Früher hatten sie gemeinsam aus einer Tasse Kaffee getrunken, hatten gemeinsam den herrlichen Duft gerochen, hatten gemeinsam glücklich, genüßlich „Guuut“ geraunt. Gut mit ganz langem „u“, um die ganze Wonne, den ganzen Genuß hineinzulegen; so vollkommen, ja, so voll Hoffnung war das morgendliche Ritual.
Nun aber, nach einigen Jahren, nach drei Kindern und viel, viel Arbeit, war das Ritual - ihr Ritual - in Vergessenheit geraten. Keine gemeinsame Tasse mehr. An Tassen mangelte es nun nicht mehr, aber an Zeit, vor allem an gemeinsamer Zeit.
Stefan – in Anzug und Krawatte – lehnte am Schrank und trank Kaffee.
Auf Katrins Schoß saß Lara und nuckelte friedlich an der Flasche.
Ein schwaches Licht erhellte die Dunkelheit der Küche, und Laras leises, schmatzendes Saugen übertönte die Stille.
Katrin fragte – wie jeden Morgen –, immer wenn die Stille am unerträglichsten wurde: „Wann kommst du heute Abend heim?“
Und wie jeden Morgen antwortete Stefan: „Es wird spät, Schatz. Warte nicht auf mich.“
Sie wartete schon lange nicht mehr. Sie war einfach nur da: für die Kinder, für Stefan, für alles, was von ihr erwartete wurde. Sie selbst, ihr ICH: klein, winzig - ein Körnchen, das im Weltraum schwebte und von dort oben Katrin beobachtete, wie sie funktionierte, wie sie duldete. Ihr verkümmertes ICH schaute auf eine Welt, die sie rotieren ließ, wie die Erde den Mond. Und ihr Einfluß beschränkte sich lediglich darauf: Zufriedenheit und Geborgenheit zu spenden, wie der Mond Ebbe und Flut.
Ab und an, wenn Lara nachts geschrieen hatte oder sie Kopfschmerzen plagten oder irgend etwas anderes ihre eingefahrene Lebensbahn ablenkte - begehrte ihr verbliebenes ICH auf. Nicht bescheiden, nicht begnügend, wütend:
„Ich sehe dich überhaupt nicht mehr. Nie bist du daheim. Du kommst nur noch zum schlafen“, schnaubte sie leise, nahezu unhörbar, bedacht darauf Lara nicht zu stören.
Lara störte nichts. Lara sog die warme Milch in ihre warme Welt und hielt glücklich ihre Äuglein geschlossen.
„Ist da eine andere? So viele Überstunden, das gibt’s doch nicht.“
„Ich hab’s dir doch erklärt. Die Firma kämpft ums Überleben“, versuchte Stefan zu beruhigen.
„Seit Monaten bringst du weniger Geld nach Hause. Wer weiß, wo das bleibt. Schön Essen gehen mit deiner Liebschaft. Mit mir gehst du nie Essen“, zischte sie nun.
„Du machst mich krank mit deiner Eifersucht. Ruf doch im Lohnbüro an. Wir verzichten auf 30% Lohn. Geht die Firma pleite, bin ich arbeitslos.“, verteidigte sich Stefan, stellte laut die Kaffeetasse ab und sah auf die Uhr.
„Verdammt, schon halb. Ich muß los. Wir reden heute Abend. Okay?“. Stefan blickte sie bittend an, wollte ihr einen Kuß geben, aber sie drehte den Kopf zur Seite, und er traf nur ihre Wange. Noch einen Kuß auf Laras Stirn, dann stürmte er davon.
Beinah hätte er Felix umgerannt. Mit strubbeligen Haaren, verschlafen blinzelnd und Teddy im Arm stand Felix in der Tür.
„Guten Morgen, Felix“, begrüßte Stefan viel zu laut, viel zu munter, verwuschelte Felix Haare und war schon vorbei.
Stefan klopfte an Janas Zimmer und öffnete. „Jana, aufstehen!“
Die Attacke wurde nur mit einem Stöhnen quittiert.
„Verdammt noch mal. Jana! Jeden Morgen das gleiche. Stell dir endlich mal den Wecker!“
„Hab ich doch“, kam es nun gequält unter der Decke hervor.
„Und warum schläfst du dann noch?“
„Ich wollte gerade aufstehen“, rechtfertigte sich Jana.
„Die Kleinen sind schon auf, und du liegst immer noch im Bett. Jetzt aber hoch ...“
Was soll nur aus der Großen werden, so unbekümmert, so naiv, so sorglos - da kann einem angst und bange werden, dachte Stefan. Kein Papa der Probleme löst, keine Mama die Wäsche wäscht – nur das brutale Leben.
* * *
Draußen war es noch dunkel und feucht und kühl: Es war Herbst.
Der Dienstwagen schoß mit Stefan über die schwarz-glänzende Straße; vorbei flogen graue Häuser, kahle Bäume, abgeerntete Felder. Autos drängten sich: neben ihm, vor ihm, hinter ihm - flossen dahin in endlosem Strom.
Seit Wochen, nein, seit Monaten driftete seine Familie auseinander, wie eine tektonische Platte, die auseinander trieb, ja, auseinander riß; getrieben von einer Kraft, die unheimlich, unfaßbar, unbegreiflich – übermenschlich war. Er kämpfte einen aussichtslosen Kampf, kämpfte gegen Windmühlen, kämpfte für ihr Glück. Nichts half.
Wenn er heim kam - war sie gereizt, wenn sie wartete - kam er zu spät, brachte er Blumen - mißtraute sie ihm: Er war verzweifelt.
Der Streit, der ewige Streit schnürte ihm die Brust zu. Nun war er wieder fort, entfernte sich, fuhr weg. Als wäre er auf der Flucht; aber er war nicht auf der Flucht, er fuhr zur Arbeit, wieder zur Arbeit - jeden Tag, jede Woche, jeden Monat das gleiche – immer mehr, immer intensiver, immer erdrückender.
Mehr Freiheit, mehr Zeit für die Familie, für Katrin, für die Kinder, für sich, ja: Davon träumte er. Leider gibt es nichts dazwischen, null oder eins, Krieg oder Frieden, arbeitslos oder arbeiten - und er wollte arbeiten.
Gefangen in seinem Dienstauto, getrieben vom nächsten Termin, starrte er in die grell-roten Rücklichter, der Autos vor ihm.
Direkt hinter ihm blendeten Scheinwerfer auf.
„Ja verdammt noch mal. Ich hab’s auch eilig“, brüllte er ins leere Auto – brüllte alles heraus: Wut, Verzweiflung, Ohnmacht. Ein Blick auf den Tacho reizte ihn weiter. „Ich fahr eh viel zu schnell. Hier ist 50. So ein Drängler - anzeigen müßte man solche Idioten.“
Die Ampel schaltete auf Rot; er trat auf die Bremse; hinter ihm kreischten Reifen. Instinktiv zog er die Schultern zusammen, duckte sich, ging in Deckung - doch nichts geschah.
Kein Krach, kein Stoß, nichts. Nur das Radio dudelte in die Stille hinein.
Er schaute durch den Rückspiegel nach hinten, schaute durch dunkle Scheiben in das hintere Auto und sah einen wütenden Mann, jung mit kurzgeschorenen Haaren, einen Mann der mit den Armen fuchtelte und mit der Faust drohte.
Wer war Schuld? Die Ampel hatte umgeschaltet, er hatte gebremst - heftig gebremst.
Warum eigentlich? Weil er zu schnell war, weil er die Augen im Rückspiegel hatte, ja, weil der Arsch hinter ihm eine Lichthupe gegeben hatte und so dicht aufgefahren war, als wolle der Idiot ihn anschieben. Und nun, hätte es fast gescheppert.
„Und du? Du wolltest doch langsamer machen, dir Zeit nehmen, den Tag entspannter angehen“, warf er sich vor und schüttelte resigniert den Kopf.
Neben ihm dröhnte eine Hupe, nein, ein Horn, als dröhnte ein Dampfer neben ihm. Er schrak aus Gedanken, schaute zur Ampel und rief: „Mist, schon Grün! Der meint bestimmt mich.“
Neben ihm ein Laster, alles überragend, alles übertönend.
Er wunderte sich. Komisch, warum fährt der denn nicht? Außerdem steht der neben mir, der kann doch fahren. Wo ist das Problem?
Das Problem bewegte sich vor ihnen. Ein alter knochiger Mann ging betont langsam, ja schlich geradezu über die Straße. Dabei fuchtelte er mit dem Stock, funkelte wütend mit den Augen - in Richtung wartender, ungeduldiger Autos.
Nun hupte es auch weiter hinten.
Der alte Mann hingegen ließ sich nicht beirren. Das Hup-Konzert schwoll rüde an und er schlurfte lahm weiter.
Endlich war er vorbei, die Ampel noch grün und der Weg nun frei.
Stefan gab Gas und fuhr los, da polterte etwas, schlug unerwartet gegen die Seite, gegen seine Tür. Stefan zuckte zusammen - sah noch Buntes gegen die Scheibe krachen - bremste, hielt, sprang heraus. Schlimmes ahnend, blickte er auf die Straße.
Einige Schritte hinter dem Auto lag ein Fahrrad; das Hinterrad drehte noch, daneben ein Rucksack, dann Bücher und weiter ein Mädchen. Ein Mädchen blaß und zerbrechlich, daß nun aufsprang noch bevor Stefan helfen konnte. 16, vielleicht auch 17 war sie und ihre zitternden Hände sammelten hastig Bücher.
„Ist dir was passiert?“, fragte Stefan kreidebleich.
Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an, strich braune Haare aus dem Gesicht, blickten nach unten und schüttelte den Kopf. Es dauerte eine Weile bis sie antwortete; dann jedoch kam ein zögerliches: „Nein, ich glaube nicht.“
Autos fuhren um sie herum. Neugierige Gesichter schauten durch beschlagene Scheiben. Keiner hielt.
Stefan betrachtete das Mädchen genauer. Gut, die Jacke war etwas schmutzig, jedoch schien ihr nichts zu fehlen.
„Scheiße, ich muß in die Schule“, jammerte sie.
„Die Schule kann warten. Sei froh, daß du nicht verletzt bist“, wollte er sie beruhigen.
„So eine Scheiße!“, fluchte sie nun. „Ich komm zu spät.“
„Jetzt beruhig dich mal“, wurde Stefan nun heftiger. „Du hattest einen Unfall.“
„Man, wir schreiben ein Klausur, in einem scheiß Fach, bei einem scheiß Lehrer – der mich eh nich’ leiden kann. Und wenn ich nachschreiben muß, macht der mich fertig. Kapiert!“ Tränen kullerten aus ihren zornigen Augen und entstellten ihr hübsches Gesicht.
Stefan war für einen Moment sprachlos. So eine wütende Reaktion hatte er nicht erwartet. Ein Unfall: Sie hätte sich verletzen können; schlimmer noch: Sie hätte sterben können. Und was tut sie? Denkt an die Schule. Unglaublich!
„Weißt du was? Ich fahr dich zu deiner verdammten Schule.“, schlug er genervt vor.
Hoffnung schimmerte in ihren Augen. „Wirklich?“
„Ja, wirklich“, knurrte Stefan und machte den Kofferraum auf, schob das Fahrrad hinein, das nicht hinein paßte, sich genau so sperrig und widerspenstig anstellte wie die Fahrerin.
Sie holte ihren Rucksack und legte ihn daneben, erblickte das verbeulte Vorderrad und stöhnte: „Oh Gott, wenn das mein Vater sieht. Das neue Fahrrad.“ Und wieder kullerten Tränen.
Stefan fuhr, und sie erklärte den Weg zur Schule.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Stefan.
„Sofie.“
„Dir ist schon klar, daß du bei Rot über die Ampel gefahren bist, Sofie.“
„War da schon Rot?“, fragte sie scheinheilig. „Da ging doch noch jemand über die Straße. Da muß Grün gewesen sein.“
„Da war schon lange Rot. Und selbst wenn ..., das ist eine Fußgängerampel, und da muß man schieben“, belehrte Stefan. „Ich, hab dich nicht mal gesehen. Licht hattest du wohl auch nicht?“
„Na ja, mit dem Licht, ähm, also, Licht hatte ich nicht an. Der Dynamo bremst immer so, und ich hatte es eben eilig“, sagte sie kleinlaut.
„Ich hab jetzt ’ne Beule in der Tür.“
„Und ich ein kaputtes Fahrrad. Das ist viel kaputter als ihr Auto. Mein Vater macht mir die Hölle heiß. Das war neu. Erst vor zwei Wochen zum Geburtstag gekriegt. Gibt’s dafür nicht Versicherungen oder so?“
„So einfach ist das nicht. Wenn du den Unfall verursachst, dann ...“
„Wir sind da“, rief sie dazwischen. Er hielt; sie riß die Tür auf und stürmte nach hinten.
„Wart’ mal!“, rief Stefan. „Ich brauche noch deine Adresse.“
Die Schule war hell erleuchtet, die Tür weit geöffnet, aber niemand ging mehr hinein. Ein Nachzügler sauste gerade auf die Schule zu und die Schulglocke schallte eindringlich herüber.
„Es klingelt schon. Bitte; ich schaffe das nicht. Kann ich sie nich’ anrufen?“
„Und das Fahrrad?“
„Stellen wir da drüben hin.“ Sie zeigte auf einen Unterstand, voll gestopft mit Fahrrädern.
„Na schön.“ Stefan suchte in der Jacke und gab ihr seine Visitenkarte. „Rufe mich an! Ja?“
Sie schwang den Rucksack über die Schulter und strahlte ihn an. „Danke.“ Flitzte davon, drehte sich noch mal um und rief: „Ich ruf an!“
* * *
Stefan war nur zehn Minuten später als geplant. Er gönnte sich keine Pause, hatte Hunger, hatte Magenschmerzen und üble Laune – aber er nahm sich zusammen. Unterdrückte Hunger, betäubte Schmerzen, dämpfte üble Laune – konzentrierte sich ganz aufs Geschäft.
Die Firma Klaus & Partner, genauer Herr Klaus erwartete ihn nicht. Herr Klaus erwartete niemals Vertreter, die kamen einfach, wie es beliebte: mal unangemeldet, mal angemeldet. Herr Klaus hatte schon vor langer Zeit aufgehört darüber zu klagen. Er nahm es hin wie eine unabänderliche Gegebenheit, wie einen kalten Regenguß der kam, wenn am wenigsten gewünscht und ausblieb, wenn am nötigsten gebraucht, je nach Jahreszeit, je nach Wetterlage – und letztlich mußte jeder damit leben: Auch Herr Klaus.
Aber er wußte sich zu schützen. Ein Drache, Namens Elke Vetter wachte im Vorzimmer, ganz zuverlässig, ganz bissig. Und dieser Drache, diese Elke Vetter wollte überwunden werden.
Doch Stefan war ein alter Hase, geschickt, wendig und schlau. So, wie Postboten mit kläffenden Hunden kämpften, so kämpfte er mit bissigen Drachen, die in Vorzimmern auf ihn lauerten. Er hatte seine Methode: nichts war so wirksam, nichts war nützlicher, nichts am tauglichsten - als das Lob. Ja, das freundliche, redliche, ehrliche Lob - in dieser Welt voller Kritik - durchbrach wahre Bollwerke.
So verfuhr Stefan auch diesmal, und Elke Vetter verwandelte sich ins liebste, sanfteste Kätzchen, servierte sogar Kaffee und Plätzchen.
Herr Klaus wollte sich seit Jahren schon zur Ruhe setzen, doch die Sorgen, Probleme und Krisen, schüttelten erst die Börsen, dann die Banken, und nun auch ihn. Die Umsätze schmolzen dahin, wie die Pole durch die Klimaerwärmung; und die Kunden verschwanden wie die seltenen Rothirsche, die er so gern jagte.
Und am Ende waren sie einer Meinung: Man müsse das Kundensterben stoppen. Unbedingt!
Und so trauerte Stefan auch um diesen Kunden. Weder Appelle noch Rabatte konnten ihn beleben; selbst sein pikantester Kalender, voll erotischer Bilder - eben was für Kenner - erfreuten Herrn Klaus zwar, doch entlockten ihm nicht - den ersehnten Auftrag.
* * *
Das Wochenende - wenige Tage später - erlöste alle für kurze Zeit. Die Sonne schien, die Semmeln dufteten und die Kinder plapperten.
Katrin saß hinter der Zeitung mit Lara auf dem Schoß. Gelegentlich blickten ihre Augen prüfend über den Zeitungsrand; als müsse sie sich vergewissern, ob noch alle da wären. Die kleine Lara hinter der Zeitung schaute mit großen Augen auf kleine Zeilen, dabei wackelte gelegentlich, nachdenklich ihr rosa Nuckel. Nach kurzer Lektüre und bunten Bildern, rissen kleine Hände große Fetzen heraus. Dann wurde ein wenig herumgeknistert – begleitet von jauchzen und hüpfen - der Nuckel rausgenommen, sabbernd die Zeitung gekostet, für ungenießbar befunden und fallen gelassen. Weitere Fetzen folgten dem gleichen Schicksal, bis dem unbekümmerten Treiben erwachsene Worte ein Ende setzten.
Katrin schimpfte: "Lara laß das! Ich will die Zeitung noch lesen."
Lara wurde ganz wild und fuchtelte energisch mit den Armen.
"Na gut. Hier hast du die Politik." Katrin riß eine Seite aus der Zeitung und gab sie Lara, die sich freudig darauf stürzte.
Stefan genoß das gemeinsame Frühstück, genoß die freie Zeit, die vor ihm lag. Er sah gerade die Post durch, die seit Tagen liegen geblieben war, sich bereits stapelte, nun keinen Aufschub mehr duldete – zu groß das Risiko, zu spät zu handeln. Gewohnt schnell und geübt wanderten Briefe durch seine Hände. Die bunten Briefe, die Info-Briefe, die an alle Haushalte gerichteten, die mit Wahrscheinlichkeit, ja, mit Sicherheit Werbung enthielten, für die er keine Zeit und keine Neugierde übrig hatte – wanderten in den Papierkorb, ungeöffnet, ungelesen. Fahrig, ja fast aufgeregt, hielt er Ausschau. Ausschau nach gold-braunen Umschlägen, nach Umschlägen aus Umweltpapier; das waren die – und das wußte er genau – meist schlechten Nachrichten; und erblickte er einen solchen, beschlich ihn ein mulmiges Gefühl, schoß Adrenalin in sein Gemüt, und sogleich riß er den Umschlag auf. Hastig dann – mit bloßen Händen – nähert er sich der Botschaft, verschaffte sich Gewißheit.
Aber in diesem Stapel – ganz zu seiner Freude – fand sich keiner dieser markanten Briefe.
Indes, die Freude war von kurzer Dauer. Ein Brief, blüten-weiß und gut getarnt, offenbarte verdächtigen Inhalt mit dem bloßen Wort: Rechtsanwalt. Bereits das Wort allein verheißt nichts Gutes. Mit Leuten dieses Schlages hatte er seine Erfahrungen, keine guten Erfahrungen, bedauerlich schlechte Erfahrungen. Was konnte man auch erwarten, von solchen Leuten – Anwälten -, die da nicht etwa über Rechte walten, gar dem Rechte zum Siege verhalfen; nein, das machte Mühe, das kostete Kraft, das verlangte gesunden Menschenverstand. Und der war rar gesät - unter diesen Leuten - und verlangte unverschämte Mühe.
Stefan riß den Brief auf, und was er las entsprach ganz seinen Erfahrungen, ja, ganz seinen düsteren Erwartungen.
Hier wurde nicht freundlich geschrieben, hier wurde rätselhaft mitgeteilt und gnadenlos gefordert. Nein, man bemühte sich nicht um Ausgleich, das wäre nicht recht, nein, man zerrte Indizien her, wo sie behagten und brachte sie um, wo sie plagten; man drehte und wendete, bog und zog das Recht, bis am Ende eine gerechte und höchst mögliche Forderung oder Strafe herauskam.
Und hier forderte man Schadenersatz. Die Sache sei ein klarer Fall. Auf Schmerzensgeld, Strafanzeige und der gleichen wolle man verzichten. Wie ein Gutachten leicht bestätigt, ist das Fahrrad schwer beschädigt. Er solle nun binnen Frist für den Schaden zahlen.
Ganz unten, und am Schluß beendeten die üble Botschaft - freundliche Grüße.
Kein Brief raschelt mehr. Katrins Augen blicken über die Zeitung, erblicken Stefans starre, empörte Augen.
„Was ist denn los?“, fragt sie erschrocken. Sie spürte mit weiblichem Instinkt, etwas Unerwünschtes, etwas Unangenehmes. So verkrampft wie Stefan da saß, so empört sein Gesicht, so dunkel seine Augen – das ließ nichts Angenehmes ahnen.
Es dauerte einen Moment, bis Stefan auftauchte, aus der Düsternis, die ihn befallen hatte.
„Die wollen, daß ich das Fahrrad bezahle.“
„Welches Fahrrad?“
„Na, das von dem Mädchen, das mir ins Auto gefahren ist. Du weißt doch ...?“
„Der Unfall?“
„Ja, der Unfall“, brummte Stefan gereizt.
„Ich denke, das Mädchen ist bei Rot gefahren?“
„Ist es auch.“
„Und du bist Schuld?“
„Herr Gott noch mal. Nein! Aber die behaupten das hier.“ Dabei hielt er den Brief fuchtelnd in Katrins Richtung.
„Ich hab doch gleich gesagt, du hättest die Polizei holen sollen. Und du fährst das Mädel auch noch zur Schule. Ganz toll“, empörte sich Katrin nun heftig.
„Ich hatte einen wichtigen Termin, und außerdem war alles klar. Sie hatte ihren Fehler zugegeben, mich sogar angerufen und gesagt: Ihr Vater würde das nun regeln.“
„Immer die Termine, immer die Arbeit, immer die Firma. Keine Zeit. Nie hast du Zeit. Weder für so einen scheiß Unfall, noch für uns.“ Katrin hatte die Zeitung auf den Tisch geknallt und warf ihm nun den ganzen aufgestauten Frust, die ganze Wut entgegen.
Lara fing an zu heulen. Jana lief um den Tisch und wollte sie beruhigen.
Katrin fluchte: „Sei doch mal still. Immer dieses Geschrei. Wegen jedem bißchen so ein nerviges Geschrei.“ Katrin schüttelte nun Lara am Arm, die nur noch erbärmlicher schrie.
Jana nahm Lara auf den Arm, blickte zu Felix hinüber, schwang den Kopf in Richtung Tür und Felix folgte. Zuvor aber - noch schnell - stürzte er seinen Kakao hinunter.
Keiner interessierte sich für sie. Sie würden ins Kinderzimmer gehen – so wie immer -, sich eine kuschelige Hütte aus Decken und Kissen bauen, mit all den Kuscheltieren darin einziehen und Mama und Papa spielen.
Manchmal - wenn es ganz schlimm war - brachte Mama sie zu Oma. Jana war groß und schlau genug, um bei einer Freundin unter zu tauchen. Natürlich nur, um für die Schule zu lernen oder sonst etwas pädagogisch Wertvolles zu tun. Jedenfalls hatte sie Erfolg mit diesen Argumenten und hatte auch keine Skrupel die Kleinen allein zu lassen. Zu oft hatte sie den Babysitter gespielt, zu oft auf freie Zeit verzichtet.
Felix jedoch, mußte zu Oma, obwohl er nicht gerne hin ging - Lara dagegen schon. Die wurde gehätschelt und getätschelt, verwöhnt und verzogen, und wenn sie quengelte, mußte sie ins Bett - und er mit. Und immer jammerte die Oma über schlimme Krankheiten, die sie alle hatte; das sie wohl nicht mehr lange leben werde, so daß Felix angst und bange wurde.
Nur Opa jammerte nicht - der polterte laut und spielte mit ihm ‚Mensch ärgere Dich nicht’; aber das war ihm alle Male lieber.
Im Wohnzimmer war es laut und der Kaffee kalt. Stefan brüllte, Katrin heulte. Nachdem sie müde geworden waren, wurde es ruhiger; oder vielleicht auch, weil ihnen einfach nichts mehr einfiel, was sie dem anderen noch hätten vorwerfen können oder mit dem sie ihn hätten kränken können oder ihn gar beleidigen. Stumm saßen sie da, starrten aneinander vorbei – waren sprachlos.
Die Stille kroch wie feuchter, kalter Nebel in sie, drang durch dickste Kleider, durch wärmste Hemden, drang durch bis auf die nackte, ungeschützte Haut, drang vor bis ins Mark, bis ins aller kleinste Winkelchen ihres Gemüts – lies sie frieren und schaudern. Wie sehr sehnten sie sich nun nach Wärme in dieser eisigen Stille. Abgekühlt bis auf den Nullpunkt, eingeschlossen in dickem Eispanzer, gefangen zwischen Kränkungen – das wußten sie -, nein, das ahnten sie, war noch ein kleines Flämmchen, ein winziges Fünkchen Liebe. Schon eine Regung, ein sanfter Blick, ein zarte Berührung, konnte das Feuer wieder entfachen.
Lautes Lachen, klatschende Hände und fröhliches Jauchzen vertrieb die Stille, ja, wehte sie gnadenlos weg. Es fällt schwer bei so furchtbarem Frohsinn, so grauenvollem Übermut, zu streiten, ja, es ist geradezu unmöglich nun weiter zu grollen. Und so geschah es, ganz nebenbei, ganz unauffällig, beinah zufällig, daß sich ihre Augen trafen. Nicht um sich zu Verzeihen - so weit war man noch lange nicht -, nein, um sich zu vergewissern, daß da noch etwas ist, etwas von dem kleinen Fünkchen Liebe, von dem man annahm, ja, sogar hoffte, das dieses kleine Fünkchen noch glimmte im anderen.
Der Frohsinn, der so gleichgültig den Trübsinn vertrieb, schwoll nun erneut an, lockerte alle Fasern ihrer verkrampften Seelen, forderte sie geradezu heraus, der Sache auf den Grund zu gehen. Und so erhoben sich beide, um nach dem Rechten, nach den Kindern zu sehen.
Die Kinder indes hatten Spaß. Zwei Stühle standen neben einander, darüber eine Decke geworfen. Vor dieser improvisierten Bühne saß auf einem Kissen Lara, klatschte wild in die Hände, hüpfte mit dem Popo auf dem Kissen hin und her und jauchzte. Auf der Bühne gab man Fuchs und Elster. Zwei niedliche Plüschtiere tanzten witzig auf der Bühne, gespielt von zwei noch witzigeren Schauspielern: Jana und Felix.
Die Elster krächzte: „Immer kommst du so spät nach Hause, Papa Fuchs.“
„Aber ich habe immer sooo viel zu tun. Und außerdem gibt’s bei dir immer diesen ekligen Brokkoli, und da muß ich erst zu Hähnchen-Maier fahren und mich satt essen. Da gibt’s immer die leckeren, knusprigen Hähnchen“, knurrte der Fuchs.
„Ja, wenn du leckeres Hähnchen willst, dann mußt du dich auf die Lauer legen und welche fangen“, konterte frech die Elster.
„Zur Zeit kann ich leider keine Hähnchen fangen die haben nämlich alle Vogel-Grippe.“
„Ja, was essen wir den dann da?“, fragte nun die Elster ins Publikum.
Sofort rief die kleine Lara: „Diesbei, Diesbei, Diesbei, ...“
„Och nö, nich’ schon wieder Griesbrei“, protestierte der Fuchs. „Ich bin für lecker Schnitzel. Dann komme ich auch gaaanz schnell nach Hause.“
„Oh, lieber Papa Fuchs, das sieht gaaanz schlecht aus. Die Schweine haben nämlich alle die Schweine-Grippe.“
„Na gut, dann eben Griesbrei. Brrr.“ Und der Fuchs schüttelte sich und Lara lachte laut und auch hinter der Tür wurde gelacht. Ja und in all dem Spaß, in all dem Glück, da fanden zwei verirrte Hände zueinander. Erst zaghaft, dann mutiger, dann fest umschlungen, als könne sie nichts mehr trennen, nichts mehr scheiden, als wären sie füreinander bestimmt - hier und jetzt und in alle Ewigkeit.
Tag der Veröffentlichung: 27.12.2009
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