Ich hasse Wartezimmer. Ich hasse es dort meine Zeit zu verschwenden. Noch mehr hasse ich die ausdruckslosen gelangweilten Gesichter der anderen Patienten und die piepsigen Stimmchen der blonden Arzthelferinnen, diese Püppchen.
Da kommt sie schon. Sie steht klein und unbeholfen unter dem viel zu großen hellgrün gestrichenen Türrahmen zum Wartezimmer, blättert eilig in ihren Karten. Sofort heben alle aufmerksam ihre Blicke Richtung Sprechstundenhilfe und sehen sie erwartungsvoll an. Bin ich nächster? Oh ja bitte, ich sitzet hier schon viel zu lange!
„ Ähm Herr Breuer bitte in Zimmer fünf zu Herrn Doktor Schulze“
Mist. Ein älterer Herr erhebt sich etwas unbeholfen und stolpert siegesgewiss dem Blondchen hinterher. Sie trägt bequeme Plastiksandalen, ganz weiß und eine breitgeschnittene Hose, ebenfalls weiß. Darüber ein luftiges Top und einen leicht offenstehenden weißen Arbeitskittel mit großen Knöpfen. Die Haare sind zu einem niedlichen Dutt zusammengebunden, nur einzelne Strähnchen fallen ihr wirr ins Gesicht. Der etwas zulange Pony verdeckt ihre Stirn und umspielt die kleine Brille, die sie für meinen Geschmack etwas zu tief auf der Stupsnase trägt.
Der ältere Herr humpelt hinter der klein gewachsenen Frau her, ein Grinsen auf dem Gesicht und lässt die Türe zum Wartezimmer hinter sich krachend ins Schloss fallen. Der Klang hallt noch eine Weile nach ehe er verebbt und diese quälenden Stille zurück kehrt.
Ich will heim! Ich will das blöde Ergebnis nicht! Schluss damit, denk nicht dran, hör auf. Ich verbiete mir jegliche Gedanken an das bevorstehende Ergebnis und lenke mich mit der Betrachtung der Umgebung ab.
Der Raum ist weiß gestrichen, in den Ecken stehen Topfblumen. Sie sind mit Tonkügelchen statt Erde gefüllt, extrem pflegeleicht und bahnen sich energisch ihren Weg Richtung Fenster. Dabei werden sie von bambusähnlichen Stäbchen, vermutlich sowieso nur Kunststoff, geführt. Ihre Blätter sind groß und glänzen mit dunklem Blattgrün in dem mit Sonnenlicht erfüllten Raum.
An den Wänden prangen bedeutsame Gemälde oder besser Werke bedeutsamer Künstler. Ich betrachte die Seerosen Monets skeptisch. Der Fluss ist fast nicht sichtbar, so verdeckt durch Seerosen und ungenau gezeichnet. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Auch die Brücke im Hintergrund scheint vollkommen grün und behangen zu sein. Irgendwie zieht mich dieses Bild an. Vielleicht ist es auch nur die Trauerweide, sie lässt ihre Äste, Blätter, das ganze Grün über dem Fluss baumeln. Traurig, wie sie ihren dahin schwimmenden Armen hinterher weint. Wie ich meinem dahinsiechenden Leben. Hinterher weinen, Abschied nehmen. Ich muss Abschied nehmen. Von meinem Leben, für immer.
Mein Blick schweift weiter durch den Raum, die Sonne blendet mich. Genervt halte ich mir schützend eine Hand vor die Stirn und bestaune die prachtvolle Innenstadt. Die Praxis ist hoch oben im 12. Stock einer zentralgelegenen mit der U-Bahn gut erreichbaren Stadtwohnung. Das Hochhaus ist riesig und sehr modern. Gegenüber stehen zwei der größten Riesen, die mit einem gläsernen Flur, der über dem geschäftlichen Treiben majestätisch in den Lüften zu schweben scheint, verbunden sind. Die Sonne erleuchtet den gläsernen Flur und lässt ihn schillern. Es blendet mich ein wenig, doch ich kann meinen Blick einfach nicht abwenden, zu schön. Ich versinke in Bewunderung dieser modernen Architektur. Wäre ein menschlicher Körper doch auch nur so stabil und unanfällig für was auch immer geschaffen, aber nein!
Weder Bäume noch Vögel sind von hier oben aus zu sehen. Ziemlich kahl hier, würde ich wohl sagen, wüsste ich nichts von dem Waldstück hinter der Tiefgarage, in der mein kleines Auto auf mich wartet, seit etwa einer Stunde.
Mein Blick schweift zu der Kinderecke, zwei Mädchen mit Zöpfchen wie die von Pippi Langstrumpf sitzen versonnen über ihren Malereinen und bestaunen ihre Kunstwerte.
„Sau mal Mama, fua dis“ mit diesen Worten überreicht die Kleine ihr Bild stolz einer Frau, deren Gesicht tiefe Furchen und dunkle Augenringe aufweist. Sie ringt sich ein schwaches Lächeln ab und streicht ihrer Tochter liebevoll über den Kopf.
„Das hast du toll gemacht“.
Die Kleine grinst selbstsicher und beginnt an den Beinen ihren Mutter zu ziehen.
„Hoch“ sagt sie und erwartet Hilfe beim Besteigen des Schoßes ihrer völlig entkräftet scheinenden Mutter. Diese hievt sich die kleine Unruhestifterin auf die Beine und hält sie dort fest.
Die Kleine beginnt mit den Fingern ihrer Mutter zu spielen und quietscht vergnügt dabei.
Ein älterer Herr hustet.
Man ist es langweilig hier, diese Einöde.
Alles sieht gleich aus, immer noch. Ich sitze hier und warte.
Ich will mein Ergebnis. Nein ich will es nicht, lieber Ungewissheit als die schreckliche Wahrheit. Nein, das ist zu quälend. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Werde ich es ertragen? Nein, niemals!
Mein Leben ist vorbei. Warum gibt es hier bloß keine Uhr? Ich möchte wissen wie viel Zeit ich noch zum Leben habe. Es macht mich fertig. Diese Gedanken sie fressen mich von innen auf. Ich will noch nicht sterben, ich fühle mich pudel wohl! Naja, fast. Nein, das war gelogen ich fühle mich gesund … und schwach. Ich bin stark und werde kämpfen. Ich sollte beten.
„Lieber Gott…“, beginne ich in Gedanken mein erstes Gebet seit langem. Mir fällt nicht ein was ich sagen könnte. Ich lasse es bleiben. Verdammt.
Ach was soll‘s. Mein Leben geht dahin. Ich sehe es mich regelrecht verlassen. Eine Gestalt die ich zuvor noch nie sah, schwarz, als wäre es mein Schatten, erhebt sich aus meiner Mitte, meinem Schoß heraus. Wird groß, größer, bis er meine Körpergröße erreicht hat, richtet sich auf, dreht sich nach mir um, ein letztes Mal. Hebt wie zum Gruße, nur weiß ich dass es der Abschied ist, mein Abschied, kurz der Hut, deutet eine kleine Verbeugung an und lässt mich allein zurück. Er geht ohne sich noch einmal umzublicken. Mir wird kalt, ein Schauer jagt über meinen Rücken.
Ohne mein Leben sitze ich wie ein Häufchen Elend auf dem harten und ausgesprochen unbequemen Praxisstuhl und gähne meinem Schicksal gelangweilt entgegen.
Warum war ich aus so unvorsichtig, so dumm und naiv! Wie konnte das passieren. Es hatte ganz harmlos angefangen. Ich war auf einer Party, vor gut einem halben Jahr, oder schon mehr? Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Jedenfalls nicht irgendeiner Party, meiner Abschlussparty. Der letzte Schultag meines bisherigen Lebens wurde gefeiert und wie!
Wir waren nur acht von insgesamt fünfunddreißig Klassenkammeraden, die das Abitur bestanden hatten. Noch dazu gar nicht schlecht und das wurde gebührend gefeiert. Der Weg dahin war schwer und steinig. Wir paukten bis zum Umfallen und dabei schafften es nicht einmal alle. Das war das Schlimmste überhaupt. Ich war heilfroh, dass ich es geschafft hatte und sogar gute Ergebnisse erzielte.
Während meine Eltern mich spätestens von da an jeden Tag mehrfach mit meiner anscheinend unmittelbar bevorstehenden beruflichen Zukunft nervten, plante ich mit den anderen unsere letzte gemeinsame Party.
Ehrlich gesagt, es war mir scheiß egal. Egal, was danach kam. Ich hatte das Abi und gut. Viele aus meiner Klasse wollten Reisen oder ihre Kohle anderweitig auf den Kopfhauen. Das hatte ich jahrelang geübt. Noch dazu mit meiner eigenen hart erarbeiteten Knete. Vielleicht war das auch ein Grund für mein Unwollen, mich weiter damit auseinander zu setzte. Mir schien es, als würde mich keiner verstehen. Anfangs hatte ich auch meinen Eltern gegenüber eventuelle Zukunftspläne geäußert und johlenden Beifall für meinen Beitrag erhalten. Ich verstand nicht, bis sie mir erklärten, ich hätte „gelungene Comedy gemacht“.
Dabei meinte ich es ernst. Es schien mir der vernünftigste Weg, aus meinem Leben stückweit auszubrechen und neue Horizonte zu erkunden. Ich wollte Gutes tun. Und zwar in einem Entwicklungsland, in einen der ärmsten Slums und dort helfen. Ich mit einem Auto, einem Geländewagen und möglichst einer Organisation oder so was. Kleine schwarze Mädchen und Jungen und deren Mütter und Väter unterstützen. Vielleicht an einer Schule arbeiten, wenn es denn eine gäbe. Oder gar eine gründen?
Wie gesagt, ich hatte mich damit nicht weiter auseinandergesetzt und kannte mich dementsprechend schlecht aus. Warum nahm mich auch keiner ernst?
Ich verstand das nicht. Es hieß doch immer: „Mach dein eigenes Ding. Sei du selbst.“ Und wenn ich dann mein eigenes Ding durchziehen wollte erntete ich nichts als Gegenwind. Tja. Was soll‘s. Das werde ich mir jetzt sowieso abschminken müssen. Spätestens, wenn ich mein Ergebnis schwarz auf weiß vor mir gesehen habe.
Jedenfalls feierten wir zu allererst einmal. Wir zogen uns schick an, ließen den Abi Ball über uns ergehen und trafen uns danach zur ultimativ großen After-Show-Party! Das ist feiern, aber richtig.
Es waren gigantisch, viele Jugendliche meines Alters und älter. Die ganze Stufe, auch die, die nicht bestanden hatten, war zahlreich erschienen. Viele hatten Freunde und Familie mitgebracht. Alles in allem, die gemieteten Räumlichkeiten waren voll. Beinahe zu voll, wenn man bedenkt es solle noch etwas Platz zum Tanzen übrig bleiben.
Zu Beginn ein paar steife Worte, die Zeugnisse, einige Urkunden und kleinere Reden. Applaus. Ein paar Schüler hatten Sketche vorbereitet. Erneut Applaus. Und dann die beinahe schönsten Worte an diesem Abend:
„Das Buffet ist eröffnet!“, die feierlich gesprochenen Worte des Direktors beendeten jegliche Förmlichkeiten. Wie eine getriebene Herde Schafe stürmte die Masse hungriger in Festtagskleidung Richtung der nun doch etwas klapprig wirkenden Tafel. Etwas verwüstet und leergefegt erinnerte das Buffet oder das, was davon übrig blieb an Überreste eines Piranha Angriffs. Das Essen schmeckte köstlich! Der Catering Service hatte ganze Arbeit geleistet. Mit vollen Mägen bewegten wir uns auf die Tanzfläche und schwenkten unsere Cocktailgläser noch etwas benommen.
Das Ende der Feier war in Sicht. Und dann ging es richtig los. Die ganze Stufe fuhr in die nahgelegene Stadt und in einen der angesagtesten Clubs. Dort tanzten wir auf den Beat der Techno-House Musik oder zu einem der aktuellen Charts und vergötterten Alkohol und DJ. Dieser und viele weitere Jungs kamen mir in diese Nacht gefährlich nahe und ich ihnen auch. Wir tranken und tanzten, als ging es um unser Leben.
Wir tanzten, intensiv und leidenschaftlich. Er küsste mich, wir tanzten eng umschlungen und hatten unsere Hände überall. Schließlich landeten wir auf dem Sofa und verließen den Schuppen wenig später. Er hatte eine Wohnung ganz in der Nähe, das dachte ich zumindest. Torkelnd, auf der Suche nach meinem Gleichgewicht schlurfte ich hinter ihm her. Durch das nächtliche Treppenhaus. Wir lachten, rangelten und dann landeten wir plötzlich auf den Stufen, er legte einen Arm um mich und wir küssten uns weiter.
Er begann, an meinem Kleidchen zu zerren und seine Hände wanderten unter den dünnen Stoff. Meinen Protest, ich wollte nicht mitten im Treppenhaus mit ihm vögeln, unterdrückte er mit einem intensiven Kuss. Ich versuchte mich seinem Griff zu entwinden, zwecklos. Also schön. Wie er wollte! Meine Selbstverteidigungskünste schlummerten nur etwas. Aber wenn ich sie brauchte, waren sie da. Ein wenig erfreut klingendes Grunzen seinerseits ertönte und er begann seinen stahlharten Griff etwas zu lockern. Na ging doch. So wurde das Treppenhaus von der Besenkammer abgelöst. Der Weg zu seiner Wohnung schien zu weit. Ob es nur mir so ging? Nein, ihm wohl auch. Wir hatten beide einiges über den Durst getrunken und waren dementsprechend etwas benebelt.
Er war nicht nur jung und brutal gutaussehend, sondern auch talentiert er musste irgendwelche bisher von mir ungeahnte Fähigkeiten besessen haben. Jedenfalls fühlte es sich so an. Wahnsinn!
Am nächsten Nachmittag erschien ich völlig verkatert und total übermüdet daheim. Genau genommen schlurfte ich betont langsam in Richtung meines Zimmers, stets auf der Hut nicht umzukippen. Der Kater hatte es in sich. Übelkeit bis zum Geht-nicht-mehr, Kopfschmerzen, Glieder- und Bauchschmerzen, mangelndes Gleichgewicht, Lichtempfindlichkeit, das volle Programm. Nicht einmal das Katerfrühstück und das Konterbier konnten meinem Kopf die Klarheit zurück schenken.
Der Abend hatte sich gelohnt. Doch dann begann es erst richtig. Mein Leben war perfekt, bis dahin. Bis zu diesem Zeitpunkt. Das werde ich wohl nie vergessen.
Nach einer Woche, als mich der Kater und auch letzte Spuren verlassen hatten, traf ich meine Entscheidung. Ich wollte mit Ole, meinem Freund zusammenziehen. Die Kisten waren gepackt, meine Eltern mit mir zerstritten, und der Umzugswagen vor der Türe.
Alles paletti, die ersten Wochen, bis sich der Alltag einstellte. Ole saß vor dem Fernseher oder holte Bier aus dem Keller. Ich tat es ihm gleich, hatte ich meine Zukunftspläne in den Sand gesetzt. Ich war schlichtweg zu faul. Was hätte ich den tun sollen?
Die Miete wurde knapp, der Kühlschrank füllte sich nicht selbst und selbst das Toilettenpapier schien uns zu meiden. Bald saßen wir auf Eis. Ole juckte das nicht. Haushalt sei Frauensache. Ich warf ihm an den Kopf, das Geldverdienen dann aber mindestens Männersache sein müsse. Er lachte nur. Wir stritten. Einmal. Zweimal. Immer wieder.
Mein Leben hatte den Wendepunkt erreicht. Aber das schlimmste Tief sollte noch kommen. In der Zwischenzeit suchte ich im Netz nach Hilfsorganisationen und dazugehörigen Entwicklungsländern oder wenigstens Dritte Welt Ländern. War das nicht alles das gleiche? Ich begann zu verzweifeln.
Zu allem Überfluss riefen meine Eltern bei mir an um sich zu versöhnen, wie sie es nannten. Ich sollte zu ihnen zurück kommen und studieren gehen. Aber ich wollte nicht studieren. Das könnte ich noch früh genug und außerdem wusste ich nicht einmal, was ich hätte studieren sollen.
Parallel suchte ich halbherzig einige Stellenangebote aus der Zypresse und begann zu kellnern. Nur zur Überbrückung. Ole sah weiterhin anspruchsvolle Sendungen wie „Familien im Brennpunkt“ oder „ Verdachtsfälle“.
Ich stand früh auf, frühstückte und lief zur Arbeit, kehrte am frühen Abend oder Mittag, je nach Schicht heim. Ole verließ das Sofa nicht mehr. Um ihn herum sammelten sich alte Verpackungen von Tiefkühlpizzen oder anderem Fast Food. Wir begannen aneinander vorbei zu leben. Stück für Stück. Immerhin konnte ich uns eine Zeit lang mit dem Kellnern über Wasser halten. Es störte mich den Faulen mit durch zu füttern. Er sollte verdammt nochmal seinen Hintern vom Sofa bewegen und wenigstens Einkaufen gehen! Vielleicht hätte ich das etwas netter formulieren sollen. Seine Augen weiteten sich kurz, dann erschien ein mir nicht deutbarer Gesichtsausdruck ehe er nickte und sich steif vom Sofa erhob. Er trottete in sein Zimmer, kehrte zurück und sah mich an. Erst jetzt konnte ich die deutlich ausgeprägte Zornesfalte auf seiner Stirn erkennen. Als Ole meiner Bitte dann doch noch nach kam und sich Geld von mir borgte, seufzte ich zunächst erleichtert. Doch er ging Kippen kaufen und kam nicht wieder. Tja, was soll man machen?
Zu meinen Eltern konnte ich nicht und alleine in der Wohnung wollte ich nicht sein. Also inserierte ich in der Hoffnung, neue Mitbewohner zu finden. Ich hatte Glück. Jens, Uwe und Mike. Alle älter als ich, alle verdammt sportlich und alle Single. Es dauerte eine Zeit, bis sie den wahren Grund für die Zeitungsanzeige erfuhren. Das mit Ole hatte mich mehr getroffen als ich eigentlich hatte zugeben wollen. Also ahnten sie anfangs nichts und wir hatten unseren Spaß. Sie waren alle sympathisch und hilfsbereit. Die perfekte WG. Selbst noch, als sie die Wahrheit erfuhren, sie wollten für mich da sein.
Doch dann passierte es. Es war eher ein Zufall. Es war ein Unfall. Ich hatte einen Unfall, der mein Leben veränderte. Na genau genommen war es schon verändert, aber ab da begriff ich die katastrophale Wendung.
Auf dem Weg von der Arbeit zur Wohnung hörte ich Musik. Meine Kopfhörer boten besten Sound und der Beat beflügelte mich. Selbst noch, als mich der Radfahrer anfuhr. Ich war selbst schuld. Ohne zu gucken hatte ich den Radweg überquert. Er konnte nicht mehr bremsen. Mein Schock war wohl schlimmer als der Unfall selbst. Auch ihm war nicht viel passiert, leichte Verletzungen nannten sie es. Trotzdem. Es war ein harmloser Unfall, ein Krankenhausaufenthalt folgte. Wäre da nicht diese eine Sache gewesen. Reine Routine. Das Gespräch mit dem Arzt. Die Diagnose. Dann die Fragen, über die Vergangenheit, zur Klärung der Ursachen. Besseres Verständnis, genauer über die Party, ob es das erste Mal war, ob wir verhütet hatten. Nein. Scheiße!
Es war wohl damals in der Besenkammer passiert, nach der Party. Wir waren bertunken und hatten nicht aufgepasst. Ich hätte mir wer weiß was einfangen können, wenn nicht sogar schwanger werden. Besser gar nicht daran denken. Das Herz pochte mir bis zum Hals. Nein, wie konnte das passieren, wie konnte ich so dumm sein. Wieso? Hatten mir meine Eltern nicht oft genug gepredigt, was passierte? Manche Fehler muss man nicht selbst machen. Ich anscheinend schon. Zu meiner Verteidigung fiel mir nur ein, was ich selbst auch nur mit einem schwachen Lächeln über die Lippen brachte, „ich war betrunken…“. Das war’s. Aber es half. Ich lachte, ich äffte mein Lachen nach, wie gehässige Mitschüler es zu tun pflegen würden. Und es half, ich lachte über meine Lache und aus dem gehässigen wurde ein verzweifeltes, hohles lachen. Ich war verzweifelt. Ich begann zu toben, zu lachen, mit Tränen vor Lachen in den Augen und dann schrie ich. Ich schrie bis ich nicht mehr konnte. Dann brach ich in mich zusammen und begann zaghaft zu weinen.
Ich quälte mich mit Vorwürfen, mir selbst gegenüber. Ich verkroch mich, zog mich zurück und weinte bis keine Tränen mehr kommen wollten. Ich war fassungslos über mein eigenes Verhalten. Erinnerte mich nochmals, erneut und immer wieder, versuchte mir Details ins Gedächtnis zu rufen. Aber es half nicht. Ich konnte die Zeit nicht zurück drehen, es war zu spät, es war passiert.
Und wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Der Arzt nickte schwer und gab mir einen Termin. Und da war ich. Und auch mein Ergebnis. Gleich, gleich würde es mich verschlingen. Meine Vergangenheit würde mich einholen und – vernichten. Gleich.
Die Blonde kommt schon wieder, sie redet etwas, alle anderen Patienten schauen erwartungsvoll hoch zu ihr, sie redet weiter, wiederholt sich und nochmal. Sie guckt suchend umher, ihr Blick macht die Runde und trifft mich. Er schweift weiter und ich stehe auf, weil es sonst niemand tut. Ich bin dran. Jetzt.
Wie in Trance schleiche ich hinter ihr her, als ihr Schatten. Ich bin unsichtbar. Verloren und klein versinke ich auf dem viel zu großen Patientenstuhl im Ärztezimmer. Und warte.
Dann geht die Tür auf. Er tritt ein, lächelt und reicht mir die Hand. Ich senke den Blick. Ich habe Angst. Lieber Ungewissheit als Wahrheit. Lieber Leben als Tot. Lieber …mir fallt nichts mehr ein.
Dann beginnt er zu reden, er redet fachmännisch, ich höre nicht zu. Er redet weiter, wiederholt sich, ich will nicht zuhören. Er stellte eine Frage, ich will es nicht wissen. Er seufzt und reicht mir einen Umschlag. Dann seufzt er nochmal. Mein Herz bleibt stehen, ich spüre es. Das Leben, oder was noch davon übrig ist, verlässt mich. Ich werde sterben!
Das hatte keiner verdient. Nicht mal ich. Und die armen Kinder in Afrika, ich würde ihnen wohl nie helfen können. Keine kleinen Weisenkinder pflegen und umsorgen, keine kleinen schwarzen Mädchen und Jungen unterrichten. Ich werde wohl nie einen Slum sehen, nie mit den Menschen in Kontakt treten können.
Meinen Job, ich werde kündigen müssen. Sie werden lachen. Vielleicht verrate ich den Grund nicht. Nicht, wenn es auch anders geht.
Was werden meine Eltern wohl sagen. Wohl Garnichts. Sie werden froh sein, dass ich in Europa bleibe. Ohne schwarze Weisenkinder. Ohne Slum. Ohne Hilfsorganisation.
Und meine WG. Was soll ich den Jungs sagen? Werden sie es verstehen? Sie ekeln sich bestimmt. Hoffentlich haben sie sich nicht angesteckt! Wie schrecklich.
Er verlässt den Raum, guckt mir ein letztes Mal in die Augen, sagt etwas und schließt die Türe hinter sich. Ich bin allein. Ganz allein. Ich fühle mich elend, so elend und verlassen.
Ich fahre meine Hand aus und greife zitternd den kleinen Umschlag. Darin ein Zettel. Eilig zerre ich ihn raus, drehe ihn zu mir um und mir stockt der Atem. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich vergesse zu atmen. Negativ. Ich nehme einen kräftigen Atemzug und stoße die Luft scharf aus. Ich Lebe!
Hinter mir fällt die Türe ins Schloss. Was fange ich bloß mit meinem Leben an, es ist als hätte ich ein neues bekommen, eine neue Change. Die Sonne scheint und blendet mich, ein Lächeln umspielt meine Mundwinkel und ich halte mir eine Hand schützend vor meine Augen, das Licht ist grell. Ich bin frei, ich lebe. Wer hätte das gedacht? Nächstes Mal bin ich vorsichtiger!
Die Hilfsorganisationen werden mich wohl bald kennen lernen. Meinen Kellner Job muss ich so oder so wieder aufgeben. Die WG, die Jungs, meinen Eltern. Ich bin so froh. Hach!
Ich blinzele und laufe los, in mein neues Leben, in ein besseres Leben, meins.
Texte: J. E. Printemps
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Tag der Veröffentlichung: 20.04.2014
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