Anna traute keinen Börsenexperten, sie vertraute ihrem Verstand. Und der funktionierte ausgezeichnet, entgegen landläufiger Meinung, und obwohl sie blond war.
Dass ihr kleines Köpfchen nicht nur hübsch aussah, sie auch eine gewiefte Bankerin war, zeigten ihre Investments, denn die waren solide, bescherten ihren Anlegern hohe und ihrer Bank noch höhere Gewinne. Krisenzeit hin oder her.
Anna war glücklich. Sie hatte alles: einen tollen Mann, eine hübsche Wohnung, Geld und Erfolg - nur ein Kind fehlte noch. Das jedoch war nicht so einfach: Denn heutzutage bekam man nicht einfach so ein Kind, so aus Versehen, so ganz natürlich. Nein, heute musste geplant werden, zu gefährdet der Erfolg, zu selten der Mann - oder die Frau. Je nachdem, wo der globale Markt sie brauchte: Entweder war Jan unterwegs oder Anna. Und die Schnittpunkte ihrer beider Leben waren spärlich und die Abende lang und einsam, dennoch war die Zeit der Zweisamkeit von einer Intensität, dass ihre Liebe die einsamen Momente überdauerte.
Und heute war wieder ein solcher Tag der Zweisamkeit, einer jener wenigen Schnittpunkte aus denen sie ihre ganze Kraft schöpften.
Anna erschrak. Sie meinte Jans Atem im Nacken zu spüren und fuhr herum. Doch Jan war nicht da, war noch in Dublin und würde erst in wenigen Stunden landen.
Anna schloss die Augen und versuchte ihn erneut zu spüren. Es gelang ihr nicht. Sie erinnerte sich wohl, aber spüren, gar fühlen konnte sie ihn nicht. Was war das bloß gewesen? Ein Déjà-vu etwa?
Dann fiel ihr das letzte Telefonat ein. Hatte Jan nicht von Ähnlichem berichtet? Wie eine Offenbarung sei Anna ihm erschienen, hatte er gesagt, und sie hatte gelacht.
Anna drehte eine Locke um den Finger und grübelte: Ach was, du träumst, die Sehnsucht spielt dir einen Streich oder die Aufregung.
Auf der Flugtafel beherrschte ein Wort das Geschehen: annulliert, und verbreitete Frust unter den Fluggästen. Draußen herrschte Schneetreiben, drinnen jedoch - in der Halle -, herrschte Durcheinander: aufgebrachte Menschen, quengelnde Kinder
Anna hatte Glück. Jans Maschine war im Anflug, mit Verspätung zwar, aber im Anflug. Sie saß im Kaffee und blickte hinaus aufs Flugfeld. Es gab nicht viel zu sehen, nur Schneegestöber. Ab und zu durchdrang ein Blinken das weiße Meer, wie ein Lebenszeichen aus weiter Ferne.
Vor Annas Augen wirbelten Flocken und sie fiel in jenen Dämmerzustand, in dem sie nichts dachte, nur noch fühlte. Und da war es wieder, dieses Déjà-vu. Jan war ganz nahe, sie konnte ihn fühlen, und was sie fühlte, machte ihr Angst. Sie meinte in einen Abgrund zu blicken, verspürte Höhenangst und fuhr erschrocken zurück.
Anna brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. Ihr Herz pochte. Sie blickte zur Flugtafel und las: gelandet. Jans Flug war gelandet. Sie atmete auf.
Anna erkannte Jan von weitem, und würde ihn vermutlich unter Tausenden entdecken, so eigenartig seine rustikalen Klamotten - die wohl eher in den Wald gepasst hätten - so strubbelig seine Haare, die überall heraus stachen und ihn verrieten.
Jan war blass, rang sich ein Lächeln ab. Keine Spur vom jungenhaften Grinsen, das Anna so an ihm mochte.
Anna kämpfte mit den Tränen. "Wie war dein Flug?"
"Frag' nicht! Ich bin froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Fass' mal mein Hemd an." Anna fuhr mit den Händen unter Jans Jacke, wie sie es immer tat, wenn sie ihre kalten Hände wärmen wollte. Jan war nass geschwitzt. "Die Landung war der Horror ..."
Anna küsste ihn, nahm sein Gesicht in beide Hände, als wollte sie sich seiner vergewissern, mit allen Sinnen vergewissern. Dann flüsterte sie: "Überraschung", und holte eine kleine Flasche Sekt und zwei Gläser hervor.
Jan lachte. Es war ein erlösendes Lachen, das ihn von den Schrecken des Fluges befreite, ihn wieder belebte, dass ihm wieder dieses jungenhafte schelmische Schmunzeln ins Gesicht zauberte, das Anna so liebte. Und da war wieder dieses vertraute Gefühl, als wären sie nie getrennt gewesen.
Es war nach Mitternacht und schneite noch immer heftig. Anna und Jan saßen im Auto und freuten sich auf die gemeinsame Nacht, auf Zärtlichkeit.
Anna fuhr und Jan erzählte, erzählte von seiner Arbeit, vom Flug und von frivolen Dingen, die er mit ihr anstellen wollte, wenn sie denn nur endlich ins Bett kämen. Dabei streichelte er ihr Knie.
Anna protestierte lachend: "Hey, du frecher Kerl."
Die Scheinwerfer kamen nicht weit in diesem Schneegestöber. Vielleicht war das der Grund, warum Anna das Eis so spät bemerkte oder vielleicht war sie abgelenkt gewesen. Das Auto gehorchte ihr nicht und schlitterte aus der Kurve.
Ein Baum bohrte sich brutal ins Auto. Blech knirschte, Glas splitterte - dann Stille. Anna lag benommen auf dem Airbag. Allmählich, Tröpfchen für Tröpfchen, sickert das Drama in ihr Bewusstsein. Jan? Was ist mit Jan? Sie blickt zur Seite. Jans Kopf lehnte an der eingedrückten Tür, die Augen geschlossen.
"Jan!", ruft Anna. Jan reagierte nicht. Sie rüttelte ihn am Arm. "Jan, bitte wach auf!", doch Jan rührte sich nicht. Anna rappelte sich auf und beugte sich hinüber, befühlte seinen Hals und fühlte Wärme, fühlte seinen Puls.
Du musst Hilfe holen, Anna, schnell, sofort.
Bereits zwanzig Minuten später war Hilfe da. Die Feuerwehrmänner schnitten Anna und Jan aus dem Auto. Knapp eine Stunde später waren sie im Krankenhaus.
Anna hatte nur ein paar Schrammen, aber sie verschwendete keinen Gedanken daran, ihre Gedanken waren bei Jan.
Oh Gott, bitte lass Jan nichts Schlimmes passiert sein. Anna lief in der Notaufnahme ruhelos hin und her. Schließlich kam ein Arzt. Müde sah er aus, mit dunklen Schatten unter den Augen.
"Wie geht es meinem Mann?"
"Ihr Mann hat ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Sein Zustand ist stabil, aber kritisch."
"Wie schlimm ist es?"
"Das kann im Moment niemand sagen. Wir können nur abwarten."
"Ich will zu ihm!"
"Sie können jetzt nichts für ihn tun. Sie sollten sich unbedingt ausruhen. Morgen wissen wir mehr."
Benommen betrat Anna die leere Wohnung. Der Tisch war für zwei gedeckt und die Rose darauf, klagte Anna stumm an. Im Krankenhaus war sie noch stark gewesen, nun jedoch, zogen Ohnmacht und Sorge all ihre Stärke in die Tiefe, wie ein erbarmungsloser Strudel, der alles in sich hinein sog, ihr Glück, ihre Liebe, ihr Leben.
Anna warf sich auf die Couch, ihre Schultern bebten, sie weinte ihr unendliches Leid heraus, bis nichts Glückliches mehr in ihr war, nur noch Elend und Schmerz und Wut. Sie schleuderte Kissen von sich und krallte ihre Fingernägel in den Arm. Wie gut dieser Schmerz tat, wie gerecht er doch war.
Später, als selbst der Schmerz nichts mehr in ihr rührte, alles dumpf und taub war, da erlöste sie der Schlaf. Ihr Körper schlief, im Geiste aber quälten sie fürchterliche Bilder - schlimmer aber, als all diese Bilder, waren die grausamen Selbstvorwürfe. Schließlich, als ihr Geist diesen zersetzenden Kampf aufgab, als nun endlich Ruhe in Annas Kopf einkehrte, da hörte sie leise, wie aus weiter Ferne, ja kaum wahrnehmbar: ihren Namen. Eine Stimme, die ihren Namen rief, eine wohlbekannte Stimme: Jans Stimme, die sie rief, die sie so drängend rief, dass Annas niedergeschlagener Geist neue Hoffnung schöpfte. Aber wo war Jan? Sie irrte durch Schneegestöber, folgte Jans Rufen, bis nur noch Dunkelheit sie umgab. Jan, Jan, schrie sie in diese Finsternis. Bis die Finsternis ihr die Rufe zurückwarf, laut und gellend - und Anna aufwachte, wirr und zitternd.
Anna setzte sich auf, beherrscht von einem Gedanken: Ich muss zu Jan.
Anna betrat die Intensiv-Station. Ein junger Pfleger sprach sie an: "Frau Kirsten?"
"Ja."
"Oberarzt Jung möchte sie sprechen."
Dr. Jung - ein hagerer, höflicher Mann - bat Anna Platz zu nehmen. Er kam gleich zur Sache: "Frau Kirsten, ihr Mann ist Hirntod und wird nicht mehr aufwachen. Es tut mir leid."
Anna schluckte, bemüht die Fassung zu wahren. Ihr starker Charakter erlaubte keine Schwäche, dennoch stach der Schmerz tief in ihre Brust, raubte ihr fast den Atem. Einen Augenblick lang schwankte sie, dann war die starke Anna wieder da und flüsterte: "Sein Zustand war doch stabil?"
"Das Ödem war so raumgreifend, dass die Atmung aussetzte. Ihr Mann muss künstlich beatmet werden, heute Morgen haben wir den Hirntod festgestellt."
"Hirntod?"
"Ja, die Hirnzellen arbeiten nicht mehr, sterben ab, der Kreislauf wird nur noch durch die Herz-Lungen-Maschine in Gang gehalten."
"Also schlägt sein Herz noch?"
"Ja, mithilfe der Maschine."
Anna verstand und wollte nur noch eines: Jan sehen.
Das Zimmer war grell erleuchtet. Überall Geräte, blinkende Lämpchen, Drähte und Schläuche. Und mittendrin: Jan. Im Hintergrund schnaufte der künstliche Atem. Anna wischte sich Tränen aus den Augen. Sie fuhr Jan durch die Haare. Er war warm, sein Gesicht rosig. Anna wollte ihn schütteln und rufen: Jan wach auf! Verzweifelt legte sie ihren Kopf auf Jans verkabelte Brust, hörte sein Herz schlagen und weinte.
Gegen Abend kam Dr. Jung wieder. "Frau Kirsten, da wäre noch etwas Wichtiges."
Anna blickte verstört auf.
"Ihr Mann ist Organspender."
"Wie bitte." Anna schrak hoch. "Das wusste ich nicht."
"Den Spender-Ausweis haben wir in der Brieftasche gefunden."
"Den muss Jan vom Zivildienst haben. Davon hat er nie gesprochen."
Dr. Jung erklärte umständlich, dass ihr Mann einem kranken Jungen helfen, ja dessen Leben retten werde. Morgen wolle man die Organe entnehmen und ihn dann für die Beerdigung herrichten.
Anna hörte kaum zu, nickte nur apathisch.
Als Dr. Jung geendet hatte, die unangenehme Botschaft überbracht hatte, nun froh war, dass Anna nicht fragte, ließ er sie allein.
Anna begriff nicht. Ihre Liebe schützte sie vor diesem Wahnsinn. Sie streichelte Jans Stirn und sprach über ihre schönsten Tage, über ihre glücklichsten Momente. Das Piepen wurde schneller, Jans Puls beschleunigte, Anna schöpfte Hoffnung, wollte Jan nicht aufgeben. Niemals! Denn Jan lebte, das wusste sie. Was wissen denn die Geräte, was die Ärzte, die da behaupteten: Jan sei tot. Sie jedenfalls glaubte an sein Leben.
Und sie musste an die Experten denken, die da behauptet hatten, die Wirtschaft erhole sich, sei gesund und wachse, und dann - völlig unerwartet - kam die Krise. Und für Anna stand damals wie heute fest: Traue keinem Experten, traue deinem Verstand. Höre zu, aber denke selbst. Und deshalb traute sie auch keinem Hirntod, keiner Definition von Tod, bei der der Mensch noch lebte, nur das Gehirn nicht funktionierte, das Leben sich in eine unbewusste Ecke verkrochen hatte, aus der heraus es niemand hörte, doch Anna hörte Jan und würde Jan da rausholen, ins Leben holen.
Am nächsten Morgen kamen zwei Schwestern und wollten Jan für die Explantation abholen.
Anna stellte sich mit verschränkten Armen vor Jans Bett: "Mein Mann bleibt hier".
Nach einigem hin und her verschwanden die Beiden wieder.
Kurz danach tauchte Dr. Jung auf.
"Frau Kirsten, seien sie doch vernünftig. Ihr Mann will seine Organe spenden. Wollen sie das verhindern?"
Anna unterbrach ihn: "Nein, ich will, dass noch gewartet wird. 12 Stunden sind zu wenig."
Dr. Jung wurde ungeduldig. "Frau Kirsten, das ist sinnlos. Ihr Mann ist tot."
"Nein er lebt. Ich weiß, dass er lebt." Anna sah ihn mit funkelnden Augen an.
Dr. Jung fuhr erschrocken zurück. "Frau Kirsten!" Mit dieser Gegenwehr hatte er nicht gerechnet. Mit solchen Leuten musste man vorsichtig sein. Diesen irren Blick kannte er, der ließ nichts Gutes ahnen. Und so zog sich Dr. Jung zurück und telefonierte: Rief aus der Psychiatrie zwei kräftige Pfleger, denn jetzt musste schnell gehandelt werden.
Wenig später standen die Pfleger in der Tür und kamen Anna bedrohlich nahe. Zaghaft berührte sie eine Hand, als wollte sie Anna beistehen, als wollte sie Trost spenden.
Als die beiden Pfleger Anna packen wollten, stoppte sie ein "Halt". Es war Dr. Jung der "Halt" rief. Er starrte auf Annas Hand. Jetzt blickte auch Anna auf ihre Hand, um selbst zu sehen, was sie schon längst fühlte, ja was sie schon wusste, doch kaum glauben konnte. Ihr Herz raste, ihre Brust bebte.
Jan hatte ihre Hand ergriffen, leicht und sanft, aber immerhin stark genug, um der Welt zu zeigen: Ich lebe.
"Unglaublich ...", murmelte Dr. Jung.
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2010
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