

„Was soll das heißen? Bin ich nicht hübsch, oder was?“

„Ach quatsch. Bist total hübsch. Schöne Haare, siehst ohne Make-up nicht zum Fürchten aus und ohne Sport-BH hast du sogar ganz ansehnliche Möpse… Dummerweise…“

„…hat der Kerl den Stock so weit im Arsch stecken, dass es mich wundert, dass er ihm noch nicht zum Hals wieder rausguckt.“ Beendete Bryn meinen Satz. Etwas anders als ich ihn geplant hatte… was vielleicht auch besser war.

Ich hätte ihn vermutlich als einen schwulen Delfin betitelt der denkt er sei ein Hai obwohl offensichtlich ist, dass er es nicht ist… oder so… Jetzt hab ich mich selbst verwirrt. Grandiose Leistung am frühen Morgen.

„Trotzdem…“, wollte Vivianne einwenden, um das Thema tatsächlich weiter zu vertiefen –ich sollte ihr Fanfiktions verbieten- doch die Blonde unterbrach sie mit einem genervt klingenden ‚Holt eure Gedanken aus der Gosse, Leute. Wir haben jetzt Mathe…‘

Ja, da konnte einem alles vergehen. Selbst Bryn…. Und die war wirklich asexueller als jeder Stein im Wald.

Sie selbst sagte immer, sie wäre nicht asexuell (Stimmt bei deinen Büchern geht dir ja ständig einer ab!- Vias Standardeinwurf, nicht meiner.) sondern hätte einfach nur kein Interesse an ihren bekloppten Mitmenschen.

Konnte ich gar nicht verstehen. Unsre Mitmenschen sind klasse. Manche… wenn sie die Klappe hielten… und gut aussahen… Unser Englischlehrer beispielsweise… Ganz frisch von der Uni. Die monotonste Stimme überhaupt… dennoch dürfte er sich gerne leicht bekleidet auf dem Lehrertisch räkeln, anstatt uns mit Vokabeln und Essays und dem ganzen Scheiß zu nerven.

 

Auf dem Weg ins Klassenzimmer verwarfen wir tatsächlich das Noah-Thema. Zumindest bis Bryn ankündigte Pinkeln zu müssen.

„Malst du mir ein Bild davon?“ Flüsternd beugte die Brünette sich zu mir, als hätte sie Angst, dass die andere super Gehört entwickelt hätte und sie nun durch diverse Wände hören konnte.

„Du weißt, dass ich nicht mal Strichmännchen malen kann…“

„Verdammt… Dann sollte ich ihn vielleicht selbst einmal am Wochenende um 8 Uhr wecken.“

Ich schwieg mich darüber aus.

Langsam wurde es öde…

Außerdem würde diese Langschläferin nie am Wochenende vor 12 Uhr aus dem Bett krabbeln. Und selbst dann nur, wenn es einen triftigen Grund gab.

 

Die Schule zog sich wie jeden Tag dahin, einem Schlüpfergummi gleich.

Einige starrten mir noch immer ungläubig ins Gesicht, den meisten jedoch war es mittlerweile egal, was mit im Gesicht klebte. Heute Abend würde ich das Ding bestimmt nicht wieder aufkleben, nach dem duschen. Sollte dann nur darauf achten, dass Tomasz es nicht mitbekam, sonst gäbe es ärger, sollte ich den Dreck schließlich länger tragen.

 

Das Auto meines Bruders stand direkt vor dem Haus, was mich wunderte. Hatte er nicht länger Schicht heute? Ach vermutlich hatte einer der Kollegen wieder tauschen wollen und Tommy der Gutmensch konnte nicht ‚nein‘ sagen.

Es blieb ruhig in der Wohnung, als ich die Tür hinter mir zuschob. Entgegen meinem gewohnten Rhythmus ließ ich meine Tasche neben die Schuhe fallen und ging zur Küche.

„Was machst du da?“ Machte ich mich nach einer Weile bemerkbar, in der ich ihn vom Türrahmen aus beobachtet hatte.

Ganz ehrlich: er sah fertig aus. Und weitaus älter als man mit 26 aussehen sollte. Und das tat er nur wenn er zu viel arbeitete und sich zu viele Sorgen machte.

War nicht zum Aushalten…

„Jacek… was machst du schon hier?“ Erschrocken drehte er sich auf dem Stuhl zu mir herum, in den Fingern ein halb zerknitterter Brief.

Ehe er ihn wieder wegstecken und irgendetwas Beschwichtigendes sagen konnte, nahm ich ihm das Ding aus der Hand und legte die Arme von hinten um seine Schultern. Mein Kinn auf seine fast schwarzen Vogelnest-Locken gestützt.

„Na los… erzähl. Was ist los. Ich will es nicht von dem Wisch hier erfahren…“

Seufzen.

„Die haben letztens so eine scheiß Rechnung geschickt… und jetzt die Mahnung dazu. Und ich hab keine Ahnung für was das sein soll und wie ich so viel Geld aufbringen soll… ich kann nicht einfach mal 400 € im Monat für irgendwas bezahlen… Das geht nicht… Aber wenn ich es nicht mache, dann… und wenn ichs mache…“
Erneut seufzte er und sackte gegen meinen Bauch.

„Du könntest an das Sparbuch mit meiner Vo…“

„NEIN!“

Nun zuckte ich zusammen. Mit einem Ausbruch seinerseits hätte ich in dem Moment nicht gerechnet.

„Nein… ich sagte schon mal, das kriegst du wenn du deinen Abschluss gemacht hast. Zum Führerschein machen oder Auto kaufen oder Ausbildung finanzieren…“

„Schon gut.“ Ich zog die Arme etwas fester um ihn. „Ich… werde mich um den Wisch kümmern, ok? Ich frag nach für was das ist und… klär die Sache. Mach du dir keinen Kopf mehr drum.“

„Aber…“

„Ich weiß, dass du der große Bruder bist und alles, aber… ich kenn die Konsequenzen. Wenn das nicht geklärt wird steht das Jugendamt auf der Matte…. Darauf kann ich gerne verzichten. Okay?“

Er nickte. Langsam. Widerwillig. Doch er nickte. Seine Anspannung jedoch blieb.

„Und was bedrückt dich noch?“

Sein ‚nichts‘ ließ ich ihm nicht durchgehen. Nicht heute.

Schien er einzusehen, denn er erzählte wie so oft, wie kacke seine Arbeit doch wäre und das er jetzt tatsächlich ein anderes Angebot bekommen hat.

„Du wolltest schon immer zum Walther… warum zögerst du?“ Ich blickte nicht ganz durch. Karl-Heinz Walther war vor Jahren Tommys Ausbilder gewesen und besaß eine gut gehende Werkstatt. Nicht so groß, wie die in der mein Bruder zur Zeit arbeitete, dennoch bekannt genug um schon seit Jahren gut im Geschäft zu sein.

„Ich würde bei ihm weitaus weniger verdienen als jetzt und…“

Genervt unterbrach ich ihn. „…ja, ja. Wir brauchen das Geld. Bla, bla, bla… Und jetzt mal ernsthaft. Haben wir Geldprobleme? Mal abgesehen von der Rechnung hier?“ Demonstrativ wedelte ich sie vor seinem Gesicht herum.

Kleinlaut verneinte er.

„Siehst du. Walther hat dir DAS Angebot gemacht, auf welches du schon ewig wartest… Also… er hat es dir mal wieder gemacht… Aber jetzt solltest du wirklich in Betracht ziehen zuzusagen. Es ist das was du willst. Und das was dir jetzt gut tun würde.
Du hast schließlich nur wegen mir deine jetzige Stelle angenommen. Einfach weil du uns damit mehr leisten konntest.“ Hörbar ausatmend presste ich das Gesicht in seine Haare, bis meine Nase sich meldete und ich aufhören musste.

„Du hast immer an mich gedacht. Jetzt denk an dich, ok? Ich brauch nichts ausgefallenes… das weißt du.

Rechne von mir aus durch was für Ausgaben wir haben und ob Walthers Angebot das abdeckt. Aber lehn es nicht sofort ab. Nicht wegen mir.“

„Danke…“ Hörte ich ihn da schniefen? Nein, musste einbildung sein. Tommy heulte nicht. Tommy war auch nie gerührt… er vertrug nur unseren Weichspüler nicht. Deshalb hatte er so rote Augen…

„Vždycky. Víte, že.(Immer. Das weißt du.) Bist, doch der Einzige den ich noch hab. Da kann ich nicht einfach zusehen wie du dich wegen ein paar hundert Euro kaputt machst…“

„Manchmal glaub ich du bist der Erwachsene…“, murmelte er in meinen Pulli, ehe er sich energisch erhob und irgendwas von wegen kochen murmelte.

Dann war der sentimentale Moment wohl vorbei.

Gut so.

Heulen machte sich bei mir mit gebrochener Nase schlecht. Tat scheiße weh… warum auch immer.

 

Um Tommy nicht im Weg zu stehen, machte ich mich auf den Weg in mein Zimmer, schlüpfte in eine alte Jogginghose, die mehr Löcher besaß als sie sollte und machte mich, mit dem Haustelefon am Ohr dran, herauszufinden was es mit dieser ominösen Rechnung auf sich hatte. Konnte doch nicht so schwer sein.

(Doch, konnte es, sei im Nachhinein angemerkt. Die Tussi am Telefon war mehr als nur unfreundlich, weshalb ich mich nicht weiter als nötig mit ihr stritt, sondern einfach höflich den roten Hörer drückte und hoffte, dass ich am nächsten Tag nicht vergessen würde das Geld zu überweisen.)

 

 

Noah

 

Es klapperte in der Küche, als ich mich, am Montagnachmittag nach der Schule, in mein Zimmer schlich. Das essen würde noch etwas dauern, weshalb ich mir fast sicher war, das meine Mutter mich nicht stören würde.

Endlich!

Hoffentlich ging dieser Arsch jetzt ans Telefon. Und warum zum Henker war er heute nicht in der Schule? Wusste er nicht, wie schlimm das war?

Genau das war auch die Begrüßung die ich verärgert ins Telefon zischte.

„Chill doch… Bin morgen wieder da. War nur den halben Vormittag am kotzen…“

Pascha brummte dies so lapidar ins Telefon als wenn…

„Hast du deine Cornflakes gegessen bevor du deine Tabletten genommen hast?“ Bei dem Gedanken schlief mir das Gesicht ein. Das wäre so typisch… und absolut bescheuert. Wie konnte er mir das antun?

Magen-Darm-Infekt hätte ich gerade so verstanden. Genickbruch auch. Vielleicht auch einen Papierschnitt der sich entzündet hatte. Aber das?

„Ja…“ Plötzlich war er ganz kleinlaut, gerade so als könnte er meine Gedanken lesen.

War gar nicht so abwegig… So lange, wie wir uns bereits kannten…

„Vollidiot!“

„Denkst du ich find es schön meinen Mageninhalt wieder zu sehen?“

Nein, fand er nicht. Er hasste kotzen.

„Ja, ja. Was auch immer. Jetzt mal zu wichtigen Sachen…“

Ließ ich ihm die Wahl etwas einzuwenden? Nein. Wozu war er bitte mein bester Freund. Er hatte mein ultramännliches Jammern zu ertragen ohne mit der Wimper zu zucken.

„Der Kerl war so gemein! Blind wie ein Maulwurf und in Unterwäsche stand ich vor ihm. Glaubst du das? Und dann machte der wirklich ernst. Bis zum Mittag hat er mich getriezt ohne Ende. Mir klingeln heute noch die Ohren von seinem Gezeter. Ich wusste gar nicht dass aus so einer kleinen Klappe so viele fiese Worte kommen können. Und das schlimmste…“

Keine Ahnung wie lange ich ihm damit die Ohren volljammerte. Aber er ertrug es. Vielleicht hatte er das Telefon auch einfach auf den Nachtschrank oder unters Kissen gelegt… egal.

„Noah… jetzt sag doch erst mal von wem du redest… versteh grad nur Bahnhof.“

Ach, ja. Hatte ihm das gar nicht erzählt. Wie auch?

„Na von dem Kerl, dem ich die Nase gebrochen hab. Diesem Jacek irgendwas.“ Ich brachte es so hervor, als müsste es logisch gewesen sein. War es nicht, dennoch… es half mir sehr so zu tun als wäre ein Teil der ganzen Misere hier Paschas Schuld.

Wenn ich es wirklich drauf anlegen würde dann wäre es das auch. Immerhin hat er mich gezwungen bei den Typen zu bleiben die den anderen provoziert hatten, was schließlich der Auslöser für die gebrochene Nase war.
Da. Mein bester Freund war schuld. Eindeutig!

Mein Gewissen ist rein, wie frisch gefallener Schnee.

„Aaaaaaahhhhh!“ Stöhnte er langgezogen ins Telefon, als werde ihm nun einiges klarer. „Tja, selber schuld, Mann. Was tickst du auch einfach so aus. Ist doch sonst nicht deine Art.“

Genau das ging auch mir wieder und wieder durch den Kopf. Eine Antwort gab mir mein Hirn darauf jedoch nie.

 

„Kommst du morgen wieder?“, wechselte ich schließlich das Thema. Genug Herz ausgeschüttet und Leid geklagt, für einen Tag.

„Klar. Kann dich doch nicht länger als nötig alleine lassen. Wer weiß was du sonst anstellst. Ohne mich bist du schließlich verloren.“

„Penner.“

„Ich dich auch…“

Ehe ich noch irgendetwas erwidern konnte räusperte sich eine weibliche Stimme neben mir. Ohne drüber nachzudenken rief ich ein „Tschüss Oma!“ in mein Handy, unterbrach die Verbindung und warf das Gerät hektisch zum Fußende des Bettes.

„Noah?“ Meine Mutter ließ meinen Namen wie eine Drohung klingen. „Wer war das?“

Zögernd zuckte ich mit den Schultern.

„Oma?“

„Seit wann bezeichnest du deine Oma als ‚Penner‘?“

Oh verdammte Sch…

„Ähm… das ist so ein neues Ding zwischen uns… weißt du…“

Kaum zu glauben wie unsagbar unglaubwürdig ich mich selbst fand. Also bitte. Niemand bezeichnete seine Oma –oder andere alte Damen- als Penner! Ich hätte so tun sollen als wäre mein Vater am Telefon gewesen. Wäre besser gekommen.

„…sicher? Du, mein allerliebstes Kind…“ –Oh heilige Scheiße sie spielte die ‚allerliebstes Kind‘ Karte. Ich war so dermaßen geliefert. Ade Pascha. Ade Motorrad. Aber vielleicht schickte sie mich auf eine nette Militärschule in der Nähe….- „…bist ein miserabler Lügner. Außerdem hatte ich meine Mutter gerade am Telefon. Und mit deiner anderen Oma sprichst du nicht. Nie. Also…“

Ich schwieg.

Nein, auch ihr strenger Blick und die verschränkten Arme konnten mich nicht dazu bewegen die Wahrheit zu sagen.

Sie starrte. Ich starrte. Was nicht gut war. Wenn meine Mutter mich anstarrte konnte ich nur verlieren.

Noch bevor ich mit der Wahrheit herausplatzen konnte, wie mein innerstes beinahe schon von mir verlangte, ließ sie sich seufzend neben mir aufs Bett sinken.

„Du weißt schon, dass ich dir Strafen nicht ohne Grund auferlege, oder?“

„Ja, Mama…“

„Ich will nur, dass du deinen Fehler begreifst und…“

„Ja, ich weiß. Und ich weiß auch was ich falsch gemacht habe… Aber…“

Und schon jammerte ich wieder. Wie schlimm es doch ohne meinen besten Freund war und das dieser Theaterscheiß eigentlich Strafe genug wäre.

Ernsthaft, ich sollte mich untersuchen lassen. Beinahe glaubte ich, dass mein Hirn eine Jammerdrüse entwickelt hatte die immer mehr anschwoll und in kürzester Zeit meinen Kopf sprengen würde.

War doch nicht mehr normal. Seit wann war ich so?

Sonst ging mir das was andere sagten am Arsch vorbei. Genauso wie Strafen. Und über den Sommer kam ich auch bestens ohne Pawel klar.

Gott… vielleicht entwickelten sich in mir drin auch nur ein paar Eierstöcke mit passender Gebärmutter, die mich so sentimental werden ließen.

„Ach Baby…“ Der Blick weicher werdend, wuschelt sie mir durch die kurzen Haare und lässt mich mindestens zehn Jahre jünger anmuten als ich eigentlich war.

„…Ihr zwei… ohne einander seid ihr nur eine halbe Person, nicht?“

Gott, wie schnulzig klang das bitte? Als wäre er die Liebe meines Lebens und ich würde ohne ihn an Herzschmerz sterben.

Dennoch nickte ich. Ich wusste, dass meine Mutter eine weiche Seite hatte was meinen besten Freund anging.

„Ich werde es zwar bereuen… Aber…“, sie machte eine dramatische Pause, in der sie wohl überlegte ob sie das folgende wirklich sagen sollte oder ob sie einfach zurück nach unten gehen und weiter kochen sollte.

„…ich werde dein Pawel-Verbot lockern. Telefonieren ist erlaubt. Und er darf nach der Schule herkommen. Aber nicht über Nacht! Kein ausgehen. Kein sich bei den Nowaks einquartieren. Verstanden?!“ Den letzten Satz sprach sie mit Nachdruck. Ein Tipp vom Doktor zum Thema Kindererziehung höchstwahrscheinlich.

Sollte mir nur recht sein.

„Danke Ma.“

„Hm… du scheinst die Theatersache ja doch ernster zu nehmen als ich erst angenommen hatte. Und wenn du dir schon die Mühe machst und außerhalb der Zeit dafür übst“, erinnerte sie mich an den grässlichen Samstag. „…dann kann ich dir auch ein Stück entgegen kommen.“

„Klar. Mama. Apropos entgegen kommen…“

„Übertreib es nicht. Der Motorrad Schlüssel bleibt schön wo er ist.“

„Okay.“ Den Versuch war es wert. „Soll ich dir beim Essen machen helfen?“

„Schon gut. Bin fast fertig. Aber du kannst deine schmutzige Wäsche in die Waschküche bringen und eine Maschine anstellen.“

Mist. Warum hatte ich gefragt? Das legte sie doch ständig als Hilfsbereitschaft aus… Widerwillig nickte ich. Ihr blick verriet mir, dass sie meinen Unmut darüber genau kannte. Vermutlich die Rache, dass ich einfach mit Pascha geredet hatte, trotz ihres Verbotes.

„Brauchst du was Bestimmtes?“ Natürlich hoffte ich auf ein nein, doch ihr grinsen verriet mir, dass ich vermutlich irgendwas Peinliches wie ihre Unterwäsche waschen sollte.

 

 

Jacek

 

 

Wie immer war es ruhig im Auditorium.

Meistens kotzte mich die Stille an. Manchmal war sie jedoch auch sehr angenehm.

So wie heute.

Im Halbdunkel lag ich auf der Bühne, die Beine baumelten über den Rand, und starrte zur Decke hinauf.

Entweder ließen die Schmerzmittel mich eklige Flecken sehen oder hier drin wurde es immer schmuddeliger.

Doch wie sagte die Direktorin die letzten Jahre immer wieder? Das Geld ist knapp. Seid froh, dass wir uns eure AG noch leisten können!

Aber wo wurde das Geld nicht knapp?

Dank dieser bescheuerten Rechnung, war ein Großteil des Geldes hinüber, welches ich mir über die letzten Zwei Jahre erwirtschaftet hatte. Sollte ich Tommy besser nicht sagen. Niemals.

Der würde mich einen Kopf kürzer machen.

Fand er es im Nachhinein schon schlimm, dass ich die ganze Sache telefonisch für ihn klären musste.

Angeblich…

Mir war klar, dass lügen nicht gut war und alles… doch was sollte ich machen? Jetzt wo er nicht mehr ganz so fertig aussah und anscheinend wirklich überlegte Walthers Angebot anzunehmen…

Nein… es war besser wenn er es nie erfährt.

 

„Langweilig….“ Brummte ich nach einer Weile, in der ich einfach nur weiter die Decke anstarrte und die undefinierbaren Flecken zählte.

Freistunden waren ätzend.

Oder zumindest hätte ich meine anders nutzen sollen.

Vielleicht sollte ich mich an meine Hausaufgaben setzen. Mathe konnte ich im dunklen genauso gut wie im hellen… nur mit Widerwillen.

 

Letztendlich konnte ich mich nicht auf die Aufgabe vor mir konzentrieren, da meine Augen immer wieder zu dem weißen Verband auf meiner Nase schielten.

Das Ding war so nervig.

Nerviger als Mathe. Nerviger als die Frau die über uns wohnt wenn sie Pop-Gymnastik machte.

Der Arzt hatte zwar gesagt ich solle das Ding länger tragen… dennoch…

„Drauf geschissen…“ leise fluchend begann ich an dem Pflaster zu pulen.

Das Zeug klebte schlimmer als alles andere das ich kannte!

Nur langsam schaffte ich es, das Material Stück für Stück von meinem Gesicht zu ziehen. Zusammen mit einem Teil meiner Haut.

„Gottverfluchtesdreckskackzeug!“

„Tut mir leid, dass ich dir die Nase gebrochen hab.“ Die Stimme neben mir ließ mich zusammen zucken.

Vor lauter fluchen hatte ich tatsächlich die Tür überhört.

„Wie oft willst du Muschi dich noch entschuldigen? Ist ja nicht zum Aushalten…“, genervt verdrehte ich die Augen und zog das letzte Stück des Verbandes ab, ehe ich mich von der Bühne schwang und ihn im Mülleimer entsorgte.

„Ich bin nicht aus Glas. Fast alles was bei mir kaputt gehen kann wächst irgendwie wieder zusammen.“ Als ich direkt vom ihm stand fügte ich mit einem Grinsen hinzu: „Außerdem hast du mich nur kalt erwischt. Wäre ich drauf gefasst gewesen hätte ich dich auf die Bretter geschickt ehe du meine Nase auch nur hättest berühren können… Das hier war sozusagen ein bloßer Glückstreffer.“ Übertrieben überheblich deutete ich auf meine Nase, die nicht mehr ganz so dunkel schimmerte. Dafür lachte mir und allen anderen , nun ein ekliges gelb-grün mit dunklen Rändern entgegen.

„Ja klar. Ich würde immer treffen. Außerdem… du mich auf die Bretter schicken? Wie lächerlich ist das bitte?“

Noch ehe er den Satz wirklich beenden konnte griff ich nach seinem Hemd -Trug er ernsthaft ein Hemd? In weiß? Mit passender schwarzer Hose? Seltsamer Kerl.- und schaffte es ohne viel Anstrengung ihn zu Fall zu bringen.

Triumphierend grinste ich zu ihm hinunter, ehe ich mich unschuldig dreinschauend auf einen der Sitze fallen ließ.

 

 

Noah

 

 

Da lag ich nun, wie ein Maikäfer auf dem Rücken, das ‚lächerlich‘ noch auf den Lippen.

War das gerade wirklich passiert?

Ernsthaft?

Ein kleiner Hänfling schaffte es mich zu Fall zu bringen? Au! Und das auch noch so, damit es scheiße wehtat.

„Noah? Was machst du denn da unten?“

Pilze sammeln, Diederich, Pilze sammeln…

Augenrollend setzte ich mich auf und verkniff es mir Felicitas zu antworten. Solche bekloppten Fragen verdienten keine Antwort. Und der Kerl saß scheinheilig da, als könnte ihn kein Wässerchen trüben.

Schauspielern konnte er. Das musste man ihm lassen.

 

Nach einigem Blabla seitens Felicitas, legte sie fest, dass wir heute in verschiedenen Gruppen üben sollten.

Kam mir unlogisch vor, doch ich würde dazu bestimmt nichts sagen. Wenn sie es für richtig hielt… war ja nicht mein Stück, das hier verkackt wurde ohne Ende.

„Hör auf dumm zu gucken und mach dich warm“, kam es freundlich von meinem Übungspartner, der noch immer grinste wie ein Honigkuchenpferd.

„Warm machen? Wir sind hier nicht beim Sport. Warum sollte ich m…“

Genervt stöhnte er auf. In einer Lautstärke, welche die anderen Grüppchen innehalten und zu uns blicken ließen.

„Mach deine Stimme warm. Hlupák!“

Was für ein Pack? Hä…

Ungläubig starrte ich ihn an. Doch er reagierte gar nicht auf meinen Blick, sondern ließ komische Laute über seine Lippen purzeln.

„… ja… Du klingst wie ein Pferd… Was soll das bitte?“

Ein Augenrollen begleitete Jaceks Antwort.

„Um die Stimme ‚aufzuwärmen‘. Hab keine Lust das meine Stimme weg ist, vom vielen Sprechen. Oder meckern… schreien… Was auch immer mir gleich bevorsteht.“

Ich wollte diesen Mist echt nicht mitmachen. Man klang zum Teil nicht nur wie ein wieherndes Pferd, sondern sah auch so aus… im besten Fall.

Doch ich musste.

Dieser irre Blick hätte mich sonst nur bis in meine Träume verfolgt und mich einen frühen Tod sterben lassen…

Oha… da war sie wieder, die dramatische Gebärmutter mitsamt Eierstöcken. Und ich glaube da kündigte sich die passende Vagina an.

Wunderbar. Sollte definitiv mit meiner Ma zum Therapeuten gehen.

 

„Erde an Noah. Dein Einsatz. Zum dritten Mal.“

Das schnippen der Finger vor meinem Gesicht brachte mich in die Realität zurück, obwohl die mir nicht im Geringsten gefiel.

„Was muss ich gleich nochmal machen? Hab nicht aufgepasst.“

„Milla stolpert durch den Wald und trifft auf dich. Du sprichst sie an und überzeugst sie euch zu begleiten, da es bei dir liebe auf den ersten Blick war.“

„Ach ja…“ Das klang so dämlich. Liebe auf den ersten Blick. Als würde es so was außerhalb Holly- und Bollywoods geben.

„Ok. Von vorne. Ich stolpere durch den Wald, bleibe an einer Wurzel hängen und falle dir praktisch vor die Füße.“

Ich nickte. Doch als er nachspielte was er erzählte und vor meinen Füßen hockte… wusste ich nicht mehr was ich sagen sollte. Hatte ich das je gewusst?

Glaube nicht.

Ich hatte wirklich versucht den Text zu lernen, seit er am Samstag aus meinem Haus stolziert war, aber anscheinend war nichts hängen geblieben.

„Ähm… ich… Text vergessen… Sorry.“

Graue Augen starrten zu mir hoch. Ein paar Sekunden lang herrschte Ruhe. Dann zischte er mir aus zusammengepressten Zähnen zu, dass ich gefälligst meinen Arsch bewegen und, ich zitierte, „mein verficktes Manuskript auf diese scheiß Drecksbühne holen sollte!“

So ein loses Mundwerk…

Fast würde ich es heiß finden.

Doch das wäre schräg. Weshalb ich schlicht meinen Text holte und die Probe hinter mich brachte. Und zwar besser als gedacht.

Immerhin hatte er mich nicht angeschrien. Oder verflucht, verwünscht und emotional niedergemacht.

Voller Erfolg.

Dennoch wog dieser Erfolg es nicht auf, dass dieser Heini mich einfach auf die Bretter geschickt hatte!

Mein Ego litt noch immer deswegen!

Zum Glück konnte ich mich zuhause darüber auskotzen… falls meine Mutter Pascha nicht rausgeworfen hatte, weil er ihr auf den Sack ging.

 

Das Haus war ruhig. Das Auto meiner Mutter nicht zu sehen.

Dafür fand ich meinen besten Freund. In meinem Zimmer. Wie er sich auf meinem Bett räkelte und meinen Vorrat an Schokoriegeln verdrückte.

„Arsch!“ Begrüßte ich ihn und warf den Rucksack in seine Richtung. Streifte jedoch nur sein elendslanges Bein und erntete dafür ein Lachen von ihm.

„Wie war die Probe, oh mein herzallerliebster Geliebter?“

Seufzend legte er die Hand an die Stirn, warf den Kopf dabei ein Stück in den Nacken und klimperte übertrieben mit den Wimpern.

Wäre er nicht er, dann…

„Wundervoll. Richtig Ego pushend.“

Das Gesicht verziehend bot er mir einen meiner Schokoriegel an.

Ohne zu überlegen nahm ich ihn entgegen und ließ mich neben Pascha aufs Bett fallen.

Und beichtete ihm mein Leid -meine Schmach!- nachdem er einfühlsam wie er nun einmal war, was mir nun schon wieder ‚den Arsch hochgekrochen und in mir gestorben‘ war.

Seine erste Reaktion war mich gnadenlos auszulachen.

Seine zweite, mir ein Vollidiot an den Kopf zu werfen.
„Warum provozierst du ihn auch. Der ist seit Jahren beim Kick-Boxen! Und davor hatte er wohl schon Erfahrungen im Karate gesammelt.“

„Was? Woher… Wieso. Warum zum Geier erzählst du mir solche Dinge nicht bevor ich in so eine Situation gerate?“

Wollte ich meinen besten Freund mit einem meiner Kissen ermorden?

Ja… leider hätte ich sonst keinen mehr, dem ich ohne Bedenken meine Leiden klagen konnte. Er mochte ein Arsch sein wie er wollte… diese Dinge behielt er für sich. Zum Glück. Sonst müsste ich ihn doch mit einem Kissen ersticken… und in unserem Garten vergraben. Vielleicht unter Mutters geliebten Nelken.

„Alter… du hast nicht gefragt…“

„Woher weißt du so was überhaupt? Hab dich noch nie mit ihm reden sehen.“

Schulterzuckend öffnete er einen weiteren Riegel und schlang ihn mit zwei Bissen hinunter.

„Sind im selben Verein. Er tritt aber im Mittelgewicht an. Sind also nicht in der gleichen Gewichtsklasse. Er macht auch erst seit etwas mehr als einem Jahr beim Vollkontakt mit. Vorher hat er Semi-Kontakt gemacht.“

Mittelgewicht… Irgendwann hatte Pascha mich mit diesem ganzen Kickboxkram nur so zugemüllt. Deshalb fiel mir wohl auch nach kurzem Überlegen ein, das die Gewichtsklasse irgendwo zwischen 71 und 75 Kilo angesiedelt sein musste.

So schwer erschien Jacek gar nicht…

„Er wirkt gar nicht wie ein Kick-Boxer…“, dachte ich laut vor mich hin.

„Jaaaaa….“ Genüsslich streckte Pawel sich neben mir und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Er scheint die Leute lieber Verbal in Grund und Boden zu stampfen, als zuzuschlagen… Obwohl er das richtig drauf hat. Der Typ bei den letzten Regionalmeisterschaften sah absolut nicht begeistert aus, nachdem die beiden miteinander fertig waren.“

„Aha…“ Konnte ich mir nicht vorstellen, doch dann überlegte ich wie leicht es ihm gefallen war mich zu Boden zu bringen. Und das obwohl ich definitiv schwerer war als er und größer.

„Und er hat mich halla…hula… lupi…palla… ach keine Ahnung. Er hat mich als das halt bezeichnet.“

Hlupák?“ Fragend zog er eine Augenbraue nach oben.

„Genau… Was heißt das?“

Statt einer Antwort erhielt ich ein Augenrollen und ein ‚Idiot‘, ehe er weiter fleißig meinen Vorrat killte.

 

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So da war Kapitel 5 auch schon vorbei... zusammen mit Jagos Rache und dem guten Pascha den ich irgendwie ins Herz schließe...

*seufz*

Kapitel 6

 

 

Jacek

 

 

Samstagmorgen riss mich ein nerviges Klingeln aus dem Schlaf.

Hatte ich meinen Wecker vergessen auszustellen?

Noch immer duselig schlug ich nach dem Gerät bis er auf dem Boden landete, doch das Klingeln ließ nicht nach.

Erst als ein übertrieben süßes „Guten Morgen Toooommmyyyyy“ in mein Zimmer wehte, wurde mir klar, welcher Schrecken mich, bzw. meinen armen Bruder befallen hatte.

Die Gymnastik-Tussi die über uns wohnte versuchte mal wieder ihr Glück. Dabei war sie nicht einmal Tomasz‘ Typ.

Besenstiel-dürr, falsche blonde Locken und Wangenknochen, die einfach nur noch lächerlich wirkten neben ihren übertrieben großen, zu weit auseinanderstehenden Augen. Manche fanden sie hübsch… Manche kauften sich aber auch Möspe, weil die Tierchen ja sooo niedlich waren und gar nicht gruselig mit ihrem Alienblick.

„Hi Lisa“, knurrte mein Bruder zurück. Er klang genauso müde wie ich mich fühlte. „Gibt es einen Grund warum du um kurz nach sieben klingelst? An einem Samstag?“

„Aber natürlich Tommy. Ich wollte gerade Kuchen backen, aber mir fehlen dafür zwei Eier und ich wollte fragen ob du zufällig welche hast? Als Dankeschön lad ich dich auch zum Kaffee ein.“ Erneut schrillte ihr Stimmchen durchs halbe Haus.

Leise murmelte ich vor mich hin, dass diese Kuh seine Eier bestimmt nicht kriegen würde. Auch nicht im Austausch für Kuchen.

Vermutlich wusste die nicht mal was Kuchen war. Alles was Zucker beinhaltete war ihr erklärter Todfeind.

„Bis zwei bin ich beim Spinning. Aber um drei kannst du gerne zu mir nach oben kommen.“

Unartikuliert brummte der Bär, der vermutlich im Türrahmen einschlief.

Würde ich auch gerne. Einschlafen. Aber diese Stimme…

„Gah!“

Genervt schwang ich mich aus dem Bett, stolperte aus meinem Zimmer und schnurstracks auf die Wohnungstür zu.

„Oh hi Ja…“ wollte der Besenstiel ihre Aufmerksamkeit auf mich richten, ehe ich ihr die Haustür vor der Nase zuschlug und dafür ein erschrockenes Quieken erntete.

„Nich nett…“ brummte Tommy, ehe er sich schulterzucken abwandte und zurück in sein Zimmer trabte. „Um zehn?“ Er hielt in seinem Türrahmen inne und schaffte es, mich aus einem halb geöffneten Auge anzusehen.

„Brötchen?“ War meine schlichte Antwort, ehe ich die Klingel abstellte und ebenfalls zurück ins Bett fiel.

 

Um kurz vor zehn sprangen meine Augen schließlich relativ ausgeschlafen von alleine auf. Die Wohnung war ruhig, weshalb ich wohl derjenige sein würde, der Brötchen kaufen musste.

Im Bad beschäftigte ich mich nur mit dem nötigsten. Duschen konnte ich auch später. Die zwei Minuten bis zum Bäcker würde sich schon keiner dran stören.

Auch Haare kämmen ließ ich weg. Wurde überbewertet zum Wochenende.

Fünf Minuten später stand ich in verwaschener Jogginghose und Tommys Pulli beim Bäcker um die Ecke, ließ mir das Übliche einpacken und schlurfte zurück nach Hause. Die Omi, die unter uns wohnte, lächelte mich fröhlich an, während sie das Unkraut auf dem Grünstreifen vor dem Haus wässerte.

"Wie gefallen dir meine Rosen, Joseph?“, rief sie zu mir hinüber.

Wer war Joseph? Ein Rätsel das ich in den letzten 7 Jahren nicht lüften konnte. Und warum die die Disteln für Rosen hielt?

Lag vielleicht am Alter. Die Frau war schon gefühlte 200 als wir hier eingezogen waren.

„Sehen toll aus, Frau Ebeling!“

Zufrieden blickte sie zurück aufs Unkraut, ertränkte es weiter im Wasser und ignorierte mich schließlich, sodass ich bedenkenlos im Haus verschwinden konnte.

Auf dem Weg nach oben zog ich die Werbung aus dem Briefkasten.

Interessierte mich nicht.

Tomasz blätterte gerne drin rum oder benutzte es als Unterlage, damit seine dreckigen Schuhe das Parkett im Flur nicht verunstalten konnten.

 

In den fünf Minuten die ich unterwegs war, ist wohl leben in der Wohnung eingezogen. Zumindest stand die Schlafzimmertür meines Bruders offen und Wasserrauschen drang aus dem Bad zu mir herüber.

Die Brötchen beförderte ich auf den Küchentisch und suchte verzweifelt nach sauberem Geschirr.

Schlussendlich ließ ich mich dazu herab zwei Bretter und Messer, sowie Tassen abzuwaschen. Wer für den Rest verantwortlich war musste nach dem Essen ausgeknobelt werden.

 

Wie auf Kommando erschien Tommy in der Küche, als sein Kaffee durchgelaufen und eingeschenkt war.

„Morgen“, begrüßte er mich fröhlich.

Was knapp zwei Stunden Schlaf doch ausmachen konnten. Oder eine Runde wichsen in der Dusche… doch darüber wollte ich vor dem Essen besser nicht nachdenken. Oder danach. Oder irgendwann.

Er war einfach nur ausgeschlafen. Punkt.

 

„Hast du heute was vor?“, fragte er mich um sein Wurstbrötchen herum.

Etwas zivilisierter –immerhin schluckte ich mein Essen runter!- antwortete ich ihm, dass ich mich nach dem Mittag mit den Mädels treffen würde.

„Und hast du schon über Walthers Angebot nachgedacht?“

Zögerlich nickte er. Sah jedoch nicht vollkommen zufrieden aus.

„Und?“ Hakte ich nach.

Schulterzucken.

„Werd nächste Woche nochmal mit ihm reden. Und vielleicht mit meinem Chef…“

„Vergiss es nicht.“

„Ja Mutti.“ Genervt rollte er mit den Augen, ehe er sich ein weiteres Brötchen schmierte und wir zurück ins Schweigen verfielen.

 

Kurz nach eins hämmerte es an unserer Haustür.

Eine missmutig dreinblickende Bryn stierte mich an, als ich öffnete. Ein Buch in der einen Hand, die andere tief in der Hosentasche vergraben. Wie das ging bei dieser Hose war mir unklar. Wie aufgemalt klebte sie an ihren Hüften, die Blümchenbluse in den Bund gesteckt.

Ehe ich fragen konnte, warum sie mich so böse anstierte, drängte sie sich in die Wohnung und verschwand in meinem Zimmer, jedoch erst als sie den Kopf ins Wohnzimmer gesteckt und meinen Bruder zuckersüß begrüßt hatte.

Warum stierte sie mich an und zu ihm war sie so nett?

Was lief hier schief?!

 

„Ist eure Klingel kaputt oder hat die Stabschrecke mal wieder genervt?“ Bryn hatte sich auf meinem Bett breit gemacht, die Augen auf die Buchseiten gerichtet.

„Letzteres…“ Dann machte es klick. Sie war sauer, weil sie, wer weiß wie lange, unten stand und geklingelt hatte, ehe vermutlich Frau Ebeling oder ein anderer Mieter Mitleid mit ihr hatte und geöffnet hatte.

„Sorry. Hab vergessen das Ding wieder anzustellen. Aber die Schnepfe hat uns um kurz nach sieben wachgeklingelt…“

„Hm… quatsch nicht so viel und mach dich fertig. Viv wollte vor zwei Minuten los machen. Hab keine Lust, das sie ewig auf uns warten muss und sich darüber beschwert.“

Lieblich wie immer, die Gute.

Ich sagte nichts dazu, sondern zog mich um. Packte meine Tasche und machte mich schließlich mit ihr zusammen auf dem Weg zum Bus.

 

Der Bus war überfüllt. Alle wollten in die Stadt. Den Park belagern, sich in Eisdielen zusammenrotten und den späten Spätsommer genießen, ehe es kalt und diesig wurde, da September sich langsam dem Ende neigte.

Wenn ich Pech hatte wurde ich in eine dieser überfüllten Kaschemmen gezerrt, nachdem ich für die Grazien Packesel spielen durfte.

Einkaufsbummel waren grässlich, sobald man kein Geld hatte, das man ausgeben konnte.

Dank der Rechnung, die künftig wie Voldemort behandelt und nur noch als ‚du-weißt-schon-was‘ oder ‚Das-was-nicht-genannt-werde-darf‘ bezeichnet werden darf, sah es mau aus. Doch selbst das war kein Grund, um den beiden abzusagen. Zumindest wenn man meine Freundinnen fragte. Nicht einmal der eigene Tod wäre für sie eine Entschuldigung, wenn man einmal zugesagt hatte mit ihnen shoppen zu gehen.

 

Viviannes Begrüßung fiel nur mäßig wärmer aus als Bryns.

Ihr Blick verriet, dass sie bereits im Shopping-Modus war und für unnötige Nettigkeiten keine Energie übrig hatte.

Wahrscheinlich war dies einer der Gründe, warum sie nach zwei Stunden und gefühlten 100 Geschäften noch immer fit wie ein Turnschuh, von Regal zu Regal hüpfen konnte und immer mehr wundervolles Zeug fand, das sie UNBEDINGT anprobieren musste. Während ich, halb tot, neben der Kabine hing und seltsam von einer Mitarbeiterin beäugt wurde.

Oder sie stierte auf meine Nase, da ich Vollidiot vergessen hatte, mein Gesicht herzurichten. Vermutlich hatte ich auch vergessen mich zu kämmen. Wundervoll.

Na wenigstens hatte ich geduscht. Auch wenn dies schon lange nicht mehr zu erkennen war.  

Ich hasste diese exzessiven Shoppingtouren. Warum hatte ich zugestimmt mitzukommen?

Ach ja, weil ich letztens noch Geld hatte und dringend neue Schuhe brauchte.

Unauffällig beäugte ich die ausgelatschten Turnschuhe.

Jetzt fand ich, dass die locker noch bis Weihnachten hielten. Oder so.

SO schlimm waren die Löcher noch nicht.

Im Dezember sollte ich dennoch ganz groß Schuhe auf die Wunschliste schreiben, die Tommy jedes Jahr auslegte.

Vielleicht sollte ich ein paar Schulsachen mit drauf schreiben. So zur Tarnung.

Damit mein herzallerliebstes Brüderchen mich nicht wieder anknurren konnte was für ein seltsames Kind ich war, dass ich solch eine Liste nicht missbrauchte.

 

„Und, wie steht mir das?“

Keine Ahnung wer von beiden das fragte. Klangen mittlerweile zu gleich.

Ich setzte mein interessiertes Gesicht auf, gab ein schick von mir und hoffte das dem so war und ich es nicht als hässlichen Fetzen betiteln würde wenn diejenige es in der Schule trug.

„Boah du guckst ja nicht mal richtig hin!“ Ein Schuh donnerte mir ans Knie. Weißes Stöckelschühchen mit Riemchen. Eindeutig Bryn die gefragt hatte. Via würde sich nicht mal tot in solchen Dinger sehen lassen. Vor allem nicht, wenn diese Mordinstrumente mehr kosteten als eine neue Sportausrüstung.

 

Danach hatte sie Mitleid mit mir und schleppten mich nur noch in gut klimatisierte Geschäfte mit bequemen Sitzmöglichkeiten. Auch sahen sie davon ab nach meiner Meinung zu fragen. Alles war „schick“ zurzeit. Außer das pochen in der Nase, welches nur langsam nachließ. Wie lange musste ich diese Kack-Schmerzmittel denn noch nehmen? War nicht mehr auszuhalten.

Entweder tat mir alles weh oder ich wirkte wie zugedröhnt. Wobei dieses „auf Wolken“ Gefühl manchmal ganz nett war. Im Geschichtsunterricht beispielsweise. Machte das Naziregime fast erträglich.

 

Nach einem erzwungenen Eisbecher mit extra Sahne, laut Vivianne die Bezahlung für meine tragende Rolle, trennten wir uns.

Via musste die Bahn zur Sportschule nehmen, in deren Halle ihr Training stattfand. Bryn wollte noch ihr Buch in die Bibliothek zurück bringen und ich beschloss, dass wenn ich schon einmal hier war, auch Boris, dem Trainer beim Kickboxen, einen Besuch abstatten konnte, um ihm schonend beizubringen, dass die Saison für mich gelaufen war. Zu den regionalen Meisterschaften durfte er dieses Jahr definitiv Marvin mitnehmen.

Hoffentlich nahm der es mir nicht übel. Der wirkte schon so unglücklich als ich sagte, dass ich aus privaten Gründen vielleicht nicht mitkommen konnte.

„Ach verdammt…“ Genervt trat ich einen Papp-Kaffeebecher zur Seite und setzte mich in Bewegung.

Scheiß Sportbefreiung. Scheiß gebrochene Nase und scheiß Noah mit seinem scheiß talentlosen Knackarsch!

 

 

Noah

 

 

Zu schnell war das Wochenende vorbei, an welches ich mich nur verschwommen erinnern konnte. Keine Ahnung was Pascha in die selbstgebackenen Muffins gepackt hatte… Ernsthaft… Ich fühlte mich auch jetzt noch wie auf einem schlechten Trip.

„Alles ok Schatz?“ Meine Mutter musterte mich besorgt. Befühlte sogar meine Stirn und gab sich erst zufrieden, als ich irgendwas von wegen schlecht geschlafen gemurmelt hatte.

Konnte ihr ja schlecht erzählen, dass mein bester Freund wohl irgendwelche illegalen Substanzen in seine Muffins eingebacken hatte. Vor allem, da sie auch einen oder zwei davon hatte…

Und ich so ziemlich den Rest…

Na gut, vielleicht doch kein Drogentrip und seine Nachwirkungen sondern schlicht und ergreifend zu viel Zucker.

Die Wahrheit wird wohl nie ans Licht kommen. Pascha würde ich bestimmt nicht fragen. Irgendwie hatte ich schiss vor seiner Antwort.

 

Nach dem Frühstück trottete ich zum Bus, bekam etwas schiss bei Paschas Grinsen und langweilte mich schließlich im Unterricht so sehr, dass ich beinahe einschlief. Ernsthaft. So langweilig war der Unterricht selten. Oder der Zucker (ES WAR ZUCKER VERDAMMT!) wirkte immer noch seltsam auf meinen Körper ein.

Erst in der Mittagspause ließ die Müdigkeit nach und ich fing an, mich wieder wie ich selbst zu fühlen.

Die sollten die Werbung ändern. Nicht mehr: „Du bist nicht du, wenn du hungrig bist.“ Sondern: „Du bist nicht du, wenn du Pawels Muffin zu Hauf intus hast“.

„Alles klar bei dir?“, fragte der Verursacher allen Übels, mit Unschuldsmiene, als ich mich neben ihm auf einem der kniehohen Pflanzpötte niederließ. Die Bänke waren bereits voll und heute war mir einfach nicht danach, einen der anderen wegzuscheuchen. Wobei diese Kletten von Elftklässlern es verdient hätten. Konnten die nicht irgendwo im Sandkasten spielen?

Es machte sie nicht automatisch cooler, wenn sie bei den „großen Kindern“ sitzen… es ließ sie nur lächerlich wirken… und uns alt.

Die einzige die ich zu erdulden wusste war Mareike. Gute Noten, unscheinbar, schüchtern… auf den ersten Blick ein nettes Mädchen, vor allem wenn man bedachte, dass sie die Tochter der Direktorin war. Dies war der eigentliche Grund, dass sie geduldet wurde.

An anderen Schulen wäre es sozialer Selbstmord mit dem Kind des Direktors gesehen zu werden, doch bei Mareike…

Sie ließ ganz gerne durchsickern welcher Lehrer wann Aufsicht hatte. War gut für alle Raucher unter uns. Auch für sie.

War sie doch die erste die zur Kippe griff… und in ihren war nicht immer nur Tabak zu finden.

So auch heute.

Seufzend klemmte sie sich die Zigarette zwischen die Lippen und inhalierte tief. Weitere folgten ihrem Beispiel und schon bald saß ich inmitten einer Qualmkuppel. Das dies niemandem auffiel wunderte mich.

Pascha zündete sich ebenfalls eine an. Nur ich blieb eisern.

Meine Mutter hatte tatsächlich meine letzte Schachtel konfisziert und mir mit irgendwas gedroht, wenn sie noch mal welche bei mir finden würde… dabei war ich volljährig. Was sie nur hatte…

Klar könnte ich mir von Pascha eine leihen, aber… da gab es das gleiche Problem wie bei den Muffins… Hatte er nur Tabak reingedreht oder anderes Zeug? Russisch-Roulette im Kippen-Style.

 

Ein Stoß in die Rippen erinnerte mich daran, dass mir eine Frage gestellt wurde. Da ich nicht mehr wusste was genau gefragt war brummte ich ein ‚hm‘ vor mich hin. Würde schon die richtige antworte sein.

„Wirklich? Glaubst du das pink dir steht?“

„Was?“ Entsetzt starrte ich in Pawels Grinsendes Gesicht.

„Du hast ‚hm‘ gesagt. Das heißt ja wohl, dass ich dir die Haare pink färben darf…“

„Du hast doch gar nichts mit pink und meinen Haaren gefragt…?“ Unsicher überlegte ich zurück. Schüttelte die Zweifel dann jedoch ab und beschloss: nein, das hatte er definitiv nicht. Basta!

„Was wenn doch? Hast ja augenscheinlich nicht zugehört…“

Ehe wir uns streiten konnten -er mit dem genannten Argument, ich damit, dass es Schwachsinn war und ich zugehört hatte (Lüge, musste ich jedoch nicht zugeben!)- wurde das Tuscheln ein paar meiner Mitschüler lauter. Auffällig unauffällig drehten sich sämtliche Köpfe in die Richtung, in die eine aus meiner Parallelklasse gedeutet hatte.

„Was macht der hier?“ Julias Stimme stach am lautesten aus der Qualmwolke heraus, doch keiner reagierte auf sie, als sie bemerkten, wen „der“ ansteuerte.

Einige Gesichter bekamen einen erwartungsvollen andere einen sensationslüsternen Ausdruck. Womöglich erwarteten sie noch eine gebrochene Nase.

 


„Hi, sag mal…“, setzte Jacek an, ohne das leise Tuscheln im Hintergrund zu beachten, an, wurde jedoch rüde von dem Spinner neben mir mit einem gebrüllten „Häschen!“ unterbrochen.

Meine Augenbraue wanderte nach oben.

Häschen? Das war mir neu.

Den anderen auch, so wie sie dreinblickten. Münder so weit aufgerissen, dass man Flugzeuge drin landen könnte… oder beim Golf problemlos in der Lage war einzulochen.

Paschas Hand wand sich um das viel schmaler wirkende Handgelenk und zog solange daran, bis „Häschen“ auf einem Schoß saß.

Dieser verdrehte schlicht die Augen, ehe er meinem Freund gegen den Arm schlug. „Ach Schnucki… deine Knie sind genauso knochig und unbequem wie dein Arsch…“

Spätestens jetzt klappten die restlichen Kinnladen nach unten. Der Tratsch, dass ich jemandem die Nase gebrochen hatte, war eindeutig alt. Jetzt würden sich alle Gedanken um Paschas sexuelle Orientierung machen. Nicht dass es ihn zu kümmern schien.

„Mein Arsch ist weder knochig noch unbequem. Er ist geil verdammt…“

Jacek schenkte dem größeren einen Blick, der stumm die Frage stellte: „Glaubst du das ernsthaft?“

„Tse…“ eingeschnappt zog Pascha an seiner Kippe. Was ihm einen äußerst bösen Blick einbrachte.

Gezielt schnippte der Brünette meinem Freund gegen die Stirn, ehe er sich die Kippe schnappte und über Paschas Schulter wegschnippte.

„Solltest du nicht aufhören?“, zischte der Kleinere ungehalten und schlug erneut auf die Stelle, welche er bereits zuvor getroffen hatte.

„Solltest du dir nicht besser die Haare schneiden?“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge, spitzte schließlich die Lippen und zog ein einer der dunklen Strähnen.

„Ja… Wann denn? Und wie? Hab doch nicht die Geldscheiße.“

„Komm Mittwoch vorbei. Jo müsste Zeit haben. Die Gute darf nicht raus, da Ma sie erwischt hat als sie ohne Unterwäsche das Haus verlassen wollte…“

„Ok. Sag deiner Ma sie darf gerne für mich mit kochen…“ Jacek grinste. Genauso musste ich aussehen, wenn ich plante bei den Nowaks mit zu essen. Oder wenn ich nur dran dachte.

Mmmmmmh….

„Aber jetzt mal ernsthaft…“, wurden meine Fantasien unterbrochen

„…Boris macht dich einen Kopf kürzer wenn er mitkriegt, dass du immer noch qualmst wie eine Esse…“

„Ja, ja…“

Jacek wollte mit Sicherheit noch etwas sagen, darauf würde ich beinahe mein Motorrad verwetten, doch wurde er abgehalten.

„Jago! Kommst du endlich?“ Eine helle Stimme bohrte sich in mein Hirn und ließ Pascha gleichzeitig beinahe verzückt aufschauen.

„Gleich!“ Rief der Gerufene der Blonden hinterher ehe er erneut einen strengen Blick auf meinen Freund warf. „Hör auf!“

„Schon klar. Aber was wichtigeres… die heiße Schnecke ist deine Freundin?“ Viel zu laut brüllte er und deutete auf das Mädel, das gerade noch mit Jacek geredet hatte.

„Lauter und sie hört dich… Dann kannst du byebye zu deinen Eiern sagen.“ Augenrollend stand der Brünette auf, streckte sich kurz und richtete sich schließlich an mich.

„Morgen nach der Schule?“

Nein… keine Lust. Nicht schon wieder. Ich war ein hoffnungsloser Fall…

Ich nickte. „Klar.“

Verdammt. Mein Mund tat nie was ich wollte. Er war zu gut erzogen…

„Stellst du mich ihr vor?!“ Paschas Gebrüll ließ mich zusammenzucken. Verdammt männlich natürlich.

„Im Leben nicht, du kleine Schlampe!“ Ließ Jacek sich herab zurück zu schreien. Mit gespitzten Ohren lauschten die Umstehenden noch immer dem Geschehen.

War wie Kino für diese Idioten…

Verletzt griff Pawel sich an die Brust, lachte dann jedoch los und fragte tatsächlich ober ER ihn wenigstens nehmen würde.

„Sicher…“ Augenrollend verschwand er im Schulhaus und ich hoffte er meine das so sarkastisch, wie ich dachte.

Bitte…

Das würde zwischen den beiden nie gut gehen… Denn Jacek hatte Recht. Pascha war eine Schlampe. Eine große sogar.

Länger als zwei Wochen würde das zwischen ihnen nicht gut gehen… Und wenn es aus war müsste ICH leiden. Von beiden Seiten.

Mein bester Freund würde noch schlimmer sein als sonst und Jacek… Ich wollte mir gar nicht vorstellen was er mir antun könnte und würde, nur weil er dachte, da ich der beste Freund bin, wäre ich automatisch mit Schuld an dem Desaster.

„Pascha…“
„Hm?“

„… wenn du schwul werden willst… Such dir bitte einen anderen, als den. Ok?“

„Warum? Stehst du auf ihn?“

Eigentlich hätte ich erwartet dass er laut loslachte, mir auf den Rücken klopfte und beteuerte wie scharf er auf Titten und Muschis war.

Daher brachte seine Frage mich mehr als nur aus dem Konzept.

„Bitte?“

Nein… ich wollte gar nicht wissen wie bescheuert ich ihn anstarren musste.

 

 

Jacek

 

Dieses Mal klingelte ich Noah nicht viel zu zeitig aus dem Bett. Dafür saßen wir merkwürdig verkrampft nebeneinander im Bus und hofften, dass die scheiß Haltestelle endlich angesagt wurde.

Keine Ahnung warum es plötzlich so seltsam war, in seinem 2 Meter Radius zu sitzen.

Vielleicht weil uns die Leute anstarrten?

Nicht das es neu wäre das Leute mich anstarrten. Neu war nur, dass ich nicht wusste warum sie starrten.

„Noah?“ zischte ich dem Blonden neben mir leise zu. Im ersten Moment reagierte er nicht. Erst als ich ihm den Ellenbogen in die Rippen rammte schaute er von seinem Telefon auf.

„Hm? Wasn?“

„Hab ich irgendwas im Gesicht?“

„Außer Nase und Co.?“

Mein böser Blick ließ ihn ernst werden.

„Nein. Warum fragst du?“

„Die starren alle…“

Oh Gott, hatte ich Reste vom Mittag zwischen den Zähnen? Einen Dreckfleck auf der Hose? Kaugummi im Haar?

„Vielleicht erwarten die, dass ich dir wieder die Nase breche… oder du dich nach der Aktion gestern auch noch auf meinem Schoß breit machst um zu schäkern.“

Oder so…

Aber klang Noah grade etwas eifersüchtig?

Nee, bestimmt durfte der auch auf Paschas Schoß sitzen.

Leise lachte ich bei dem Gedanken vor mich hin. Stellt euch diesen Anblick nur einmal vor. Noah, der große Toffel, der auf Paschas langen Stelzen sitzt.

Besagter großer Toffel schaute mich schief von der Seite an, fragte jedoch nicht nach. Stattdessen starrte er wieder aufs Handy und tippte fröhlich vor sich hin.

 

Zwanzig Minuten später erreichten wir endlich die Haltestelle und machten uns schweigend auf den kurzen Fußmarsch zu Noahs Haus.

Wieder einmal musste ich eingestehen, dass er in einer schönen Gegend wohnte. Rein optisch.

Viel Grün.

Kleine Einfamilienhäuser. Kein Müll auf der Straße.

Die Anwohner jedoch… hm… wirkten spießig mit ihren fein säuberlich gestrichenen Gartenzäunen, den frisch polierten Mittelklassewagen in den Einfahrten, dem kurzgemähten Rasen und den bunten Blumenrabatten.

Der Kerl der mit seiner Katze spazieren ging und ohne Unterlass auf diese einredete machte das Ganze auch nicht besser.

Vielleicht gefiel mir meine Gegend, mit der dementen Frau Ebeling und der nervigen Stabschrecke doch besser als dieses piekfeine Ambiente.

Zuhause wirkte ich in Jeans und ausgelatschten Turnschuhen wenigstens nicht fehl am Platz.

Noah hingegen…

„Sag mal trägst du ernsthaft eine Stoffhose mit Bügelfalte?“ Wie konnte mir dieses Detail erst jetzt auffallen?

Mit dem Fetzen sah er aus wie einer dieser TV Anwälte. Oder Mafiaboss in diesen alten Kamellen.

„Ja, und?“

„Wieso besitzt du so was überhaupt? Kein normaler Teenager besitzt Stoffhosen mit Bügelfalten!“

Er zuckte die Schultern.

„Manchmal sackt es meinen Vater und er kleidet mich in so was ein. Man muss ja schließlich präsentabel aussehen. Und sie sind bequemer als sie aussehen. Und ich hab vergessen meine Jeans zu waschen… Also…“

Wollte er mir ernsthaft erzählen, dass er selbst seine Wäsche machte? Vielleicht als Bestrafung, aber nicht freiwillig!

Aber so von hinten betrachtet… stand ihm die Hose ganz gut.

„Starrst du mir auf den Arsch?“ Mit dem Schlüssel in der Hand drehte er sich zu mir um. Die Augenbrauen zusammengezogen.

„Klar. Solltest du auch mal machen. Ist echt einen Blick wert.“

Anstatt empört zu kontern zuckte er schlicht mit den Schultern, schloss die Haustür auf und ließ mich rein.

 

Wie schon beim letzten Mal rückten wir die Möbel im Wohnzimmer beiseite, wenn auch nur unter schwerem Protest Seitens des Blonden.
Wie konnte man sich nur wegen ein paar verschobenen Möbeln so haben. Wir wollten sie schließlich nur aus dem Weg haben und nicht zu Kleinholz verarbeiten.

Bevor es los ging stürmte Noah davon, um seinen Text zu holen. Während seiner Abwesenheit riss ich sämtliche Fenster auf und ließ den Dunst entweichen. Über den Tag hatte sich das Zimmer durch die große Fensterfront mehr als nur aufgeheizt.

„Wo ist dein Text?“ Er beäugte kritisch die geöffneten Fenster, sagte jedoch nichts. Die Nachbarn würden uns schon nicht hören.

„Zuhause…“ Glaubte er wirklich ich bräuchte so lange um meinen Text zu lernen? Wer war ich bitte? Ich schaffte es in zwei Tagen meinen Unterrichtsstoff auswendig zu lernen, um es bei der anstehenden Klassenarbeit anwenden und danach auf nimmer wiedersehen vergessen zu können.

Tsss…

„Kann es losgehen? Ich glaube wir zwei müssen nicht länger als nötig zusammen hier rumstehen und üben.“

Er nickte. Ein bisschen zu heftig vielleicht.

Ob er immer noch sauer ist, dass ich ihn aus dem Bett geklingelt hatte? Oder zu Boden hab gehen lassen? Oder auf dem Schoß seines Freundes saß… vor seinen anderen Freunden?

Quatsch… Weiber waren nachtragend. Er bestimmt nicht… Obwohl…

„Sicher. Lass die Tortur beginnen Kerkermeister Zielinski…“ Seufzend ergab er sich seinem Schicksal.

Kerkermeister… Der Titel gefiel mir… und vielleicht, wenn ich mich nicht komplett irrte, war er kein ganz hoffnungsloser Fall was diese Aufführung anbelangte.

Wer so übertreiben konnte war praktisch fürs Schauspielern gedacht.

Ich musste es ja wissen…

„Okay. Wir gehen die Szenen der Reihe nach durch. Versuch den Text so frei wie möglich zu sprechen, häng dich nicht an Kleinigkeiten auf, die können wir später bearbeiten… Aber bitte, BITTE, versuch mehr Emotionen zu zeigen als ein Stein. Und wenn du noch gar nichts an Text auswendig kannst: mir auch egal für den Moment. Dann ließ halt vor… aber mit Gefühl.“

Unzufrieden ergab er sich seinem Schicksal und las seine Passagen voller Emotionen vor…

Leider mit den Falschen.

„Noah? Eine Frage. Glaubst du ‚Liebe-auf-den–ersten-Blick‘ ist mit ‚plötzlichem-Durchfall‘ gleichzusetzen?“

„Nein?“ Unsicher schaute er vom Text zu mir und schließlich auf einen nicht existenten Fleck auf dem Teppich.

„Warum siehst du dann aus, als wärst du von letzterem Befallen?“

„Ich…“

Seine Ausrede ging irgendwo ganz weit an mir vorbei. War mir egal. Das musste sich einfach ändern. Ende der Diskussion.

„Warst du schon mal verliebt?“

„Wie?“ Verwirrt unterbrach er seinen Wortschwall, von dem ich nicht einen Ton vernommen hatte.

„Warst du schon mal verliebt? Irgendwie. In irgendwen. Von mir aus auch in deine Kindergärtnerin, oder die Zahnarzthelferin.“

Er verneinte. Armer Drops. Kein Wunder das er wie Durchfall dreinschaute.

„Isst du gerne?“

Diesmal nickte er. Hatte nichts anderes erwartet. Kerle die aussahen wie er aßen immer gerne und mussten vermutlich nichts dafür tun um dennoch so auszusehen. Beneidenswert.

„Denk an dein Lieblingsessen“, wies ich ihn an und siehe da… Durchfall ade. Nun musste ich ihn nur noch dazu bringen mich… nein Milla genauso anzusehen während er seinen Text vorließt.

 

„Und ab jetzt“ ich tippte ihm nachdrücklich gegen die Stirn. Er wirkte immer noch zu abwesend für meinen Geschmack. „Wirst du genau daran denken wenn du den verliebten Johann spielst. Klar?“

„Und wenn ich dich dann als Gulasch und Klöße betitle?“

„Aaaargh!“

Ich wollte ihn anschreien. Definitiv. Und schlagen! Unbedingt! Da ich jedoch nett war, riss ich mich zusammen, zischte ihm zu, dass er es gefälligst tun sollte OHNE den Text durch ‚Gulasch und Klöße‘ zu ersetzen… Falls ihm seine männlichen Anhängsel lieb sein sollten.

„…“ Er schaute mich an wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

„Guck nicht so und fang die Szene nochmal an. Wie gehabt. Ich stolpere dir vor die Füße, Liebe auf den ersten Blick, fertig.“

 

Wir schafften es, die meisten Szenen durchzuproben, ohne dass ich das Kotzen bekam. Er war nicht gut, aber auch nicht scheiße. Nicht mehr.

„Ich denke für heute reicht es. Hab dich genug gequält.“

„Oh Gott sei Dank!“ Noah schlug die Hände überm Kopf zusammen. Völlig übertrieben. Ernsthaft.

Die Haustür hielt mich davon ab, ihn auf sein theatralisches Verhalten hinzuweisen.

„Noah?“

„Wir sind im Wohnzimmer!“

Stöckelnd kam die Herrin des Hauses aufs Wohnzimmer zu. Hielt jedoch kurz vor der Tür inne. „Wir?“

„Jacek ist da und hat mit mir geprobt“, klärte er seine Mutter auf, welche sich kurz räusperte und verkündete, dass sie besser nicht reinkommt.

„Ihr habt die Möbel wieder verstellt?“

„Ja, Ma. Geh dich umziehen und wir stellen sie zurück. Du wirst keinen Unterschied merken.“

„Gut. Danke Engelchen.“

Genervt verzog der Blonde das Gesicht.

Engelchen war also nicht sein favorisierter Spitzname.

Sollte ich mir merken, falls er mal wieder droht schlechter zu werden.

 

Vorsichtig klopfte Noahs Mutter am Türrahmen, ehe sie eintrat und die zurechtgerückte Stube musterte.

„Schön…“, murmelte leise ehe sie mir ein Lächeln schenkte.

„Meine Unhöflichkeit gerade tut mir leid.. Aber…“ Vielsagend deutete sie auf ihr Wohnzimmer. Leider sagte mir diese Geste gar nichts. Trotzdem lächelte ich.

„Ich werde mich dann mal ans Abendbrot machen. Du isst doch mit, nicht?“

Ihr Blick wirkte so auffordernd, dass ich schlicht nickte.

Tommy wäre eh erst spät zuhause und ich müsste kalt essen. Also wenn sie schon so fragte…

„Sicher. Dann können wir unsre Texte nochmal durchgehen. Ich will, dass du ihn in zwei Wochen drauf hast, damit du dich nicht immer auf dein Scheiß-Skript konzentrieren musst.“ Den letzten Teil richtete ich an Noah, der mich erneut wie ein Reh ansah.

„Was? Zwei Wochen das… Wie soll ich das schaffen? Und benutz nicht solche Wörter wenn meine Ma dabei ist.“

„Tschuldige… Trotzdem. Zwei Wochen sind machbar. Außerdem bin ich da und kann dir helfen.“

„Wundervoll“, mischte sich Noahs Mutter ein ehe ihr Sohn ausfallend werden konnte. „Warum geht ihr beiden nicht nach oben und übt noch etwas? Ich ruf euch wenn das Essen fertig ist. Allergien hast du doch keine, oder Jacek?“

„Nein, ich vertrag alles Frau Gräfe.“

Unter Protesten, dass sie nur auf Arbeit und vor Gericht ‚Frau Gräfe‘ wäre, zwang sie mir das Versprechen ab, sie Tamara zu nennen.

 

Noahs Zimmer war wie nicht anders zu erwarten. Groß. Mit allem nötigen und unnötigen Schnickschnack, großem Bett.

Das einzige, dass mich verwunderte war die Ordnung. Hätte ihn nicht für ordentlich gehalten.

„Nett…“, verkündete ich und setzte mich aufs Bett ohne auf seine Reaktion zu achten.

„Hm, anders als zwei Wochen, um einen Text dieser Größenordnung zu lernen.“

„Heul nicht rum. Kriegst das schon hin. Wenn es mit normalem lernen nicht klappt nimmst du es dir halt auf und hörst es in dauerschleife oder schreibst es ab bis du es kannst. Oder ich Zwing Pascha dazu, dir die Zeilen in allen möglichen Situationen um die Ohren zu hauen bis du sie im Schlaf kannst.“

„Apropos…“ Er bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick ehe er sich traute ebenfalls auf seinem Bett Platz zu nehmen. Langsam müsste er wissen, dass ich nicht beiße.

 

 

Noah

 

Nach einigem Überlegen und ringen zwang ich mich, die Frage zu stellen, die mir schon seit gestern auf der Seele brannte.

„Seit wann seit ihr zwei befreundet? Also Pascha und du…“

Jacek zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Hab auch keine Ahnung ob man das befreundet sein nennen kann. Aber ich mag seine Schwester. Auch wenn sie seltsam ist… Haare schneiden kann sie wie keine zweite.“

„Okay…“ ich ließ es kurz sacken. Dafür dass sie nicht wirklich befreundet waren gingen sie ziemlich… herzlich miteinander um. Vielleicht lief zwischen den beiden doch mehr als ich vermutet hatte.

Gott, bloß nicht drüber nachdenken…

„Aber wie kommst du dazu dir von ihr die Haare schneiden zulassen?“ Ich ging ja nicht mal freiwillig in ihre Nähe wenn sie unbewaffnet war… aber sich Jo freiwillig auszusetzen während sie eine Schere benutzte?

… gruseliger Gedanke

„Sie war mit bei einem der Wettbewerbe. Starrte mich ganz gruselig an und meinte ich müsse unbedingt mit zu ihnen zum Feiern kommen… Angeblich brauchte sie meinen Kopf für irgendwas. Da ich schiss vor ihr hatte, stimmte ich zu und durfte dann Perückenmodell spielen. Frag nicht warum… ich weiß es bis heute nicht. Aber seit dem Tag weiß ich, dass sie richtig geil Haare schneiden kann und das mir rosafarbene Haare extrem gut stehen…“

Meeeeerkwürdig…

Mehr Details wollte ich dann doch nicht. Eine frisierende Jo und ein rosahaariger Jacek? Gott, nein. Dann doch lieber Pascha der mit ihm rummacht…

Urgh.

Nein…

Nichts von beiden. Danke.

„Also ganz ehrlich… Egal wie gut sie im Haareschneiden ist… An meinen Kopf würde ich sie im Leben nicht lassen. Jo ist gruselig.“

„Ja“, stimmte der Brünette mir ohne Umschweife zu. „An deiner Stelle würde ich es auch nicht machen, weil ich Angst hätte. Bei dir würde sie vermutlich mehr abschneiden als nur die Haare. Immerhin braucht sie hin und wieder neue Artefakte für ihren Noah-Schrein.“

Mir entgleiste alles.

Ein wie bitte was bitte?

„Noah-Schrein?“

Jacek begann zu lachen und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ein Scherz. Das musste es sein! Himmel, bitte lass es ein Scherz gewesen sein.

„Quatsch. So besessen ist sie nun auch wieder nicht von dir… Hoffe ich.“

Ganz überzeugt schien er nicht, was mich nicht wirklich beruhigte.

Ich durfte nie wieder zu Pascha gehen.

Aber das leckere Essen seiner Mutter… Verdammt, vielleicht musste ich das Risiko einfach eingehen.
So schrecklich konnte der jüngste Nowak Spross nun auch nicht sein.

„Jungs? Kommt ihr essen?!“ rief meine Mutter die Treppe nach oben und ließ mich sowohl Jo vergessen, als auch ihre etwaige Besessenheit.

 

Meine Mutter wirkte glücklich während des Essens, ich eher irritiert.

War es überhaupt möglich so viel Essen in so einen kleinen Kerl zu stopfen?

Und wie zur Hölle konnte man bei solch einem Tempo so verdammt gesittet wirken? An seiner Stelle sähe ich bereits aus wie ein Schwein…

Nein… schon bei normaler Geschwindigkeit konnte ich nicht ordentlich essen. Die Flecken auf meinem Hemd sprachen Bände. Ebenso der Blick, den mir meine Mutter zuwarf, ehe auch sie weiter aß.

 

„Vielen Dank fürs Essen Fr… Tamara. War wirklich lecker. Aber ich sollte besser nach Hause. Es war nicht geplant, dass ich solange weg bleibe.“ Zuckersüß strahlte er meine Mutter an. Wüsste ich nicht, dass er auch anders konnte, würde ich ihn glatt für einen Engel halten.

Verstörend…

„Ich hoffe deine Eltern machen sich keine Sorgen? Vielleicht hätten wir bei dir zuhause anrufen sollen. Ich Dummerchen. Richte ihnen aus das es mir leid tut, ja?“ Aufgeregt entschuldigte sich meine Mutter, für was auch immer. Jacek war keine 5 mehr. Er konnte notfalls auch selbst bei sich zuhause Bescheid geben.

Der Brünette verzog bei der Entschuldigung meiner Mutter unglücklich das Gesicht –dachte anscheinend dasselbe. Niemand mag es für ein Baby gehalten zu werden. Schon gar nicht von fremden Müttern- lächelte sie dann jedoch beschwichtigend an, sodass ich fast glaubte mich verguckt zu haben.

Man wechselt er die Emotionen schnell. Oder er war einfach so gut, als Schauspieler, wie er behauptete.

„Schon ok, F…Tamara. Hätte selbst dran denken können. Aber ich sollte mich jetzt wirklich auf den Weg machen.“

Viel zu herzlich verabschiedete meine Mutter sich von ihm. Gerade so als wären er und ich Freunde… dabei war er nur hier, damit meine Strafe so richtig weh tat… oder?

Er war ganz nett heute. Vielleicht…

„Bringst du Jacek noch zur Tür, Schätzchen?“ Noch immer in Gedanken nickte ich. Den Spitznamen ignorierte ich geflissentlich.

„Hey… ähm…“ Die Tasche geschultert und einen Fuß schon vor der Tür hielt er inne und drehte sich zu mir. Abwartend, was ich noch wollen könnte.

„Danke für die Hilfe heute. Du scheinst doch nicht so ätzend zu sein wie ich bis jetzt dachte. Bist… ganz in Ordnung schätze ich, auch wenn du Jo magst…“ Darüber würde ich wahrscheinlich nie hinweg kommen.

Ein Grinsen schlich sich auf sein Gesicht.

Nein, kein süßes, liebes, nettes, wie man es erwartet hätte nach dem Bild, welches er und meine Ma abgegeben hatten.

Es war fies, gemein und ich hasste mich dafür, dass ich es ein wenig gruselig fand.

„Falscher Fehler, Schätzchen. Ich bin viel ätzender als du denkst. Und du armer Idiot läufst blind in dein Verderben weil du mich für in Ordnung hältst.“

Entsetzt schaute ich zu ihm runter.
Was zur…?

Ausgelassen lachte er auf. Schlug mir gegen die Schulter und verschwand mit einem „Bis Morgen“ und einem zufriedenen, engelsgleichen Ausdruck im Gesicht.

Erneut: Was. Zur. Hölle?!

„Noah, stimmt was nicht mein Schatz?“

Erst meine Mutter die sich neben mich in den Türrahmen stellte und den leeren Fleck musterte den ich anstarrte, brachte mich zurück in die Realität.

Hatte ich mir alles nur eigebildet? Oder war der Kerl das personifizierte Böse, welches mich in den Wahnsinn treiben wollte?

Fifty-fifty Chance würde ich mal ganz grob schätzen.

 

 

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Ha ich war mal pünktlich :)

YESSSSS

 

Hat noch wer Ideen die UNBEDINGT bei den Jungs eingebaut werden müssen?

Immer her damit, sonst kriegt ihr nur meine Ideen zu lesen

Kapitel 7

 

 

 

Jacek

 

Das Spiel machte mich wahnsinnig! Wirklich. Wer hatte diesen Scheiß erfunden? Wie in Trance (und auf Speed) hämmerte ich auf das Display meines Telefons ein. Schneller und immer schneller flogen die schwarzen Vierecke über den Bildschirm.

Qualmten meine Daumen? Keine Ahnung. Ich hatte keine Zeit zu schauen.

„Jago was-?“

„Lass mich in Ruhe! Ich breche grade meinen High-Score bei Luise.“ Mir war egal, wer mich da einfach sprach. Außerdem passte die Stimme nicht zu dem ‚Jago‘. Die Stimme hatte mich noch nie so genannt.

Verdammt!

Dank der abdriftenden Gedanken und der zu hohen Geschwindigkeit vertippte ich mich und der rot Blinkende Bildschirm zeigte mir, dass ich verloren hatte. Ganz knapp. Nur gefühlte 10000 Punkte hinter dem Erstplatzierten (vermutlich Ostasiaten).

„Musste das sein? Ich hatte es fast! Ich war nur sooooo kurz davor neuer Klaviermeister zu werden.“ Missmutig stopfte ich das Telefon in meine Tasche und warf Noah einen bösen Blick zu.

„Ja… Du weißt schon, dass erstens, dieses Spiel nicht wirklich was mit Klavierspielen zu tun hat und zweitens, das Lied nicht Luise sondern ‚für Elise‘ heißt. Oder?“

Ja, ja du Vollidiot. Zerstöre meine Illusionen. Tse.

„Was weißt du schon…“

„In diesem Fall? Mehr als du.“
Sein selbstsicheres Grinsen kotzte mich an. Als wüsste der Kerl irgendwas besser als ich. Na gut, vielleicht wusste er eher wie man Klimmzüge hinbekam ohne sich alles zu zerren, als ich, aber sonst….

„Ach ja? Dann demonstrier doch dein Können Picasso…“ Vielsagend deutete ich zum Klavier in der Ecke. Das Ding hatte, wie das gesamte Auditorium, schon bessere Zeiten gesehen.

Mit dem Kommentar: „Picasso war Maler…“ und genervtem Augenrollen setzte er sich tatsächlich in Bewegung, entstaubte die vergilbten Tasten und…

Haute mich um.

Da zerstörte er, mit einfachem Tastendrücken mein gesamtes Weltbild.
Mir doch egal wer Picasso war… aber ein Kerl wie er, der Klavier spielen konnte? Wie konnte das sein? Wie…

…und diese Finger… Die dürften gerne auch mal was anderes spielen….

Aus. Pfui. Hol die Gedanken aus der Gosse und konzentrier dich!

„Wieso kannst du das?“ Ich konnte es nicht verhindern genervt zu klingen. Andere Leute, die irgendwelche Talente hatten die mich neidisch machten? Ging gar nicht!

„Hatte sechs Jahre lang Klavierunterricht“, brummte er nicht gerade begeistert und ließ schließlich die letzten Töne des Liedes ausklingen.

„Warum hast du aufgehört?“ Nein Jago, reiß dich zusammen. Andere Leute haben auch Talent. Manchmal sogar mehr als du. Das ist ganz normal. Du musst nicht grün werden. Denk nur dran, dass er dafür eine schauspielerische Nullnummer ist… Ach nein… er hatte sich ja gebessert… Mist. „Klang gut“, gab ich wiederwillig zu und merkte, wie der Hass auf ihn und sein Talent plötzlich verpuffte.

„Mit dem Lied? Weil es zu Ende war. Mit den Klavierstunden?... Tja…“ Vielsagend hielt er die Finger in die Höhe und wackelte damit. „Hast du dir die mal angesehen?“ Ja hatte ich und meine Gedanken wanderten schon wieder gen Gosse. Die Teile waren aber auch Fantasie anregend…

Ungerührt meines vermutlich belämmerten Ausdrucks redete er weiter. „Diese Pranken sind nicht unbedingt die Hände eines Konzertpianisten…“ Oder Gynäkologen, fügte ich in Gedanken an, musste jedoch zugeben, dass ich auch als Frau nichts gegen solche Finger hätte… wenn sie denn nur warm wären…

Herr Gott noch eins… Aus. Pfui. Ab in deine dunkle Ecke…

Ehe meine Gedanken noch weiter ungewollte Bahnen einschlagen konnten, kamen auch die anderen Jungs der Theater-AG mit Felicitas im Schlepptau ins Auditorium.

Ohne viel Federlesen eröffnete Feli die Probe und sah auch dieses Mal davon ab uns als Einheit üben zu lassen. Was die Frau sich dabei dachte? Wer wusste das schon… Künstler….

 

„Noah…“ knurrte ich leise als wir vorm provisorischen Altar –besser bekannt als Stuhl- standen, vor dem er soeben heroisch Freiwald hätte niederstrecken sollen. Dieser stand jedoch irgendwo abseits und ließ sich vom Kurfürsten berieseln und lobpreisen.

„Ja…?“, fragte der Blonde unsicher, während er mit seinen kalten, schwitzigen Fingern meine festhält.

„Du schaust schon wieder als hättest du Stuhlbeschwerden… und deine Hände fühlen sich an wie ein toter Fisch. Hast du Angst?“

„Bitte?“

„Guck nicht wie Durchfall. Wir hatten das ganze schon mal. Stell dir einfach vor ich bin Gulasch mit Klöße….“

„Du riechst aber gar nicht wie Gulasch und Klöße“, protestierte er. Jeder getretener Welpe hätte den Blick, den er dabei drauf hatte, nicht besser hinkriegen können.

Konnte er sich bitte zusammenreißen? Natürlich roch ich nicht nach seinem Lieblingsessen. „Benutz schließlich kein Eau de Gulasch…“, murre ich ihm entgegen und fordere ihn weiter mit genervten Blicken auf sich endlich am Riemen zu reißen.

„Schmeckst du wenigstens danach?“

„Hä?“ Ungläubig wollte ich von Noah zurückweichen, doch der hielt mich immer noch mit seinen toten-Fisch-Händen fest.

Wie in Zeitlupe konnte ich beobachten wie verschiedene Denkprozesse in seinem Hirn abliefen und er Stück für Stück mit seinem Gesicht auf mich zukam.
Der würde doch wohl nicht?

„Ieeeh!“ Ich verzog angeekelt das Gesicht, als er mir mit seiner Zunge über die Wange leckte und mit dem Kopf schüttelte.
„Hmm… Nee“, machte er beinahe traurig, ehe er meine Hände losließ und auf seine Anfangsposition zurück ging.

Verdattert schaute ich ihm hinterher.

Was zur Hölle…?

Hatte seine Mutter ihm was ins Frühstück gemischt? Hatte Nowak ihm illegale Substanzen eingeflößt? (Welche er vermutlich gar nicht besaß. Pascha war ein Weichei was das Zeug anging. Vor allem, wenn er daran dachte wie Boris ihm den Arsch versohlte sollte er solches Zeug intus haben.)

Oder war der Kerl schizophren und heute zeigte sich der Noah der keine Hemmungen hatte?

Würde mich nicht verwundern.

 

Der Rest der Zeit floss zäh dahin, bis Felicitas die Probe beendete und und versprach, das wir morgen alle zusammen üben würden, da sie bei den einzelnen Gruppen bereits gute Fortschritte gesehen hatte.

Ob sie die Mädchen genauso einen Mist machen ließ?

Hoffentlich! Die durften gerne genauso oder gar noch mehr leiden.

„Morgen nach der Probe?“ Noah ließ sich schwungvoll auf den Platz neben meiner Tasche fallen, in welcher ich gerade wühlte.

Erst wanderte eine Augenbraue fragend nach oben, dann die zweite.

Bitte was?

„Morgen nach der Probe hätte ich Zeit. Müssten aber bei dir üben. Falls du willst“, konkretisierte er und mein Verdacht auf Schizophrenie bestätigte sich immer mehr.

Oder er hatte einen Zwilling/ Klon von dem niemand etwas wusste und sie wechselten sich ab…

„Klar. Hab Zeit. Training fällt flach für mich. Und bei mir ist keiner da. Wenn wir bis neun fertig sind ist es kein Problem.“

Nickend stand er auf und verschwand.

„Was war mit dem los? Sollte er nicht genervt sein? Oder sich wenigstens vor Extraproben drücken?“ Auch Paul und den anderen schien das merkwürdige Verhalten aufgefallen zu sein.

„Wer weiß…“ Schulterzuckend griff ich nach meiner Tasche und verließ das Auditorium.

 

 

 

 

Noah

 

 

Nachdem ich so blöd, bzw. verzweifelt gelangweilt war, saß ich nun zum Freitag, nach einer Nerven aufreibenden Theaterprobe mit Jacek im Bus.

Zum Glück erreichten wir seine Haltestelle kurze Zeit später, sodass wir dem nachmittäglichen Andrang entgehen konnten.

Es war nicht unbedingt ein Traum, wie eine Sardine zwischen anderen, verschwitzten und genervten Fahrgästen zu stehen und mehr als einmal eine Tasche, einen Schuh oder Ellenbogen ins Kreuz oder sämtliche andere erreichbare Körperteile zu bekommen. Mit Jago zu kuscheln war auch nicht unbedingt mein Traum. Wobei er der einzige war, der weder genervt noch verschwitzt war oder mir irgendwelche blauen Flecken bereitete.

-„Du riechst gut. Was ist das?“, brach es aus mir heraus, als wir die Haltestelle hinter uns ließen und endlich wieder freier atmen konnten.

Irritiert blinzelte er mich an.

„Weichspüler? Keine Ahnung…“ Testweise schnupperte er an seinem Shirt, zuckte jedoch nur mit den Achseln und ging schließlich voraus.

 

Die engen Straßen waren rechts und links mit Autos vollgeparkt. Teilweise standen die Fenster der Altbauten offen und beschallten die Straße mit diversem TV und Kinderlärm.

Der Brünette grüßte eine ältere Dame, die am Unkraut gießen war, ehe er mich durch die Tür in den zweiten Stock lotste.

Ich wartete brav vor der Tür, während der andere den Briefkasten leerte. Leises Fluchen wehte durchs Treppenhaus während er verzweifelt mit dem Schloss des Blechkastens kämpfte.

Schlussendlich siegte er, anscheinend. Wenn sein leises ‚endlich‘ und die knarzenden Treppenstufen etwas zu bedeuten hatten.

 

„Hi… Wer bist du denn?“

Eine piepsende Stimme ließ mich zusammenfahren.

Große Augen schauten mich von oben herab an, jedoch nur bis das zierliche Persönchen die letzten Stufen herunter kam und vor mir inne hielt. Eine schwer bepackte Sporttasche über die dünnen Schultern geworfen.

„Noch nicht volljährig Lisa“, knurrte Jacek unfreundlich, als er die letzten Stufen zu uns nach oben nahm und die Blonde böse anfunkelte.

„Wie schade…“ Noch einmal musterte mich diese Lisa wie ein hungriges Tier, schritt dann jedoch schulterzuckend ans uns vorbei, als wäre nichts gewesen.

„Ich bin aber volljährig…“ protestierte ich, worauf hin Jago mir den bösen Blick zuwarf.

„Ich weiß“, presste er aus zusammengepressten Zähnen hervor. „Und wenn du willst, dass sie es auch weiß und dich in ihre Höhle schleppt, um ihren Spaß mit dir zu haben, dann sag es so laut, dass sie es auch weiß!“

Ungeduldig ruckelte er an der Wohnungstür bis diese unter leisem fluchen aufsprang.

Ich hielt unterdessen lieber meine Klappe. Lisa war zwar nicht unbedingt hässlich, dennoch musste es nicht unbedingt sein, dass sie zurück kam und mich…

„Kommst du?!“

„Was?“

Abwartend starrte er mich an, während er die Tür aufhielt. War der Blick gruselig? Oh, ja. Definitiv. Schlimmer als Pascha… ob die zwei dasselbe Seminar besucht haben?

 

Wir hatten die Wahl zwischen Jago zugestelltem Zimmer und dem Wohnzimmer. Ich weiß nicht warum wir uns ausgerechnet für ersteres entschieden haben. Vielleicht weil Textlernen nervig war und sein Bett wesentlich bequemer wirkte als die Couch.

Oder weil es hier sicherer war. Im Wohnzimmer gab es einen Balkon. Hier nicht. Ein Element mit dem er mir wehtun könnte beseitigt. Dafür lagen hier zig Tausende mehr rum. Verdammt. Hatte die Sache wohl nicht ganz so durchdacht wie erwartet.

„NOAH!“

Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mich am Kissen festkrallen musste, um nicht vom Bett zu fallen. Da gab ich wohl ein sehr männliches Bild ab… wenn Jagos Grinsen mich nicht ganz täuschte.

„Was?“

„Hör auf zu träumen und lern den Text. Wir sind nicht aus langerweile hier. Ich könnte meinen Freitagnachmittag besser verbringen.“

Ich auch… Na gut. Eigentlich nicht. Pascha hatte Training und…

„Du hast nichts Besseres zu tun. Normalerweise hättest du Training, kannst wegen deiner Nase aber nicht hin und diene Freundinnen haben schon irgendwas ohne nicht geplant gehabt.“

Eine gefühlte Ewigkeit lang starrte er mich mit diesem Gruselblick, aus gewitterwolkengrauen Augen, an.

(Ernsthaft jetzt: warum konnten das alle besser als ich?)

Dann jedoch zuckte er mit den Schultern und schaute zurück auf das Skript.

„Was auch immer, Sherlock. Akt 2 Szene 4. Du hast mich grade zu eurem Lagerplatz gebracht…“

Krampfhaft überlegte ich was ich sagen musste, doch ich hatte keine Ahnung. Ich war versucht auf mein Skript zu schielen. Ein fliegendes Stofftier hinderte mich daran.

Butterweich das Teil und unglaublich flauschig… außer die Nase. Die war steinhart. Und genau damit musste er mich natürlich treffen…

„Das wird blau…“

„Heul doch“, murmelte er in seinen nicht vorhandenen Bart und beobachtete ungemein Amüsiert die ich das dumme Stofftier tätschelte.

Gott es war so kuschelig und weich und herrlich und…

Hallo Vagina. Lange nicht gesehen…

Widerwillig legte ich das seltsame Fledermaus-Etwas zur Seite und überlegte erneut.

„Versuch es mit Akt 3 Szene 11. Die Wachen verlassen das Lager, mit mir im Schlepptau.“

„Tja Jungs. Das war’s dann wohl. War eine schöne Zeit aber… wir ziehen weiter“, versuchte ich mein Glück und war froh, dass er nicht noch mehr Stofftiere zum Werfen in Reichweite hatte.

„Sicher… Frag Feli ob sie es für dich so umschreibt… Dann muss ich Freiwald selbst in den Arsch treten und meinen Mann äh… meine Frau stehen. Macht die große Künstlerin bestimmt mit.“ Er klang so ernst, ich war fast gewillt es wirklich zu tun. Doch dann rollte er schlicht mit den Augen und signalisierte mir, dass ich aufhören sollte dämlich zu sein.

Zu dumm nur das ich den Mist nicht ansatzwese so ernst nahm wie er.

Theater war nicht meine Welt. Texte lernen war nicht meine Welt. Das alles war nicht meine Welt… konnte er das nicht sehen?

„Kann ich du Muschi. Das ist aber keine Ausrede. Es geht bei der ganzen Sache schließlich nicht um dich“, zischend rutschte er auf dem Bett zu mir heran.

Was war das bitte gewesen?

In welchem Film war ich gelandet? In welcher Parallelwelt?

Konnte er Gedanken lesen?

Unmöglich… aber wie konnte er sonst…

„Guck nicht so. Du denkst laut.“ Ächzend schwang er sich vom Bett und ließ mich alleine in seinem Zimmer zurück.

Mir war definitiv nach aufspringen und wegrennen zu Mute. Dann sollte mir der ganze Scheiß am Arsch vorbei gehen. Ging ich halt auf eine Militärschule. Konnte nicht so schlimm sein. Hatte schließlich nur noch dieses Jahr hinter mich zu bringen.

Bevor ich meinen mentalen Fluchtversuch in die Tat umsetzten konnte, kam Jago zurück und streckte mir diverse bunte Zettel entgegen.

„Was…?“

„Essen. Ich nehme an du hast genauso Kohldampf wie ich… Also such dir was aus damit ich bestellen kann ehe mein Magen mich von innen auffrisst.“

 

In Ermangelung besserer Ideen entschied ich mich für Pizza. Da er nichts dagegen sagte, nahm ich an, dass er einverstanden war.

Kurz musterte er die Karte, von der ich mir die Pizza ausgesucht hatte, ehe er sich sein Telefon schnappte und die Bestellung kurz angebunden aufgab.

„So…. und jetzt noch mal. Akt 4 Szene 2. Bis das Essen da ist, hast du die Stelle hoffentlich in deinem Blondinenhirn gespeichert.“

Und tatsächlich. 20 Minuten später hatte er es geschafft mir wenigsten diese Szene in den Kopf zu hämmern. War an sich nicht so schwer. Rache schwören. Die Kumpane überzeugen, dass sie für meine große Liebe ausziehen und eine Hochzeit vereiteln müssen. Und natürlich ungefragt das Anwesen der von Hagens stürmen.

Was mir immer noch unlogisch erschien, da nie mehr als sechs Schauspieler im Stück genannt wurden (und wovon wir wiederum nicht einmal ansatzweise alle abdecken konnten!) und die gegen die ganzen Wachen nie eine Chance hätten. Aber wer war ich schon, um Kunst zu kritisieren.

 

Die Türklingel errettete mich und während Jago dem Pizzamann die Tür öffnen ging, verschwand ich nach nebenan ins Bad. Die Cola die er so aufreizend neben seinem Bett hatte stehen lassen wollte das Licht der Welt erneut erblicken…

Da die Pizza schon meinen Namen rief und mein Magen verdächtige Geräusche von sich gab beeilte ich mich, anstatt zu trödeln und Fliesen zu zählen wie ich es sonst gerne tat.

Ich war schon fast dabei auf den Flur hinaus zu stürmen, als ich Jago mit finsterer Miene und einen Kerl –vermutlich doch nicht der Pizzamann- im Türrahmen erblickte. Keiner der beiden schien mich zu beachten.

Die Stimmung im Flur war unangenehm zähflüssig. Eigentlich mein Schlagwort zurück ins Bad zu verschwinden oder in Jagos Zimmer zu huschen.

Doch entgegen besseren Wissens blieb ich stehen und beobachtete die Szene.

Der Kerl in der Tür strich sich nervös die dunkelblonden Locken aus der Stirn.

„Jago… ich…“ Die relativ tiefe Stimme des Lockenkopfes zitterte leicht. Der arme Kerl sah aus als würde er gleich an Herzversagen sterben. Langsam fragte ich mich wer er war. Ein heimlicher Verehrer? Würde er dem Brünetten gleich seine unsterbliche Liebe gestehen?

„Es tut mir leid. Okay? Das mit Anne… Du weißt wie meine Eltern sind. Sie würden nie verstehen, dass ich…“ Er brach ab und schluckte schwer. Sein Gestammel machte für mich nur bedingt Sinn. „Du weißt das ich dich gern hab… können wir nicht einfach weiter machen wie bisher? Anne ausblenden? Bitte….“

„Wie süß…“ Jagos ruhige, fast schon gerührte Stimmlage passte nicht zu seinem Blick. Selbst von der Haustür aus schaffte er es mich frösteln zu lassen. Dabei bedachte er nicht mal mich mit diesem Blick.

„Heißt das…?“ Hoffnungsvoll schaute der Blonde zum ersten Mal wirklich auf. Zuvor hatte er es nur geschafft, seinem Gegenüber Löcher in den Brustraum zu brennen.

„Nein, Christopher… Das heißt: verschwinde und zieh jemand anderen in diese Scheiße mit rein, aber nicht mich. Ich hab eindeutig genug davon!“

Schon während er sprach und diesem Christopher eindeutig das kleine Herz ein Stückchen brach, schon er diesen rückwärts aus der Wohnung, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen.

Unsanft?

Vielleicht…

„Jac…“ kam es leise durch die geschlossene Wohnungstür.

„Verschwinde endlich!“ Ungehalten schrie Jago die Tür an, ehe er wütend dagegen schlug und schließlich das Gesicht in den Händen vergrub, um tief durchzuatmen.

Das war nun aber eindeutig ein Zeichen zu verschwinden… Oder um mich bemerkbar zu machen und so zu tun als hätte ich nichts gesehen bzw. gehört. Sein Liebesleben, gescheitert oder nicht, ging mich nun wirklich nichts an.

Auch wenn ich mich nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass er so etwas besaß.

Für mich war er der Kerl der sich nur um Theater scherte. So wie Pascha die Freundinnen wechselte wie seine Unterwäsche…

Dieser Christopher passte nicht in mein Bild von ihm. Dieser Freund… Ex-Freund, machte Jago menschlicher. Als wäre er wie wir anderen auch.

„Hey… Habt ihr irgendwo Handtücher?“

Erschrocken fuhr der Brünette zusammen, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, ehe er eifrig nickte und irgendwas von Schrank unterm Waschbecken murmelte.

Das erneute Türklingeln bewahrte mich davor, wirklich noch einmal zurück ins Bad zu gehen und so zu tun als ob.

 

Dieses Mal hatte er vorsichtshalber die Gegensprechanlage betätigt, um sicher zu stellen, dass es wirklich der Pizzamann war und kein weiterer ungebetener Gast.

Der gelangweilt aussehende Lieferjunge reichte ihm drei Pizzaschachteln, nahm sein Geld entgegen und verschwand ohne großes Trara. Vielleicht schreckte Jago ihn ab. Er wirkte nicht so, als vertrüge er zurzeit menschliche Gesellschafft.

Hurra. Ich Glückspilz…

 

 

 

Jacek

 

 

Ich versuchte mich zu sammeln als der Liefertyp die Treppen hochschlurfte. Chris hatte mir gerade noch gefehlt.

Musste das heute sein? Oder überhaupt?

Konnte er nicht weiter einen auf heile Welt machen und mich verdammt noch eins in Ruhe lassen?

Noahs Anwesenheit machte das Ganze nicht besser. Hatte er es mitgekriegt? Er ließ sich nichts anmerken, falls es so war. Dafür war ich ihm mehr als dankbar. Vielleicht würde ich ihn deshalb nicht mehr allzu sehr quälen… also heute. Falls er sich nicht daneben benahm.

 

In der Küche stellte ich unsere beiden Pizzen auf den Tisch. Die Dritte schob ich mitsamt dem Karton in den kalten Backofen.

Noah quittierte die Aktion mit einem Fragenden Blick, sagte jedoch auch hierzu nichts.

Eigentlich hatte ich ja fest mit einem Kommentar á la ‚die ist doch noch warm‘ oder ‚zum Backen macht man den Karton aber ab‘ gerechnet, aber nichts da. Er blieb ganz der brave Junge, suchte uns sogar Teller und Besteck heraus.

Wie zur Hölle aß der bitte Liefer-Pizza?

Kurz darauf demonstrierte er es mir…

Er packte seine Pizza tatsächlich Stückeweise auf den Teller und benutzte Messer und Gabel.

Sollte er sich jetzt blöd vorkommen oder ich? Immerhin musste ich neben ihm wirken wie ein unzivilisierter Urmensch. Direkt aus dem Karton und mit Fingern die fetttriefende Pizza essen sah nicht elegant aus.

Wirkte aber wesentlich natürlicher… fand ich.

Doch er schwieg sich über meine Essgewohnheiten aus und ich sagte nichts zu seiner.

Ich wollte gar nicht wissen, wer ihn so verzogen hatte.

 

Er hatte gerade einmal zwei Stücke geschafft –ich bereits vier- als sein Telefon losschepperte.

„Ja?“, begrüßte er den Anrufer ganz unspektakulär.

„Samstag?“-„Eigentlich nicht….“- Wirklich?“ Sein Gesicht hellte sich plötzlich auf. „Engel. Sag ich doch schon immer.“

Die Gesprächsfetzen ergaben nur wenig Sinn für mich, weshalb ich mich weiter über das fettige Stück Teig hermachte und versuchte leise zu sein.

„Dann bis morgen“, beendete Noah kurze Zeit später das Gespräch, warf mir einen entschuldigenden Blick zu und aß schweigend und gesittet weiter.

Viel zu gut erzogen.

Kein anderer hätte so geguckt weil es ihm leid tut, wenn er angerufen wird und einfach ran geht. Selbst beim Essen nicht.

 

„Du Jago…“

Ich hob kurz den Blick um zu signalisieren, dass er meine Aufmerksamkeit hatte.

„Warum nennen dich alle ‚Jago‘? So recht passt das doch gar nicht mit Jacek zusammen…“

Ich wies ihn nicht darauf hin, dass er mich ebenfalls so nannte. Seit wann eigentlich? Nannte er mich schon immer so? Nein… eigentlich nicht… Seltsam…

„Hab vor zwei Jahren den Iago aus Shakespeares Othello gespielt. Ist seitdem so hängen geblieben. Selbst die Leute die nicht in der Theater-AG sind haben sich das Jago angewöhnt. Einige Lehrer sind auch immer wieder erschrocken wenn ich meinen richtigen Namen auf die Arbeit schreibe…“, klärte ich den Blonden Schulterzuckend auf und stopfte mir das letzte Stück des knusperigen Randes in den Mund.

„Hast du keinen Spitznamen?“ Natürlich hatte er keinen. Jeder nannte ihn nur Noah. Selbst Pascha nannte Noah schlicht Noah.

„Nein…“, bestätigte er das was ich bereits wusste.

Eine Frage brannte mir dazu dennoch auf der Seele. „Warum? Nur Langweiler haben keinen Spitznamen.“

Selbst unser Chemielehrer hatte einen Spitznamen!

„…Danke auch…“, brummte der Langweiler missmutig und drohte mir mit der Gabel, auf der ein Stück Pizza steckte. Ja… nein… absolut nicht respekteinflößend. Pizza zivilisiert zu essen sollte gesetzlich verboten werden…

„Solltest dir einen zulegen. Dann bist du auch kein Langweiler mehr. Nur nicht so einen blöden wie der Kowalski… Papa Pinguin ist absolut uncool… Auch wenn die Anspielung auf die Pinguine ganz witzig ist…“ brabbelte ich mehr zu mir selbst als zu Noah, der noch immer nicht viel netter dreinblickte.

 

Um kurz vor acht verabschiedete Noah sich schließlich mit der Erklärung, dass er seine Mutter besser aus den Fängen ihrer Buchclub-Freundinnen/Tratsch-Weiber/Wein-liebenden-Kolleginnen befreien sollte.

Wirklich viel hatten wir nach dem Essen nicht mehr geschafft, doch ich hatte mir vorgenommen heute nett zu ihm zu sein.

Auftrag erfüllt.

Wenn er es bis zur nächsten Probe wieder vergessen hat würg ich ihm dafür doppelt eine rein, das kann er aber wissen.

Und wenn ich dafür Pascha mit ins Boot holen musste….

 

 

 

 

Noah

 

 

Die Szene vom Vortag und vor allem Jagos mitgenommener Ausdruck verfolgten mich auch noch am nächsten Tag.

Häuser und andere Autos ziehen schleppend an mir vorbei, während meine Mutter versucht das Lied im Radio mitzusingen.

Gelingt ihr genauso wie mir immer.

Gar nicht.

Fast wünschte ich mir, dass sie nicht darauf bestanden hätte mich zu meinem Vater zu fahren.

Bus fahren wäre in diesem Fall schneller gewesen. Selbst laufen erschien mir sinnvoller, als mich an verstopften Straßen und überfüllten Kreuzungen anstellen zu müssen.

 

Irgendwann schafften wir es dennoch in der Protz-Auffahrt vor der Protz-Villa zu halten.

„Danke fürs fahren.“ Elegant wollte ich aus dem Auto springen und fliehen. Seit guten 15 Minuten hatte meine Mutter diesen irren Blick drauf, der nie irgendwas gutes bedeutete. Oder verwechselte ich das mit dem Blick, den sie immer dann aufsetzte, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte?

Egal.

War beides noch nie gut für mich gewesen.

„Schon gut Schatz. Hast du deine Fahrkarte dabei? Oder brauchst du Geld für die Heimfahrt. Ich komm heute erst spät nach Hause. Du weißt ja dass Carmen immer…“

„Ja Mama. Ich hab alles dabei. Notfalls muss mein Vater mich halt fahren.“ Lieber würde ich laufen, doch ich verzichtete auf diesen Kommentar, damit meine Ma endlich Ruhe gab und weiter fuhr, um sich mit ihren Freundinnen zu vergnügen. Oder mit einem neuen Liebhaber… Wer wusste schon ob sie Carmen nicht nur als Vorwand nutzte. Sie kannte meine Abneigung dieser Person gegenüber zu gut und wäre so zu 100% sicher, dass ich nicht bei ihr anrief um die Geschichte abklären zu lassen.

…. Außerdem….

Wer war bitte so gestört der eigenen Mutter hinterher zu spionieren? Ich hatte eindeutig besseres zu tun als mich in ihr Leben zu hängen. Solange sie nicht jede Woche einen neuen Kerl anschleppte, den ich ‚Papi‘ nennen sollte, war es mir so was von egal was sie trieb… oder mit wem… Oder… Aus. Nein. Ende. Eklig.

„Viel Spaß. Und grüß Carmen schön.“ Von mir aus konnte sie der Frau auch noch ganz andere Sachen sagen, zum Beispiel das sie eine bl…

„Noah? Kommst du? Wir warten schon. Papa wird ungeduldig!“ Bianca stand in der Haustür und schaute mich abwartend an. Meine Mutter winkte ihr kurz, durch die geschlossene Scheibe, zu, ehe sie den Gang einlegte und zurück auf die Straße fuhr.

„Komme schon…“

Als wäre dies das Stichwort stürmte meine kleine Schwester zurück ins Haus und kündigte mich an.

Rita bedachte mich mit einem kleinen Lächeln, als sie mir Hemd und Haare richtete, ehe sie mich weiter zum Esszimmer gehen ließ.

Fein säuberlich aufgereiht saßen alle am Esstisch. Wie jedes Mal. Eine perfekte Bilderbuch-Familie…

Absolut zum kotzen…

Im Vorbeigehen zog ich kurz an Rosas Pferdeschwanz –sie quittierte es mit einem Zahnlückengrinsen-, verwuschelte Biancas akkurat sitzende Mähe und ließ mich schließlich auf meinen angestammten Platz fallen.

Wenn man den Stuhl ganz genau musterte konnte man schon den Abdruck meines Hinterns sehen, so eingesessen hatte ich ihn schon.

„Du bist spät“, brummte mein Vater und blickte missmutig von seiner Rolex zu mir. Zu meinem Erstaunen ergriff Monica das Wort ehe ich dazu kam.

„Hast du nicht gehört was im Radio gesagt wurde? Es war Stau.“ Sie schaute nicht zu mir, um sich ihre Vermutung bestätigen zu lassen, stattdessen straffte sie die Schultern und nahm dankend das Essen entgegen welches Rita begann aufzutragen.

 

Da stand der Grund meines Hierseins.

Zu gerne hätte ich dieses dämliche Familienessen geschwänzt. Hatte mich schon richtig gefreut, als mein Vater Anfang der Woche angerufen hatte um Bescheid zu geben, dass der übliche Termin nicht klappt, da er arbeiten müsse. Aber dann musste Rita mich anrufen und mit Essen locken.

Mit gutem Essen.

Der einzige Grund warum ich hier war…

Gut… vielleicht auch um die Mädchen zu sehen.

„Es ist Samstag. Warum gibt es Sonntagsessen?“ Kam es natürlich von meinem Vater, als dieser auf seine Klöße stierte.

Anstatt es einfach hinzunehmen –immerhin aß er die Dinger fast genauso gerne wie ich- musste er natürlich meckern. Noch eine Minute länger Starren und er würde bestimmt nach Rita rufen um die Sache aufklären und zur Not etwas anderes kochen zu lassen. Aus purem Prinzip. Klöße waren Sonntagsessen. Heute war kein Sonntag. Ende der Diskussion. Es war meinem Vater egal, ob es Verschwendung wäre oder ganz einfach völlig egal. (Herr Gott! Ich konnte jeden Tag Klöße essen!)

Monica hielt ihn von alledem ab, indem sie streng zu ihm schaute, nebenbei ein Stück des Kloßes abschnitt, in die Soße tunkte und sich zum Mund führte, und ihm schließlich ein ‚Martin, halt den Mund und sei froh, dass Rita so nett ist das Lieblingsessen deines Sohnes zu kochen!“

Kein Raum für Widerworte.

Mich wunderte es immer wieder, wie eine Frau wie sie es war, die letzte Wahl verlieren konnte. Gegen einen solchen Vollidioten…

 

Erst als uns Rita mit Nachtisch beglückte traute mein Vater sich den Mund zu öffnen. Das einzige Thema welches ihm einfiel war jedoch mein Fauxpas mit der gebrochenen Nase und der damit zusammenhängenden Strafe.

„Läuft…“, antwortete ich schlicht und machte mich über den Pudding her.

So wie ich meine Mutter kannte…

„Tamara sagte mir, dass du sogar in deiner Freizeit dafür übst? Mit dem Jungen dem du die Nase gebrochen hast?“

…hatte sie ihm eh schon alles berichtet. In solchen Dingen mussten sie schließlich am gleichen Strang ziehen. Zwecks „gute Eltern sein“ und so…

„Ja. Er findet zu Recht, dass ich kein schauspielerisches Talent besitze… also gibt er mir Nachhilfe, damit ich ihnen das Stück nicht versaue…“, bestätigte ich, ohne zu ihm aufzusehen. Handhabte er sicher nicht anders. Höchstwahrscheinlich las er nebenbei seine Mails und hörte bzw. schaute eh nicht hin.

„Warum tust du das? Du scheinst nicht so als würde dir irgendwas am Theater liegen…“

Recht hatte er. Theater war noch nie mein Fall gewesen. War es immer noch nicht. Das Stück war… merkwürdig. Die Gruppe war zu klein und zum Teil unmotiviert. Die Lehrerin/Verfasserin des Textes war… gut… beließen wir es dabei. Theater war nicht meine Welt.

Aber warum machte ich es dennoch mit?

Mir könnte egal sein, was passiert. Selbst wenn ich mich blöd anstellte und es versaute… nicht mein Problem. Ich war da um meine Strafe abzusitzen und die Militärschule abzuwenden… warum also der Stress?
…Keine Ahnung. Vielleicht fand ich Jago gruselig und hatte Angst, er würde meine Eingeweide opfern wenn ich ihm die Aufführung versaute… vielleicht war ich auch einfach nur bescheuert.

 

Noch bevor ich meinem Vater antworten konnte, klingelte sein Telefon und lenkte die Aufmerksamkeit meines Erzeugers von mir weg.

Danke du Drecksteil.

Monica formulierte in Gedanken wahrscheinlich einen anderen Satz mit ‚Drecksteil‘, wenn ihre Miene nicht täuschte. Hoffentlich irgendwas im Zusammenhang mit ‚ihm für quer in den Arsch stecken‘ oder Ähnliches.

Mit jedem ‚mhm‘ meines Vaters wurde ihr Blick eisiger.

„Wir waren mitten in einer Unterhaltung…“ Ein unterschwelliges Knurren schwang in ihrer Aussage mit, als mein Vater das Telefon in die Hosentasche schob und sich vom Tisch erhob. Den Nachtisch nicht einmal angerührt.

Ein Glück ist er der arme Drops, der im selben Bett schlafen musste… außer sie hatte ihn mittlerweile in die Hundehütte umquartiert. Gedanklich.

„Ich weiß. Tut mir leid, aber ich muss ins Büro. Es muss wohl einen Notfall geben.“

‚Und das kann kein anderer regeln als du?‘ hing in Leuchtbuchstaben über dem Kopf meiner Stiefmutter. Ihre Augen sprühten funken und beinahe hoffte ich, dass mein Vater einfach in Flammen aufging deswegen.

Tat er nicht.

Stattdessen murmelte er irgendwas in die Runde. Eilte aus dem Esszimmer und kurz darauf hörte man sein Auto in der Garage starten und davon fahren.

Monica rang sichtlich um Fassung.

Entweder regte es sie wirklich auf, dass er einfach während des Essens verschwand oder… sie vermutete, dass der Notfall keiner auf Arbeit sei.

„Ist irgendwas passiert?“

Fragend schaute sie von dem Löffel auf, den sie unablässig zwischen den Fingern drehte.

„Bis jetzt nicht…“ Ihre Finger zitterten und drohten den armen Löffel ins Jenseits zu befördern.

„Aber?“, musste ich einfach nachhaken. Auch wenn ich es besser wusste, als mich in fremde Angelegenheiten zu hängen.

„Aber er weiß… dass ich ihm einmal aus der Scheiße gezogen hab… sollte es ein zweites Mal passieren, werde ich ihn so in den Dreck treten, dass er sich wünschte ohne Genitalien geboren worden zu sein…“ Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Ein nettes. Und mir war klar, dass sie erstens mit diesem ‚einmal‘ auf meine Entstehung anspielte und sie es zweitens todernst meinte.

„Mama… Was sind Genitalien?“ Pudding hing Rosi im Mundwinkel, als sie ernst aufschaute. Bianca verdrehte die Augen, trat sie unterm Tisch ans Schienbein und flüsterte ihr zu, dass man so etwas nicht am Esstisch besprach.

Monica stimmte ihre ältesten Tochter zu und entließ schließlich beide vom Tisch, als diese ihren Nachtisch verputzt hatten.

Nun waren nur noch wir beide übrig.

Seltsame Situation. Auch wenn es sich angenehmer anfühlte, als vermutet.

 

„Was führt ihr eigentlich auf?“

Monicas Frage traf mich unerwartet. Hätte drauf wetten können, dass auch sie schweigend den Raum verlässt und Rita schlussendlich die ist, mit der ich hier am meisten Zeit verbringen würde.

„LoveStage“, vermutete ich und war mir nicht wirklich sicher. Keiner in meinem Umfeld nannte es so.

„Noch nie gehört… von wem ist es?“

Sie klang ehrlich interessiert, anders als ich es von meinem Erzeuger gewohnt war.

Der war ein schlimmerer Kulturbanause als ich. Falls das möglich war.

Zu meinem Erstaunen ließ sie es damit nicht auf sich beruhen. Fragte stattdessen weiter, wann es aufgeführt wurde und wo und all solche Sachen, bis sie schließlich auch den kompletten Inhalt aus mir herausgequetscht hatte.

Dann schwieg sie.

Nippte an ihrem Tee, ohne Lippenstiftspuren am Tassenrand zu hinterlassen und schaute aus dem Fenster.

Die Ruhe war nicht unangenehm wie sonst.

Ich hatte zumindest nicht das Bedürfnis überstürzt aus dem Haus zu stürmen oder jemanden strangulieren zu wollen.

Schließlich erhob sie sich vom Tisch, richtete sich Bluse und Hose –die trotz, dass sie zuhause war, verdächtig formell wirkten- und sagte schließlich, den Blick auf mich gerichtet: „Wenn ihr irgendetwas braucht… für die Aufführung… Egal was es ist… Gib mir Bescheid“

„Hm.“

„Ihre hohen Hacken klackerten auf dem Parkett.

Den Türgriff in der Hand hielt sie inne, wandte sich erneut mir zu, ehe sie den Raum verließ. „Das ist mein Ernst, Noah. Wenn ihr irgendetwas brauchen solltet… weißt du wo du mich finden kannst.“

„Ich weiß.“
Damit saß ich alleine im großen Esszimmer, begutachtete das benutzte Geschirr und behielt im Endeffekt doch Recht.

Die meiste Zeit in diesem Haus, verbrachte ich mit Rita. Wie immer. Auch heute. Mit zwei unterschieden: erstens: Monica hatte mehr meiner Zeit in Anspruch genommen als jemals zuvor und zweitens: saß ich heute nicht mehr auf der Anrichte der Küche, um Rita beim Spülen zuzusehen, sondern naschte hinter ihrem Rücken heimlich den restlichen Pudding.

 

 

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tadaa... Kapitel 7.

Und es fehlen nur noch 2 1/2 Seiten bis mein Word Dokument mir eine dreistellige Seitenzahl anzeigt...

Man ist das schon viel... 

ich glaube ich hatte noch nie so lange Kapitel.... puuuh....

 

Kapitel 8

 

 

Jacek

 

Montag schaffte ich es, das Zusammentreffen mit Chris gekonnt zu überspielen.

Dienstag war es schon fast vergessen.

Mittwoch hielt ich es für einen dummen Scherz und mich für total bescheuert, dass ich so heftig darauf reagiert hatte.

„Jago, kommst du?“

„Hm?“ Verwundert stellte ich fest, dass das Klassenzimmer fast leer war und meine Freundinnen mich abwartend musterten.

Hatte wohl das Pausenklingeln verpasst.

„Ja klar. Geht ihr schon mal vor? Ich komm gleich nach. Muss nochmal pinkeln und…“

„Schon klar.“ Abwehrend hob Bryn die Hände. „Keine Details. Wir warten am Schultor auf dich.“

Ich wartete bis ich sicher sein konnte, dass sie weg waren, ehe ich mich erhob und tatsächlich zur Toilette schleppte.

In der Kabine schloss ich mich ein, setzte mich auf den geschlossenen Deckel und kramte mein Telefon aus der Tasche.

Hatte mich den ganzen Tag noch nicht getraut auf das Gerät zu schauen.

Würde mich das gleiche erwarten wie gestern? Vorgestern?

Das kleine Lämpchen blinkte wie wild.

Ich wollte kotzen…

Ohne sie zu lesen schob ich die Nachrichten beiseite. Für keine der 39 Stück fühlte ich mich bereit.

Es wäre so einfach seine Nummer zu blockieren… mir eine andere Nummer zuzulegen. Doch was würde das über mich aussagen?

Wollte ich wirklich so kindisch sein? Mir solche Mühe wegen einem Kerl machen, der es nicht wert war?

Nein verdammt!

Ungehalten trat ich gegen die Kabinentür, öffnete die Nachrichten nun doch und schrieb zurück.

>Lass mich in Ruhe!<

Ganz einfach. Genauso einfach wie es für ihn gewesen wäre drei Wörter zu äußern, von mir aus auch vier…‘Ich bin schwul‘ ‚Das ist mein Freund‘ So leicht.

>Du wolltest es so. Nun leb damit.<

Ich war fertig mit ihm.

Hoffte ich…

Er antwortete beinahe augenblicklich. Hatte er nichts zu tun auf Arbeit?

Keine Einsicht zu sehen in seiner Nachricht.

Zeitverschwendung…

Ohne zu antworten, es hatte einfach keinen Sinn, steckte ich das Telefon zurück, wusch mir Hände und Gesicht mit kaltem Wasser und setzte eine fröhliche Miene auf.

Perfekt… wenn man nicht zu genau hinsah.

 

Langsam, fast unwillig hier raus und zu den anderen zu kommen schleppte ich mich nach draußen. Am Rande merkte ich, wie Pascha mich von irgendwoher grüßte und begann irgendetwas zu erzählen.

„Alles ok mit dir? Tut dir die Nase wieder weh? Siehst kacke aus…“, unterbrach Noah sowohl meine abschweifenden Gedanken als auch Pawels Geplapper.

„Stimmt jetzt wo du es sagst… Vielleicht solltest du zur Schulschwester…“

„Hab eh Schluss“ wehrte ich ab ehe ich mich halbherzig von den beiden verabschiedete und auf den Schulhof hinaus trat.

Eine Maschine zum Teleportieren bräuchte ich jetzt. Zack, wäre ich zuhause und könnte mich in meinem Bett verkriechen und hoffen, dass Morgen alles besser ist.

Meine Füße wollten mich stur zur Haltestelle tragen, doch mein Kopf hämmerte mir ein, dass es besser für meine Gesundheit wäre, nach den beiden Grazien Ausschau zu halten. Mein Kopf gefiel mir ganz gut dort wo er jetzt saß.

Via ging in Menschenmengen ständig unter, weshalb ich nach Bryn Ausschau hielt. Zwar war sie sie kleinste Person die mir je an dieser Schule begegnet ist, dennoch… ihre fast weißblonden Haare und die schrillen Blümchenblusen –heute waren Narzissen aufgedruckt- wirkten wie ein Leuchtfeuer.

Schon nach kurzem überfliegen der wartenden Schüler –die armen Idioten mussten sich noch weiter quälen während ich schon nach Hause durfte- erhaschte ich einen Blick auf diese Horrorbluse. Zaghaft lugte sie hinter einem Schrankartigen Rücken hervor. Wild gestikulierend unterhielt der Lockenkopf sich mit meinen beiden Freundinnen.

Wen hatten sie denn da aufgegabelt?

Noch während ich dies dachte machte es klick.

Solche widerspenstige Locken hatte nur einer, selbst wenn er die Haare extrem kurz hielt!

„Tommy!“

Wie ein Fünfjähriger, der den Weihnachtsmann entdeckt hatte rannte ich los, nahm Anlauf und landete grazil auf dem breiten Rücken. Die Arme im Würgegriff um den Hals meines Bruders geschlungen. Was mir im Nachhinein Leid tat, da es höllisch wehtun musste, war immerhin keine fünf mehr…

„Lass mich leben Kleiner“, auf sein Krächzen hin lockerte ich meinen Griff, ließ jedoch nicht von ihm ab.

Für außenstehende musste es äußerst merkwürdig anmuten, wie ich da an diesem armen Kerl hing. Da er aber nichts dagegen unternahm…

„Was machst du hier?“

„Mich bei deinen Freundinnen einkratzen, damit ich dich entführen kann, auch wenn geplant war, dass du heute mit zu Vivianne fährst.“

„Ach so.“ Ich hob den Blick von der stoppeligen Wange meines Bruders zu den Mädels. „Darf er?“

Beide musterten mich erst streng, grinsten dann jedoch und wünschten uns viel Spaß. Jedoch nicht ohne mir das Versprechen abzunehmen nachher zu berichten was so wichtig war, dass Tomasz sich frei nahm.

 

„Will ja nicht unhöflich klingen aber… warum bist du eigentlich hier?“

Tommy hielt neben seinem Auto an und ich rutschte von seinem Rücken. Auch mit -grade so- siebzehn machte das Tommy-Taxi noch immer Laune. Dürfte er immer machen, wenn es in der Schule nicht so bescheuert aussehen würde.

„Steig ein. Erzähl ich dir beim Eis essen.“

Oh, oh… Eis essen war fatal… Manchmal.

Er lud mich immer zum Eis essen ein wenn etwas Schlimmes passiert war. Beispielsweise als sie Minka einschläfern lassen mussten, oder als meine Babysitterin weggezogen ist und so nicht mehr auf mich aufpassen konnte –Susi… eine der wenigen Frauen von denen ich behaupten konnte ich hätte sie abgöttisch geliebt…- Oder aber es war etwas Gutes. Beispielsweise, dass ich im Sommer doch in den Schauspielkurs gehen konnte, da sich ein anderer Teilnehmer das Bein gebrochen hatte und so ein Platz für mich frei wurde…

Da wir weder Haustiere noch Babysitter besaßen hoffte ich einfach, dass er wegen unserer Nachbarn keinen so großen Aufwand betreiben würde und wir wegen etwas gutem Eis essen gingen.

Er fuhr an der Eisdiele vorbei, in der ich mit Bryn und Via immer einkehrte. Stattdessen hielt er vor der kleinen, original Italienischen Eisdiele an, in der eine Kugel so sündhaft teuer war, dass ich ein schlechtes Gewissen bekam sie nur anzusehen.

Oh Gott… Hatte mein Arzt angerufen? Hatte ich eine schreckliche Krankheit und musste sterben? Hatte Tommy eine schreckliche Krankheit und musste sterben?

Panik kam in mir auf, bis Tomasz mir lachend gegen das Ohr schnippte und mich bat, endlich die Horrorszenarien beiseite zu schieben. Stattdessen sollte ich meinen Arsch doch bitte da rein bewegen und uns einen Tisch krallen, während er ein Parkticket zog.

 

Einen Tisch zu finden, war schwerer als erwartet. Trotz der Horror-Preise war das Lokal mehr als gut besucht. Die schnuckelige –wie ich vermutete ebenfalls original Italienische- Bedienung konnte mich jedoch an einem Tisch für zwei unterbringen. Dem Letzten wie es aussah.

Nett… So machte Sardine spielen Spaß.

Wie man es von einem Kerl wie Tomasz erwartete, stolzierte er durch das Lokal, ignorierte es, wenn Leute sich beschwerten, weil er sie angerempelt hatte und ließ sich zufrieden schnaufend mir gegenüber nieder.

Eine Schneise der Verwüstung hinter sich herziehend, wäre etwas übertrieben formuliert, doch die Leute die ihm im Weg gesessen hatten, sahen allesamt nicht glücklich aus.

Hob meine Stimmung gewaltig.

Brauchte ich nach meinem Chris-Tief und den Horrorvorstellungen, die mein Hirn sich ausgedacht hatte.

 

„Also?“ Abwartend stierte ich meinen Bruder an, da wir bereits bestellt hatten, er an seinem Kaffee nippte, jedoch noch nicht mit der Sprache herausgerückt war, warum wir eigentlich hier saßen.

„Ich…“

„Ja?!“ Seine dramatischen Pausen kotzten mich an. Wer zum Henker hatte ihm diesen Scheiß beigebracht?

„Hab den Rest der Woche frei und werde ab nächste Woche in der Waltherschen Werkstatt arbeiten.“

Das zufriedene Strahlen, das sich über sein Gesicht legte, ließ ihn Jahre jünger aussehen. Gut vielleicht nicht… Aber jetzt fiel mir auf, dass der Stress der letzten Zeit, wie weggeblasen schien.

Er wirkte ruhiger, entspannter und definitiv zufrieden.

„Schön.“ Ich brach nicht in Jubelgesänge aus, doch er wusste, dass ich mich für ihn freute.

„Ja, nicht?“ Der Bedienung, die unser Eis brachte wurde ein ebenso breites Lächeln geschenkt wie mir und der Frau, die noch immer versuchte Eis und Topping von ihrem Dekolletee zu kratzen –bei ihr war Tommy besonders überschwänglich an den Stuhl gestoßen und hatte ihren XXL-Busen gnadenlos in ihren Eisbecher gedrückt.

„Und rate mal wer auch wieder bei Walther angefangen hat!“, forderte er mich mit Löffel im Mund auf. Sämtliches erlerntes Benehmen wie weggewischt.

„Der Quotentürke…“

„Was… wieso… woher… Wenn du es errätst macht es keinen Spaß.“ Sein Schmollen brachte nun auch mich dazu debil zu grinsen.

„Hab Achmed letztens gesehen. Hat mir erzählt das er zurück ist…“

„Er heißt nicht Achmed. Warum nennst du ihn immer so?“ Das ‚Spielverderber‘, welches ihm offensichtlich auf der Zunge lag, wurde mit dem nächsten Löffel Eis hinuntergeschluckt.

„Weil ich ihn nicht Andreas nenne! Mit Achmed klingt er wenigstens genauso undeutsch wie wir!“ War das nicht klar? Außerdem war das so unser Ding. Er war Achmed und ich war… was auch immer ihm gerade einfiel… Ganz einfach.

Tommy beließ es dabei, verdrehe jedoch die Augen, während er weiter löffelte.

„Habt ihr zwei eigentlich endlich mal ein Date oder stehst du immer noch so auf dem Schlauch, wie letztes Jahr?“

Wohlweislich wählte ich einen Moment, um diese Frage zu stellen, als mein Bruder nichts im Mund hatte, mit dem er mich vollprusten konnte.

„Was?“

Ich ignorierte seinen entsetzten Ausdruck.

„Lad ihn die Woche doch mal zu uns zum Essen ein. Freut ihn bestimmt… Und mich. Es ist witzig zu sehen wie er um dich herum tänzelt und du nichts merkst.“

„Andreas will nichts von mir. Kannst du es bitte einsehen?“

Genervtes Schnauben auf drei, zwei, eins… Danke Nase, perfektes Timing.

„Sicher. Und das tut er auch nicht schon seit ihr zusammen in der Lehre wart. Alles klar.“ Kopfschüttelnd machte ich mich weiter über mein Eis her, das drohte in eklige Suppe zu zerfließen.

„Lad ihn trotzdem ein. Ist ewig her, dass du mal Besuch hattest… und für jemand anderes kochen musstest als mich. Lässt langsam nach.“

„Bitte?“ Empört warf er mit einem Deko-Waffelröllchen nach mir. Den Kommentar zu Achmed –ich blieb dabei, er durfte nicht deutscher klingen als ich!- überging er, wie jedes Mal. Für manche Dinge war er einfach so blind…

Vermutlich dachte er noch er würde ihm einen Gefallen tun, wenn er es ignorierte und sie einfach weiter Freunde blieben…

Ich versuchte gar nicht erst, diesen Gedanken in Tommys Kopf zu korrigieren. Er würde selbst irgendwann sehen, dass Ignoranz keine Lösung war. Zumindest keine Gute.

„Hmm… mach ich dann.“

„Mach es jetzt, sonst drückst du dich.“

Er starrte mich an. Ich starrte zurück.

„Man… ich bin hier der reife Erwachsene. Hör auf mich anzusehen, als wäre ich ein dummes Kind, das irgendwas falsch gemacht hat“, zischte er missmutig, griff dennoch gehorsam nach seinem Telefon und tippte eine Einladung.

Demonstrativ hielt er es mir entgegen, damit ich sehen konnte wie er es abschickte.

„Zufrieden?“

„Nö… Lass uns ins Kino gehen… weil du grad so spendabel bist…“

Er verdrehte die Augen, sagte jedoch nichts gegen meinen Vorschlag.

 

 

Noah

 

Den ganzen morgen schon beschwerte Pascha sich darüber, wie scheiße ich war. Was konnte ich denn bitte dafür, wenn ich schlechte Laune hatte?

Einige würden sagen ‚viel‘. Ich war da aber anderer Meinung.

Meine schlechte Laune hatte nichts mit mir zu tun.

Womit dann?

Tja, wenn ich das wüsste.

„Du musst dir echt mal was zum Vögeln suchen. Ist echt nicht mehr auszuhalten mit dir…“ Kopfschüttelnd krachte Paschas Hand ein paar Mal auf meinen Rücken, ehe er sich verabschiedete und verschwand.

Heute würde er wohl nicht mehr vorbei kommen.

Danke auch.
Was für ein bester Freund…

Murrend machte ich mich auf den Weg zum Auditorium.

Vor mir bildeten die Schüler eine Schneise, wie man es sonst nur im Film sah. War ganz cool, hob meine Laune jedoch auch nicht. Nicht merklich zumindest.

Mit dunklen Haaren und Dreitagebart würde ich Mr.BigBadAlphawolf der beliebten Teenie-Serie abgeben… Oder Grumpy Cat… Kein großer Unterschied.

 

Als ich im Auditorium ankam waren alle anderen schon da –seltener Anblick, ehrlich- und schienen bereits fleißig am Proben zu sein. Zumindest versuchte Jago irgendwas zu diesem… wie hieß er… Leon… Lars… nee Lukas, zu sagen, doch dieser plapperte weiter fröhlich in den Raum hinein und reagierte gar nicht auf den Anderen.

Ja… gehörte definitiv zum Stück. Im echten Leben würde er sich nie so über den Mund fahren lassen…

Dämlicher Arsch…

Felicitas warf mir einen bösen Blick zu, als ich mich knurrend auf einen der Sitze fallen ließ. War eh noch nicht dran, bis Milla floh und durch den Wald irrte… konnte noch dauern.

 

Als ich dann doch auf die Bühne musste, war sämtlicher Elan, den ich heute eh nicht besaß verschwunden. Demnach konnte ich zwar meinen Text aufsagen ohne grobe Fehler dabei zu machen, doch selbst ich merkte, dass jeder Stein mehr Ausdruck hatte als ich.

Immer wieder versuchte Jago mich anzustacheln endlich ordentlich zu spielen. Klappte aber nicht. Sodass er schließlich aufgab und das Beste daraus machte.

Zumindest bis Feli die Faxen dick hatte und die Probe unterbrach.

„Jago… lass die anderen Atem- und Sprechübungen machen. Sie sind eingerostet. Und Noah…“ Böse schaute sie mich an. Versuchte es zumindest. Der Türkisfarbene Kajal um ihre Augen ließ sie jedoch nicht sehr böse dabei aussehen. Eher wie das hilflose Opfer eines Farbunfalls.

„Wir versuchen jetzt etwas an unserem Ausdruck zu ändern, ja?“

Mit wir meinte sie sich mit uns meinte sie mich. Ganz klar. Ärzte redeten auch immer so als wären sie in irgendeiner Weise an einer Krankheit beteiligt…

Nervig!

Dennoch versuchte ich zu lächeln –nicht gerade begeistert- und die ganze Sache so schnell wie möglich hinter mich zu bringen.

Mit Jago zu üben wäre mir echt lieber. Seine Stimme war nicht so nervig schrill, sondern konnte einen richtiggehend einlullen. Wenn man als schon nix verstand konnte man wenigstens mit beruhigenden Klängen abschalten.

„Noah… Noah!“

„Ja?“ Erschrocken fuhr ich zusammen. Seine Stimme funktionierte auch durch pures Vorstellen. Sollte ich mir merken, falls ich mal wieder nicht schlafen konnte.

„Könntest du mit deinen Gedanken in dieser Sphäre hier schweben?“ So wie sie fauchte, war es eindeutig keine Bitte.

Stumm seufzend versuchte ich mich auf sie zu konzentrieren.

Ging nicht lange gut.

Gerade wenn sie einmal zufrieden nickte, da ich irgendwas richtig gemacht hatte –keine Ahnung wie oder was überhaupt, aber immerhin- brach eine gewisse Person hinter mir in Gelächter aus oder sprach eine seiner Textpassagen völlig seltsam oder Atmete einfach, sodass ich es mitbekam.

Es war zum Haare raufen!

„Noah…“ Und wieder mein Name. Diesmal jedoch leise, beinahe verzweifelt klingend. „Was war heute los mit dir? Bisher hast du dich wirklich gesteigert… aber heute…“ Theatralisch seufzte Felicitas, warf mir noch einen unzufriedenen Blick und ein ‚versuch es morgen wieder besser hinzubekommen‘ entgegen, ehe sie sich an die anderen wandte, die noch immer wie verrückte irgendwelche Pferdelaute und Hechelgeräusche von sich gaben.

„Schluss für heute meine Lieben. Morgen steigen wir frisch ein. Dann will ich brillante Ergebnisse sehen!“ Die Rothaarige klatschte ein paar Mal kurz und kräftig in die Hände und war schließlich eine der ersten die verschwand.

 

„Ist irgendwas passiert?“

„Nh…“

„Redest du nicht mit mir?“

„Hm…“

„Hab ich dir irgendwas getan?!“ Wurde ich schließlich angefahren, schaute jedoch nicht auf, sondern warf mir den Rucksack über.

„Nerv jemanden der älter ist als ich. Deinen Freund beispielsweise.“

„Meinen was…?

„Ich bin zu jung für dich. Also lass mich einfach in Ruhe“, fauchte ich den Brünetten ungehalten an und ging auf den Ausgang zu.
Keine Ahnung wo das plötzlich her kam. Im Nachhinein war mir das ganze mehr als nur peinlich.

„Bleib stehen du Arsch! Du wirst mich nicht hier stehen lassen, nachdem du so eine gequirlte Scheiße von dir gegeben hast!“

Egal ob ich wollte oder nicht, der Befehlston fraß sich in meine Knochen und ließ mich in der Bewegung gefrieren.

„Komm her…“ Wieder der Befehlston und wieder hörte ich aufs Wort.

Hatte ich nun nicht nur eine Vagina von Zeit zu Zeit, sondern war auch noch ein gut dressierter Hund?

„Und jetzt: was war das gerade? Das war echt zu hoch für mich.“

Knurren wollte ich –und dann zum Kätzchen mutieren und fauchen- doch der irre Blick, den er mir zuwarf als ich den Mund öffnete, riet mir die Klappe zu halten und gut drüber nachzudenken was ich als nächstes sagen würde.

Gut. Wie er wollte.
Ich atmete tief durch.

Sammelte meine Gedanken.

Und bat ihn höflich mir nicht auf den Sack zu gehen. „Ich hab heute schlechte Laune und echt keinen Nerv für dich. Geh und fall deinem Freund auf den Wecker!“

Ich hatte mir fest vorgenommen mich umzudrehen und davon zu stolzieren. Wie eine dieser Diven im Fernsehen.

Doch da Jago wohl die einzige Diva weit und breit war, wusste er das gekonnt zu vereiteln.

Seine Finger schlossen sich in einem schraubstockartigen Griff um meinen Oberarm –nein nur einen Teil davon, tse- quälend langsam zog er mich daran zurück in meine Ausgangsposition und ließ mich schließlich los. Die Hände sinken lassend, bis die Daumen sich in seine Taschen hakten.

„Ich ignorier deinen Ton einfach mal. Schlechte Laune ist verständlich… Aber … Welcher Freund?“

Wollte der mich für dumm verkaufen?

Meinen Blutdruck auf 180 treiben? Zu spät, da war er schon längst! Und soweit drüber hinaus, dass ich in Großbuchstaben denken wollte! GOTT!

„Der alte Sack mit dem du auf dem Schulhof rumgeschmust hast…“

„A…ha“, machte er knapp, zog die Daumen aus den Taschen und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Warum denkst du, dass das mein Freund war?“

Zähl bis zehn Noah. Zähl bis zehn. Oder besser gleich bis hundert. Der will dich nur zur Weißglut treiben!

„Du hingst an ihm wie ausgekauter Kaugummi. Dir flogen förmlich Herzchen aus den Augen“, knurrte ich ihm entgegen, in der Hoffnung dass es endlich reichte und ich nach Hause durfte. Ich musste mich mit Eiscreme und Co. abreagieren.

„Okay… so absurd und witzig… -und erwähnte ich absurd?- das auch gerade ist… Und ich dich wirklich zu gerne weiter so ausrasten sehen würde… Ich hab beim besten Willen keine Zeit dafür.“ Kopfschüttelnd strich er sich durch die Haare, welche sich heute als Vogelnest tarnten. Hatte nach der letzten Nacht wohl keine Zeit sich hübsch zu machen. Zum kotzen wenn man Leuten ihr Liebesleben ansah!

„Außerdem…“ Er griff nach seiner Tasche, drängte sich an mir vorbei und blieb, mit der Hand am Türknauf, stehen. „…dieser ‚alte Sack‘ ist erstens gerade mal 26…“

Tse, klar. Grade Mal. Du warst noch minderjährig du…

„…und zweitens mein Bruder.“

Aha, sag ich doch … was? Nein warte. Halt. Stopp. Hä?

Wie Bruder, was?

Mir schlief spürbar das Gesicht ein. Bruder. Bruder… Bruder. Wieso verdammt hatte er einen Kack-Bruder? Warum verhielt er sich so mit ihm und weshalb… war mir das nicht ganz einfach scheißegal… es war Jago. Und sein Bruder.

„Oh…“

„Ja, oh. Und das nächste Mal, wenn du eifersüchtig wirst… dann prüf vorher ob es einen Grund zur Eifersucht gibt.“

Klar. Mach ich. Beim nächsten Mal ist jeder schlauer.

Erneut ratterte mein Hirn auf Hochtouren und brauchte dennoch eine Ewigkeit um das Gesagte zu kapieren.

„EIFERSÜCHTIG!? Was zum… Ich bin nicht eifersüchtig! Worauf bitte?“, schrie ich ihm hinterher, als er den zweiten Fuß durch die Tür gesetzt hatte und drohte die Tür hinter sich zu fallen zu lassen.

Vorsichtig schob er den Kopf zurück in mein Blickfeld.

Eine Augenbraue wanderte nach oben, schrie mir fast schon ein „Ganz sicher?“ entgegen, ehe sich ein Grinsen auf sein Gesicht schlich und er sich mit einem „Das solltest DU am besten wissen, Schnucki“ verabschiedete.

Ganz toll echt.

Stand ich wie der Depp vom Dienst alleine hier rum.

Mit schlechter Laune und der Anschuldigung eifersüchtig zu sein.

Pah.

Davon träumte er doch nur.

Wie ein dreijähriger stampfte ich wütend auf, richtete meinen Rucksack und verließ schließlich im Sturmschritt die Schule, nur um meinen Bus vor meiner Nase wegfahren zu sehen.

„Ganz toll…“ Das Wetter wurde, wie meine Laune, immer schlechter, während ich die zwanzig Minuten auf den nächsten Bus wartete.

Grollen hallte durch die Straßen.

Ein anderer Idiot der den Bus verpasst hatte schaute mich schräg an. Nein das Grollen kam nicht von mir und jetzt schau wo anders hin.

Er brauchte ein paar Sekunden, um meinen gedanklichen Befehl auszuführen.

Ging doch.

Als der erste Tropfen fiel, mir regelrecht bösartig auf die Stirn klatschte, war ich froh den Bus an der Ecke zu sehen. Einen weiteren Tritt hätte der Mülleiner zu meiner Rechten nicht ausgehalten.

 

Die Busfahrt blendete ich lieber aus.

Ich hasste Busfahren ja schon immer, doch heute war es besonders schlimm. Als hätten alle Leute meine Laune im Voraus geahnt und sich deshalb vorgenommen besonders bescheuert zu sein.

Selbst der kurze Fußmarsch von der Bushaltestelle nach Hause stellte sich als Arschloch heraus. Sämtliche Steine stellten sich mir in den Weg. Irgendwer hatte seine dämliche Fußhupe frei laufen lassen welche mich die ganze Zeit kläffend verfolgte, jedoch zu klein war um zum Beißen anzusetzen. Diverse Vögel starteten einen Angriff auf mich. Alles zum Verrückt werden.

Manche würden jetzt vielleicht sagen ich übertrieb… Die waren aber auch nicht dabei. Also Ruhe….

 

„Hallo?“ Keine Reaktion.

In der Küche ließ ich meinen Rucksack auf einen der Stühle fallen und entdeckte einen grässlich rosafarbenen Zettel auf meinem Platz.

„Komm heute später. Das Büro hat angerufen. Heute ist stress“

Bah. Großartig. Durfte ich alleine kochen.

Backofen und Mikrowelle waren leer, was meine Vermutung bestätigte.

Heute war echt alles gegen mich. Es war zum Schreien.

Hätte ich nicht solche Hemmungen und die Befürchtung dass einer der Nachbarn die Polizei rufen würde, wäre das vielleicht auch meine nächste Handlung. So aber bewaffnete ich mich mit der Eispackung meiner Mutter und verzog mich damit auf mein Zimmer.

Auf halbem Weg die Treppe nach oben fragte ich mich, ob der große Löffel reichen würde oder ob ich doch nach der Suppenkelle hätte greifen sollen.

„Scheiß Theaterbubi… färbt auf dich ab…“, murmelte ich mir selbst zu als ich im Flur am Spiegel vorbei ging und mir genervt die Zunge rausstreckte.

 

Die Packung Eiscreme besserte meine Laune erheblich, auch wenn ich ahnte, dass mir das Zeug in spätestens einer Stunde auf den Magen schlagen würde, wenn ich Pech hatte.

Anders als heute Morgen (und Mittag und gestern Abend) war ich gelassen, ruhig. Die Gedanken ausgeglichen. Wer brauchte schon Joga, wenn er Eis hatte?

„Aber mal ehrlich, warum hattest du schlechte Laune?“

Mir war bewusst, dass es mehr als nur seltsam war mit sich selbst zu sprechen, doch mir half es mit mir selbst klar zu kommen.

Zumindest wenn keiner in der Nähe war, der es hätte mitbekommen können. Eine Überweisung zu Mamas Lieblingspsychoheini musste ich nicht auch noch kriegen.

„Keine Ahnung…“ Ich seufzte, starrte an die Decke und überlegte wann das ganze angefangen hatte.

Gestern. In der Schule. Definitiv. Meine Mutter hatte mich zuhause schon wegen meiner Laune ausgequetscht.

War es meine letzte Stunde? Nein, Kunst war ok. Hatte zwar null Talent, doch die Lehrerin drückte ganz gerne einmal, bei so talentfreien Nieten wie mir, ein Auge zu. Vielleicht weil ich Paschas bester Freund war und der wiederum ihr bester Schüler?

Nein, an Kunst lag es nicht.

Sollte es wirklich an Jago und seinem F… Bruder liegen? (Ich kaufte ihm das „Bruder“ nicht ab. Ernsthaft. Wie soll einer so riesig sein und der andere so… Jago halt? Außer einer war adoptiert…)

Schwachsinn… dann hätte der Blödmann recht. Und ich war nicht eifersüchtig. Nie. Na gut… manchmal… Aber doch nicht wegen ihm.

Und was wenn doch? Was wenn ich wirklich eifersüchtig wäre? Dann wäre ich ja schwul. Nein…

Panisch setzte ich mich auf und zerdrückte dabei eines meiner Kopfkissen zwischen den Fingern.

Aber Gott, was wenn ich doch auf Kerle stehe? Mein Leben ist vorbei! Ich müsste von der Schule abgehen. Pascha würde nie mehr ein Wort mit mir reden, meine Mutter würde mich enterben, mein Vater mich auf die Militärschule schicken (na vielleicht doch nicht, zu viele Kerle die mir gefallen könnten). Ich würde einsam und allein und ohne Arbeit sein, da ich die Schule schmeißen und keine Arbeit kriegen würde. Ich wäre die männliche Katzenlady. Nur meine 100 Katzen würden mich lieben… und mich vermutlich bei lebendigem Leibe auffressen, da ich mir kein Katzenfutter leisten kann aber…

Gott, Noah schalt die Vagina aus. Und deine übersprudelnde Fantasie… (Da sollte mein Deutschlehrer nochmal sagen ich wäre nicht kreativ!)

Du bist nicht schwul. Ganz einfach. Und wenn doch wäre es kein Weltuntergang. Schwul sein ist normal. Es ist kein Verbrechen. Es gehört sogar essenziell du Monicas Wahlprogramm!

Da, alles prima. In schwul wäre ich der perfekte Stiefsohn für sie.

Seufzend lehnte ich mich zurück, strich das malträtierte Kissen glatt und versuchte logisch zu denken.

„Denk rational, Noah. Hast du schon jemals Interesse an Männern gezeigt?“

Außer an diesem einen Model, dass sich im Nachhinein als Transgender geoutet und zur Frau hat um operieren lassen?

Nein nicht wirklich. Er… Sie, war aber auch verdammt niedlich. Hilft aber auch nicht weiter. Wenn überhaupt verwirrte es mich. Stand ich nun auf ihn vor dem Outing oder auf sie danach?

Verdammt! Vergiss das Model und denk weiter nach.

Standest du jemals irgendwie auf Kerle?

….

„Nein… immer noch… Nein. Aber es muss doch einen Grund für das Ganze geben…“

Vielleicht erinnerte ich mich nur nicht korrekt.

Vielleicht stand ich ja total auf Kerle und ging deshalb immer als letzter in der Schule duschen. Vielleicht sponn sich mein Gehirn den Ekel vor diesen Idioten nur zusammen, da es insgeheim richtig scharf auf die Typen war und ich sie nie würde haben können…

Ok. Ich übertrieb schon wieder… Eindeutig. Aber die aus meinem Sportkurs waren vielleicht auch nicht geeignet um festzustellen ob man auf das eigene Geschlecht steht.

Doch wie fand man so etwas dann raus?

Rausgehen und wildfremde Kerle abknutschen? Zu einer dieser Gay-Partys gehen?

… Erstens Eklig und zweitens zu langwierig. Ich musste es schnell herausfinden. Am besten sofort!

„Warum komm ich nicht gleich drauf?“ Über mich selbst die Augen rollend schwang ich mich aus dem Bett, warf mich an meinem Schreibtisch vor den Computer und wartete gefühlte Stunden bis dieser hochgefahren und das Internet geöffnet hatte.

Voller Elan flogen meine Finger über die Tasten. Kitzelten aus der allseits beliebten Suchmaschine ein paar einschlägige Seiten hervor und fingen schließlich an zu zittern.

Scheiße.

Was machte ich da?

Ich konnte doch nicht…

Ertappt schaute ich mich um. Vermutete, dass meine Mutter kopfschüttelnd in der Tür steht. Doch ich war alleine. Und würde es noch eine ganze Weile bleiben.

„Du hast alle Zeit der Welt. Keiner kommt vorbei und die Nachbarn können nicht in dein Zimmer spannen“, beruhigte ich mich selbst soweit, dass ich endlich einen der zillionen Links anklicken konnte und…

Mich fragte ob ich tatsächlich weiter machen sollte.

Dürre Bubis die mit alten Säcken zu Gange waren….?

Nein Danke…

Lang und dürr mit lang und dürr. Alt mit Alt. Alle zusammen und keiner so wirklich ansehnlich…

Zurück zur Suchmaschine und einen anderen Link nehmen.

Der sah nicht viel besser aus, doch immerhin schreckten mich hier nicht alle der Titel und/oder Vorschaubilder ab.

Todesmutig klickte ich auf einen Videolink, dessen Titel ich nicht lesen konnte, da ich nie Russisch gelernt hatte. Ein relativ nichtssagendes Gesicht blickte mir auf dem Standbild entgegen.

Der würde gehen. Durchschnitt. Nichts Besonderes… Gut hier vielleicht schon, da mir nicht zuerst sein Arsch und/oder Schwanz präsentiert wurde.

 

Schreie halten durch mein Zimmer und ich hoffte, keiner der Nachbarn würde die Polizei rufen.

In schockstarre versetzt schaffte ich es weder, das Video auszuschalten –wie konnte ein harmlos aussehender Kerl nur so etwas tun?!- noch den Ton leiser zu stellen.

Erst als die Viertelstunde Schrecken vorüber war und das Video zurück zum Anfang ploppte und darauf wartete erneut abgespielt zu werden schaffte ich es den Link zu schließen und durchzuatmen.

„Das war wohl nichts… vielleicht doch ein Video mit einem obszönen Bild nehmen… da weiß man wenigstens was kommt…“

Keine Ahnung ob ich einfach nur bescheuert war oder wirklich die Hoffnung hatte, dass es nicht schlimmer kommen konnte.

Nur zur Info… es kam schlimmer. Wieder. Und wieder. Und wieder.

Nach einer Stunde der Tortur gab ich auf, lehnte mich im Drehstuhl zurück und zog den Bund meiner Jogginghose mit dem Daumen ein Stück nach vorne.

„Regt sich kein Stück“, stellte ich trocken fest, als ich meine untere Hälfte so betrachtete und insgeheim froh war, dass mir vor Schreck abgefallen nichts oder eingeschrumpelt war.

„Dann stehst du wohl doch auf Frauen… oder?“

Ich konnte mich nicht wirklich dran erinnern jemals irgendwas an irgendeiner Frau interessant gefunden zu haben…

„Wenn ich einmal dabei bin…“ Schulterzuckend schaute ich zur Uhr, stellte fest dass noch genug Zeit war und begab mich erneut mit der Suchmaschine auf die Pirsch.

 

Leider wirkten HotCassy und Co nicht weniger abschreckend, als die Kerle zuvor.

Erneut schaute in an mir herunter.

Wenn ich nicht wüsste, dass er heute Morgen noch funktionstüchtig war, würde ich ihn für kaputt halten.

Vielleicht fand er weibliche Genitalien jedoch auch einfach nur so abschreckend wie ich? Da soll ich rausgekommen sein? Das Ding sah eher aus als würde es jeden Moment rasiermesserscharfe Zähne ausfahren und jeden Eindringling fressen können.

Die Ausgeburt eines Horrorfilms!

Schaudernd löschte ich meinen Browserverlauf –nur falls meine Mutter sich doch einmal an meinen PC verlaufen sollte- und fuhr das Gerät herunter.

War sehr aufschlussreich meine Suche.

Entweder gab es ein drittes Geschlecht, dass ich noch nicht kannte, auf das ich jedoch stand oder ich stand einfach auf gar nichts.

 

„Vielleicht hättest du es aber auch doch nur anders recherchieren sollen?“ Gackernd ließ Pascha sich auf mein Bett fallen.

Die vergebliche Suche schien einen Impuls in mir ausgelöst zu haben, diesen Idioten anzurufen, ihn herzubitten und ihm den ganzen Schlamassel zu erzählen.

Dümmste Idee aller Zeiten. Direkt nach der Suche selbst.

„Bist du fertig?“

„Gleich…“

Missmutig ließ ich mich neben ihn auf mein Bett fallen und wartete, bis er aufhörte mich auszulachen.

Ein paar tiefe Atemzüge, ein ernstes Gesicht und schon war er ruhig und schaute mich durchdringend an.

„Also… du stehst auf nichts… Ja?“ Er wartete mein Nicken-Schulterzucken-Handgewedel ab, ehe er weiter redete.

„Aber das Ding funktioniert, oder?“

„Ja…“, murrte ich genervt und schob demonstrativ ein Kissen auf meinen Schoß. Sein Blick ätzte förmlich die Hose weg. Und auch wenn er bereits alles an mir gesehen hatte… jetzt musste er es nicht!

„Okay… An was denkst du dann bitte wenn du dir einen runterholst?“ Er schien mit seinem Latein am Ende zu sein. Falls er so was überhaupt einmal besessen hatte. Konnte man Latein besitzen?

Egal. Ich sollte auf ihn reagieren, sonst wiederholte er die Frage noch und das machte sie auch nicht besser.

„Weiß nicht. Nichts?“

Ich versuchte wirklich mich an heute Morgen zu erinnern… oder gestern Abend. Oder die paar Mal am Dienstag –ich bin 18 verdammt ich darf das!- und stellte fest: ich konnte mich nicht dran erinnern woran ich gedacht hatte. Entweder litt ich an Alzheimer oder ich hatte Recht und ich war asexueller als jeder Stein.

Moment: konnte man asexuell sein und trotzdem drei Mal am Tag das Bedürfnis haben an sich selbst rumspielen zu müssen? Sollte ich vielleicht auch mal recherchieren.

„Geht das überhaupt?“ Kopfschüttelnd musterte Pascha mich, begann dann jedoch zu grinsen.

Nicht gut. Nein gar nicht gut. Warum hatte ich ihn gleich nochmal herbeordert anstatt einsam vor mich hinzuleiden?

„Vielleicht sollten wir rummachen und gucken ob sich dann bei dir was tut…“

„Eklig!“ Unsanft schlug ich ihm gegen die Schulter. Ächzend versuchte er das Gleichgewicht zu halten und nicht aus dem Bett zu purzeln. „Für so was kenn ich dich echt zu lange…“

Abwehrend hob er die Hände und suchte sich eine Position in der ich ihn nicht vom Bett stoßen konnte wenn es sein musste.

„Dann halt nicht…“ Die Augen verdrehend fischte er sich sein Telefon aus der Hosentasche und tippte vor sich hin ohne mich weiter zu beachten. Zumindest glaubte ich das und wähnte mich in Sicherheit, bis er mir erneut grinsend das Handy entgegen streckte.
„Und was ist hiermit?“ Abwartend drückte er mir das Gerät noch immer fast ins Gesicht. Ich traute mich eigentlich nicht so recht zu schauen. Ich ahnte nichts Gutes.

Dennoch nahm ich ihm das Telefon aus den Fingern und riskierte einen Blick.

 

Wie in Zeitlupe konnte ich Hitze meinen Hals hinauf und über meine Wangen kriechen spüren.

„Was zum…“

Starrte ich das Bild an? Ja…

War es genauso schrecklich wie die anderen Erlebnisse des heutigen Tages?

…irgendwie… nicht…

„Wie… dürfen die das überhaupt… geht das… was?“

Automatisch legte ich den Kopf schief. Vielleicht aus einem anderen Blickwinkel.

„Und?“ Abwartend legte Pascha mir den Kopf auf die Schultern, musterte erst mein Profil, dann das Bild äußerst zufrieden.

Bärte waren nicht meins… aber das… ja… nein… doch… ich… tat das nicht weh?

„Das ist…“, setzte ich an, wusste jedoch immer noch nicht, was genau ich davon halten sollte.

„…heiß?“, schlug mein bunthaariger Freund vor und zu allem Überfluss schien ihm meine untere Hälfte zuzustimmen.

Ganz klasse. Jetzt reagierst du mieser Verräter… Hätte das vorhin nicht funktionieren können? Du wolltest doch nur das Pascha in diese peinliche Situation hineingezogen wird und sie noch peinlicher macht!

„…verstörend… Warum hast du so was?“ Ich konnte wenigstens versuchen das Ganze zu überspielen und ein bisschen meiner Würde zu behalten.

„Ach…“ Er zuckte die Schultern, grinste jedoch noch immer vor sich hin. „Man weiß ja nie wann man so was braucht. Oder?“

Er wartete nicht auf eine Reaktion meinerseits, sondern schaute zur Uhr und erhob sich ächzend. „Sollte langsam wieder los. Ma killt mich wenn ich ihr das Auto zu spät zurück bringe. Außerdem kocht sie heute mein Lieblingsessen… kann ich nicht verpassen.“

Ohne große Verabschiedung ließ er mich alleine in meinem Zimmer zurück. Alleine mit meinen Gedanken.

Alleine mit meinem Telefon, dass keine fünf Minuten später ein unheilvolles fiepen von sich gab und eine Nachricht ankündigte.

Wollte ich wirklich…?

Augen zu und durch.

Zum zweiten Mal heute todesmutig, öffnete ich die Nachricht und starrte dem Bild von eben entgegen.

Pascha du….

Mein Hirn konnte nicht mal mehr das ‚Arsch‘ produzieren, welches ich denken wollte, sondern fixierte sich auf dieses Bild.

Erneut kroch mir Hitze ins Gesicht, doch ich schaffte es nicht wegzusehen. Das war…

…wie ein Verkehrsunfall. Man wollte es nicht sehen, wegschauen schaffte man aber auch nicht.

Details wabberten langsam aber sicher in mein überhitztes Hirn.

Dunkle Haare, helle Haut mit vorwitzigen kleinen Leberflecken besprenkelt, den Blick zum anderen gerichtet und ein Arsch mit dem man Paranüsse knacken konnte…

„Scheiße!“

Ächzend segelte mein Telefon ans Bettende.

„Warum? Das geht doch nicht…“ Missmutig starrte ich auf das Zelt in meiner Hose.

„Kacke… verdammt…“ Ich vergrub das Gesicht unter meinem Arm und hoffte, dass wenn ich die Augen wieder öffnete, dieser blöde Witz endlich vorbei wäre und ich feststellte, dass es alles nur Einbildung war.

 

 

 

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Sorry... eine Woche zu spät und nur 2 Perspektiven anstatt 4...

...Das Kapitel hat mich gekillt...

Gerade hasse ich Noah so sehr... glaubt mir keiner...

 

Kapitel 9

 

Jacek

 

Die Probe am nächsten Tag verlief wesentlich besser. Noch immer stand Noah unter Felis Fuchtel, doch er schien sich nicht im Geringsten so dumm anzustellen wie noch am Vortag.

Lukas ratterte neben mir seinen Text herunter. Ohne wirklich darauf zu achten warf ich meine Satzfetzen ein und ließ ihn schließlich weiter ellenlange Monologe halten. Mein Blick schweifte unterdessen immer wieder auf die andere Seite der Bühne.

 

Eine halbe Stunde später knöpfte Felicitas sich einen der anderen Jungs vor und übergab den Blonden im meine Obhut.

„Geht’s dir heute besser?“

Widerwillig brummte er, nickte schließlich jedoch und brachte in den nächsten 20 Minuten ein paar ordentliche Emotionen zustande. Keine guten… aber annehmbare. Für den Moment.

„Eine Szene oder zwei können wir denk ich noch.“

Für mehr würde die Zeit zu knapp.

Wieder nickte er nur.

Langsam ging mir das auf den Zeiger. Da war seine peinliche Eifersuchtsattacke gestern fast schon angenehmer…

„Welche willst du?“

Schulterzucken.

Ich verkniff mir ein genervtes Stöhnen, zählte innerlich bis zehn und gab schließlich den Einsatz vor.

 

„Komm schon… nicht so steif…“ brumme ich, die Stirn an Noahs Schulter gelegt und auf das Ende seines Monologes wartend. Kurz durchzuckte mich der Gedanke, was genau Felicitas an Monologen so toll fand. Jede beschissene Rolle hatte mindestens drei davon! Aber zurück zur Steinmauer vor mir.

„Du sollst mir allein durch Körperhaltung und schmachtende Blicke deine ewige Liebe kundtun, während du vor dich hin palaverst warum du überhaupt nicht gut für mich wärst… Also… werd locker. Mauern und Stahlpfeiler können keine Liebe ausdrücken.“

Anstatt sich zu entspannen huschte sein Blick beinahe panisch von mir zu einem Punkt an der Decke, zurück zu mir, zur Tür, zu mir, zu seinen Füßen -… Gott mir wurde grade etwas schlecht glaube ich- während seine Haltung wenn möglich noch etwas verkrampfter wurde und sämtliche Muskeln und Sehnen in seinem Körper drohten vor Überspannung zu zerreißen.

Ich war kurz davor zu fragen was bitte mit ihm los war –so eine verkrampfte Haltung und Gesichtsstarre hatte ich das letzte Mal gesehen als wir zur Weihnachtsfeier von Tomasz‘ ehemaliger Werkstatt waren und er urplötzlich von einem schweren Magen-Darm-Virus heimgesucht wurde und versucht hatte sich nichts anmerken zu lassen- als Felicitas uns zu sich rief, zufrieden mit unserer heutigen Probe nickte und ankündigte, dass wir nächsten Donnerstag alle zusammen das Stück zum ersten Mal vollständig von vorn bis hinten durchspielen würden.

„Ich wünsche euch ein schönes Wo…“, setzte die Rothaarige an die Probe zu schließen, als Noah auch schon von der Bühne sprang, sich seinen Rucksack schnappte und beim hinausrasen eine Staubwolke à la Roadrunner hinterließ. „…chenende. Was war denn mit dem los?“

Ungläubig blinzelnd starte Feli auf die zufallende Tür.

Dieser Abgang schien für plötzlich einsetzenden Durchfall zu sprechen…

Gott… nur nicht drüber nachdenken. Selbst attraktive Kerle mit Durchfall waren mehr als nur unattraktiv…

Kopfschüttelnd –und alle ekelerregenden Gedanken an Verdauungsstörungen beiseite schiebend- verabschiedete ich mich von der Leiterin und den Jungs, ehe ich gemächlich zum Bus schlenderte.

An der Haltestelle angekommen zwängte ich mich durch vereinzelte Schülergrüppchen, ehe ich neben einem bekannten Kopf mit heute lilafarbenen Haaren innehalte.

„Hat sich deine Schwester für irgendwas rächen wollen?“ Fragend nickte ich in Richtung seiner Haare.

Schulterzucken.

Pascha würde abstreiten, dass seine Schwester sich je an ihm rächte. Wenn man ihn fragte, war alles seine Idee gewesen. Er wollte die Farbe und er stand dazu…

Wer es glaubt.

„Weißt du warum Noah so einen hastigen Abgang hingelegt hat?“

„Das Roadrunner-mäßige gerade eben?“ Er grinste mich breit an. „Unausgeglichene Hormone… schätze ich…“

„Ah…“ Vielleicht war mir die Durchfallausrede doch lieber…

Noch immer grinsend hielt er mir sein Telefon unter die Nase.

…oder doch nicht…

„Nett… Du hast meine Nummer, ja?“

Kurz darauf piepte mein Telefon und kündigte ein eingehendes Bild an.

 

Noah

 

Meine Flucht wurde nur durch die ewig dauernde Busfahrt ausgebremst. Dafür holte ich die verlorene Zeit auf dem Weg von der Bushaltestelle in mein Zimmer locker wieder rein. Fragende Blicke meiner Mutter inklusive.

 

Das durfte doch echt nicht wahr sein. Unsanft warf ich meinen Rucksack in die Ecke und tigerte von einer Ecke meines Zimmers in die andere. Pascha war an allem Schuld. Er und dieses dämliche Bild. Und Jago.

Ernsthaft! Warum sah der auch fast so aus wie der Typ auf diesem Kack-Bild? Das konnte einen doch nur kirre machen.

Verdammt!

Das durfte alles echt nicht wahr sein.

Warum warf mich das ganze aus der Bahn? Da war nichts. Das Bild dürfte nicht so was mit mir anstellen können. Auf andere Kerle reagierte ich schließlich auch nicht.

„Noah? Was hast du mein Schatz?“ Die Stimme meiner Mutter ließ mich zusammenzucken und beinahe schon schuldbewusst auf sehen.

Hatte sie mich denken gehört?

„Nichts ich…“

„Ach komm mir nicht so. Irgendwas hast du doch.“ Ihre Hand lag federleicht auf meinem Arm, trotzdem drückte mich das Gewicht auf mein Bett hinab als wöge es eine Tonne.

„Ich bin… durcheinander. Das ganze macht mich noch wahnsinnig“, murmelte ich vage.

„Neues kann stressig und verwirrend sein. Find einfach etwas um deinen neuen Alltag mit Theater-AG und co. auszugleichen.“

Klar. Sie dachte an meine Strafe. Woran sonst. Reg dich ab Noah…

„Da ich hier festsitze, kann ich nicht ausgleichen…“ leise murrend fügte ich hinzu, dass ein weiterer Nebeneffekt das verkümmern meiner Muskeln wäre, die ich zurzeit schändlichst vernachlässigte.

Ich spürte meine Mutter neben mir beinahe bröckeln.

„Gut… Du darfst ins Studio.“ Bevor ich in Jubel ausbrechen konnte hob sie die Hand und verkündete das große ‚aber‘. „Nur wenn ich es dir ausdrücklich erlaube. Und du bist spätestens um 22 Uhr zuhause. Eine Minute später und du kannst dich sowohl von dieser Lockerung der Strafe, als auch vom heutigen Abendessen verabschieden. Bist du pünktlich stell ich dir falschen Hasen und Kartoffeln in die Mikrowelle.“

Sacht tätschelte sie mir die Schulter. Dann verließ sie mit einem nachdrücklichen „Punkt 22 Uhr“ mein Zimmer.

 

Hastig packte ich Sportsachen und Duschzeug in die Sporttasche, stürzte die Treppe hinunter und beeilte mich den nächsten Bus ins Stadtzentrum zu erwischen.

Die quengelnden Kinder und genervten Mütter, die mit mir im Bus saßen, rauschten praktisch an mir vorbei. Erst, als die Ansage meiner Haltestelle erklang, drängte sich beides in mein Bewusstsein. Ehe ich deswegen schlechte Laune kriegen konnte, sprang ich aus dem Bus, hastete die 500 Meter bis zum Studio und war noch nie so froh die nervige Tratschtante hinterm Empfangstresen zu sehen.

„Noah, lange nicht gesehen…“

Ihr laszives Zwinkern quittierte ich mit einem knappen ‚Lena‘ ehe ich an ihr vorbei stürmte.

Im Umkleideraum kam ich zur Ruhe. Zog mich fast bedächtig um und ignorierte die wenigen Anwesend.

 

Erst als sämtliche Muskeln in meinem Körper brannten, die Atemluft sich wie Feuer anfühlte und meine Gedanken nicht mehr Achterbahn fuhren, schaltete ich einen Gang zurück. Trotz der langen Abstinenz stellte sich die Routine schnell ein. Wie von selbst machte mein Körper die Übungen. Sodass ich Zeit hatte mich umzusehen. Einige bekannte Gesichter, viele die ich noch nie gesehen oder für voll genommen hatte.

Daniel, einer der Trainer, am anderen Ende des Studios, einem Spargeltarzan Hilfestellung gebend. Breite Schultern, braun gebrannt. Sah definitiv gut aus… Nur nicht so gut, dass sich meine Gedanken ständig um ihn drehen würden.

Spargeltarzan mit schlabberigen kurzen Shorts, bei denen ich lieber nicht zu genau hinsehen wollte. Wer wusste schon was da so alles raushängen konnte wenn er nicht aufpasste. Definitiv: Urgh.

Carlo, weit über die vierzig, der Hanteln stemmen konnte die gefühlt dreimal schwerer waren als ich. Kein Gramm Fett am Körper, pure Muskelmasse und Willenskraft. Sah gut aus…

Nichts…

Der daneben. Leichter Bauchansatz, gute Oberarme.

Nichts.

Ich beendete die Übung. Durchatmen. Trinken. Lockern. Dann ging es weiter zum nächsten Gerät. Langsam anfangen. Nur nicht überanstrengen.

Brennen in den Beinen. Tief durchatmen.

Eins, drücken, zwei, halten, vier, fünf, sechs, sieben, acht, locker lassen, neun, zurück, zehn, Atmen. Wiederholen. Immer wieder.

Lange Haare, Bart. Knapp älter als ich. Vermutlich neu. Wirkte absolut unsportlich.

Auch nichts.

Der Kerl der aussah wie einer dieser Profischwimmer im Fernsehen.

Nichts…

Melanie aus dem Spinningkurs –den ich nie wieder besuchen würde!. Sie hatte sich die Haare geschnitten seit dem letzten Mal.

Aber auch hier nichts.

Nichts.

Gerätewechsel.
Pause.

Nichts.

Nein…

Rein gar nichts…

Zwei Stunden später und nichts bestätigte meine Befürchtung.

Vielleicht hatte mich ein 72 Stunden Virus heimgesucht. Das musste es sein. Warum sonst hätte ich eifersüchtig und so extrem auf dieses Bild reagieren sollen? Tse.

Hätte ich das vorher mal gewusst. Und da dachte ich, ich könnte schwul sein. Im Leben nicht. Zwischen all den durchtrainierten, verschwitzten und gutaussehenden Kerlen müsste sich doch irgendwas regen wenn ich schwul wäre. Doch da war… nichts. Nada. Außer ein Zerren in meiner Schulter, das mich aus meinen Gedanken riss.

Shit.

Wie ein blutiger Anfänger hatte ich mich nach zu langer Auszeit übernommen. Wenn ich Glück hatte würde eine heiße Dusche, das Massagekissen meiner Mutter und eine gute Ladung Pferdesalbe dafür sorgen, dass ich übermorgen davon nichts mehr merkte.

 

Ein müdes Ächzen unterdrückend –ich glaubte ein paar Gelenke in meinem Körper knackten ungesund als ich mich erhob- schlich ich zurück zu den Umkleidekabinen. Nur zwei andere Männer wuselten halb nackt herum und ignorierten wie ich ungeschickt die Klamotten von mir pellte und durch die Tür nach nebenan zum Duschen verschwand.

Wasserrauschen.

War nie gut. Ich hasste Gemeinschaftsduschen.

Doch nun hieß es: Augen zu und durch oder während der ganzen Fahrt nach Hause stinken.

Unauffällig atmete ich durch und versuchte, unter Scheuklappen-Blick, mich unter den Duschkopf zu stellen, der am weitesten von dem anderen Duschenden weg war. Sicher war sicher.

Wovor auch immer ich sicher sein wollte.

Wirklich heiß wurde das Wasser hier nie, weshalb ich mich beeilte, mich so gut es ging einzuseifen und fertig zu werden.

Mein Nacken kribbelte unangenehm, als sich die Haare dort aufstellten. Ich hasste es beim Duschen beobachtet zu werden. Dennoch sagte ich nichts, sondern drehte das laue Wasser ab, tastete nach meinem Handtuch und hielt die Augen auf Kniehöhe.

Regel Nummer eins in der Männer-Umkleidekabine/Dusche: Schau woanders hin! Nummer zwei: Klappe halten! Nummer drei, falls ein Arsch sich nicht an die ersten beiden hielt: Ignorieren.

 

Zurück am Spind warf ich das feuchte Handtuch achtlos in die Sporttasche und kramte nach meinen sauberen Sachen.

War vermutlich ein falscher Fehler es in dieser Reihenfolge zu tun.

Ich hatte mir die Hose noch nicht ganz über den Hintern gezogen, als das Nackenkribbeln wieder losging.

Ignorier es.

Ignorier. Es.

Das geht wieder weg.

Ignorier es.

Doch es ging nicht weg.

Entweder funktionierte mein ‚du-wirst-unheimlich-angestarrt‘-Detektor nicht mehr oder irgendein Arsch hielt sich nicht an einfache drei Regeln.

Genervt hob ich den Blick von meinen Schuhen. Wollte böse zurückstarren. Ihm irgendwas unschönes an den Kopf werfen…

Leider blieb das alles irgendwo auf der Strecke zurück, als mein Blick auf den Typen aus der Dusche fiel, noch immer tropfnass, ohne Handtuch und mich eindeutig angrinsend.

Ach quatsch. Der grinste nicht. War vielleicht sein normaler Gesichtsausdruck. Soll es ja auch geben.

Die aufkeimende Panik in meinem Bauch hatte sich fast schon zurückgezogen und mein Kopf mich als paranoid abgestempelt, als der Kerl mir tatsächlich zuzwinkerte.

Verzweifeltes Auflachen? Check.

Unkoordiniert ins Shirt schlüpfen und die Tasche schnappen ohne drauf zu achten ob alles drin und sie zu ist? Check.

Fluchtartig die Kabine verlassen und dabei fast über die ungeschnürten Schuhe fallen? Check.

Lenas Stimme die sich erhob um mir ein Gespräch aufzudrängeln zog an mir vorbei, ohne das ich hätte ausmachen können was genau sie gesagt hatte.

Raus. Raus. Raus.

Nur weg. Schrie es so laut, dass mir beinahe die Ohren klingelten. Trotz dass es nur imaginäre Stimmchen waren die mir entgegen brüllten.

 

Nach Atem ringend kam ich in der Straßenbahn zum Stehen. Die Türen schlossen sich hinter mir, sperrten den Straßenlärm aus.

Ich hasste Straßenbahn fahren. Fast noch mehr als Busfahren. Doch auf den Bus hätte ich noch 15 Minuten warten müssen.

Nun fuhr ich einen Umweg der mich mehr als das kosten würde, gefolgt von einem Fußmarsch der ebenfalls länger wäre als die Wartezeit.

Nur weg. Nur weg. Ja… nur weg. Die Zeit müsste ich in Kauf nehmen wenn das ‚weg‘ so schnell wie möglich passieren sollte.

Ächzend warf ich mich auf einen freien Platz, ignorierte den Blick der Omi mir gegenüber und schaffte es endlich Atmung und Puls aus der Gefahrenzone zu bringen.

 

Nach zwanzig Minuten des aus-dem-Fenster-starrens und Menschen-ignorierens kam ich mir plötzlich blöd vor. Wer rannte bitte weg, nur weil er angeschaut wurde. Der Kerl hatte bestimmt auch nicht gezwinkert. Alles nur ein Hirngespinst. Und ich hatte mich zum Vollidioten gemacht… Das beschissenste an der Situation? Seinem Alter und dem vermeintlich gruseligen Verhaltens zum Trotz war er irgendwie der einzige im Studio der meiner Meinung nach gut aussah… Also gut-gut…

Verdammt!

Murrend ließ ich den Kopf gegen die Scheibe knallen und hoffte der Boden würde sich auftun und mich fressen… oder wenigstens das die Scheibe so hart wäre, dass sie mir die Gedanken aus dem Kopf schlagen konnte…

 

 

Jacek

 

Die Schnepfe über uns schien sich in den Kopf gesetzt zu haben mich wahnsinnig machen zu wollen. Mit einem halb geöffneten Auge schielte ich zum Wecker.

Definitiv…. Die Frau wollte mich in den Wahnsinn treiben. Oder sie selbst war einfach so krank, dass sie es für normal empfand an einem Samstag um 6:19 Uhr in solch einer Weise Gymnastik/Aerobic/mir-egal-was zu machen, dass es sich anhörte, als wollte sie unsre Decke zum Einsturz bringen.

„Eeeeeeeh!“ Weinerlich schrie ich in mein Kissen, mit welchem ich versuchte die Geräusche auszublenden oder wahlweise auch nach oben zu schleichen und sie zu ersticken.

 

Das Kissen leistete so einen miesen Job die Geräusche von mir fern zu halten, dass ich befürchtete ein Erstickungsversuch würde genauso scheitern. Weshalb ich kurz nach halb sieben beschloss aus dem Bett zu kriechen und mir stattdessen einen faulen Morgen auf der Couch zu machen, bis Tommy von Frühschicht kommen würde.

Leider wurde aus dem Plan nichts.

Gerade als ich mit dem Kopf im Kühlschrank hing um mir irgendwas zum Frühstück zu machen, schrillte mein Telefon und kündigte eine Nachricht an.

>Mittagessen. Andreas. Kühlschrank leer. Geh einkaufen. Geld im Schrank<

Wer konnte seinem Wortgewandten Bruder schon so eine Bitte abschlagen?

Außerdem war der Kühlschrank wirklich leer… zumindest nachdem ich den Jogurt nun doch endlich weggeworfen hatte. Der Deckel wölbte sich schon gefährlich stramm nach oben… Ehe es noch explodieren konnte… Sicher war sicher.

>Ok<, antwortete ich schlicht, ohne zu fragen was er kochen will, und schlurfte ins Bad. Ich wollte wenigstens geduscht zum Einkaufen gehen, wenn ich schon nicht ausgeschlafen war…

 

Eine halbe Stunde später, frisch geduscht und minimal wacher, schlich ich durch die Gänge des Supermarktes. Packte ohne groß zu überlegen einige Sachen ein und hoffte einfach dafür, dass Tommy daraus etwas zaubern konnte.

An der Kasse packte ich eine Tüte Gummibärchen dazu. Wollte schließlich nicht verhungern bis zum Mittag.

Vollbeladen und, dank des quengelnden Görs an der Kasse, welches UNBEDINGT und SOFORT diese beschissene Zeitschrift haben wollte, mittlerweile hellwach machte ich mich auf den Heimweg.

Zu Fuß einzukaufen war echt ätzend, aber was tat man nicht alles, wenn es so aussah als würde Tommy endlich den Stock aus dem Arsch ziehen und die Sache mit Andreas richten. Wurde langsam mal Zeit. Die zwei spielen dieses Spielchen seit dem ersten Lehrjahr… und damals war Tomasz gerade mal so alt wie ich jetzt… Eine gefühlte Ewigkeit.

 

Bevor ich es mir wie geplant auf der Couch gemütlich machte, stopfte ich unsre schmutzige Wäsche, die überall in der Wohnung verteilt lag, in die Waschmaschine und stellte diese hoffentlich richtig an. Die vollen Mülltüten stellte ich verknotet hinter die Wohnungstür –würde ich nachher rausbringen wenn ich Lust hatte- und sortierte unser Wohnzimmerchaos so weit wie möglich in die Schränke und Regale ein. Wirkte immer noch wie eine Junggesellenbude…

Ach was solls. Andreas stand auf meinen Bruder… nicht auf unsere Wohnung.

Kurz nach zehn machte ich mich endlich auf unserer Couch lang und ließ mich vom öden Fernsehprogram berieseln, während ich beschloss eine Nachricht an Via zu schreiben.

Keine zwei Minuten später antwortete sie auf die Frage, was sie heute Nachmittag vorhätte.

>Meinen Eltern entkommen. Die wollen mich heute Nachmittag/Abend mit zu diesem Mumienpaar mitnehmen<

>Mülhäuser?< Mich gruselte es alleine beim Gedanken an das Zahnarztpärchen, welches bereits meine Urgroßmutter behandelt haben könnten…

>…ja… sag mir du hast irgendeine wichtige Sache zu erledigen, bei der ich dir UNBEDINGT helfen muss<

>Komm nach dem Essen zu dir. Denk dir nen Notfall aus<

Der Smiley den sie mir daraufhin sendete sagte absolut gar nichts aus… und doch auch alles. Immerhin sendete sie dieses hässliche Ding, wann immer sie aus dem Häuschen war.

 

Um kurz nach eins fiel die Wohnungstür ins Schloss und riss mich aus meinem Halbschlaf. Das Samstag-Mittag-Fernsehprogramm war echt besser als der Sandmann…

„Jacek?“

Zwei Paar Schuhe wurden am Eingang abgestellt.

„Wohnzimmer!“, rief ich in Richtung Flur und schaltete die elende Flimmerkiste ab.

„Hast du was an?“ Unsicher setzten die Schritte aus. Ich verdrehte die Augen.

„Nein Tommy. Wir erwarten einen Gast also renn ich nackt durch die Wohnung…“

„Wäre nichts ungewöhnliches…“, brummend kam mein Bruder endlich ins Wohnzimmer, musterte mich und rief nach draußen, dass die Luft rein wäre. Tse. Als würde mir das nochmal passieren.

Erst gucken ob Gäste angekündigt sind, dann nackt/halbnackt durch die Wohnung laufen. Und wenn es klingelt: lass es klingeln… Den beinahe-Ohnmachtsanfall unseres Postboten möchte ich kein zweites Mal heraufbeschwören…

„Röselein!“ Andreas kam polternd ins Wohnzimmer, warf die Arme in die Luft als er mich sah und presste mich schließlich mit seinem Schraubstockgriff an sich. Jämmerlich knackten und ächzten sämtliche Knochen in meinem Oberkörper.

„Achmed… du beölst mich…“ Gespielt angeekelt drückte ich mit der Hand gegen seine Betonbrust, um ihn von mir wegzuschieben. Unmögliches Unterfangen mit meinem Körperbau, doch er spielte mit.

„Aber, aber mein kleines Blümchen… warum so böse? Früher standest du drauf…“

Oh ja… Andreas sah schon vor Jahren so aus wie heute. Ein Kreuz wie ein Schrank –schlimmer als Tomasz-, Oberarme wie Baumstämme, kurz geschorene schwarze Haare, den schlimmsten Fall von Dreitagebart im Gesicht und so Rehbraune-Augen, dass er beinahe sanft wie ein Lämmchen wirkte… wenn er nicht grade den Mund aufriss…

„Ja… Da war ich elf… Und du hast mich den ganzen Tag Huckepack getragen… Aber heute bist du voll mit Motorenöl… Geh dich waschen… is ja eklig.“

Lachend schlug er mir auf die Schulter. Meine Knie gaben ein Stück weit nach und ich musste nicht hinschauen um zu wissen, dass ich schmierige Fingerabdrücke auf meinem Shirt hatte.

„Wo das Bad ist weißt du. Geh duschen. Ich fang an zu kochen“, mischte sich Tommy ein. Vermutlich um einen Streit zu verhindern. Dabei stritten Andreas und ich uns doch gar nicht. Das war liebevolles Geplänkel mit unsrem Aushilfsterroristen…

Auch Andreas verdrehte die Augen als Tomasz in der Küche verschwand. Wasser rauschte Lautstark, nur unterbrochen vom schrubben einer Bürste, mit der er sich wie immer den Dreck von den Fingern scheuerte.

„Wäre er mit dir duschen gegangen wäre es einfacher gewesen…“

Andreas nickte zustimmend, verzog dann jedoch das Gesicht. „Jetzt darf ich kalt duschen…“

„Besser ist das… ich will beim Essen nicht dran denken wie du dir auf meinen Bruder einen runter holst…“

Echt nicht. Auch wenn er gut aussah….

„Pfui….“

Dröhnendes Lachen folgte ihm. Selbst durch die geschlossene Badezimmertür konnte man es noch hören. Erst das Wasserrauschen blendete seine heitere Stimmung aus.

Kopfschüttelnd verschwand ich in mein Zimmer um mir ein frisches Shirt anzuziehen. Hoffentlich würde Tommy die Ölflecken aus dem anderen rausbekommen.

 

„Was wird das? Riecht lecker…“ Dusselig grinsend schwebte ich beinahe in die Küche. Der Geruch kam mir so bekannt vor und doch konnte ich es nicht genau benennen.

„Mach dir keine Mühe… Mir verrät er es auch nicht“, brummte es neben mir am Esstisch, während Tomasz weiter schweigend am Herd stand.

„Na wenigstens kannst du die Aussicht genießen…“

Andreas und ich lachten leise, als Tommy sich zu uns umdrehte und mir etwas mehr als unfreundliches auf Tschechisch zuwarf.

„Was…?“, setzte Andreas an.

„Willst du nicht wissen… ruft mich wenn das Essen fertig ist. Ich langweile mich vor dem Fernseher… Dann könnt ihr in Ruhe weiterschmachten…“ Kopfschüttelnd verschwand ich ins Wohnzimmer, ließ den Fernseher jedoch aus. Um diese Zeit konnte gar nichts Ordentliches laufen… Stattdessen schloss ich die Augen und lauschte dem Hin und Her der beiden Blödmänner, die –warum auch immer- zu blöd waren sich zusammen zu raufen und die einzig wahre Liebe zu finden.

Das war wohl übertrieben, doch immerhin möglich, wenn die beiden nur endlich aufhören würden so sie zu sein. Andreas offensichtlich verliebt aber ohne Plan wie er ernst machen könnte und Tommy… offen was mich anging, willig blind was ihn selbst betraf.

Fast war ich gewillt Amor zu spielen. Aber nur fast. Dann überlegte ich was die Konsequenz wäre… Gab bestimmt mehrere… doch mein Hormonhaushalt fokussierte meine Gedanken auf eine Einzige.

Wären die beiden ein Paar müsste ich ausziehen (oder Oropax und Desinfektionsmittel kaufen) da die zwei irgendwann Sex haben würden… immer… überall… laut…

Urgh…

Allein der Gedanke…

Annähernd so schlimm wie der Gedanke an Elternsex… die hatten so was nicht mehr. Die waren keuch. Schon immer gewesen. Der Storch bringt die Babys.

 

Ich merkte gar nicht wie meine Gedanken abdrifteten und die Zeit verstrich. Bis sich etwas Schweres auf meinen Bauch fallen ließ und mir den Atem raubte. „Achmed… Alter. Du dämliches Elefantenkind. Geh runter von mir…“ fauchte und schnaufte ich dem Übeltäter entgegen, der sich, anstatt aufzustehen, lachend zurück lehnte.

„Nein… du bist bequem. Außerdem kann ich auf Kindern sitzend besser denken…“

Worüber musste der bitte nachdenken?

Arsch.

Erfolglos versuchte ich mich unter ihm hervor zu winden. Wie sollte ich auch gegen geschätzte 200 Kilo Muskelmasse ankommen.

„Ey, so schwer bin ich nicht!“ Empört piekste er mir in die Rippen, als er meinen laut ausgesprochenen Gedanken vernahm.

„Fühlt sich aber so an…“ Lange hielt ich das nicht mehr durch. Dann würde ich blau anlaufen und jämmerlich ersticken.

Aber hey, Vorteil für ihn. Er würde in den Knast wandern und hätte viele neue Freunde die sich bestimmt nicht so anstellten wie mein geliebtes Brüderchen.

Çiçek, sag mal…. Was soll bitte Sladké knedlíky sein?“

„Wieso?“ Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen.

„Hat Tommy mir entgegen geworfen als ich zum dreihundertvierundneunzigsten gefragt hab was es gibt…“

Kaum, dass er seinen Satz beendet hatte schubste ich den Koloss von mir herunter –nein ich lachte nicht innerlich darüber wie verdattert er auf dem Boden landete- und hechtete in die Küche, um Tomasz anzutreiben. Er sollte sich gefälligst beeilen. Wenn ich meine süßen Knödel nicht bald bekam würde ich einfach Andreas essen.

 

Beinahe hätte ich ernst gemacht. Wirklich. Ich stand sooooo kurz davor Andreas den Arm abzunagen…. Doch dann stellte mein herzallerliebstes Lieblingsbrüderchen einen dampfenden Teller purer Liebe vor mir auf den Tisch und alles war vergessen.

Ohne auf die beiden zu achten –oder darauf zu warten, dass auch sie anfingen zu essen- stopfte ich mir förmlich die Leckereien in den Mund, schlang sie ohne groß zu kauen hinunter, verbrannte mir prompt die Zunge und verabschiedete mich schließlich von den zwei Turteltauben um Via retten zu gehen.

 

„Benehmt euch…“, rief ich in die Küche hinein, als ich mich umgezogen hatte. „Und Andreas….“, fügte ich ernst hinzu als ich den Kopf zur Tür hinein steckte. „Du weißt was du zu tun hast…“ Vielsagend schaute ich zu meinem Bruder, der das ganze gekonnt ignorierte.

Idiot.

 

An der fast geisterhaft leeren Bushaltestelle sank ich seufzend auf eine der Bänke. Der Bus hatte Verspätung. Vielen Dank auch…

Genervt kramte ich in meinem Rucksack nach meinem Telefon. Musikhören half vielleicht. Doch ehe ich mir die Stöpsel in die Ohren stopfen konnte, beschloss ich dem Roadrunner  eine Nachricht zu schreiben. Auch wenn er…. was auch immer war zurzeit, mussten wir dieses kack Stück üben.

>Sonntag bei dir üben?<

Da der andere als ‚nicht online‘ angezeigt wurde wechselte ich zum Player, suchte nach einem Lied was mir gerade anstand und stellte dieses auf Dauerschleife.

Dass der Bus kam und ich einstieg bemerkte ich nur am Rand.

Dass ich die anderen Passagiere mit meinem Gesumme nervte bemerkte ich nur am Rand. Und dass ich dumm angesehen wurde als ich ein zu lautes „Love bites but so do I~“ von mir gab ignorierte ich einfach komplett. Machte einfach zu viel Spaß, um aufzuhören.

Was interessierte mich was diese Typen dachten. Ich mochte das Lied. Deren Freundin war vermutlich auch ne Bitch, wie im Lied. Spießer.

 

Als ich aus dem Bus stieg, vermutete ich waren alle, auch der Busfahrer erleichtert. Alles Banausen. Meine Singstimme ist was Feines… Vielleicht wusste Via sie zu würdigen. Nein … auch nicht. So böse wie sie mich anstarrte. Blöde Kuh.

Widerwillig stoppte ich das Lied, stopfte mein Telefon zurück in den Rucksack und schaute meine beste Freundin zur Begrüßung nur böse an.

„Diva…“ Augenrollend ließ sie mich ins Haus, beinahe ungerührt meiner Strafe.

„Jacek, Hallo, tut mir leid zu hören, dass du dieses Jahr mit Biologie so ein Problem hast.“ Vias Mutter trat aus der Küche zu uns in den Flur, bevor wir es schaffen konnten in ihr Zimmer zu flüchten.

„Hallo Frau Wehrmeister. Ja, ich weiß auch nicht was dieses Jahr mit mir los ist. Vivianne rettet mir hier wirklich grad total den Hintern. Ein echter Engel.“ Ich hoffte einfach, dass Vias Mutter dieses Thema ansprach –was überhaupt nicht stimmte, ich war super in Bio- um mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Klappte nicht. Ich war da abgebrüht.

Würde auch ein verstorbenes Haustier vorschieben obwohl ich gar keines hatte.

Wie eine stolze Henne plusterte die Frau sich auf, musterte ihre Tochter neben mir stolz und ließ uns von Dannen ziehen ohne weiter unterschwellig zu motzen, da ich ihre Tochter von dem Essen mit den Zahnarzt-Mumien fernhielt.

 

„Bio? Ernsthaft?“, war mein erster Kommentar, als Vias Zimmertür hinter ihr ins Schloss fiel und ich mich wie immer sofort auf dem weichen Prinzessinnen-Bett breit machte. Ich war eine Prinzessin verdammt… wenn man da so ein Bett bekam war ich es sogar gerne.

„Sorry. Mir ist im Eifer des Gefechts nichts anderes eingefallen.“ Schulterzuckend ließ sie sich neben mich fallen. Ein paar ihrer elend langen Haare fielen mir dabei ins Gesicht.

„Du pennst heute hier?“ Es war weniger eine Frage ihrerseits, als mehr ein Befehl, weshalb ich nur nickte.

„Du leihst mir Klamotten?“ Meine Frage war ebenfalls weniger Frage als festgelegte Tatsache.

„Hm…“

Gemeinsam schwiegen wir uns eine Weile an, bis unheilverkündende Schritte auf der Treppe zu hören waren. Eilig Sprang Via aus dem Bett, griff sich das bereits bereitgelegte Biozeug und verteilte es über dem Bett.

Ehe die Tür aufging, erklärte sie mir völlig falsch und zusammenhanglos den Inhalt der letzten Biostunde.

Ich tat als ob ich ihre Fehler nicht bemerken würde und nickte eifrig. Schrieb wild irgendwas aufs Papier und wirkte im Allgemeinen lernwillig.

Zufrieden nickte Vias Mutter, wünschte uns viel Erfolg beim Lernen und verschwand für die Nacht.

Angespannt schauten wir zur Tür, lauschten auf die Geräusche im Haus und erst als der Motor des Wehrmeister‘schen BMWs zu schnurren begann und die Einfahrt verließ atmeten wir erleichtert auf. Unachtsam wurde das Schulzeug vom Bett gewischt und mit den Füßen unter selbiges geschoben.

„Endlich…“ Erleichtert atmete meine Freundin aus, drehte den Kopf in meine Richtung und fragte, was wir nun anstellen wollten, wo wir das Haus für uns alleine hatten.

„Rastet dein Vater immer noch so übertrieben aus, wenn man ungefragt euren Whirlpool benutzt?“

Vias Grinsen sprach Bände.

„Wer zuerst im Keller ist?“, fragte ich, während ich bereits vom Bett sprang und auf dem Weg nach unten meine Klamotten im Haus verteilte.

„Unfair!“, brüllte sie mir hinter her, ehe sie mir nach unten folgte.

 

„Ich bin so schrumpelig…“, murrte Via, betrachtete ihre Rosinenfinger und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht.

„Mir ist so schummrig…“, antwortete ich, fischte nach dem Haargummi, der an mir vorbei schwamm und legte den Kopf auf den Rand des Pools.

„Sollten vielleicht langsam mal raus… sind schon ewig hier drin…“

„Mmmmh…“

Keiner machte Anstalten das warme, blubbernde Wasser zu verlassen.

„Ich hab Hunger…“

„Du hast immer Hunger Via…“

Ihre Schrumpelfinger klatschten gegen meine Schulter, entrissen mir schließlich den Haargummi und machten sich dran die nasse Mähne zu bändigen.

„Na komm… ich mach uns was zu essen warm…“ Den Boden volltropfend verließ sie den Pool, tapste zu den Handtüchern und wickelte sich in dieses ein.

„Okay…“ Unwillig brummte ich, folgte ihr dann jedoch. Meine nasse Spur kreuzte ihre. „Die sind so fluffig…“, seufzend wickelte ich mir eines der eklig pastelligen Handtücher um die Hüfte und ein zweites –nur weil ich es konnte und sie trotz Farbe so angenehm waren-- um die Schultern.

 

Mit vollem Magen und halbwegs trocken gingen wir zurück in ihr Zimmer, unsere Sachen auf dem Weg aufhebend. Nicht das Viviannes Vater sofort beim nach Hause kommen merkte, was wir mit seinem heißgeliebten Pool angestellt hatten.

Unachtsam warf ich unsre Sachen auf einen Haufen. Es reichte wenn wir morgen schauten was zu wem gehörte.

In geliehenen Schafhosen –Via konnte sagen was sie wollte, ich glaubte immer noch das sie mir die My Little Pony Hose mit Absicht gegeben hatte- kroch ich ins Prinzessinnenbett, wickelte mich mit ihrer Decke zum absolut zufriedenen Jacek-Burrito und war schon fast im Zauberwald, als mein Telefon losschäpperte.

„Wäääääh….“ Unwillig befreite ich meinen Arm aus der Decke und fischte nach dem Gerät. Da war Andreas wohl nach Hause gefahren und nun machte mein Bruder sich Sorgen, ob ich denn noch lebte oder ob ich auf dem Weg hierher entführt worden war.

Mein Daumen schwebte schon über dem grünen Hörer, als ich den Namen des Anrufers las.

Nicht Tomasz…

Schwer schluckend legte ich das Telefon zurück und kroch zurück in die Decke.

Via beobachtete das Ganze skeptisch, sagte jedoch nichts und krabbelte stattdessen zu mir aufs Bett. Widerwillig ließ ich es mir gefallen, dass sie mich aus meiner schönen Burrito-Decke pellte. Jedoch nur, da sie mit ihren warmen Füßen zu mir kam und meine Eiszapfen auftaute.

Der Klingelton verstummte. Angenehme Ruhe legte sich über das Zimmer. Vias gleichmäßiges Ein- und Ausatmen wirkte einschläfernd auf mich. Ließ mich mein Telefon vergessen, bis dieses, grausam wie es war, erneut zu klingeln begann.

Wieder und wieder.

Immer kürzer wurden die Pausen.

Ich wollte nicht gucken wer es war.

Ich wusste es.

Vielleicht, wenn ich die Augen zukniff und tat als würde ich schlafen, als könnte ich es nicht hören dann würde es aufhören…

Stattdessen schien es immer lauter zu werden.

Bis Vias genervtes ‚Alter‘ und der ruckartigen Satz den sie über mich drüber machte, mich zurückholte.

„Was soll die Scheiße?!“, brüllte sie ungehalten in mein Telefon, ehe ich richtig realisieren konnte, was sie eigentlich tat.

„Nein, halt einfach die Klappe. Ruf ihn nicht mehr an. Verstanden?“ – „Lass es ganz einfach sein. Du bist selbst schuld!“ – „Dein Gejammer geht mir am Arsch vorbei. Du dämlicher Penner hast es nicht besser verdient. Lass ihn endlich in Ruhe. Fahr zur Hölle. Kriech zurück in das Loch in dem du dich so wohl fühlst! Und lass dir eins gesagt sein… wenn du meinen Rat, meinen liebevollen, nett gemeinten Rat, nicht beherzigst, dann mach ich dich so fertig, dass du dir wünschst NIE AUS DEINER MUTTER GEKROCHEN ZU SEIN!!“

Ihre Stimme hatte einen gefährlich hohen Ton angenommen. Ich war mir nicht sicher ob ich lieber um mein Telefon oder mein Trommelfell bangen wollte, oder ob ich doch zu geschockt war…

Warum hat sie…

„Via was… ich“, setzte ich an, erntete jedoch nur einen ernsten Blick. Mit hochgezogener Augenbraue und allem.

„Tu dir das nicht mehr an. Er ist es nicht Wert…“ Seufzend ließ sie sich neben mich sinken. Ihre dünnen Arme schlangen sich um meinen Oberkörper und pressten mich im Klammergriff-der-Verdammnis an sich.

„Woher…“ Der Kloß im Hals hielt mich davon ab, die Frage zu beenden. Doch sie verstand mich auch so.

„Beste Freundin und alles…“, brummte sie und drückte mir ihr lächelndes Gesicht gegen den Hals.  Ihre Finger zogen Kreise über meinen Bauch. Lullten mich in einen ruhigen Zustand. Noch nicht ganz im Traumland, doch nicht mehr richtig wach.

„Aber ernsthaft jetzt… Tokio Hotel? Warum?“

Schon verflog der Zustand, so schnell wie er gekommen war.

„Callejon… Wer hört diese Bubis bitte noch?“

Kurz lachte sie an meinem Hals auf, kitzelte mich unabsichtlich damit. Dann kam sie zur Ruhe und schien langsam einzuschlafen.

Ich dagegen lag noch eine Weile wach, genoss die Nähe meiner Freundin und war froh, dass mein Telefon ruhig blieb. Endlich.

Mal schauen ob das so blieb…

 

Noah

 

Mein Handy auf dem Wohnzimmertisch vibrierte zum vierten Mal. Die letzten drei Mal hatte ich die Erinnerung, dass ich eine Nachricht bekommen hatte ignoriert und versuchte stattdessen mich nicht zu Tode zu langweilen. Langsam nervte das ständige Vibrieren aber, weshalb ich probierte, ohne aufstehen zu müssen, das Gerät vom Tisch zu angeln.

Halb von der Couch fallend, bekam ich es endlich zu fassen, laß die Nachricht und hatte keine Lust zu antworten.

Ich wollte nicht proben. Dämliches Stück!

Ich wollte nicht mit Jago proben. Dämliche Hormone!

Aber vor allem wollte ich, dass meine Mutter sich nicht etwas Schlimmeres einfallen ließ, weshalb ich ein schlichtes ‚Ok‘ zurück schrieb und das Telefon zurück auf den Tisch legte. Knallte. Sanft war für Anfänger.

 

Danach lümmelte ich weiter im Wohnzimmer rum. Lustlos.

Erst die Stimme meiner Mutter, die verkündete, dass sie Kuchen gekauft hatte, erweckte meine Lebensgeister. Minimal.

Dennoch schaffte ich es meinen Kadaver vom Sofa in die Küche zu bewegen und mich auf meinen Stammplatz am Tisch fallen zu lassen.

„Ist irgendwas passiert Schatz? Du siehst so geknickt aus?“ Besorgt linste meine Mutter über ihre Schulter zu mir. Auf Zehenspitzen stehend angelte sie zwei kleine Kuchenteller aus dem obersten Fach des Schrankes.

Schulterzucken.

Klar war ich geknickt. Irgendwie. Ich war ein Teenager… und ging zur Schule. Wer wäre da nicht geknickt? Trotzdem verkniff ich es mir zu nicken.

Im Moment hatte ich ernsthaft keine Lust die Worte ihres Psycho-Docs zu hören. Auch wenn sie diesen gerne zitierte.

„Nee… alles gut. Denk ich…“, brummte ich leise, als sie mich weiter skeptisch musterte und beinahe das gute Geschirr fallen ließ.

„Hm.“ Kopfschüttelnd stellte sie die Teller auf den Tisch. Sie glaubte mir eindeutig nicht, doch da ich vermutlich nicht nach Suizid aussah beließ sie es dabei.

 

„Jag… Jacek will morgen vorbei kommen.“ Mein zweites Stück Kuchen neigte sich dem Ende, als mir die Nachricht von vorhin in den Sinn kam.

„Netter Junge, gut, dass ihr eure Differenzen beigelegt habt und euch so gut vertragt.“ Zufrieden nickte sie. Knabberte noch immer am ersten Viertel ihres ersten Stückes während sie nebenbei kurz an ihrem Kaffee nippte. Entweder war sie auf Diät oder hatte ein schlechtes Gewissen.

„Schön, dass du so engagiert bist und so oft mit ihm übst.“

„Hm“, brummte ich und klang nicht überzeugt in meinen Ohren, doch meine Mutter strahlte mich nur über den Rand ihre Tasse an und nahm es hin. Definitiv schlechtes Gewissen.

Seufzend stellte sie ihre Kaffeetasse zur Seite, als das Schweigen sich auszubreiten drohte.

„Na bei so guter Führung…“ Sie ließ den Satz unbeendet, als sie aufstand und zu ihrer neuen Handtasche ging die an der Tür zum Abstellschrank hing. Klimpernd zog sie einen mir nur zu bekannten Schlüssel mitsamt peinlichem Anhänger hervor.

„In der Sekunde, in der du Mistbaust…“ Sie hielt inne und drückte mir den Motorradschlüssel in die Hand ohne ihn loszulassen. „…ist er schneller weg als du gucken kannst mein Schatz. Verstanden?“

„Klar Mama!“ Überschwänglich drückte ich meine Mutter an mich. Erst nachdem sie begann leise zu ächzen ließ ich sie los und machte mich dran ein drittes Stück Kuchen zu vernichten.

Der Schlüssel klimperte aufgeregt zwischen meinen Fingern, schien zu schreien, dass er endlich wieder benutzt werden will.

Bevor ich aufspringen konnte um seinem Drängen, und meinem, nachzugehen, schien meine Mutter meinen Plan zu wittern und deutete mit der Kuchengabel auf mich. Noch immer war sie nicht fertig mit ihrem ersten Stück Kuchen fertig.

„Zum Abendbrot bist du wieder da. Ich hab Oma eingeladen.“

Ich nickte überschwänglich, auch wenn ich ihr nicht glaubte, dass sie Oma wirklich eingeladen hatte. Vermutlich hatte diese vorhin angerufen und gesagt, dass sie vorbei kommt und wieder aufgelegt. Wie immer.

Doch das konnte mir egal sein.

Um sicher zu gehen, dass ich mir den Schlüssel nicht nur einbildete, schloss ich die Hand etwas fester darum. Das kalte Metall drückte unsanft in meine Handflächen. Zufrieden lächelte ich vor mich hin, während ich nach oben verschwand um mich fahrtauglich anzuziehen.

Wohin würde ich fahren? Eigentlich egal, Hauptsache raus hier… Raus aus der Stadt vielleicht. Landstraßen erkunden…

Schulterzuckend schob ich den Gedanken beiseite. Es war egal wo ich hinfuhr. Hauptsache ich kam raus… und war innerhalb von drei Stunden zurück, sodass ich nicht Gefahr lief mein Baby wieder abgeben und in der Garage versauern lassen zu müssen.

 

Die beständige Vibration lullte mich ein. Erst Aneinandergereihte Häuser, dann irgendwann grüne Landschaften zogen an mir vorbei ohne, dass ich sie wirklich wahrnahm. Wind dröhnte trotz des Helmes in meinen Ohren. Sang das schönste Lied, dass ich in den letzten Tagen, wenn nicht gar Wochen gehört hatte.

Freiheit.

So mussten sich Vögel fühlen, die gen Süden fliegen. Oder Norden. Oder irgendwo hin. Hauptsache raus aus dem Käfig.

Ein Auto hupte neben mir. Zerrte mich aus meiner verschwommenen Realität. Warum er gehupt hatte wusste auch keiner. Dafür lachte mir die Sonne fröhlich entgegen und spiegelte sich auf dem Wasser.

Wo auch immer ich gerade war…

Ich schielte zur Uhr an meinem Handgelenk. Noch 1 ½ Stunden.

Wo auch immer ich hier war… ich hoffte „hier“ hatte eine Tankstelle. Sonst dürfte ich schieben und würde bestimmt nicht pünktlich aufschlagen.

Ich drosselte die Geschwindigkeit. Die Umgebung wurde langsamer, erkennbar. Die Wasseroberfläche des Sees kräuselte sich im Wind. Vereinzelte Boote schipperten in der Mitte entlang und verschwanden am Horizont. Das Ende des Sees konnte ich nicht erkennen. Winzige dunkle Punkte spazierten am Ufer entlang. Entweder Fußgänger oder mutierte Ameisen… nahm sich nicht viel. Beides ätzend.

Vor mir wurde der Verkehr dichter; ließ erkennen, dass die Zivilisation näher rückte. Bremslichter leuchteten auf wie Weihnachtsdeko. Autos kamen zum Stillstand. Wiederwillig stellte ich mich an. Ganz weit vor mir konnte ich eine winzige Ampel erkennen und stöhnte genervt. Doch neben der Ampel ragte eine Tankstelle in die Höhe und ließ meine Laune wieder steigen. Wurde es doch keine unendlich lange Suche. Wenn ich Glück hatte konnte ich sogar, ohne fragen zu müssen, herausfinden wo zur Hölle ich war.

Glück hatte ich dann doch nicht. Nachdem mein Tank voll war und nirgendwo stand, wo ich war, ließ ich mich dazu herab, die Kassiererin in der Tankstelle zu fragen wo ich war und wie ich zurück in die große Stadt kam.

Eine ihrer Augenbrauen ob sich gefährlich gen Haaransatz. Eine Sekunde verstrich. Dann eine zweite. Und noch ein paar mehr. Bis sie mein Geld nahm, mir das Wechselgeld gab und mir den Weg grob erklärte. Ihr Blick sagte deutlich was sie von mir hielt: „Orientierungsloser Spinner“.

Mit einem Blick auf die Uhr schwang ich mich zurück auf mein Motorrad, schloss die viel zu warme Jacke komplett und ließ mein Gesicht hinterm Visier des Helms verschwinden.

 

Schneller als vermutlich erlaubt war flog ich über die leerer werdende Landstraße, bis eine mir bekannte Skyline vor mir auftauchte und ich in heimische Gefilde zurückkehrte. Mit gemischten Gefühlen bog ich schließlich in unsere Straße und in unsere Auffahrt. Betrübt, weil die Freiheit zurück in ihren Käfig musste. Froh, dass ich endlich aus den warmen Klamotten steigen und verdammt noch mal duschen konnte. Vom Essen ganz abgesehen.

„Bin wieder da!“ rief ich in den Flur, nachdem ich mein Baby in die sichere Garage geschoben hatte und nun mit den Stiefeln kämpfte, die sich nach so langer nicht Nutzung womöglich an mich rächen wollte.

„Überpünktlich. Vorbildlich.“ Ma klang zufrieden während sie aus der Küche trat. Als ihr Blick auf mich fiel verschwand das lächeln jedoch. Ihr Blick wanderte von meinem Haaransatz zu meinen Füßen und schließlich zur Uhr. „Dusche. In zwanzig Minuten ist Oma da. So darf sie dich nicht sehen… oder riechen… urgh. Hast du keine atmungsaktive Motorradkluft?“

Sie murmelte noch einiges vor sich hin, während sie zurück zum Herd ging und wild in Töpfen rührte. Einiges davon klang wie mein Vater oder Beleidigungen. Vermutlich beides. Ich wollte es gar nicht so genau wissen.

Stattdessen ging ich nach oben, suchte in meinem Zimmer Wechselsachen zusammen und verschwand schließlich für eine kurze Dusche im Bad.

 

Mit feuchten Haaren und in löchrigen Jogginghosen –waren die überhaupt meine? Hatte ich ausversehen Paschas eingesackt? So was Grässliches besaß ich gar nicht… oder? Egal. War bequem- und barfuß schlich ich zurück nach unten. Stimmen riefen über den Flur. In der Küche klapperten noch immer die Töpfe. Aus dem Wohnzimmer kam Geschirrklappern.

„Hilfe Ömchen?“

„Nenn mich weiter so und du brauchst Hilfe!“ Drohend wurde das gute Geschirr in die Luft gehoben. Lange konnte sie den strengen Ausdruck nicht auf ihrem Gesicht behalten.

„Worauf wartest du? Drück die alte Mormor.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.

Wenn deine Oma dich drücken wollte –schlimmer noch, wenn Mormor Sophia dich drücken wollte- dann machst du das auch. Sofort. Ohne zu zögern. Ohne dich zu schämen verdammt!

„Bist du wieder gewachsen, Solskinn?“

„Du bist nur geschrumpft, Mormor.“

Erneut wurde ein Teller auf mich gerichtet, nachdem die Klammergriff-Umarmung gelöst wurde und ich normal atmen konnte. Man hatte die Frau in ihrem Alter noch Muskeln in den Oberarmen. Konnte ich glatt neidisch werden.

Ehe sie mich mit dem Geschirr weiter bedrohen oder gar bewerfen konnte nahm ich es ihr aus den zierlichen Fingern. Ihre Hand passte locker zweimal in meine. Die Größe kommt definitiv nicht von meiner mütterlichen Seite. Außer Opa Gunthar war vielleicht ein Riese… wer weiß. Meine Ma sprach nicht über ihn und Oma traute ich nicht zu fragen.

„Was macht das Geschäft?“ Wechselte ich gedanklich das Thema und stellte das restliche Geschirr auf den Tisch. Exakt nach Anweisung. Ohne Hilfe schien ich das ja nicht hinzukriegen. Schön zu sehen, wie viel Vertrauen in einen gesetzt wurde.

„Noah?“ Ein Hilfeschrei aus der Küche.

Seufzend legte ich die letzte Gabel auf ihren Platz und verschwand in die Küche, um meiner Mutter den Bräter abzunehmen bevor der auf dem Boden landen und Oma zur Antwort ansetzen konnte.

 

Schweigen hatte sich zu Beginn des Essens über das Wohnzimmer gelegt. Erst nachdem die Hälfte des Essens von Omas Teller verschwunden war begannen die Gespräche. Sie und Mama unterhielten sich über irgendwas Geschäftliches. Vermutlich Steuern. Oder wie man sie umgehen konnte. Oder Schuhe. War nicht sicher. Interessierte mich nicht. Sobald ich Interesse zeigte müsste ich sonst mitreden. Das wollte ich nicht, solange ich keine Ahnung hatte worum es ging. Und sobald frauen redeten hatte ich keine Ahnung. Egal um welches Thema es sich drehte. Frauen waren merkwürdig.

„Und, wie sieht es bei dir aus?“

Stille.

Bohrende Blicke.

Erst da merkte ich, dass wohl mit mir geredet wurde.

Mist.

„Was?“

Fragend schaute ich auf, den Mund noch halb voll. Die Gabel mit nachschub bereits in der Hand.

Augenrollend schüttelte meine Mutter den Kopf. Oma schmunzelte nur, nahm selbst einen weiteren Bissen und stellte die Frage erneut.

„Wie sieht es bei dir aus? Schule? Alles okay.“

Ich nickte.

„Freunde?“

„Gut…“

„Pascha lebt noch und ärgert Passanten?“

Es war seltsam meine Oma zu hören wie sie Pascha „Pascha“ nannte…

„Was sonst?“

„Hat er endlich eine Freundin die er behalten will?“

Ich verkniff mir, dass er lieber weiter herumhurte. Stattdessen schnaufte ich lieber und schaute sie vielsagend an.

„Also nicht. Und du?“

„Ich?“ verwirrt ließ ich meine Gabel sinken.

„Was macht die Liebe bei dir?“ Nun schaute auch meine Ma interessiert auf. Dachte vermutlich ich verschwieg ihr eine Horde Mädels.

Ich zuckte mit den Schultern. „Nix…“

„Niemand der dich interessiert?“, hakte Oma nach.

Kopfschütteln. Übelkeit stieg in mir auf. Vermutlich nicht aufgrund der Menge an Essen die ich in mich rein geschaufelt hatte. Ich befürchtete eher, dass es an etwas… anderem liegen könnte. Darüber wollte ich jedoch lieber nicht nachdenken.

„Zu schade. In deinem Alter war ich fast schon verheiratet…“ Verträumt spielte sie mit den beiden Ringen an ihrem Finger. Ließ das Thema dann jedoch fallen.

Innerlich dankte ich allen Göttern, die ich kannte bzw. auch nicht kannte, dafür, dass sie mich nicht weiter löcherte und stattdessen wieder in ihr enthusiastisches blablablubber mit ihrer Tochter verfiel.

Fast automatisch schielte ich zur Uhr und hoffte, bald verschwinden zu können, ohne dass es mir übel genommen wurde.

So sehr ich Mormor auch liebte… gerade konnten mir alle gestohlen bleiben.

 

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Ähm..... hi... lange nicht gesehen.... *hust*

Sorry. Mal wieder. Irgendwann gehts weiter. Versprochen. Bin glaub ich grad dabei Kapitel 11 zu schreiben... falls ich mich nicht verguckt habe.

Kapitel 10

 

Jacek

 

War ich müde?

Mit Sicherheit.

Es war bei weitem zu zeitig zum wach sein… an einem Sonntag.
Dennoch hatte ich es vorgezogen mich um kurz nach sieben aus dem Wehrmeisterschen Haus zu schleichen und nach Hause zu laufen da kein Bus fuhr. Ätzend.

Doch was tat man nicht alles um einem angeheiterten Doktorenpaar zu entgehen, die während des Frühstückes bestimmt einen Mordskater aufweisen würden.

Wenn ich Glück hatte erinnerte Via sich daran, dass ich mich von ihr verabschiedet hatte.

Wenn ich Pech hatte, würde sie nach dem Aufstehen, beim ins Bad torkeln in die Vasenscherben treten, die auf dem Flur verteilt lagen. Das wundervolle Werk von Vias betrunkener Mutter. Durch den Schmerz und das Fluchen würde ihr schließlich entfallen das ich mich verabschiedet hatte und sie müsste mich zur Schnecke machen…

Daumen drücken fürs Glück.

 

Meine Füße jubelten laut auf, als unser Wohnhaus in Blickfeld kam.

Endlich!

Ich pfriemelte mit dem Schlüssel an der Eingangstür herum, als mich ein lautes „Guten Morgen, Joseph!“ zusammenfahren ließ. Unsre Nachbarin hatte sich hinterhältig hinter einem ihrer Blumenbüsche versteckt und sprang nun plauderfreudig auf.

Ich sollte mir ein Schild umhängen, mit der Aufschrift:

Nicht:

  1. Joseph
  2. Erschrecken.

Würde sie ohne Ihre Brille aber eh nicht sehen wie ich vermutete. Letztens wurde auch Tomasz als Joseph betitelt. Dabei sahen wir uns fast gar nicht ähnlich.

“Guten Morgen Frau Ebeling. So früh schon am… ähm…“ ich betrachtete den Busch. „Blumen pflegen?“ Es tat mir in der Seele weh, diese Dinger als Blumen zu bezeichnen.

Ihr Gesicht hellte sich auf, während ich meinen Schlüssel vom Boden auflas.

„Natürlich! Der frühe Vogel und all der Krempel mein Junge“, rief sie fröhlich.
„Natürlich… all der Krempel,“ brummte ich leise, als sie sich auch schon wieder abwendete und weiter ihre Blumen verunstaltete.

Mich hatte sie bereits wieder vergessen, sodass ich nun ungestört unsre Wohnung betreten konnte.

Gähnend wollte ich meine Schuhe lieblos auf ihren Platz befördern. Das dort stehende Paar irritierte mich. Die Elbkähne waren aber nicht meine… oder Tommys…

„Hä?“ Entkam es mir unintelligent, während ich die Schuhe eine ganze Weile anstarrte, meine schließlich daneben stellte und mich in mein Zimmer begeben wollte.

Lautes schnarchen aus dem Wohnzimmer ließ mich in der Bewegung innehalten.

Neugierig warf ich einen Blick ins Zimmer. Warum schlief Tomasz nicht in seinem Zi…

„Awww“, stieß ich aus, ehe ich mich zurück halten konnte. Der Anblick war aber auch zu süß.

Auf der Couch lag Tomasz, den Kopf und den rechten Arm vom Sofa hängend lassend in unüblicher Rückenlage – daher wohl auch das Schnarchen. Seine Beine mussten unterdessen als Kuscheltier für Andreas herhalten, der zumindest eins davon mir den Beinen umklammert hielt, während einer seiner Arme unter meinem Bruder verschwand und der andere irgendwo sein musste. Den Kopf auf Tomasz Bauch drapiert sabberte er diesen herzallerliebst voll.

Wäre ich geistig auf der Höhe gewesen hätte ich definitiv ein Foto davon gemacht. Doch stattdessen schlich ich weiter in mein Zimmer und überlegte ob ich hier weiterschlafen konnte. Ein Blick auf die Uhr ließ mich beschließen, dass ich nur kurz Duschen gehen und mich dann auf den Weg zu Noah machen würde. Er würde überleben wenn ich zu früh erschien. Immerhin war es später als beim letzten Mal.

 

Etwas mehr als eine Stunde später stand ich auf der Gräfschen Türschwelle und wartete, dass mir auf mein Klingeln hin geöffnet werden würde.

Anders als erwartet war schlussendlich nicht Noah derjenige der mich herein ließ sondern seine Mutter. In langen Jogginghosen und einer Fleecejacke mit Kaffeetasse in der Hand stand sie vor mir, musterte mich kurz und ließ mich schließlich ein.

„Du bist aber früh dran. Noah müsste in seinem Zimmer sein. Geh am besten nach oben. Du kennst den Weg?“

„Früher Vogel und all das“, ahmte ich Frau Ebeling von vorhin nach, ehe ich die Schuhe abstreifte und mich in die obere Etage begab, um einen gewissen Blondkopf zu quälen. Es machte mir eindeutig zu viel Spaß ihn leiden zu sehen… War vermutlich einer der Gründe, weshalb ich mir das hier antat… und weil ich ohne seine Hilfe Anne nicht fertig machen konnte.

Auf dem oberen Treppenabsatz angekommen kam mir leise Musik aus Noahs Zimmer entgegen. Wach war er also schon. Gut.

Ohne anzuklopfen, die Klingel war ja wohl laut genug gewesen um mich anzukündigen, drückte ich die Klinke nach unten und schob die Tür auf.

Einen Fuß hatte ich bereits über die Schwelle gesetzt, als ich plötzlich in der Bewegung erstarrte. Sein Zimmer nahm ich nur am Rand wahr. Stattdessen wurde mein Blick regelrecht von seinem Bett angezogen. Eine Naturgewalt. Ich konnte nichts dagegen tun. Ehrlich.

Wie ein griechischer Schönling lag Noah mit geschlossenen Augen auf dem ungemachten Bett. Den Mund nur einen Spalt breit geöffnet, um winzige Laute auszustoßen, die von der Musik verschluckt wurden. Die Muskeln, einmal nicht von einem Hemd verdeckt –auch wenn ich nicht gläubig war möchte ich an dieser Stelle eins sagen: Danke guter Gott. DANKE!- spannten und entspannten sich hypnotisch unter der leicht gebräunten Haut… während er sich sorglos einen runterholte.

Heilige Sch...

Es wäre vermutlich -nein, es wäre sogar SICHER- angebracht gewesen wegzusehen. Oder ihn auf mich aufmerksam zu machen. Oder ihn wenigstens zu fragen ob er Hilfe braucht. Nicht etwa weil ich glaubte, dass er meine Hilfe annehmen würde, sondern allein weil ich den Gedanken meine Hand an diese Stelle zu legen einfach nicht abschütteln konnte. Stattdessen blieb ich weiter in der Position stehen, in der ich zuvor eingefroren war und verfolgte die Bewegung seiner Hand.

Wie gerne hätte ich diese Hand.

Wie gerne wäre ich diese Hand.

Wie gerne würde ich… Kopfschüttelnd trat ich leise einen Schritt zurück und schloss die Tür so geräuschlos wie ich sie geöffnet hatte. Einen Moment verharrte ich vor der Tür. Überlegte ob ich nicht doch wieder rein gehen sollte, wenn auch nur um noch einen Blick auf sein bestes Stück zu werfen. Wie es so in dieser Hand lag; schon leicht gerötet und glänzend.

Aus. Pfui.

Streng schaute ich an mir herunter.

Reagier nur nicht auf dieses Bild. Speicher es dir für später ab, ja, aber reagier nicht jetzt darauf du dämlicher hormonertränkter Teeniekörper!

Tief durchatmend, löste ich meine Finger vom Türgriff, zählte bis zehn, setzte eine neutrale Miene auf und… ja… was wollte ich nun machen?

Klopfen? Ihn damit aus dem Konzept bringen und ihm damit ein üppiges Paar blue balls bescheren?

So witzig ich es mir auch vorstellte, ihn die ganze Zeit dabei beobachten zu können wie er sich windet und verzweifelt… So gemein war ich doch nicht. Dicke Eier hatte kein Kerl verdient.

Blieben nur noch zwei Optionen.

Erstens: stehenbleiben und hören wann er fertig wird.

Zweitens: nach unten gehen um unten zu warten.

Da ich keine voyeuristische Neigung besaß, lief ich die Treppe, so leise wie möglich, zurück nach unten und betrat kurzerhand die Küche, in der Noahs Mutter saß und an einem Brötchen knabberte. Die halb leere Kaffeetasse vor sich. Die Sonntagszeitung in der Hand die nicht das Brötchen hielt.

Fragend schaute sie von einem Artikel auf. Zog die Augenbrauen nach oben, da sie den Mund voll hatte und nicht fragen konnte was ich denn hier suche.

„Ich will Noah ungern beim masturbieren stören“, antwortete ich trocken auf die stumme.

Prompt verschluckte die Blonde sich an ihrem Frühstückt, bekam das Husten jedoch schnell mit einem Schluck Kaffee in den Griff.

Tausend verbale Reaktionen auf meine Aussage schienen ihr durch den Kopf zu schießen. Die einzige, die sie schaffte zu äußern war ein seltsam anmutendes „Oh…“

Schweres Schlucken und eine kurze, erdrückende Stille.

„Willst du was mit frühstücken?“

Schneller als ich es für möglich gehalten hatte fing sie sich und deutete auf den freien Platz ihrem gegenüber.

Ich überlegte abzulehnen. Doch mein Magen machte mir einen Strich durch die Rechnung. Dem Knurren nach zu urteilen konnte ich ein Brötchen vertragen. Und vielleicht einen Tee, welchen ich mir machte, nachdem ich Tamara –ich bestehe drauf, beharrte sie- versichert hatte, dass ich es auch alleine schaffte. Wo der Tee stand wusste ich mittlerweile. Und die Tassen fand ich auch auf den ersten Hieb.

Schweigend saßen wir uns gegenüber.

Die Zeitung hatte sie beiseitegelegt; konzentrierte sich stattdessen lieber auf ihr verbleibendes Frühstück. Ich tat es ihr nach, bis ihr bohrender Blick mich aufschauen ließ.

„Jungs.“ Sie machte eine verwerfende Geste. „Das ist normal für euch, nicht? Selbstfindungsphase und alles?“

Wollte sie ernsthaft eine Antwort darauf? Am liebsten würde ich schreien: Sicher. Jeder Kerl holt sich einen runter. Doch das klang zu allgemein. Soll ja auch Leute geben die nicht drauf stehen. Arme Irre…

„Hm…“, brummte ich deshalb und schaute nachdenklich in meine Tasse. Und ich dachte ernsthaft über ihre Frage nach. Soweit war ich also schon gekommen. Mit fremden Müttern über Masturbation zu reden.

Oder über Selbstfindung.

Herrje… Selbstfindung klang so philosophisch…

„Nun ja…“ ich nippte an meinem Tee, ignorierte dass ich mir die Zunge dabei verbrannte. „Die meisten Leute in unserem Alter sind wie Reisig und warten darauf, dass ein Funke sie zum Lodern bringt.“

Wir alle brauchten nur einen Funken um aus der trockenen Hülle für die wir und andere uns halten endlich ausbrechen zu können, um wir selbst zu sein.

HA! Da sollte meine Philosophielehrerin noch mal sagen ich könnte nicht philosophisch sein. Ich war so was von philosophisch. So sehr, dass ich im Nachhinein nicht einmal selber wusste, ob ich wirklich Sinn machte.

Tamara nickte leicht und dachte nach. Sah sogar zufrieden mit meiner Antwort aus. War es echt so schlimm zu denken, dass man als Mann, nein als Mensch diverse Gelüste haben kann denen man dann und wann nachgeht? Muss es immer einen höheren Beweggrund geben?

„Was ist mit dir?“, fragte sie offen heraus, nachdem sie ein paar Minuten über meine Reisig und Funken Theorie nachgedacht hatte. Leider hatte ich auch drüber nachgedacht. Indirekt. Die meisten Menschen waren wirklich Reisig. Oder anderes Getreide. Stroh. Zumindest genauso dumm…

„Ich?“ War ich Reisig? Möglich. Ich lächelte sie über den Tisch hinweg an. „Ich bin der Funke.“ Damit leerte ich meine Tasse, nahm ihr nachdenkliches „So?“ in der Luft hängen und bedankte mich fürs Frühstück.

Mittlerweile dürfte der Herr doch wohl fertig sein. So lange brauchte man nun echt nicht für einen Orgasmus, wenn man alleine war.

Zielstrebig schritt ich zurück nach oben, überlegte noch kurz ob ich dieses Mal klopfen sollte und verwarf den Gedanken so schnell wie er mir gekommen war. Da drin war nichts, was ich nicht bereits gesehen hatte.

Die Musik spielte noch immer als ich die Tür aufriss und ein fröhliches „Endlich fertig? Wundervoll.“ Verlauten ließ.

Er lag noch immer oben ohne auf dem Bett. Die Augen geschlossen, einen Ausdruck auf dem Gesicht der mich fast etwas an Glückseligkeit erinnerte –natürlich nur, bis ich die Tür aufriss. Zu meinem Bedauern, hing die graue Jogginghose zwar noch immer tief auf den seinen Hüften, verdeckten aber alles Interessante, was sie zuvor so entzückend preisgegeben hatte. Auch wenn sein Oberkörper nicht schlecht anzuschauen war. Ja… damit konnte ich für den Moment auch leben.

„W…was?“ Entsetzt setzte er sich auf. Das Gesicht leicht an eine Tomate erinnernd

„Mach dir keinen Kopf.“ Winkte ich ab. Ein Versuch ihn zu beruhigen. Nicht das er noch an einem Herzinfarkt starb. Wäre schade um ihn. „Masturbieren ist ganz normal in unserem Alter. Findet übrigens auch deine Mutter. Also alles prima.“

Wenn es möglich war, nahm sein Gesicht einen noch tieferen Rotton an, als zuvor.

„Bitte was?“

„Ich hoffe nur du hast dir die Hände gewaschen, nachdem du fertig geworden bist. Wäre ein bisschen grenzwertig wenn das Zeug noch immer an den Fingerchen klebt die mich nachher wohl oder übel anfassen müssen. Oder deine Mutter.“

Gut ich geb es zu. Nun zog ich ihn auf. Aber mal ehrlich: die panische Flucht aus seinem eigenen Zimmer war die zähe, beinahe hölzern wirkende Probe die danach folgte, auf jeden Fall wert. Ich würde es jeder Zeit wieder tun. Nur bezweifelte ich, dass er in nächster Zeit noch einmal an sich rumspielen würde. Naja… zumindest würde er nun abschließen. Soviel war sicher.

 

 

Noah

 

Der verhängnisvolle Sonntag hing mir noch immer in den Knochen.

Jedes Mal wenn ich dachte einen bestimmten brünetten Haarschopf in der Schülermenge zu sehen, oder auch nur sein vermeintliches Stimmchen hörte, verspürte ich den Drang mich zu verstecken oder schreiend in die andere Richtung zu laufen. Ging natürlich nicht. Zumindest nicht schreiend.

Was fiel ihm auch ein? Kannte er keine Privatsphäre? Klopfen wäre nett gewesen. Oder wenigstens Klappe halten danach.

Sein Grinsen war das letzte.

Wieviel er wohl wirklich gesehen hatte? Sein Blick schrie praktisch „Alles!“. Ich hoffte, dass er nur gut im Raten war und mich nicht wirklich dabei gesehen hatte. Gott. Ich konnte es nicht einmal direkt benennen wenn er involviert war.

„Noah?“ Unsanft wurde mir ein Ellenbogen in die Rippen gedrückt. Ein sehr spitzer Ellenbogen.

„Was?“ Versucht unauffällig rieb ich mir über die geschundene Stelle, den Blick über den Schulhof schweifen lassend. Nur die üblichen Verdächtigen waren zu sehen.

Erleichtert atmete ich durch und ließ mich auf eine der Blumenkübel sinken. Ein Teil des Grünzeugs segnete dabei höchstwahrscheinlich das zeitliche. War eh hässlich.

„Was ist heute los mit dir?“

„Nichts…“

Auch wenn ich nicht hinschaute, wusste ich das er eine Augenbraue skeptisch nach oben zog, während er sich die unordentlichen Haarsträhnen aus dem Gesicht strich. „Sicher… Nichts. Deshalb verhältst du dich auch die ganze Zeit schon so paranoid.“

Ich schwieg; ließ den Blick weiter schweifen während ich eines der Pausenbrote auspackte die meine Mutter mir aufgezwungen hatte.

Grüne Augen, die beinahe mehr zum braun tendierten als zum Grün, starrten ein Loch in meinen Schädel. Während ich mein Brot auspackte. Während ich es aß. Auch noch als ich die Verpackung wegwarf und es endlich nicht mehr aushielt, mich erneut umsah, um sicher zu gehen dass sich die üblichen Nervensägen nicht angeschlichen hatten und uns gleich belagern würden, ehe es aus mir heraus brach.

„Jago war gestern zum Proben bei mir gewesen, aber es war noch zeitig also hab ich mir einen runtergeholt und er hat es gesehen, glaube ich, auf jeden Fall hat er das angedeutet und er hat es meiner Mutter erzählt und nun fühl ich mich absolut seltsam, da ich nicht weiß was er gesehen hat.“ Davon, dass mich der Gedanke irritierte, dass ich am Abend nochmal Hand anlegen musste, mal ganz abgesehen. Letzteres erwähnte ich lieber nicht. Sonst dachte mein sogenannter bester Freund noch es lag an Jago. Oder irgendwelchen anderen Mist. Wer wusste schon was er da unter seinen gefärbten Zotteln ausbrütete.

„Pfwahahahaha“, brach er, kaum dass ich zu Ende geredet hatte, in Lachen aus. Mein Fuß traf sein Schienbein. Das dämmte das Lachen etwas ein, beendete es jedoch nicht. Es brauchte fast den Rest der Hofpause und diverse missmutige Blicke, um ihn zu beruhigen.

Endlich schien er das geschehene nicht mehr als witzig zu empfinden.

„Okay…“ Er atmete tief durch und setzte ein ernstes Gesicht auf; signalisierte damit, dass er sich gefasst hatte.

Endlich!

Als wüsste ich nicht, auch ohne sein Zutun, dass das ganze lächerlich war. Eine Lappalie. Warum störte es mich bitte so? Ich hatte mehr als einen Kerl gesehen. Nackt. Zwar nicht beim Palme wedeln aber hey…

„Hat er wenigstens angeboten dir zur Hand zu gehen?“

Seine Worte ließen mein Hirn –und wahrscheinlich sämtliche andere Lebensnotwendige Organe- implodieren und sich neu zusammen puzzeln.

„Was? Mein… warum … was? Wieso?“, brachte ich hustend hervor. Ein hinterhältiger schwall an Atemluft hatte sich in meinem Hals verkeilt und es sich zur Aufgabe gemacht mich qualvoll zu ersticken.

Pascha lachte erneut auf. Diesmal nur kurz, ehe er Schulterzuckend aufstand.

„Hätte ja sein können. Wäre eine nette Geste gewesen. Die eigene Hand ist immer so langweilig…“ Theatralisch seufzend –warum er nicht in der Theater-AG war fragte ich mich- schwang er sich seine Schultasche über die Schultern und ließ mich mit einem viel zu informativen „Bin kacken. Bis gleich.“ mit meinem Elend allein.

Meinem Elend. Meinen Gedanken.

Das war doch nicht auszuhalten!

Das Stundenklingeln rettete mich. Jedoch nur für eine kurze Zeit. Im Klassenzimmer angekommen lachte mir ein uralter Fernseher mit Kassettenrekorder, neben einem ebenso alten Lehrer stehend, entgegen. Oh bitte. Kein Film. Kein Film, der so alt war, dass man ihn noch auf Kassette hatte.

Schnell verzog ich mich auf einen Platz in der letzten Reihe, ehe es einem meiner enthusiastischeren Mitschüler einfiel sich dort niederzulassen um den Platz zum nicht-Schlafen zu nutzen.

Mir sackte der Kopf auf meine, auf dem Tisch verschränkten Arme sobald das Licht ausging und der Film flimmernd startete. Keiner beachtete mich auf der einsamen Bankreihe im Hintergrund.

Vielleicht half das Lullen im Hintergrund meine Misere zu vertreiben. Sonst schaffte es eine Filmstunde im Unterricht auch mir sämtliche Gedanken aus dem Kopf zu blasen.

Stille hallte in meinem Kopf wieder.

Doch gerade als Jubel darüber ausbrechen wollte schlich sich die Stimme meines besten Freundes in meinen Kopf. Hat er angeboten dir zur Hand zu gehen?
Ich wollte es nicht. Ernsthaft. Dennoch dachte ich drüber nach. Was wäre passiert wenn er genau das angeboten hätte?

Nichts! Wollte ich schreien, war mir jedoch selbst nicht sicher.

So ganz leise, still für mich konnte ich zugeben, dass dieses nichts vielleicht doch nicht stimmte.

Hätte er mir behilflich sein wollen… tja…

Meine Wangen brannten, erhitzten meine Arme an denen ich sie versuchte zu verstecken. Vor der Klasse, vor der Welt und vor allem vor mir selbst. Wie dämlich war der Gedanke bitte, dass er bei mir Hand anlegte? Er hatte bestimmt besseres zu tun. Außerdem… wie viel anders konnte seine Hand im Gegensatz zu meiner schon sein? Zugegeben seine Hände waren kleiner, filigraner als meine; und sie wirkten immer so verdammt weich. Wie über Nacht in Handcreme eingelegt und babyzart.

Verdammt!

Leise knurrte ich den Tisch unter mir an, als sich meine untere Hälfte sichtlich regte. Verdammter Verräter.

Elender…

Ehe ich mich selbst weiter verdammen konnte wurde der Stuhl neben mir zurückgezogen. Panisch erstarrte ich. Bis ich Paschas Stimme zu laut neben mir vernahm.

„Alter, war das ne anstrengende Sitzung.“ Übertrieben seufzte er, als er sich im Stuhl zurück lehnt. Der Lehrer zischte etwas in seine Richtung, was jedoch keiner verstand über die Lautstärke des altersschwachen Röhrenbildschirms hinweg.

Pascha regte sich kaum. Dabei hätte ich meinen Arsch verwettet, dass er schneller auf dem Tisch lag und schlief als ich. Stattdessen bemerkte ich seinen bohrenden Blick auf mir. Die Nackenhaare stellten sich auf. Gänsehaut schlich sich auf meine Arme. Im Allgemeinen wurde mir sehr unwohl. Wenn er mich so anstarrte und schwieg und unter Garantie eines seiner patentierten Creepy-Grinsen aufgesetzt hatte, verhieß das nichts Gutes. Nie. Niemals. Auf gar keinen Fall.

„Pass besser auf, dass dir unter dem Tisch keiner abgeht. Das dem Alten zu erklären wäre mehr als peinlich“, lachte er mir ins Ohr, ehe er sich wie von mir erwartet auf die Bank sinken ließ und laut vernehmlich vor sich hin schnarchte.

Dämliches Arschloch. Warum war ich mit so was befreundet?

Frustriert kniff ich die Augen zusammen. Beschwor die Gedanken in meinem Kopf, endlich zu verschwinden und mir die Peinlichkeit am Ende der Doppelstunde zu ersparen.

 

Grinsend musterte Pascha mich nach der Stunde. Schwieg jedoch. Weshalb ich im nur den Finger entgegen reckte, mein Rucksack schulterte, den Helm in die Linke nahm und das Klassenzimmer gen Freiheit verließ.
„Glück gehabt Blondi… Wäre fast in die Hose gegangen…“, zog mein Freund mich auf, der mit etwas Abstand hinter mir her lief.

„Penner. Wessen Schuld war das wohl?“ Knurrte ich ihm entgegen. Ohne hinzusehen fischte ich meinen Motorradschlüssel mit einer Hand aus dem Rucksack.

„Ach du Charmeur.“ Wild fächelte er sich mit den Händen Luft zu, ehe er mir lasziv zuzwinkerte. „Hätte ich gewusst das du so von mir denkst- AU!“

Der Helm, der kurzerhand mit seiner Schulter kollidierte, ließ ihn mit seinem Scheiß innehalten.

„War doch nur ein Witz. Spielverderber. Wir wissen doch alle auf wen du wirklich scharf bist.“

„Im Moment bin ich nur scharf auf ein heißes Bad und die gute alte Tiefkühlpizza.“

„Langweiler. Irgendwann gibst du es schon noch zu.“

Mit einem „weiß nicht was du meinst“ verschwand mein Kopf unter dem Helm und ich schwang mich auf mein Baby. Geschmeidig glitt der Schlüssel ins Zündschloss und in die Startposition. Doch anstatt zu schnurren wie ein Kätzchen, gab sie nur ein leierndes Ächzen von sich.

„Betty, nein! Warum tust du das?“

„Betty?“

„Lach nicht du Penner. Du weißt wie mein Baby heißt!“, ging ich Pascha an, der tatsächlich unverhohlen lachte. Mal wieder. Ich sollte ernsthaft drüber nachdenken warum ich mit so einem Typen schon so lange befreundet war.

„Komm schon Schatz…. Spring an…“ Ich wandte den bösen Blick von meinem Freund ab und richtete ihn auf Betty. Weitaus liebevoller. Dennoch wollte sie nicht starten. Immer wieder leierte sie träge vor sich hin.

„Drecksteil!“ Ich war kurz davor gegen mein Schätzchen zu treten, ehe ich mich dagegen entschied und sie stattdessen aufbauend tätschelte. „Nicht dumm tun. Bitte. Spring einfach an und bring mich nach Hause. Ich lieb dich auch…“

Pascha gackerte noch immer belustigt vor sich hin, während ich hin und hergerissen zwischen verfluchen und gut zureden schwankte, als sich eine dritte Stimme in das Gewirr einbrachte.

„Brauchst du Hilfe?“

Ich erstarrte in der Bewegung. Schluckte schwer. Bloß nicht rot werden, auch wenn es unter dem Helm eh keiner sehen konnte. Pascha gackerte wenn es ging noch lauter.

Jacek hingegen schaute verwirrt zwischen uns beiden hin und her, ehe er sich zu seinen Freundinnen drehte, die stumm hinter ihm standen. Beide zuckten mit den Schultern.

„Nur wenn du Motorräder reparieren kannst.“ Endlich hatte ich mich so weit gefasst, dass ich einen klaren Satz hervorbringen konnte, ohne dass ich rot wurde, da meine Gedanken abdrifteten… Verdammt. Böser Noah. Schau ihm nicht auf die Finger; auch wenn sie einladend an seinem Armband spielten!

„Werkstatt?“

„Zu weit weg…“ Seufzend setzte ich den Helm wieder ab und hing ihn an den Lenker. Noch immer ächzte Betty nur als in den Schlüssel im Schloss drehte.

„Gib mir dein Telefon.“ Eine filigrane, babyweiche Hand schob sich unangenehm nah an mich ran. Mit Kuli waren ein paar Notizen auf die Handflächen gemalt, doch bereits unleserlich.  Fragend hob ich eine Augenbraue, welche er mit einem ‚wird’s-bald“-Blick in Grund und Boden stampfte.

Nur zögernd griff ich in meinen Rucksack, doch schließlich überreichte ich ihm das Gerät. Entsperrt und einsatzbereit.

Aus dem Gedächtnis tippte er eine Nummer ins Zahlenfeld. Nachdem er den grünen Hörer gedrückt hatte, klemmte er sich das Telefon ans Ohr und wartete. Seine Finger spielten wieder mit dem Armband.

Wenn man genau hinhörte und sich nicht von ihm ablenken ließ, konnte man das Freizeichen hören, kurz darauf ein unangenehmes knacken und eine murmelnde, tiefe Stimme.

„Cześć A..“ – „Ja?“ – „Was?“ – „Nein.“ – „Motorrad springt nicht an…“ – „Auf dem Schulhof des Schillergymnasiums.“ – „Ja… nicht zu übersehen wenn man auf den Parkplatz schaut.“

Es machte mich etwas kirre, dass ich nur seine Seite des Gespräches verstand, weshalb ich so gut es ging auf Durchzug schaltete und versuchte ihn nicht dabei zu beobachten, wie sich eine Hand um mein Handy schlang und er sich mit der anderen an einzelnen Haarsträhnen zupfte.

Neben mir hatte Pascha derweil aufgehört zu lachen wie ein Irrer. Dafür rückte er nun näher an die Mädels heran, die das ganze zum einen Misstrauisch, zum anderen abwartend beobachteten.

Nach seinem plumpen „Hey, wie geht’s…“ schaltete ich wieder ab. Dass er sich immer noch für Jagos Blonde Freundin interessierte wunderte mich. Normalerweise schwand sein Interesse so schnell wie es aufflammte. Das Gesicht der Blonden –wie auch immer sie hieß. Birgit glaub ich. Oder Karin…- zeigte keine Regung. Fast glaubte ich, sie würde ihn genauso ausblenden wie ich. Vielleicht war sie auch taub. Was auch immer es war, es half ihr dabei stoisch in einen alten Wälzer mit vergilbten Seiten zu starren und dabei fasziniert zu wirken. Völlig unbeeinflusst von ihrer Umwelt. Im Gegensatz zu dem zweiten Mädel. Größer als die andere, mit Brille, dickem Pferdeschwanz und pikfeinem Outfit, dass mich an die Schuluniformen dieser britischen Eliteschulen erinnerte. Grinsend beobachtete diese die Interaktion –oder eher die fehlende Interaktion- zwischen Pawel und der kleinen Blonden. Hin und wieder sah sie so aus, als wollte sie ihrer Freundin einen Anstoß geben, doch endlich mal zu reagieren, schlussendlich hielt sie sich jedoch zurück.

Als mein Name fiel, richtete ich meine Aufmerksamkeit zurück auf das Wesentliche. Gerade rechtzeitig um mein Telefon entgegen zu nehmen bevor es auf dem Boden des Parkplatzes zerschellen konnte. Wer ließ bitte ein Telefon los ehe der andere es sicher in Händen hatte?

„Du und Betty“ Unverhohlen grinste er als er den Namen aussprach. „werdet in ungefähr zwanzig Minuten geholt“, informierte der Brünette mich.

Die Blonde schaute das erste Mal auf, seit sie zu uns gekommen waren. „Können wir dann endlich zum Bus? Das Zwitschern dieser Landplage hier geht mir gewaltig auf den Keks.“ Kopfschüttelnd wartete sie gar nicht erst auf eine Antwort, sondern wandte sich um, senke den Blick zurück ins Buch und trabte in Richtung Bushaltestelle davon, ohne auch nur mit irgendetwas zu kollidieren.

„Das ist unser Stichwort. Macht‘s gut ihr zwei.“ Die Dunkelhaarige hakte sich bei Jago unter und zog diesen mit sich.

Pascha schaute dem Trio hinterher. Verzückt, trotz eindeutiger Ablehnung.

„Das war keine Ablehnung. Das war eine Herausforderung. Mädels die leicht zu haben sind, werden genauso leicht langweilig. Aber die hier…“

Ich hielt ihm die Hand vor den Mund. Wie er dieses Exemplar der weiblichen Gattung fand wollte ich gar nicht wissen.

„Musst du nicht auch zum Bus?“

„Stimmt.“ Beinahe erschrocken schaute er auf seine Uhr, strich sich die Haare aus dem Gesicht und ließ mich mit einem Schlag auf die Schulter alleine stehen. Kein bis Später, nichts. Toller bester Freund war das, wenn er ein Mädel im Kopf hatte.

Sein wuscheliger Kopf und die zerrissenen Jeans verschwanden um die Ecke. Nun war ich dran auf die Uhr zu schauen. Noch circa 17 Minuten bis ich ebenfalls hier weg konnte.

Genervt die Luft ausstoßend ließ ich mich auf den Motorradsitz fallen und legte den Kopf in den Nacken um die Wolken zu beobachten, die zunehmend grauer wurden. Bei meinem Glück würde es bestimmt gleich anfangen zu… Nein Noah. Hör auf, ermahnte ich mich. Würde ich das Wort Regen auch nur denken stünde ich in spätestens zweieinhalb Minuten bis auf die Knochen durchnässt hier und hätte den Salat.

Fies grinsend schienen die Wolken auf mich herabzusehen und wurden prompt noch etwas finsterer.

Noch 15 Minuten. So lange musste es trocken bleiben. Fast war ich gewillt ein kurzes Gebet an wen auch immer zu richten. Fast. Dafür war mir das Ganze dann doch zu banal. Ich war viel zu atheistisch um mein „once-in-a-lifetime-Stoßgebet-weil-gar-nichts-mehr-geht“, wegen des drohenden Gewitters zu verschwenden. Das hob ich mir vielleicht lieber für wichtige Sachen auf. Wenn ich beispielsweise wieder masturbieren wollte und Jago sich angekündigt hat. Oder wenn er sich nicht angekündigt hat und ich masturbieren will…

Verdammt… So oft wie ich in meinem Leben dann beten müsste, sollte ich glatt Gläubig werden. Hab es eine Religion in der es nicht verpönt war an sich selbst rumzuspielen?

Mein Grübeln half mir dabei die Zeit zu überbrücken. Immerhin nur noch zehn Minuten Wartezeit. Falls der Werkstattheini pünktlich war.

Dafür quälte mich nun die Religionsfrage und die Erinnerung ans vergangene Wochenende.

Verdammt.

„Puuuuuh….“ Gelangweilt trat ich gegen einen Stein, der vor mir auf dem Asphalt lag. Klackernd hüpfte er ein Stück von mir weg. Der Mittelfinger, den er mir entgegen streckte war kilometerweit zu sehen, so mickrig war der Schuss. Verflixt. Heute war nicht mein Tag.

Skeptisch schielte ich erneut nach oben. Düsterer als die Stadt zu Pfingsten.

Und immer noch fünf…

Ein Scheppern ließ mich aufsehen.

Ein ehemals weißer Sprinter polterte über den kleinen Boller am Eingang des Parkplatzes und kam vor mir zum Stehen.

„Bist du Noah?“ Ein Mann, vermutlich jenseits der fünfzig, mit dichtem Vollbart, buschigen Augenbrauen und einer Stimme wie eine Kettensäge stieg aus dem Wagen und besah sich Betty, als bräuchte er gar keine Antwort auf seine Frage. Dennoch nickte ich und ließ mir meine Hand von seiner öligen Bärentatze zerquetschen.

„Was hat die Gute denn?“ Er deutete auf Betty. Ich zuckte mit den Schultern. Wüsste ich es, bräuchte ich keine Hilfe.

„Sie leiert nur beim Anlassen.“

Er brummte in seinen Brat und nickte. Hockte sich schließlich neben mein Baby, guckte etwas genauer und brummte wieder.

„Ich nehm dich am besten mit. Meine Jungs sind geschickter mit zweirädrigen Vehikeln als ich. Außerdem…“  Er deutete nach oben als der erste Tropfen gegen meine Stirn klatschte.

„Und das passende Werkzeug hab‘ ich auch nicht hier,“ gab er zu. Dazu sagte ich besser nichts. Warum nahm man, wenn man eigentlich schon wusste worum es ging, kein passendes Werkzeug mit? Doch ich wollte mich nicht beschweren. Eine Herz OP führte man auch nicht auf dem Männerklo durch.

„Wir laden das Goldstück hinten rein, dann fahren wir zur Werkstatt. Wenn meine Jungs wissen was ihr fehlt klären wir alles Weitere und bringen dich dann nach Hause. Dass wir das Mädel heute noch zum Laufen bekommen halte ich für recht unwahrscheinlich.“

Ich nickte. Blieb mir ja nichts Anderes übrig.

Ordnungsgemäß zurrte der Bärtige meine Betty fest und ich stieg beruhigt auf der Beifahrerseite ein. Noch länger im Regen und ich könnte meine Unterwäsche auswringen.

Heute war echt nicht mein Tag

 

 

Vivianne

 

Ein bisschen tut er mir schon leid, dachte ich so für mich, verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete Nowak dabei, wie er sich an Bryn die Zähne ausbiss. Äußerlich schien das Ganze an ihr abzuprallen. Da ich die gute jedoch schon mein halbes Leben kannte wusste ich, dass sie innerlich kochte, so genervt war sie davon angemacht zu werden.

Konnte ich gar nicht verstehen.

Vermutlich weil ich gerne angemacht wurde.

Oder eher, weil immer das grazile, liebreizende Elflein neben mir die ganze Aufmerksamkeit erhielt, während man selbst keines Blickes gewürdigt wurde. Ehrlich, sie ist meine beste Freundin und mein Herz ist voller Liebe für sie, doch manchmal wünschte ich ihr eine eklige Krankheit an den Hals, einfach damit mal nicht jeder sofort nur auf sie fixiert war. Natürlich nur um die armen Kerle zu schützen, die sich ständig ihr kleines Herzlein an ihr brechen. Natürlich nur deshalb. War schließlich keine dieser miesen Freindinnen die man Tagtäglich im Ami-TV zu sehen bekam.

Bryn starrte weiter teilnahmslos in eines ihrer Drecksbücher während er sich den Mund fusselig redete.

Ich blendete seine Stimme aus und konzentrierte mich auf sein Gesicht.

War ja ganz hübsch… tat mir echt leid, dass weder er, noch irgendwer anders bei ihr eine Chance hätte. Wenn jemand den Titel „emotionale Eisprinzessin“ verdient hatte, dann sie. Man sollte ihr vielleicht ein Warnschild umhängen. Oder einen Sack über den Kopf ziehen. Unwillkürlich musste ich darüber schmunzeln. Dann fiel mein Blick auf seine Haare.

Hm… hatte er letztens nicht noch eine andere Haarfarbe?

Vorsichtshalber rückte ich die Brille auf meiner Nase zurecht. Nein immer noch diese seltsame Farbe.

Kopfschüttelnd wandte ich den Blick ab und widmete stattdessen Jacek einen Teil meiner Aufmerksamkeit.

Seit wann plapperte er schon so wild am Telefon herum? Sah nicht mal aus wie seines. So wie Gräfe dreinschaute war es wohl seins. Schien nicht glücklich drüber zu sein. Egal…

Plötzlich richtete der Blonde seine Aufmerksamkeit auf uns. Schnell schaute ich zur Seite, zurück auf das Flirt-Spektakel allererster Güte. Er sollte mich nicht unbedingt dabei erwischen wie ich ihn anstarrte. Irgendwie mochten das die wenigsten… dabei schau ich die Leute immer nur so an. Aus langerweile. Ohne jegliches Interesse an ihnen zu haben. Irgendwie kam das jedoch immer falsch rüber.

Endlich regte sich meine blonde Freundin. Einen Moment lang schaute sie zu Nowak auf. Ein kleiner Funken Hoffnung regte sich in seinem Blick, nur um kurz darauf zerquetscht zu werden, als sie, keine halbe Sekunde später zu Jacek schaute und genervt fragte, ob wir nicht endlich loskonnten. Das „Landplage“ schien dabei wie ein Tritt in die Weichteile zu sein. Ja, da hatte es tatsächlich ganz gewaltig in ihr gebrodelt. So viel Gefühl legte sie sonst nie anderen gegenüber an den Tag.

Ohne auf Jaceks Antwort zu warten machte sie auf der Hacke kehrt und stolzierte in ihren Minischritten -etwas Anderes ließen ihre kurzen Beinchen nicht zu- davon.

Innerlich seufzte ich, raffte mich jedoch auf und wand mich mit einem Lächeln dem Brünetten zu.

„Das ist unser Stichwort.“

Routiniert hakte ich mich bei meinem Freund ein und zog ihn mit mir in Richtung Bushaltestelle, während ich, anders als das Eisprinzesschen, sogar den Anstand besaß, mich von den beiden anderen zu verabschieden, anstatt sie bedeppert im Regen stehen zu lassen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Der Himmel nahm allmählich ein widerwärtiges Grau an.

„Hoffentlich kommt der Bus pünktlich,“ murmelte ich leise während ich neben Bryn an der Bushaltestelle zum Stehen kam. Ihre Nase war bereits wieder in ihrem dicken Wälzer vergraben. Augenrollend lehnte ich mich an Jacek, ließ meinen Kopf gegen seinen sinken und bemerkte was er doch für einen Wachstumsschub hatte in den letzten Jahren. Mit süßen zwölf Jahren war er fast einen Kopf kleiner als ich gewesen und mittlerweile könnte er mich sogar um ein paar Zentimeter überragen.

„Liebebedürftig?“ Schmunzelnd knuffte er mir mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Immer.“

Bryn ignorierte noch immer die Welt um sich herum. Manchmal wünschte ich echt mit ihr tauschen zu können.

Jaceks Arm legte sich um meine Schultern, ehe er mir einen Kuss auf die Schläfen drückte und mich zum Bus zog, der an der vor uns zum Stehen kam. Aber nur manchmal.

Wäre ich Bryn, dann müsste ich auf zu vielen verzichten. Und selbst wenn es nur platonische Knutschereien und Schmuseeinheiten meines besten Freundes waren.

Nein… um nichts in der Welt wollte ich tauschen.

 

„Wie war das jetzt nochmal mit kinetischer und potentieller Energie?“ Ratlos schaute ich vom Schulbuch in meine Aufzeichnungen und schließlich zu Bryn und Jacek.

Beide hatten bereits angefangen die Aufgaben für die nächste Stunde abzuarbeiten, während mir noch dutzende Fragezeichen im Kopf herumschwirrten.

„Was genau meinst du?“ Jaceks Stift kam zum Stehen. Bryn schrieb stoisch weiter, hob jedoch eine Augenbraue in Richtung Haaransatz um anzuzeigen, dass sie zuhörte.

„Ja… also…“ Mit dem Bleistift fuhr ich mir durch die Haare ehe ich diesen seufzend auf den Tisch war und zugab, dass ich einfach „Alles!“ meinte.

Die Blonde stieß die Luft hörbar aus, ein stummes „wir haben es dir schon fünf Mal erklärt“ in den Raum stellend, während Jacek zu mir herumrutschte und erneut sein Glück versuchte.

Unruhiger als normal, trommelte er mit dem Kuli auf seinem Block herum. Sein Mund gab irgendeine Erklärung für Dumme zum Thema kinetischer Energie von sich. Mein Hirn fixierte sich ausschließlich auf das leise plop, plop, plop des Stiftes.

„Was?“

„Ich sagte…“ Wieder übertönte der Stift seine Worte in meinem Kopf. Verdammt. Warum musste er heute auch so unruhig sein? Heute hatte er sich sowieso den ganzen Tag schon seltsam benommen, wenn ich genau drüber nachdachte.

Unausgeschlafen kam er an der Schule an. Schaute sich komisch um. Im Unterricht träumte er vor sich hin und zuckte ertappt zusammen, wenn man ihn ansprach. Alles sehr suspekt. Warum ist mir das vorher nicht aufgefallen?

„Hörst du mir überhaupt zu?“

Stumm schüttelte ich den Kopf und hielt ihm meine Hand entgegen. Den Zeigefinger ausgestreckt in einer Geste, dass er kurz ruhig sein sollte, während ich weiter Sherlock spielte. Unruhig während des Mittagessens. Die Augen fast schon suchend auf die Schülerschar gerichtet. Keine Teilnahme am Tratsch. Der nervöse Tick an seinem Armband -oder wahlweise Shirts, Hosen, Pullis oder Haaren, was grade zur Hand war- zu spielend, als er auf dem Parkplatz mit dem Schönling geredet hat. Die fehlende Gegenwehr als wir zum Bus… Der Parkplatz…

„Was genau hast du mit Gräfe getrieben, dass du heute so drauf bist? Und was wichtiger ist, warum habe ich davon noch nichts gehört?“ Der Finger ließ ab von der „halt die Klappe“-Haltung und ging in die „Was fällt dir ein“-Pose über.

Wie in Zeitlupe senkte er den Blick und seine Wangen bekamen einen satten rosa Farbton, den jedes Schneewittchen hätte neidisch werden lassen.

Ha! Da war also wirklich etwas. Dabei hatte ich nur ins Blaue geraten, weil der Ker der einzige seltsame Faktor zurzeit war.

„Ich hab‘ gar nichts mit ihm getrieben. Du spinnst doch.“ Seine Reaktion ließ zu lange auf sich warten, als dass ich ihm das abgekauft hätte. Er war ein guter Schauspieler. Doch wenn man ihn einmal auf dem falschen Fuß erwischte und unter seine Maske blicken konnte, dann konnte er nicht mehr lügen.

„Bist du dir sicher?“ Über den Rand meiner Brille hinweg starrte ich ihn an. Er hasste das. Wobei ich nicht wusste ob es das Brillending oder das Starrding war, dass ihn so fertig machte.

„Ja?“

„Sicher?“

Er schien kurz mit sich zu ringen, ehe er vom Thema ablenkte und wissen wollte ob wir nicht eigentlich wichtigere Sachen bereden sollten. Kinetische und potentielle Energie zum Beispiel.

„Ach!“ Rief ich aus „Die kinetische Energie kann der potentiellen von mir aus ins Knie ficken. Und jetzt raus mit der Sprache. Alle schmutzigen Details.“

Er schwieg, ich starrte.

Ich starrte noch etwas mehr, sein Schweigen wurde unruhiger. Der Kuli klackte wieder aufs Papier.

Fast geschafft, noch ein wenig länger starren und…

Bryn verdrehte die Augen, legte jedoch ihre Aufgaben beiseite und wartete ab.

Endlich knickte Jacek ein und die Geschehnisse des letzten Sonntags sprudelten aus ihm heraus.

 

„Okay…“ Ich nickte eine Weile lang. Ließ mir das gehörte durch den Kopf gehen, während das Eisprinzesschen plötzlich wieder uninteressiert zu sein schien und sich wieder ihren Aufgaben widmete. Manchmal ging sie mir echt auf den Sack. Man hatte beste Freundinnen schließlich um über Schweinkram zu reden. Oder nicht?

„Also… mal ganz davon abgesehen, dass ich dich total beneide -muss ein schöner Anblick gewesen sein-,“ unbewusst nickte er, ehe er sich davon abhalten konnte. „ich seh‘ nicht warum dich das so wuschig im Kopf macht. Ist ja nicht so, dass du noch nie einen nackten Kerl gesehen hättest. Oder einen der an sich rumspielt. Was steckt da noch dahinter. Ein ‚nichts‘ kauf ich dir übrigens nicht ab.“

Wieder druckste er herum, bis schließlich Bryn das Wort ergriff.

„Spuck es endlich auf, sonst gibt sie nie Ruhe. Aber bevor du anfängst hau ich ab.“

Warum noch mal war ich mit ihr seit gut einem Jahrzehnt befreundet?

Ordentlich verstaute sie ihr Zeug in der Tasche die sie sich lässig über die Schulter warf. Im Vorbeigehen strich sie Jacek durch die Haare- ihr Zeichen, dass er nicht immer alles in sich hineinfressen sollte- ehe sie meine Schläfe küsste und leise brummte, dass ich mich doch besser zwischen die kinetische und die potentielle Energie werfen sollte, damit ich auch mal was von dem lange überfälligen Fick abbekam.

Das Lachen blieb mir prompt im Halse stecken. Sie grinste. Ach ja, darum ertrug ich sie schon eine Ewigkeit. Ihr Wahnsinn passte so gut zu meinem.

„Morgen bei mir?“ Fragend deutete sie auf unsere Aufgaben die noch immer nicht fertig waren. „Lilo hat heute Abend OP. Will sie morgen nicht alleine lassen. Papa hat Spätschicht.“

Und wegen diesem dummen Hundevieh liebte ich sie auch. Irgendwie. Dieser übergroße Teddy war selbst zu mir lieb. Und das wollte was heißen. Sowohl Tiere als auch Pflanzen gingen ein, sobald ich in ihre Nähe kam.

Jacek nickte. Ich tat es ihm gleich.

„Super.“ Grinsend straffte sie die Schultern und schritt Elfengleich zur Tür und aus dieser hinaus, ehe einer von uns auch nur aufstehen und sie nach draußen begleiten konnte.

„Da geht das Maiglöckchen hin…“

„Dachte das wären Narzissen…“, brummte ich und versuchte mich nicht zu sehr an Bryns Bluse zu erinnern. Ihr Outfit forderte mich oft -sehr, sehr oft- auf ihr die hässlichen Blümchenmuster vom Leib zu reißen und sie in einen Kartoffelsack zu stecken.

„Auch egal“, unterbrach ich die Gedanken mit fester Stimme. „Es gibt wichtigere Sachen zu klären. Zum Beispiel: was ist nach dem Wichsdebakel vorgefallen, dass du so kirre bist?“

Jacek druckste etwas, ehe er schließlich seufzte, näher zu mir rutschte und mit leiser Stimme zu erklären begann.

„Nicht der Vorfall an sich macht mich so kirre, sondern das was er ausgelöst hat.“ Ehe ich fragen konnte was zur Hölle das sein sollte sprach er auch schon weiter. Diesmal war die Pause nicht mehr durch Nervosität, sondern dramatisch begründet. Alte Diva.

„Du weißt was eine lebhafte Fantasie mit einem anstellen kann?“, fragte er ruhig. Auf mein nicken hin redete er bedächtig weiter.

„Auch wenn die Hormone in dir Polka tanzen und du grad keine Möglichkeit hast das Ganze mit einer anderen Person ins Lot zu bringen?“

Erneut nickte ich und seufzte. Das wusste ich definitiv. Nachdem sich Anton im letzten Jahr als kurzweiliger Fehltritt herausgestellt hatte, konnte sich partout kein anderes Exemplar der Spezies Mann -oder was mal einer werden wollte- finden lassen. Und dabei hieß es immer, dass man in der großen Stadt immer fündig würde. Da war ich wohl die Ausnahme.

„Gut. Dann kannst du auch nachvollziehen, dass mich diese Nacht extrem hart getroffen hat. Hat sich der Kerl doch ernsthaft über mein Unterbewusstsein in meine nicht jugendfreien Träume geschlichen.“ Mit todernster Miene schaute er mich an und ich konnte nicht mehr. Ungehalten brach ich in schallendes Gelächter aus. Nur weil, eine ihm bekannte Person einen Auftritt in seinen nächtlichen Fantasien hatte benahm er sich so? Also bitte. Dann müsste ich die ganze Zeit neben mir stehen. Wann träumte ich mal nicht unanständig von Marco aus der 12c. Oder vom 100-Meter-Tom. Oder von der Mathevertretung aus dem letzten Jahr mit den süßen Grübchen in der Wange. Manchmal träumte ich auch von Ulla. Das wiederum war verstörend. Ulla war die zwanzigjährige Tochter unserer Nachbarin. Sie leitete die Junior-Ringertruppe in der Innenstadt und hatte wenig von dem zierlichen Körperbau ihrer Mutter geerbt. Irgendwas hatte die Frau, dass einem das Höschen feucht wurde. Sehr merkwürdig.

Meine Gedanken waren bereits so weit vom eigentlichen Thema abgeschweift, dass ich beinahe Probleme hatte mich daran zu erinnern. Ach ja, Jacek, Noah, versautes Träumchen.

„Und?“

„Was und?“

„Details. Wenn ich schon nicht dabei war will ich das ganze wenigstens aus zweiter Hand erleben. Du weißt wie eingestaubt mein Liebesleben ist.“

Eine seiner Augenbrauen zog sich langsam gen Haaransatz. „Der Vorfall oder der Traum aus zweiter Hand?“

Nun war es an mir eine Augenbraue hochzuziehen und ihn mit einem skeptischen „kennst du mich überhaupt“-Blick zu bedenken. „Erst das eine, dann das andere. Ohne die Grundlagen kann ich deinen Traum und die daraus resultierende Verstörung doch gar nicht begreifen.“

Er murmelte etwas, das beinahe so klang wie „musst es echt nötig haben“ ehe er sich schließlich geschlagen gab und mir Details lieferte. Jedoch erst nachdem ich ihm mein aller ehrenhaftestes Ehrenwort geben musste und versprach, nie mit irgendwem darüber zu sprechen.

„Okay… Du weißt ja schon was grob passiert ist…“ – „Egal. Details. Schmutzige, schmutzige Details.“ – „Ist ja gut…“

So erzählte er mir eine Weile lang von Noahs Zimmer, den Jogginghosen die eigentlich ein totaler Abturner waren, ihm dennoch beim drüber sprechen rot um die Nase werden ließen -Notiz an mich: Detail merken und ihn dazu befragen-; die weiß hervortretenden Knöchel, während Blondi sich am Laken festkrallte. Die fast schon violette Farbe die sein bestes Stück annahm während er mit festem Griff daran herum rieb.

„Gott…“ Stöhnend vergrub ich den Kopf unter meinen Armen, während ich die Knie zusammenpresste. Definitiv untervögelt, wenn einen schon so mickrige Details kribbbelig werden ließen.

Jacek lachte neben mir vor sich hin, während er meinen Ausbruch beobachtete.

„Fertig?“ Abwartend musterte er mich, während ich im Stuhl nach hinten sackte und kopfüber die hinter mir liegende Wand des Wohnzimmers betrachtete.

„Fertig…“ Seufzend raffte ich mich auf, richtete Bluse und Rock und machte es mir schließlich im Schneidersitz auf dem harten Stuhl bequem. „Und jetzt zum wichtigsten… wie war er so?“

„Er?“

„Naja er halt. Du weißt schon.“

Er antwortete nicht, stattdessen traktierte er mich mit Blicken, die mich auslachten, dass ich es nicht schaffte von Noahs Genitalien als solche zu sprechen, wenn mich allein die Beschreibung des Geschehenen beinahe schon in orgasmische Gefilde katapultiert hätte.

„Jetzt sei nicht so, sondern spuck‘s aus. Komplettiere mein Bild vom blonden Schönling.“

Übertrieben theatralisch -nichts Anderes hätte ich von ihm erwartet- gab er schließlich nach, zuckte mit den Schultern und warf mir den Brocken „Durchschnitt halt“ entgegen.

„Durchschnitt?“ Ungläubig blinzelte ich ihn an. Wer bitte kaufte ihm die Beschreibung „Durchschnitt“ bei einem Kerl wie Mr.Groß-Blond-Sexy ab?

„Ja. Durchschnitt. Und ich mein das nicht abwertend“, warf er schnell ein und fuhr mit der Erklärung fort. „Er ist ein gutes ‚Durchschnitt‘. ‚Durchschnitt‘ ist angenehm was Penisse angeht.“

Er hielt inne und schien zu überlegen.

Korrektur, zu Träumen. Sein Blick wurde abwesend während sich ein kaum sichtbares Lächeln auf seine Lippen schlich.

Ein Schlag gegen den Oberarm beförderte ihn zurück in die Realität.

„Wo war ich? Ach ja. Angenehm. Sehr angenehm. Durchschnitt bedeutet hat, dass er nicht so klein ist, dass du nicht merkst, wenn er drin ist, aber auch nicht so groß ist, dass dir allein vom Angucken schon alles untenrum ausleiert oder reißt. Durchschnitt ist perfekt…“ Wieder wurde sein Blick verhangen.

„Hey. Hör auf von Noahs Durchschnittsausstattung zu träumen! Erzähl lieber weiter damit ich auch was davon habe.“ Ich sah von einem erneuten Schlag ab, da er sich diesmal auch so zusammenraffen konnte.

„Ist ja gut. Drängel nicht. Sonst erzähl ich dir nie wieder davon, wenn ich über solche Perlen stolper.“ Jacek wartete mein Nicken ab, ehe er weiterschwärmte.

„Optisch war er dagegen besser als der Durchschnitt. Manche sehen echt seltsam aus -unförmig oder klopsig oder komisch halt- aber seiner… ich wette mit dir, dass er ganz weich und warm und glatt ist, wenn er dir perfekt in der Hand liegt, mit gerade genug Gewicht dass es angenehm ist und es dir das Blut erst ganz langsam, dann mit einem schlag aus dem Hirn pumpt…“

Nun war ich dran mit Träumen. Und eventuell sabbern.

Heimlich betastete ich mein Kinn. Nein alles trocken. Sehr gut.

„Schade, dass ich das nie werde testen können…“, murmelte ich leise vor mich hin. Meine Beine begannen unangenehm zu kribbeln. Mit einem Knacken streckte ich sie aus, wackelte kurz mit den Füßen und stand schließlich auf um die Durchblutung wieder in Gang zu bekommen.

„Wie kommst du drauf? Vielleicht bist du genau sein Typ?“

Mit gehobener Augenbraue starrte ich ihn an.

„Vielleicht ist er zu schüchtern dich anzusprechen…“, versuchte er es weiter.

Die zweite Augenbraue folgte der ersten in die Höhe.

„Oder er steht drauf wenn die Mädels den ersten Schritt machen?“

Augenrollend schnippte ich Jacek zwischen die Augen. Leise zischend sog er die Luft ein.

Mimose. Er konnte froh sein, dass ich nicht auf seine Nase gezielt hatte.

„Wahrscheinlicher als all das ist es, dass sein ‚Typ‘ keine Brüste besitzt. Weshalb eher du derjenige bist, der so etwas herausfinden kann, als ich.“

Er murmelte ein leises „Schön wärs“ ehe er sich von seinem Stuhl erhob und mit mir in der Küche verschwand.

Mit einem Bottich Brownie-Eiscreme und zwei Löffeln machten wir es uns am Küchentisch bequem.

Die ersten zwei, drei Löffel voller Eis genossen wir in angenehmer Stille, dann begann er zu reden, während er den Löffel zurück in die gefrorene Masse drückte.

„Der Traum fing eigentlich ganz unspektakulär an.“ Mit der Zunge leckte er das Eis gekonnt vom Löffel bis dieser glänzte wie frisch gespült. Mit dem Metall tippte er sich ein paar Mal nachdenklich an die Lippen, ehe er den Löffel wieder in die Packung steckte.

„Wir saßen im Unterricht. Nicht in unserer Klasse. Ein paar aus der Abschlussklasse saßen mit drin. Und Achtklässler. Den Lehrer kannte ich nicht. Der Stand die ganze Zeit vor der Tafel, mit dem Rücken zu uns und brabbelte auf Spanisch vor sich hin.“

„Wir belegen nicht mal Spanisch“, warf ich mit vollem Mund ein, während er pausierte um weiter zu essen.

„Die haben die französische Nationalhymne als Pausenklingeln gespielt. Ihr wart plötzlich alle weg und ich saß in der Bühne im Auditorium während Feli mit den anderen durch die Sitzreihen tanzte. Also kein schöner Tanz. Mehr so gequälter Ausdruckstanz. Vielleicht auch Massenepilepsie… War auf jeden Fall seltsam. Irgendwann haben sie damit aufgehört und waren weg. Bis auf Feli. Die saß hinter der letzten Reihe und hat dieses eine Sido Lied gerappt. Frag nicht warum. Ich weiß es nicht.“ Kopfschüttelnd wehrte er die Frage ab, die mir auf der Zunge lag.

„Nachdem sie angefangen hat zu rappen kam der eigentliche Teil, der mich so…“ –„Wuschig macht?“ – „…wuschig macht, genau. Also. Noah war dann da. Oben ohne mit Bauchmuskeln zum verlieben. Die schmuddeligen Jogginghosen von Sonntagmorgen hatte er an. Sie saßen ihm ganz locker auf den Hüftknochen, zumindest solange bis er sie runtergeschoben hat und angefangen hat an sich rumzuspielen. Wie er die Erektion vorher in der Hose versteckt hatte ist mir im Nachhinein unerklärlich.“

Er seufzte an seinem Löffel vorbei.

Wenn er sich jetzt nicht wünschte, dass der Eislöffel etwas ganz Anderes wäre, dann weiß ich auch nicht.

„Feli hat ungerührt weitergerappt. Irgendwas sinnloses über Mathe. Noah hat auf einmal nicht mehr an sich gespielt, sondern an mir. Aus irgendeinem Grund war ich plötzlich nackt. Er wusste definitiv was er macht. War auch alles ok, bis er plötzlich ein paar seiner Textzeilen aus Felis Stück rezitiert hat. Die passten überhaupt nicht dazu. Irgendwie wars trotzdem heiß, wie er von dem Karren geredet hatte der ein neues Rad brauchte, da sie sonst nicht weiter könnten… Ein paar Verse später waren meine Eier kurz vorm platzen. Und dann hat er aufgehört. Selbst im Traum wollte ich ihn dafür verfluchen. Sowas ist echt mies. Na, auf jeden Fall wurde es wieder besser, als er meinen Oberkörper auf den flauschigen Teppich auf der Bühne gedrückt hat. Ich konnte ihn dabei beobachten wie er meinen Hintern befummelte der ihm entgegengestreckt wurde. Mit seinen Fingern hat er sich leider nur sporadisch um mich gekümmert, ehe er mir seinen…. ‚Durchschnitt‘ vorgestellt hatte. Es sah unbeholfen aus. Aber Gott, wie er mit jedem Stoß dafür gesorgt hatte, das mein Schwanz über den Teppich reibt, so verdammt langsam…

War echt zu schade, dass ich nicht mehr mitgekriegt habe ob er danach kuscheln wollte… Gerade als ich den Teppich voller Verzückung einsauen wollte bin ich aufgewacht und… hab mein Bettlaken eingesaut.“ Bedauernd seufzte er und legte den Löffel beiseite.

Ich ließ mich noch zu einem weiteren Löffel hinreißen ehe ich es ihm gleichtat.

„Schläfst also immer noch nackt? Hat dich das Nachbardebakel nichts gelehrt?“

Unschuldig grinste er.

„Was wichtiger ist als dein grad der Nacktheit: hat Felicitas euch zugeschaut oder saß die nur da und hat gerappt? Versteh mich nicht falsch, beides wäre irgendwie krank aber…“

Wieder zuckte er mit den Schultern. Er war froh, dass er sich noch an die guten Sachen erinnerte, da war ihm der Rest egal. Auch wenn er wegen diesen heute kaum ruhig sitzen konnte.

Könnte ich auch nicht an seiner Stelle.

„Wir sehen uns dann Morgen.“

Verwirrt mustert er mich, als ich aufstehe und im Wohnzimmer mein Zeug hole. „Wir haben Physik doch gar nicht fertig.“

Als würde Physik mich jetzt noch interessieren.

„Physik kann mich mal. Ich brauch jetzt ganz dringend Zeit für mich und Mr. Multigasm.“

Sein angeekeltes „ew“ ignorierend schlüpfte ich in meine Schuhe, wies ihn darauf hin, dass daran alleine er schuld war. Und mein Hirn, welches irgendwie fand das es verdammt geil war, wenn zwei Männer miteinander rummachten, doch das behielt ich für mich. Offiziell war er schuld. Und Noah. Hoffentlich lief ich ihm so bald nicht mehr über den Weg, sonst müsste ich mehr als einmal in der Schule selbst Hand anlegen. Und das war nichts, was ich unbedingt testen wollte. Zuhause hingegen…

Ohne große Verabschiedung verschwand ich Richtung Bushaltestelle und betete, dass der Bus verdammt noch mal, schneller bei mir wäre als sonst.

Gott, warum nur wollte ich es so genau wissen?

Im Hinterkopf, hinter all den versauten Tagträumen die sich in mein Bewusstsein schlichen und sich so schnell nicht mehr vertreiben ließen, speicherte ich Jaceks Reaktionen während er erzählt hatte ab und beschloss, dass, wenn er nicht in die Pötte kam und selbst darauf kam etwas diesbezüglich zu tun, ich dem ganzen etwas nachgehen sollte. Falls ich Zeit dafür hatte.

Impressum

Texte: Meins
Bildmaterialien: Meins
Lektorat: gabs auch nur durch mich...
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Lew, der mir die Idee irgendwie ins Hirn gepflanzt hat

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