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Kapitel 1

Kim Lewis

 

Wie ein Einbrecher schleiche ich mich durch den Garten, damit die Nudisten nicht sehen, dass ich Kleidung trage. Schließlich will ich Onkel Joes Kunden nicht empören. Er bietet zusammen mit seinen Lebenspartnern Charles und Edward nämlich die Organisation, die Durchführung und die Örtlichkeit für Hochzeiten in Portland an.

Und nach Hochzeiten ist mir derzeit wirklich nicht zumute. Nicht nach den schlechten Erfahrungen, die ich gemacht habe. Es ist schlimm und deprimierend, am Hochzeitstag am Altar stehengelassen zu werden. So etwas wünsche ich nicht mal meiner schlimmsten Feindin.

Mein Wohnpavillon befindet sich am Rande von Onkel Joes Grundstück. Da dieser Pavillon leider weder über eine Toilette noch eine Küche verfügt, muss ich durch den ganzen großen Garten laufen, um das Badezimmer in Joes Haus zu verwenden. Zwar ist das Nachbarshaus deutlich näher, aber dort klingle ich mit Sicherheit nicht. Bei meinem neuen Nachbarn handelt es sich nämlich um niemand geringeren als meinen Erzfeind Jared Baldwin, dem Fluch meiner Teenagerzeit.

Nach fast vierzehn Jahren ist dieser arrogante Bastard wieder nach Portland gezogen. Was will er hier? Hätte er nicht in Seattle bleiben können? Und warum muss dieser Schurke ausgerechnet direkt neben mir einziehen? Das hat er doch mit Vorsatz gemacht, und leise ist er auch nicht gerade. Er ist der übelste Nachbar, den man sich vorstellen kann. Ständig hat er Leute da, es ist immer eine Party oder was anderes Lautstarkes im Gange. Nie hat man seine Ruhe mit ihm.

Ich schreie erschrocken auf, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verliere und in die Tiefe stürze. Ich lande in einer Grube. Mein Hintern und mein Knöchel tun weh. Auch das noch. Ich hätte mich wirklich auf die verworrene Route konzentrieren sollen, anstatt an meinen Tunichtgut von Nachbar zu denken. Das habe ich nun davon.

Es muss sich wohl um einen der von Onkel Charles ausgehobenen Schützengräben handeln. Der Gute ist nämlich ein Irak-Veteran. Er sollte mal eindeutig etwas gegen sein posttraumatisches Stresssyndrom tun, denn überall Schützengräben auszuheben ist einfach nicht normal. Und für mich ist es, wie man ja merkt, nicht unbedingt gesundheitsfördernd, wenn sich hier solche Todesfallen befinden. Charles sollte zumindest Absperrbänder anbringen.

Vorsichtig taste ich meinen schmerzenden Knöchel ab. Er scheint verstaucht zu sein. Ohne weiteres hätte ich mir auch den Hals brechen können. Verdammt! Das nächste Mal setze ich meinen Bauhelm auf, wenn ich durch den Garten laufe. Das darf doch wohl nicht wahr sein.

Ich erhebe mich, streiche mir das lange, dunkelbraune Haar aus dem Gesicht und klettere aus dem Schützengraben.

Oben angekommen, klopfe ich die Erde von meinen weißen Shorts und dem hellblauen Tanktop. Im nahen Wald sehe ich gerade Bilbo verschwinden. Onkel Joe hatte ihn sich als japanischen Spitzhund andrehen lassen. Später fand meine Cousine Yasmina, die Tierarztassistentin ist, heraus, dass es sich um einen Polarfuchs handelt. Im Wald hat er andere Füchse kennengelernt, mit denen er sich öfters trifft. Hier hat er viel Platz und jede erdenkliche Freiheit.

Als ich Onkel Joes Haus erreiche, suche ich die Toilette auf und nehme anschließend denselben Weg zurück. Diesmal passe ich besser auf und halte Ausschau nach weiteren Schützengräben. Vielleicht legt er ja auch irgendwann noch Schlingfallen aus. Bei Charles weiß man schließlich nie … Ich kann mich wirklich nicht beschweren, dass mein Leben langweilig wäre.

Als ich meinen kleinen Pavillon erreiche, lasse ich mich auf der Bank davor nieder und greife nach meinem Reader, um »Pirate Dave and his randy adventures« von Robyn Peterman weiterzulesen. Gerade war ich an der Stelle, an der Pirate Dave eine Zeitreise durchführen will. Er ist nämlich ein zeitreisender Vampir-Warlock-Pirat mit Läusen im Brusthaar und einer erektilen Dysfunktion. Das ist genau der Stoff, aus dem Weltliteratur gewoben wird.

Es geht nichts über eine schräge Story, um sich an einem Sonntagnachmittag die Zeit zu vertreiben und nicht darüber nachdenken zu müssen, wie es um die Konstruktionsfirma meines Vaters steht. Doch leider kann ich mich nicht richtig auf die Geschichte konzentrieren, denn bei meinem Nachbarn steigt ein lautes Halli-Galli-Drecksau-Fest. Jared und seine höchst fragwürdigen Kumpels nebst weiblicher Begleitung saufen am Pool, bespritzen sich gegenseitig mit Wassergewehren, werfen mit Bällen und jagen einander. Die sind mir eindeutig zu laut.

Ich seufze schwermütig. Da bin ich einem Idioten, meinem Ex entkommen, nur damit gleich nebenan Jared »Asshole« Baldwin einzieht. Diesmal kann er nicht die halbe Nacht durchfeiern und mich wachhalten. Schließlich muss ich morgen früh raus und meine Sinne beisammen haben. Ich habe nämlich gleich am Morgen einen besonders wichtigen Termin. Der ist nicht nur für mich persönlich von großer Bedeutung, sondern auch für die Firma meines Vaters.

Wenn man an den Teufel denkt … dreht er seine Musikanlage noch lauter auf und tanzt zu rockiger Musik knappbekleidet mit mehreren halbnackten Frauen und Männern an seinem Pool. Wassertropfen glitzern auf seinen breiten Schultern, der muskulösen Brust, seinem Sixpack und dem dunklen Haar. Gut sieht er ja aus, dieser Schurke, verdammt gut sogar. Seine dunklen Augen glitzern. Er besitzt eine gerade Nase, ein kräftiges Kinn und ungeheuer sinnliche Lippen. Ich erinnere mich noch allzu gut daran, wie sie sich anfühlen …

Peinlich berührt von mir selbst, dass ich so schwach bin, ausgerechnet Jared Baldwin derart anzustarren, wende ich meinen Blick ab. Doch die Neugierde siegt und ich schaue gleich wieder hin.

Als Jared seine Sonnenbrille abnimmt und auf einen Beistelltisch legt, begegnen sich unsere Blicke. Es ist, als würde mich ein Blitz treffen, so elektrifizierend ist sein dunkler Blick. Ein schurkisches Lächeln umspielt seine Lippen. Grübchen bilden sich dabei auf seinen Wangen. Er hatte schon immer diese irritierende Wirkung auf mich, selbst wenn er mich provozieren will wie gerade eben. Wie gut, dass ich mich von Bad Boys wie ihm fernhalte, denn ich habe meine Lektion gelernt.

Mein Vater würde mich erschießen, wenn er wüsste, dass ich ihn auch nur ansehe, denn er hasst Jared abgrundtief. In seinen Augen ist er ein Draufgänger, Frauenheld und grundsätzlich verantwortungslos. So ganz falsch dürfte er mit seiner Einschätzung nicht liegen. Allerdings ist Jared offensichtlich kein erfolgloser Versager geworden, wie mein Vater es für ihn vorauszusagen pflegte.

Genau genommen begaffe ich ja gar nicht Jared, sondern halte nach dem Auto des thailändischen Lieferservices E-San Aussicht, bei dem ich das Gericht namens Evil Prince bestellt habe. Der müsste jeden Moment aus dieser Richtung der Straße kommen.

Tatsächlich sehe ich kurz darauf, wie ein Fahrzeug des Lieferservice vor Jareds Grundstück parkt, der Fahrer aussteigt und auf meinen Erzfeind zuläuft. Offenbar hat er ebenfalls etwas bestellt. Dann kann es ja nicht mehr lange dauern, bis der Bote auch zu mir kommt. Ich winke ihm zu, doch der Mann bemerkt mich nicht, obwohl ich aufgesprungen bin und wild winkend in seine Richtung laufe. Manche Typen laufen wirklich mit Scheuklappen durch die Gegend.

Nachdem Jared bezahlt hat, macht der Lieferbote kehrt und läuft zurück zu seinem Fahrzeug. Doch anstatt die Straße weiter zu Onkel Joes Haus zu fahren, wendet er das Lieferauto und braust in Richtung Innenstadt davon.

Als mein Blick auf Jared fällt, grinst mich dieser selbstgefällig an und winkt mit der Papiertüte des Lieferservice. Der dreiste Typ hat sich also meine Lieferung unter den Nagel gerissen. Das ist ja nicht zu fassen.

Wütend stapfe zu ihm hinüber und weiche dabei einem Ball aus, der mich beinahe am Kopf getroffen hätte. Können die nicht aufpassen?

»Hi. Ich will meinen Evil Prince«, sage ich mit bissiger Stimme.

Jared grinst unverschämt, während sein dunkler Blick über meine nackten Schultern und Beine wandert. »Hi, Babe. Für dich kann ich alles sein, was du dir wünschst.«

Oh, dieser Schurke. Als würde ich auf seine Masche reinfallen. Da er mir auf der High School das Leben schwer genug gemacht hat mit seinen Schikanen und üblen Scherzen, bin ich die Letzte, die ihm auf den Leim gehen könnte.

Wütend starre ich ihn an. »Du weißt genau, dass ich das Essen meine. Evil Prince heißt das Gericht mit rotem Curry.«

Ein schurkisches Lächeln liegt auf seinem attraktiven Gesicht. »Wirklich? In dem Tonfall, in dem du es gesagt hast, war ich mir sicher, dass du mich damit meinst. Jetzt bin ich aber enttäuscht.«

Dieser Schürzenjäger. Der kann gar nicht anders. Das ist alles nur Gewohnheit und hat nichts zu bedeuten. Schon auf der High School waren fast alle Mädchen hinter ihm her. »Träum weiter.«

Suggestiv wackelt er mit den Augenbrauen. »Du willst das Essen also nicht?«

Genau in dem Augenblick meldet sich mein verräterischer Magen und knurrt wie ein Rudel Wölfe. »Natürlich will ich es. Wie viel hast du ihm gegeben?« Kann ja sein, dass selbst er Trinkgeld gibt …

Er nennt mir den Betrag, den ich ihm auf den Beistelltisch lege.

Als er mir die Tüte überreicht, streifen seine Finger meine. Das ließ sich leider nicht ganz verhindern. Meine Haut prickelt nun dort, auch wenn es nur eine flüchtige Berührung war.

»Könntet ihr bitte die Musik runterdrehen und heute Nacht mal ausnahmsweise leise sein?«, frage ich.

»Wir könnten viel, Babe. Bleib doch hier und feire mit uns. Das ist besser, als allein rumzuhocken. Dabei habt ihr selbst eine Fete im Garten.«

Missmutig schaue ich ihn an. »Was ich tun will oder nicht, musst du schon mir überlassen.«

Jared schenkt mir einen dieser Blicke, die tiefer zu gehen scheinen, als nur bis zur Oberfläche. »Du gehst nicht auf diese Hochzeit bei euch im Garten wegen Luca, habe ich Recht?«

Ich schlucke, denn damit trifft er einen wunden Punkt. Leider bin ich noch nicht so weit über Luca hinweg, wie ich das gerne hätte. Gefühle lassen sich nicht einfach abstellen und zwölf Jahre nicht einfach vergessen oder wegwischen. Fast mein gesamtes erwachsenes Leben habe ich mit diesem einen Mann verbracht und jetzt ist er weg, komplett aus meinem Leben verschwunden. Aber ich werde nicht mehr in dieses dunkle Loch stürzen wie in den ersten Monaten nach der Trennung. Diese ist jetzt beinahe ein Jahr her und es wird für mich Zeit, damit abzuschließen.

»Diese Fete – wie du sie nennst – ist für Onkel Joe ein geschäftliches Arrangement. Das sind nicht meine Bekannten. Es gibt für mich also keinen Grund, anwesend zu sein.«

»Aber niemand hätte etwas dagegen, wenn du dort bist.«

Womit er allerdings Recht hat. Vor allem könnte ich mich dann ein wenig nützlich machen. Ich helfe Onkel Joe und seinen Männern gerne und das nicht nur, weil er mir geholfen hat, als ich ihn am meisten gebraucht habe.

»Was ich tue oder lasse, ist allein meine Sache. Ich bin ungern nackt unter Fremden, was man über dich nicht gerade sagen kann.«

Lässig hebt Jared die Achseln und grinst dabei schief. »Wie du meinst. Falls du also bei unserer Fete dabei sein willst …«

»Du wirst doch nicht etwa schon wieder die halbe Nacht durchfeiern?«, frage ich missmutig.

»Warum sollte ich es nicht tun? Das Leben ist zu kurz, um in Trübsal über eine Ex-Beziehung einsam irgendwo abzuhängen.«

»Ich bin nicht einsam und blase kein Trübsal. Außerdem geht es dich nichts an. Ich will nur meine Ruhe haben. Also, wie sieht es heute Nacht bei dir aus?«

»Ich bin noch frei. Für dich, wenn du willst«, missinterpretiert er meine Worte. Jareds dunkler Blick bohrt sich in meinen.

Er flirtet mit mir! Es ist einfach nicht zu glauben. Mein Erzfeind flirtet mit mir! Dass er keine ehrenwerten Absichten verfolgt, ist natürlich offensichtlich. Der spielt nur mit mir. Das ist seine Art. Von einem Playboy wie ihm halte ich mich lieber fern. Das kann für mich nur böse ausgehen. So etwas ist nichts für mich.

»Ich will wirklich nur meine Ruhe haben. Ihr könnt nicht schon wieder die ganze Nacht über die Nachbarschaft terrorisieren.«

»Das tun wir ja gar nicht.«

»Tut ihr wohl.«

»Deine Onkel haben nichts dagegen. Und ich habe nichts gegen die Nackten in seinem Garten. Das ist eine Win-win-Situation, würde ich sagen«, meint Jared lässig grinsend.

Damit trifft er ins Schwarze, denn meine Onkel sind bekannterweise auch nicht gerade die besten Traumnachbarn, die man sich vorstellen kann. Beispielsweise treibt sich ihr Polarfuchs gerne in Jareds Garten rum und hat dort schon das eine oder andere Loch gegraben. Außerdem fiepen er und seine Fuchsfreunde gerne mal. Mit einem anderen Nachbarn haben meine Onkel deswegen schon Ärger bekommen. Jared ist das ziemlich egal. Er meint, es seien eben Tiere.

Ich seufze. »Ich möchte einfach, dass ihr mal früher Schluss macht mit dem Lärm. Mein Pavillon ist nicht besonders schalldicht und es gibt Schöneres, als die halbe Nacht euer Gegröle und was weiß ich noch mit anhören zu müssen.«

»Wir grölen nicht. Außerdem muss ich dich enttäuschen, denn heute Nacht wird alles ganz mucksmäuschenstill sein. Also brauchst du erst gar keinen Lauschangriff zu machen. Meine Kumpels brechen in Kürze in den veganen Stripclub auf.«

»Ich mache keinen Lauschangriff. Ihr geht also in den veganen Stripclub zur Fleischbeschau. Ist das nicht irgendwie ironisch? Geht ihr in das Casa Diablo oder das Dusk ’til Dawn

Amüsiert betrachtet er mich. »Du kennst also beide Etablissements? Ach, warum sollte mich das überraschen?« Jared lacht leise und rau. »In Seattle hat sich herumgesprochen, was deine Oma während deines Junggesellinnenabschiedes getan hat. Sie ist in den Knast gewandert, nicht wahr?«

»Sie ist eigentlich die Oma meiner Cousine.« Allerdings steht sie mir so nahe, dass sie zusammen mit Yasmina meinen Junggesellinnenabschied organisiert hat. Wobei ich an diesen Abend trotzdem nicht erinnert werden möchte, denn das triggert ganz andere ungewollte Erinnerungen …

Jared misst mich mit seinem Blick von oben bis unten. »Du bist also doch noch nicht ganz in Schnarchzapfen-Town angekommen. Wirft das nicht einen Schandfleck auf deine ach so saubere Familie?«

Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre ihn böse an. »Das geht dich nichts an. Außerdem brauchst du mich gar nicht zu beleidigen, nur weil ich keinen Lebensstil wie du führe.«

Zufrieden grinst er, schnappt sich sein Martiniglas und nippt daran. »Also habe ich ins Schwarze getroffen. Möchtest du die Olive, Schätzchen?« Er fischt die sich an einem Zahnstocher befindende Olive aus dem Glas.

»Nein, danke. Und ich bin nicht dein Schätzchen.«

»Bist du dir wirklich sicher?«

»Ich mag keine Oliven, die zuvor in Alkohol ertränkt wurden. Und auch keine Typen, die stinken, als hätten sie in Martini gebadet.«

»Aber Mandy mag sie bestimmt.« Er füttert die Olive der brünetten, vollbusigen Schönheit, die sich dicht neben ihm auf einem Liegestuhl räkelt. Diese streift die Olive langsam mit ihren vollen Lippen unter betont offensichtlichem Zungeneinsatz von dem Zahnstocher. Auch beäugt sie Jared, als wolle sie ihn gleich verschlingen. Nicht, dass ich gar kein Verständnis dafür hätte, denn er ist einfach heiß.

Jareds Blick liegt seltsamerweise auf mir und nicht auf den fast aus dem Triangel-Bikini herausquellenden Brüsten der Frau, die sie ihm ungeniert präsentiert. Wobei sein Blick gelegentlich die Länge meines Leibes herabwandert. »Du verstehst keinen Spaß, oder? Früher warst du lockerer drauf gewesen.«

Irritiert sehe ich ihn an. »Wie meinst du das? Natürlich verstehe ich Spaß.« Nur eben keine üblen Scherze. Irgendwo hört es nämlich auf.

»Luca hat dich runtergezogen. Der war der Oberlangweiler gewesen.«

»Halt dich da raus. Das geht dich gar nichts an!«

»Aber ich schätze mal, er hat deinen Eltern gut gefallen, der alte Schleimer. Und du willst ja deinem Dad immer alles recht machen und das liebe Töchterlein spielen.«

»Natürlich wollte ich die Anerkennung meines Vaters. Wer will das nicht? Nicht jeder will ein Quertreiber wie du sein. Du hast es dir zur Lebensaufgabe gemacht, anderen den letzten Nerv zu rauben und, falls das nicht klappt, dich in ihre persönlichen Angelegenheiten einzumischen. Außerdem brauchst du gar nichts über meine in die Hose gegangene Hochzeit zu sagen. Ich habe es wenigstens versucht. Du bist ja so was von bindungsscheu. Bei dir geht es immer nur ums Spaßhaben«, fahre ich ihn an.

»Zumindest habe ich Spaß – im Gegensatz zu dir.«

Warum muss er nur so ein verdammtes Arschloch sein?

»Das weißt du doch gar nicht.«

Er grinst selbstgefällig. »Das weiß ich eben doch. Ich bin dein Nachbar.«

»Es geht dich nichts an!«

»Wenn sich meine Nachbarin schrittweise langsam umbringt, geht mich das sehr wohl etwas an. Auch wenn dein Herz schlägt und du atmest, lebst du nicht richtig.«

»Und du? Nennst du deine oberflächlichen Feten, deine One-Night-Stands und das ganze Geplänkel das richtige Leben?« Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ich lasse es zu, dass er mich wieder mal auf die Palme bringt. Dabei sollte ich längst wissen, dass er einen Heidenspaß daran hat, mich zu provozieren. Das war schon damals so.

Gleichmütig zuckt er mit den Achseln. »Ich arbeite hart und ich feiere hart. Zumindest habe ich was vom Leben. Meist bereut man nicht das, was man getan hat, sondern das, was man nicht getan hat.«

»Ich habe auch was vom Leben. Ich lese anspruchsvolle Bücher … und tue damit etwas für meine Bildung, anstatt mir das Hirn aus dem Kopf zu saufen und …« Dass ich Pirate Dave lese, braucht Jared nicht zu wissen.

Das breite Grinsen weicht nicht aus seinem Gesicht. »Und zu vögeln.«

Ich starre ihn an. »Was?«

»Und dir das Hirn aus dem Leib zu vögeln. Das wolltest du doch sagen?«

»Leg mir nicht irgendwelche Worte in den Mund. Du bist so ein Idiot, warst du damals schon gewesen und bist du immer noch.«

»Ich bin nicht nur schlecht, Kim.«

»Das vielleicht nicht. Niemand ist nur schlecht.«

In der Tat muss ich zugeben, dass er mich während der High-School-Zeit vor den richtigen Bösewichten beschützt hat mit den Worten, dass nur er das Recht hat, mich zu schikanieren. Niemand anderer. Und als ein paar Drogendealer ihren harten Stoff an unserer Schule verkaufen wollten, hat er ein paar seiner Kumpels zusammengetrommelt und mit diesen gemeinsam die Dealer verdroschen. Die hatten sich danach nie mehr bei uns blicken lassen. Die Schule selbst war damit nicht fertiggeworden.

Nachdem Jared Portland verlassen hatte, waren die letzten Monate ohne ihn richtig langweilig. Nicht, dass ich das ihm gegenüber jemals zugeben würde.

»Du solltest wirklich etwas lockerer werden«, meint er.

»Du weißt gar nichts über mich«, sage ich.

Kaum hatte Jared die High School beendet, ist er nach Seattle gezogen, weil er ein Baseball-Stipendium bekommen hat. Nicht, dass ich ihn vermisst hätte …

»Vielleicht doch. Ich habe noch immer Kumpels hier.«

Ungläubig starre ich ihn an. »Das ist nicht dein Ernst. Du hast dich nach mir erkundigt?«

Gleichgültig zuckt er mit den Schultern. »Da wir in derselben High School waren, redet man auch mal über dich, wenn man mit den alten Schulkameraden telefoniert. Da hört man das eine oder andere.«

»Warum bist du nicht in Seattle geblieben?«, frage ich neugierig.

»Warum lenkst du vom Thema ab?«

»Ich möchte das wirklich wissen. Warum bist du nicht in Seattle geblieben?«

Er fährt sich mit der Hand über die muskulöse Brust, was mich für einen Moment ablenkt. Warum muss dieser Idiot so verdammt sexy aussehen mit der gebräunten Haut, all den Muskeln, dem kantigen Kinn und den dunklen, in den Bann ziehenden Augen?

»Ich habe dasselbe Recht, hier zu sein, wie jeder andere auch. Außerdem wurde ich in Portland geboren.«

»Wenn dir so viel an der Stadt liegt, warum bist du dann überhaupt weggezogen?«, frage ich.

»Ich hatte in Seattle damals bessere Entwicklungsmöglichkeiten.«

»Und jetzt hast du hier bessere? Oder willst du uns Konkurrenz machen? Warum bist du überhaupt ins selbe Business eingestiegen wie mein Dad?« Ein gesundes Misstrauen ihm gegenüber ist angebracht.

Er hebt die Achseln. »Warum nicht?«

»Auf welche meiner Fragen bezieht sich deine Antwort?«

Ein träges Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Auf alle.«

»Du willst uns also Konkurrenz machen?« Hatte ich es mir doch gedacht. Mein Dad und er können einander nicht ausstehen.

Er zuckt mit den Schultern. »Vielleicht.«

»Du spielst nicht mit offenen Karten.«

»Nenn mir einen Grund, warum ich das tun sollte.«

Genervt seufze ich. »Hast du vor, in Portland zu bleiben?«

Er sieht mir tief in die Augen. »Möchtest du denn, dass ich hierbleibe, Kim?« Seine Stimme klingt nun sanft, fast schon verführerisch.

Skeptisch sehe ich ihn an. »Du scheinst nicht wirklich zu wissen, was du willst, wenn du deine Entscheidung von anderen abhängig machst.«

»Oh, Kim, ich weiß sehr genau, was ich will. Und du irrst dich, wenn du denkst, dass ich meine Entscheidungen von anderen abhängig mache.«

Ich runzle die Stirn. »Und was genau willst du?«

»Warum sollte ich das ausgerechnet dir sagen? Schließlich hasst du mich oder etwa nicht?«

»Warum sollte ich? Du bist mir gleichgültig.«

»Damals hast du mir gesagt, dass du mich hasst. Sind deine Gefühle für mich etwa inzwischen erkaltet?« Er klingt enttäuscht.

Das hatte ich damals tatsächlich zu ihm gesagt an jenem verhängnisvollen Samstagnachmittag vor knapp vierzehn Jahren.

»Man muss die Vergangenheit hinter sich lassen.« Mit diesen Worten lasse ich ihn stehen, drehe mich um und gehe davon. Keinesfalls mache ich seine manipulativen Gedankenspielchen mit.

»Hast du sie denn hinter dir gelassen, Kim?«, vernehme ich seine Worte, antworte aber nicht darauf. Dieses Spiel kann ich auch spielen. Wenn er meine Fragen nicht beantworten will, muss ich seine auch nicht beantworten.

»Übrigens, Kim«, ruft er mir hinterher. »Geiler Arsch! Aber deine Hose hat an der Rückseite einen Riss.«

»Arschloch!«, rufe ich zurück, denn das hätte er mir schon früher sagen können, bevor jeder seiner Kumpels meine Unterwäsche gesehen hat.

 

Jared

 

Nachdenklich blicke ich Kim hinterher, wie sie mit ihrem thailändischen Essen mein Grundstück wieder verlässt. Ihre Hüften schwingen leicht und ihr dunkles Haar schimmert wie Seide in der Sonne.

Ich liebe ihr Temperament. Es ist immer wieder schön, mit ihr zu streiten. Das habe ich vermisst, als ich in Seattle war.

Sie hat sich kaum verändert seit damals. Wenn überhaupt, dann ist sie noch schöner geworden. Aber irgendetwas ist jetzt anders an ihr. Ich wette, das hat mit diesem Arsch Luca zu tun. Der Typ hat ihr nicht gutgetan. Er hat irgendwas in ihr zerbrochen. Ich kann es nicht gewesen sein, denn diese Macht hatte ich nie über sie.

Nicht, dass ich ihr wirklich gutgetan hatte … Sie hat was Besseres verdient als Luca oder mich. Und mit einem hat sie Recht: Ich bin kein Mann für eine Beziehung.

Damals war ich das asoziale Kind im Viertel. Wir lebten in einem Trailerpark. Ständig hatte ich das Gefühl, mich beweisen zu müssen. In mir war eine Getriebenheit, eine unruhige Energie. Nur selten konnte ich wirklich stillsitzen. Es hat Jahre gedauert, bis ich gelernt habe, diese Energie zu kanalisieren.

Zwar bin ich in Portland geboren, doch einige Jahre meiner Kindheit und Jugend verbrachte ich in Eugene, bis meine Familie zurück nach Portland zog. Damals war ich fünfzehn Jahre alt.

Da lernte ich Kim kennen und wusste noch nicht viel von der Welt. Dass es unterschiedliche Klassen gibt und ich ganz unten stand, musste ich auf schmerzhafte Weise lernen.

Vom ersten Moment an habe ich mich zu ihr hingezogen gefühlt. Vermutlich war das, weil sie so ganz anders ist als ich. Sie ist rein und leuchtend und nicht dunkel und verdorben wie ich. Nicht, dass ich ein Problem damit hätte, wer ich bin. Ich bin, wer ich bin. Nur manchmal habe ich Angst, wie er zu sein … mein Vater …

In Kim gibt es ein Feuer, ein Licht, das mich angezogen hat wie der Kerzenschein die Motten. Beinahe hätte ich mich daran verbrannt und alles zerstört, was mir wichtig ist.

Dieses Licht brennt noch immer in ihr, aber es scheint nicht mehr so hell zu sein oder sie scheint es zu verbergen.

Ich will, dass es wieder brennt wie zuvor. Aber ich bin nicht die richtige Person, um das zu ändern, denn in mir ist zu viel Dunkelheit.

Kapitel 2

 

Kim

 

Als ich die Tür meines Pavillons hinter mir geschlossen habe, taste ich über meinen Hintern. Der Riss in meiner Hose ist größer, als ich befürchtet habe. Jetzt hatte gefühlt halb Portland die Gelegenheit, meine Unterwäsche zu betrachten. Wie peinlich.

Den Riss habe ich mir vermutlich beim Sturz in den Schützengraben zugezogen. Es ist ohnehin ein Unding, dass Onkel Joe solche Todesfallen in seinem Garten hat.

Jared ist der Riss mit Sicherheit schon früher aufgefallen. Es ist mal wieder typisch für ihn, das erst im letzten Moment zu sagen. So kenne ich das von ihm. So war es auch vor vierzehn Jahren. Bestimmt amüsiert er sich köstlich darüber, dieser arrogante Arsch.

 

Vor beinahe vierzehn Jahren

Verdammt, mein Fahrradschloss geht nicht mehr auf. Dabei habe ich die richtige Nummernkombination eingestellt. Ich irre mich nicht, denn ich verwende sie seit ein paar Monaten. Nur jemand, der mich gut kennt, kommt dahinter, welche ich benutze. Und so jemand würde mir das bestimmt nicht antun.

Lässig an die Außenmauer des Schulhofs gelehnt, grinst Jared mich frech und provozierend an. Wenn der nichts mit der Sache zu tun hat, heiße ich Kurt.

Allerdings hätte es auch schlimmer kommen können. Er hätte mir schließlich auch die Reifen zerstechen können … Seltsamerweise tut er nie etwas, das dauerhaften Schaden hinterlässt. Vermutlich hat er Schiss vor einer Strafe oder er will nicht von der Schule fliegen. Er weiß genau, wie weit er gehen kann, und diese Grenze reizt er wirklich aus.

Jared liebt es, mich in peinliche Situationen zu bringen. Ob Würmer in meiner Jackentasche, ein Furzkissen auf meinem Stuhl im Klassenraum oder eine explodierte Stinkbombe in meinem Schulrucksack – sein Einfallsreichtum, dies zu bewerkstelligen, ist wirklich grenzenlos.

Nachdenklich kaue ich auf meiner Unterlippe. Was soll ich nur tun?

Wenn ich das Schloss einfach zerstöre – falls mir das überhaupt gelingt –, wird die Strafe meines Vaters kein Pappenstiel sein. Eine Woche Hausarrest Minimum ist dann angesagt. Er hasst Verschwendung. Sparsamkeit ist sein zweiter Vorname. Aber ich bin bereit für einige Opfer, um diesem Arschloch Jared den Spaß zu verderben. Was auch immer daran lustig sein soll … Ich jedenfalls kann nicht darüber lachen.

Ich betrete das Schulgebäude, um den Hausmeister aufzusuchen. Der hat bestimmt einen Bolzenschneider, mit dem er die Kette durchtrennen kann. Doch leider kann ich den Mann nicht finden und die Tür zum Hausmeisterbüro ist abgeschlossen.

»Mr. Harris ist schon gegangen, falls du den suchst. Mittwochs geht er früher«, sagt Jared böse grinsend, als ich fluchend zu meinem Fahrrad zurückkehre.

Panik durchfährt mich. Ich habe heute eine Menge Hausaufgaben zu machen. Wenn ich zu Fuß nach Hause gehen muss, brauche ich dafür mehr als zwei Stunden. Bei der Hitze ist mein Gehirn danach Brei. Außerdem benötige ich die Zeit, da ich leider Referate immer erst auf den letzten Drücker fertigstelle. Ich muss unbedingt meine Arbeitsgewohnheiten ändern.

Meinen Vater brauche ich nicht anzurufen. Der scheißt mich höchstens zusammen. Abholen wird er mich nicht, da er meint, dass ich alt genug sei, um die Verantwortung zu übernehmen, selbst zur Schule und wieder nach Hause zu kommen. Und Taschengeld, mit dem ich mir ein Ticket für den Bus hätte kaufen können, gibt es bei uns nicht, zumindest nicht im Sommer. Erst im November bekomme ich von ihm ein Monatsticket.

Jared holt sich eine große Flasche Cola Light aus seinem Rucksack und schraubt sie auf. Seit wann trinkt er Diät-Cola? Vielleicht hatte der Automat in der Schule keine andere Sorte mehr. Außer Cola und anderen Softdrinks gibt es dort diverse Schokoriegel und Bonbons zu kaufen. Absurderweise befindet sich an diesem Automaten ein Aufkleber mit der Aufschrift »Gesundes Pausenfrühstück«. Ich bringe meine Sachen immer von zuhause mit.

Jared setzt die Flasche an seinen Lippen an und nimmt ein paar Schlucke.

Ich kann meinen Blick kaum von ihm abwenden, von seinem kantigen Kinn mit dem dunklen Dreitagebart und dem sich bewegenden Adamsapfel. Das T-Shirt spannt sich über seinem ausgeprägten Bizeps. Mit seinen knapp achtzehn Jahren ist er schon verdammt maskulin. In Oregon ist man mit achtzehn schon volljährig. Sein dunkles Haar ist etwas zu lang und verstrubbelt und seine Jeans ist am Knie aufgerissen. Trotzdem laufen ihm die Mädels hier an der Schule hinterher. Sie wissen ja nicht, wie er wirklich ist. Die sehen nur das attraktive Äußere und ignorieren, dass er so ein arrogantes Arschloch ist.

Auch ich hatte mal anders über ihn gedacht.

Aber er ist eine falsche Schlange. Und er setzt alles daran, mir das Leben schwer zu machen, wie man ja wieder einmal sieht …

»Das hast du getan, nicht wahr? Woher wusstest du die Nummer?«, fahre ich ihn an.

Seelenruhig schraubt er die noch fast volle Colaflasche zu und räumt sie zurück in seinen Rucksack. Er schenkt mir ein unwiderstehliches Lächeln. »Die war nicht schwer herauszufinden.«

Ich hätte doch nicht das errechnete voraussichtliche Geburtsdatum meiner kleinen Schwester nehmen sollen … In den Sommerferien soll sie geboren werden. Zumindest sind sie sich zu 90 % sicher, dass es ein Mädchen wird. Ich habe keine Ahnung, wie die Ärzte auf solche Prozentangaben kommen.

»Öffne das Schloss, verdammt nochmal«, fahre ich Jared ungeduldig an.

Er mustert mich frech von oben bis unten. »Warum sollte ich das tun?«

»Weil du vielleicht ab und zu doch ein netter Kerl bist?« Man kann es ja versuchen. Vielleicht besitzt er ja doch den Anflug eines Gewissens.

»Ich bin aber kein netter Kerl, Kim«, sagt er mit samtiger, dunkler Stimme.

Hatte ich es mir doch gedacht …

»Ja, genau, du bist ein verdammtes Arschloch.«

Amüsiert grinst er mich an. »Wenn du mich so nennst, steigt meine Motivation, dir das Schloss zu öffnen, gleich ungemein.«

Wütend stemme ich die Hände in die Hüften. »Das ist nicht lustig. Mach mir das verdammte Schloss auf oder sag mir die neue Nummer!« Am liebsten würde ich diesen Idioten erwürgen.

Seelenruhig blickt er mich an. »Das ist die Rache für das Loch in meiner Jeans.«

»Das hattest du verdient. Schließlich hast du mir eine Plastik-Vogelspinne durch mein Schlafzimmerfenster geworfen und dein Komplize hat meinen Badezusatz mit Farbe versetzt, während ich dich verfolgt habe. So was kann gesundheitsschädlich sein«, fahre ich ihn empört an. Immerhin hätte ich vor Panik beinahe einen Herzanfall gehabt. Hierzulande gibt es die wirklich gefährlichen, giftigen Spinnen. Damit ist nicht zu spaßen.

»Das war hochkonzentrierte Lebensmittelfarbe.«

Jedenfalls hat es Tage gedauert, bis ich die blaue Farbe von meiner Haut bekommen habe. Tage, während der mich Jared und seine Kumpels feixend und sich vor Lachen beinahe einpissend Schlumpfine genannt haben. Das haben sie auch noch ein halbes Jahr getan, nachdem ich die Farbe losgeworden war.

Außerdem hat Jared meine Panikschreie und mein entsetztes Gesicht, als er die Monsterspinne durchs offen stehende Fenster in mein Bett geworfen hat, auf seinem Handy aufgenommen und die Datei an andere Schüler weitergeleitet.

Ich hatte einen Monat lang Hausarrest bekommen, weil mein Vater dachte, ich hätte mit Jared nachts im Garten rumgemacht. Wie kann man den Versuch, einen Typen zu ermorden, mit Herummachen verwechseln?

Klar, der Anblick hatte schon täuschen können, zumal es in dem Eck trotz der Außenbeleuchtung relativ finster gewesen ist. Das gebe ich zu. Immerhin habe ich in der Reiterstellung auf Jared gesessen. Aber das habe ich nur getan, damit dieser Mistkerl nicht fliehen konnte und ich besser an seine Kehle herankam.

Allein das Auftauchen meines Vaters hat diesem Schurken das Leben gerettet. Mein Vater glaubt mir bis heute nicht, dass ich nichts mit Jared hatte. Ausgerechnet mit Jared! Dabei sollte Dad es wirklich besser wissen. Er hatte mir damals sogar den Umgang mit ihm verboten. Als hätte ich vor, noch weiter Umgang mit ihm zu pflegen. Lachhaft!

»Ich kann dich mit meinem Fahrrad nach Hause fahren, wenn du willst«, bietet Jared mir an.

»Lieber laufe ich«, erwidere ich schnippisch.

Fragend hebt er die Augenbrauen. »Du willst wirklich die zwölf Kilometer laufen? Hast du nicht morgen dein Referat?« Sein Grinsen wirkt diabolisch auf mich.

»Du bist erstaunlich gut über mich informiert, Stalker-Boy.«

»Ich stalke niemanden.«

»Und woher weißt du das dann?« Schließlich geht er nicht in dieselbe Klasse wie ich, sondern ist in der Jahrgangsstufe über mir.

»Ich rede ganz einfach mit den Leuten. Solltest du auch mal probieren, anstatt mit deinen Snobfreunden hochnäsig in der Ecke Hof zu halten. Dabei bleibt man auf dem Laufenden. Du willst also lieber nach Hause laufen, anstatt mein freundliches Angebot, dich zu fahren, anzunehmen?«

»Da ist doch ein Haken dabei.« Außerdem stinkt es mir, dass der Typ mich mit jedem dritten Satz beleidigt. So ein Arsch!

»Welcher sollte dabei sein? Außer, dass du dabei meinen Rucksack halten müsstest?«

Ich grüble nach, finde jedoch nichts, was dagegen sprechen könnte, außer dass das Problem mit meinem Fahrradschloss dann immer noch nicht gelöst wäre und er einfach ein Idiot ist.

»Wenn du mir die neue Nummer meines Fahrradschlosses gibst, fahre ich mit dir.«

»Okay, abgemacht.« Er hält mir die Hand hin, die ich misstrauisch beäuge.

»Oder traust du meinem Wort etwa nicht?«, fragt er aufgebracht.

»Bisher bist du mir nicht gerade als einer der vertrauenswürdigsten Menschen erschienen.«

Jared kratzt sich am Nacken. »Das mag sein, aber mein Wort ist etwas wert. Wenn du mit mir fährst, gebe ich dir die Nummernkombi, sobald ich dich bei dir zuhause absetze.«

»Was springt für dich dabei raus?«

»Vielleicht nur der Gedanke an die Macht, die ich während dieser Zeit über dich habe. Ich, der Junge aus der Gosse, und die Tochter des reichen Industriellen zusammen auf einem alten Fahrrad.«

Es ist also nur ein Ego-Ding. Das hätte ich mir eigentlich denken können. Wenn es sonst nichts ist … Außerdem könnte ich während der Fahrt seinen Rucksack in einen der Schickimicki-Gärten werfen und ihm viel Spaß beim Suchen wünschen.

»Also gut«, sage ich.

»Aber komme ja nicht auf die Idee, unterwegs meinen Rucksack wegzuwerfen. Du weißt, dass das Konsequenzen haben wird.«

»Konsequenzen? So wie das Mehl in meinem Föhn kurz vor meinem Auftritt am Schultheater?«

»Das wird nichts dagegen sein.«

»Wie dramatisch. Ich schlottere vor Angst.«

Lauernd sieht er mich aus seinen magnetischen, dunklen Augen an. Er ist echt heiß, aber so ein Arschloch.

»Wenn mein Rucksack weg ist, ist es deine Schlosskombi auch. Also überlege es dir gut.«

Nachdenklich beiße ich auf meine Unterlippe. Ich bin ihm wohl auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Aber wie ich mich kenne, finde ich garantiert einen Weg, es ihm irgendwann heimzuzahlen. Der soll sich nur nicht zu früh freuen. Irgendwie finde ich eine Möglichkeit, einen der Jungs zu bestechen, dass er Jared in der Umkleide der Turnhalle heimlich Juckpulver in die Jeans tut. Das wäre ein Spaß.

»Mir gefällt der teuflische Ausdruck in deinen Augen nicht«, meint Jared.

Betont unschuldig sehe ich ihn an. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Und hast du dich schon entschieden?«, fragt er.

»Ja, ich fahre mit dir.«

Erneut reicht er mir seine Hand, die ich diesmal schüttle, während er mir dabei tief in die Augen sieht. Die Berührung jagt erregende Schauer durch meinen Leib. Ich hasse es, dass er diese Macht über mich besitzt.

»Okay, der Deal gilt«, sagt er und steigt auf sein Fahrrad.

Der Deal mit dem Teufel … So ganz wohl ist mir nämlich nicht dabei. Aber was bleibt mir anderes übrig? Und wie gesagt werde ich das nicht auf mir sitzen lassen.

Mein Blick wandert wie von selbst zu seinen Lippen. Erinnerungen steigen in mir auf an Berührungen, an heiße Küsse und seine sanfte Stimme, die zärtliche Dinge in mein Ohr flüstert. Seine Lippen, die küssen können wie keine anderen. Sein Mund, aus dem nur Lügen gekommen sind. Ich zwinge mich, meinen Blick davon abzuwenden, aber es ist zu spät. Er weiß, dass ich ihn angestarrt habe. Ein wissendes Lächeln umspielt seine wohlgeformten Lippen.

Über jede Schulter nehme ich je einen Gurt eines der Rucksäcke. Zum Glück haben wir heute nicht auch noch unsere Sportbeutel dabei. Damit wäre ich vollkommen überladen.

Dann setze ich mich hinter Jared aufs Fahrrad und schlinge meine Arme um seinen muskulösen, wohlduftenden Leib. Es ist die reinste Folter.

Es fällt mir schwer, das zuzugeben, aber es fühlt sich verdammt gut an, ihm so nahe zu sein. Jared riecht leicht nach Seife, einem Aftershave und Mann. Seine Nähe ist berauschend und bringt meine Hormone in Wallung. Ich kann verstehen, warum die Mädchen so verrückt nach ihm sind. Er hat das gewisse Etwas und eine geradezu magische Anziehungskraft, gegen die auch ich leider nicht ganz immun bin, so sehr ich auch dagegen ankämpfe.

Es ist alles an ihm: die Art, wie er sich bewegt, sein dunkles Haar zurückstreift, sein in den Bann ziehender Blick, dieses verschmitzte, jungenhafte Grinsen und seine samtige Stimme. Aber mich täuscht das – im Gegensatz zu den anderen Girls – nicht über seinen wahren Charakter hinweg.

Mir kommt es vor wie die längste Fahrradfahrt meines Lebens. Diese Nähe zu ihm ist irgendwie verstörend. Ich kann kaum noch klar denken. Es wird Zeit, dass ich wieder Abstand zu ihm gewinne.

Erleichtert atme ich auf, als die Gegend, in der ich wohne, in Sichtweite kommt.

Jared setzt mich zwei Querstraßen vor meinem Zuhause ab, da er weiß, wie sehr mein Vater ihn hasst. Sogleich suche ich Abstand zu Jared, damit ich seinem Einfluss entkomme. Diese verdammte Pubertät und die damit verbundenen Hormonwallungen machen mir wirklich zu schaffen.

Er lehnt sein Fahrrad ein Stück hinter sich gegen eine Hausmauer. Ich überreiche ihm seinen Rucksack. Er öffnet ihn und entnimmt die Flasche Diät-Cola. Er setzt sie an seinen Lippen an und nimmt ein paar Schlucke davon. Ich sehe, wie sich sein Adamsapfel dabei bewegt und sein Bizeps beinahe das ausgewaschene, mittelblaue Shirt sprengt, das ebenso wie die tiefsitzende Bluejeans seinen heißen Body betont.

Ich wende meinen Blick von ihm ab. Da ich selbst Durst habe, will ich meine Cola-Flasche aus meinem Rucksack ziehen. Sie ist jedoch nicht da.

»Du brauchst nicht danach zu suchen. Ich hab sie dir geklaut«, vernehme ich Jareds tiefe, leicht amüsiert klingende Stimme.

»Du Dieb, du Gauner«, schimpfe ich.

»Reg dich nicht so auf, Süße. Du kriegst sie ja gleich wieder. Außerdem schmeckt die Light-Variante ohnehin scheiße.«

Wütend nehme ich ihm die noch immer offene, drei Viertel volle Flasche aus der Hand, da sehe ich etwas Weißes in der Flasche. Und schon schießt mir der schäumende Inhalt der Flasche ins Gesicht, über meine Haare, das Shirt, die Hose und meine Sneakers. Es ist eine gewaltige Cola-Fontäne. Ich bin über und über mit der klebrigen Flüssigkeit benetzt. Das ist der fiese Mentos-in-Cola-Trick, der diese Schaumfontäne hervorruft.

Jared, der Schuft, ist natürlich mit seinem Rucksack in Sicherheit gesprungen.

Lässig lehnt er sich gegen die Mauer, zückt eine hellblaue Bonbonverpackung aus seiner Jeanstasche und schenkt mir ein schiefes Lächeln. »Möchtest du ein Mentos, Babe?«

»Ich möchte dich erwürgen, Babe!«, schreie ich ihn an. »Du verdammtes Arschloch.«

Seelenruhig sieht er mich an. »Das ist die Rache für das Loch in meiner Jeans.«

»Ich dachte, das mit dem Fahrradschloss war die Rache?«, frage ich aufgebracht.

Er grinst mich an. »Nein, das war die Ablenkung für die eigentliche Rache.«

»Du bist so ein Arschloch!«

»Und du wiederholst dich. War nett, dich zu fahren. Tschüs, Kim.« Er nennt mir die Nummernkombi meines Fahrradschlosses und ist bereits im Begriff, sich zu seinem Fahrrad umzudrehen, da wendet er sich noch einmal zu mir um und sieht mir plötzlich ernst geworden tief in die Augen. »Hast du was mit Luca?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, wir daten nur seit Kurzem.« Nicht, dass es Jared etwas angehen würde …

»Luca ist ein Loser. Der hält seine Fahne in den Wind.«

»Hör auf, mich oder die Leute, die mir nahestehen oder mich kennen, zu beleidigen.«

»Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung. Oder habe ich dich jemals als Loser bezeichnet?«

Das hat er in der Tat nicht.

»Was weißt du schon davon? Du gibst dich ja gar nicht mit ihm ab«, sage ich.

»Ich kenne den Typen. Hatte mal mit ihm zu tun. Kann nicht sagen, dass er einen aufrichtigen Charakter besitzt.«

»Weil du den ja hast …«

»Ich tue, was ich tun muss.« Jared sieht mich an, als wolle er noch etwas sagen, aber der Moment verfliegt. Er schwingt sich auf sein Fahrrad und braust mit einem knappen Abschiedsgruß davon.

Für die Sache mit der Cola wird er bezahlen. Vielleicht fällt mir ja noch etwas Besseres ein als Juckpulver.

Doch leider kam ich nicht mehr dazu, meinen diabolischen Racheplan zu verwirklichen. So gesehen sind Jared und ich noch nicht quitt, falls wir das überhaupt jemals sein werden …

Es war das letzte Mal, dass wir uns unterhalten haben. Drei Wochen später, Anfang Juni, haben die Sommerferien begonnen. Irgendwann in den Ferien ist Jared zusammen mit seiner Zwillingsschwester aus Portland verschwunden. Damals dachte ich, das würde für immer sein.

Im ersten Moment war ich damals darüber erleichtert, denn ich musste dann nicht mehr ständig auf der Hut sein. Aber irgendwann musste ich mir eingestehen, dass mir seine Scherze gefehlt haben, denn sie haben mich vor Langeweile bewahrt. Vor allem hat er mit seiner Einschätzung von Luca Martins Charakter Recht gehabt.

 

 

Kim

 

Ich verdränge die Gedanken an damals. Es ist schlimm genug, dass Jared wieder in mein Leben getreten ist. Was auch immer er hier vorhat … Es kann nichts Gutes sein. Gerade jetzt, da ich versuche, mein Leben wieder auf die Reihe zu bringen, ist dieser Unruhestifter das Letzte, was ich brauche.

Ich setze mich an den kleinen Tisch in meinem Pavillon, um meinen Evil Prince zu essen. Das Gericht gibt es auch mit anderen Fleischsorten oder Tofu, aber ich bevorzuge die Variante mit Hühnchen. Dazu wird viel Gemüse gereicht mit einer Sauce aus Kokosmilch mit Basilikum und rotem Curry.

Draußen lärmt Jared noch immer mit seinen Freunden herum. Die Musik haben sie nicht leiser gedreht. Aber wenn stimmt, was er gesagt hat, dürfte heute Abend Ruhe sein. Falls ich seinem Wort vertrauen kann …

Leider sind an diesem Wochenende meine Freunde nicht da. Ich hätte während der Beziehung mit Luca nicht so viele meiner Bekannten vernachlässigen sollen. Er hatte mich immer für sich haben wollen. Allein durfte ich nicht ausgehen und er hatte immer wieder längere Anfälle von Ausgehfaulheit, woran er seinem Job die Schuld gab. Ich hätte mich wirklich durchsetzen und allein ausgehen sollen, auch wenn damit das Drama garantiert war. Um des lieben Friedens willen klein beizugeben war die falsche Entscheidung. Im Nachhinein weiß man bekanntlich alles besser …

Ich schaue auf meine Armbanduhr. Bald muss ich los. Heute hat meine Mutter Geburtstag. Es gibt Kaffee und Kuchen bei meinen Eltern.

Nach dem Essen räume ich ein wenig auf, dusche mich und ziehe ein luftiges, hellblaues Sommerkleid an. Mit meinem Geschenk gehe ich zu meinem roten Subaru Justy. Ich habe ihr einen Flakon Olympéa von Paco Rabanne in der Drogerie kunstvoll einpacken lassen. Diesen Duft wünscht sie sich, seit sie ihn bei mir kürzlich erschnuppert hat.

Ich habe ihn zum ersten Mal bei einer freundlichen Dame vor mir im Post Office erschnuppert, als ich eine Retoure abgeben wollte. Spontan hatte ich die Frau danach gefragt. Sie sagte, dass sie Parfums sammelt und das eines ihrer liebsten sei.

Ich hatte mir den Duft damals zu meinem Geburtstag gewünscht, doch Luca schenkte mir statt Olympéa einen Mixer von Olympia. Und offenbar fand er das Wortspiel auch noch witzig. Er meinte, seine Mutter war der Ansicht, dass ein Mixer eine bessere Anschaffung sei.

Mit Luca war ich zusammen, seit ich sechzehn war, also insgesamt zwölf Jahre lang. Das letzte Jahr davon waren wir verlobt.

Jeder hatte angenommen, dass wir heiraten würden. Ich hatte gedacht, mein Leben mit ihm zu verbringen. So schnell kann sich alles ändern. So verdammt schnell zerbrechen alle Träume und Hoffnungen. Eine Liebe von zwölf Jahren zerbrach an einem einzigen Tag, als wäre sie für ihn bedeutungslos gewesen. Aber so darf ich nicht denken. Das ist destruktiv und ich habe mir schon lange genug den Kopf darüber zerbrochen.

Ich erreiche die Doppelhaushälfte, in der meine Eltern schon lange wohnen. Hier bin ich aufgewachsen. Sogar ein Teil der Möbel ist gleich geblieben. Wie bei Festivitäten bei uns üblich ist auch heute die Haustür unverschlossen.

»Mama, Kim ist da«, vernehme ich Leonas begeisterte Stimme, als ich den Flur durchquere.

Meine zwölfjährige Schwester Leona sieht mir ziemlich ähnlich, außer dass sie im Gegensatz zu mir blond ist, während ich das dunkelbraune Haar meiner Mutter geerbt habe. Beide haben wir die Gesichtsform und die dunklen Augen unserer Mutter. Unser Vater war früher rothaarig, doch sein Haar ist jetzt grau und schütter. Schließlich ist er schon siebenundsechzig. Meine Mutter Amelia hat sich mit ihren sechsundfünfzig Jahren verdammt gut gehalten. Leona hat sie spät bekommen.

Zuerst drücke ich Leona, dann begrüße ich meine Mutter und gratuliere ihr, bevor ich mich dem Rest der Anwesenden zuwende. Leider ist auch Danielle Martin gekommen, meine einstige Fast-Schwiegermutter und die beste Freundin meiner Mutter. Sie hat mich noch nie gemocht, was auf Gegenseitigkeit beruht.

Sie zu sehen erinnert mich stets an Luca. Seine Nase ist etwas größer als ihre, doch davon abgesehen sieht er aus wie eine jüngere, männliche Variante von ihr. Die grauen Augen sind identisch und sofern sie ihr Haar nicht färbt, hat es immer noch dieselbe hellbraune Farbe.

Großtante Millicent sitzt vor einer großen Torte mit gelbem Fondant, die sie in gleich große Stücke zerteilt hat und von denen sie jedem, der etwas davon abhaben möchte, eines auf die weißen Teller mit Goldrand gibt. Wie immer trägt sie eines ihrer Sechziger-Jahre-Schlabber-Kleider. Jedenfalls erinnert mich das wilde Muster an die Tapeten und Vorhänge aus dieser Zeit, wie ich sie von Fotos und aus Filmen kenne.

Da zwischen Millicent und Leona noch ein Platz

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Juni 2019 Urheberrecht Evelyne Amara
Bildmaterialien: Coka / Fotolia
Cover: Evelyne Amara
Lektorat: Jörg Querner
Korrektorat: Jörg Querner
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0838-4

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