Prolog
Keuchend rannte sie durch das dichte Unterholz. Immer wieder schlugen ihr Zweige hart ins Gesicht und sie strauchelte über dicke Wurzeln, die aus dem Boden ragten, doch das alles kümmerte Alissa herzlich wenig. Das Einzige um das sie sich Gedanken machen musste war, wie sie möglichst schnell von hier verschwinden konnte!
>>Schneller, du elender Hund! Du hast ihn doch gehört, wenn sie uns mit dem Stein entwischt sind wir dran!<<
Die Stimmen hinter ihr wurden immer undeutlicher, bis sie schließlich ganz verstummten. Alissa überlegte fieberhaft hin und her. Mit ihrer schlanken, kleinen Gestalt war es für sie eine Leichtigkeit im Unterholz umherzuhuschen, doch wenn sie nicht bald aus diesem elenden Wald herauskam, würde ihr früher oder später die Puste ausgehen. Dann war es nur noch eine Frage der Zeit bis sie Calebs Schergen in die Hände fallen würde. Sie war sich sicher, wenn es um das Ei des letzten Wasseradlers - und nicht um irgendeinen Stein, wie ihre Verfolger dachten - ging, würde Caleb kein Risiko eingehen. Er würde den ganzen Wald durchkämmen, wenn ihm auch nur der kleinste Hinweis zu Ohren kommen würde, sie befände sich noch darin. Außerdem war es ihre Mission gewesen, das Ei vom Berg der Schatten zu holen und zum Tal der Nymphen zurückzubringen, sie rannte hier ja nicht umsonst herum!
Ihre Aufgabe als Hüterin des ungeborenen Wasseradler war es, dafür zu sorgen, dass das Ei regelmäßig zwischen dem Berg der Schatten und dem Tal der Nymphen hin und her wanderte, egal ob Caleb der Leitfalkner oder Rixa die Nymphkönigin bereit waren, das Ei wieder herzugeben. Ihr schauderte allein beim Gedanken daran, was passieren würde, wenn sie das Ei nicht rechtzeitig zurückbringen würde. Ganz Lenawen würde in Chaos und Krieg versinken, der letzte Wasseradler wäre verloren, bevor er überhaupt ausgebrütet wurde und ihre Aufgabe, die schon ihre Mutter und ihre Großmutter meistern mussten, wäre gescheitert. Sie musste es einfach schaffen; es gab kein Versagen, denn ihre Nachfolgerin und Tochter Marla war noch zu jung und Alissa vermutete, dass sie schon bei ihrer ersten Mission umkommen würde. Das konnte sie nicht verantworten.
Durch einen erstickten Schrei wurde sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen.
>>Autsch! Pass doch auf, wo du deine Flügel hinsteckst, du bringst mich noch um!<<
Alissa gestattete sich ein kurzes, triumphierendes Grinsen, konzentrierte sich aber sicherheitshalber doch lieber wieder aufs Laufen. Im Wald waren ihr die Falkner vom Berg der Schatten klar unterlegen, denn mit ihren sperrigen Flügeln kamen sie nicht gut voran, genau deshalb hatte sie diesen längeren und beschwerlicheren Weg dem offenem, über den Hügelkamm oder dem Luftweg vorgezogen. Dort wäre sie ein zu leichtes Ziel gewesen. Auch war ihr von Anfang an klar gewesen, dass sie nicht durchs Wasser konnte, obwohl das ihre mit Abstand liebste Art zu Reisen war. Calebs Heim lag weit von allen Wassern entfernt.
>>Pah, wenn wir uns nicht beeilen, erledigt Caleb das für mich.<<
Alissa konnte förmlich sehen wie ihr Verfolger schauderte. Auch ihr lief es kalt den Rücken herunter, denn Caleb war berüchtigt für seine Kaltblütigkeit. Sie hatte zu Beginn ihrer Ernennung als neue Hüterin eine Begegnung mit ihm und sie war nicht erpicht darauf, diese zu wiederholen. Natürlich war es nicht ihre Aufgabe sich Freunde unter den Herrschern zu schaffen, das war mit ihrem Schicksal gar nicht vereinbar, aber dennoch missfiel es ihr zutiefst, dass sie nirgendwo zu Hause war und von allen als Feindin geächtet wurde. Doch sie wusste, dass es nicht half mit ihrem Schicksal zu hadern. Es lag nicht in ihrer Macht es zu ändern.
>>Aahh! Verdammt!<<
Das hatte sie nun davon! Durch ihre trübsinnigen Gedanken abgelenkt, war sie an einer besonders dicken Wurzel hängen geblieben und der Länge nach hingeschlagen. Als sie sich ihren Fuß genauer ansah, stockte ihr der Atem : Sie hatte es doch tatsächlich geschafft, sich den Knöchel zu brechen. Sie musste sich beeilen, denn durch ihren Aufschrei waren ihre Verfolger offenbar deutlich angespornt worden, denn nun konnte sie ihre Schritte wieder deutlich hinter sich hören. Schnell legte sie ihre Hand auf den verletzen Knöchel, murmelte corriger und hoffte fieberhaft auf einen Ausweg. Sie hatte das Heilen nie so gut beherrscht wie ihre Mutter, doch es musste notgedrungen reichen. Nun hatte sie nur noch eine Chance : sie musste den See auf der Lichtung, den direkten Durchgang zum Tal, finden. Nur dort war sie vorerst sicher. Eigentlich hatte sie gehofft diesen Weg nicht einschlagen zu müssen, dennoch war es ihre einzige Chance, denn mit diesem Knöchel konnte sie nicht mehr lange weiterlaufen.
>>Gleich haben wir diese elende Diebin! Dieser Schrei klang gar nicht glücklich...<<
Alissa schnaubte. Diebin. Wenn es Caleb oder auch Rixa irgendwie geschafft hätten, hätten sie ihr das Ei schon viel früher wieder abgenommen; sie sollten sich mal an ihre eigene Nase fassen.
Trotzdem begann Alissa zu schwitzen, denn die Kerle hatten Recht. Ihr Schrei musste die Kerle hinter ihr mächtig angespornt haben, denn die die Stimmen hinter ihr wurden lauter und sie immer langsamer. Wenn sie nicht bald diese Lichtung fand, würde sie ihren Verfolgern tatsächlich noch in die Hände fallen!
Endlich sah sie nun einen schwachen Lichtstrahl, der ihr neue Hoffnung gab. Sie hatte nur noch wenige Schritte zu gehen, um endlich in Sicherheit zu sein. Mittlerweile zitterten ihre Beine haltlos, doch sie zwang sich unerbittlich weiterzulaufen. Dann, nach einer für sie fast unerträglich langen Strecke, brach sie völlig erschöpft durch den letzten Ring aus Bäumen und stand mitten auf der Lichtung.
Noch immer hämmerte ihr das Herz in der Brust, doch allmählich machte sich auch Erleichterung in ihr breit. Nicht mehr lange und sie würde im Palast von Rixa sitzen, in dem ihr niemand etwas anhaben konnte. Erst wenn sie wieder einen Fuß nach draußen setzte, würde die Hetzjagd von Neuem beginnen.
Tatsächlich war sie so erschöpft und erleichtert, dass sie sich nicht noch einmal umsah, bevor sie die Lichtung betrat. Siedend heiß fiel ihr wieder ein, wieso sie nicht sofort zu dieser Lichtung gerannt war. Das Problem war, dass sich dieser Ort perfekt für einen Hinterhalt eignete und sie war warscheinlich geradewegs und blind hineingetappt.
Als sie wieder aufsah, hörte sie schon das Rascheln der Flügel. Wie erwartet hatte Caleb seine Männer auf die Lichtung befohlen, während sie im Wald ihre Zeit verschwendet hatte. Heute wollte aber auch alles schiefgehen! Sie zog die Nase kraus, als ihr der Geruch der Falkner entgegenschlug. Die Falkner hatten große Flügel und ebenso große, messerscharfe Krallen. Auch ihr Schnabel war spitz und scharf und warscheinlich könnte ein einzelner von ihnen sie mit einem Streich töten. Sie musste hier weg!
Ihre Beine versagten ihren Dienst, als sie bemerkte wie viele es waren und was sie vorhatten. Insgesamt schätzte sie, war sie ihnen eins zu 50 unterlegen und sie postierten sich direkt vor den See; nun hatten sie ihr auch den letzten Weg abgeschnitten. Ihre Hoffnung schwand, während sie fieberhaft überlegte, wie sie hier noch lebend herauskommen sollte. Sie wusste, sie hatte keine Chance an ihnen vorbeizukommen, dafür waren es einfach zu viele. Nein, sie musste in die Luft, auch wenn sie sich dort überhaupt nicht wohl fühlte. Außerdem könnte sie dann auch sofort ein Wettrennen gegen einen Drachen starten; verglichen mit der Aufgabe 50 Falknern in der Luft zu entwischen, wäre das ein Kinderspiel. Dennoch hatte sie keine Wahl.
Kraftvoll sprang sie in die Luft und in der nächsten Sekunde schwebte sie schon über den Baumwipfeln. Sie brauchte keine Flügel um zu fliegen, allerdings war sie auch dementsprechend langsam.
Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als sie sah, das die Falkner unten in Tumult ausbrachen um möglichst schnell hinter ihr herzukommen. Ihr Vorsprung würde nicht groß sein, aber vielleicht hatte sie tatsächlich eine Chance. Noch einmal schlug sie mit Armen und Füßen, als würde sie in der Luft schwimmen, doch als sie den großen Schatten über sich sah und ihr der Geruch von Federn und Stroh in die Nase stieg, wusste sie, dass sie verloren hatte.
Alissa Yvette spürte die langen Klauen, die ihren Rücken aufschlitzten gar nicht, denn sie konzentrierte sich voll und ganz darauf, das Ei, das über die Zukunft Lenawens entscheiden, und das Schicksal ihrer Tochter Marla viel zu früh beeinflussen würde, mit aller Kraft in den See zu schleudern. Sie wusste, es würde ankommen.
Der Anfang vom Ende
Schreiend schreckte Marla aus dem Schlaf. Sie war aus dem Bett gefallen, doch deshalb war sie nicht aufgewacht. Langsam setzte sie sich auf und rieb sich die Augen. Ihr schwirrte der Kopf ,als ihr das Blut in die Füße schoss, aber in ihr drin fühlte sie sich kalt und leblos, während sie verzweifelt versuchte ihren Traum falsch zu verstehen. Nachdem sich der Schwindel gelegt hatte, hatte sie sich immer noch nicht gefangen. Zu fieberhaft suchte ihr Verstand nach einem Ausweg; einem Hinweis, dass sie ihre Mutter nicht gerade Sterben gesehen hatte.
>>Es war nur ein Traum, sie hat sich doch schon öfter verspätet. Sie kann gut auf sich selbst aufpassen.<< Das redete sie sich zumindest ein, denn nur die letzte Aussage entsprach der Wahrheit. Mit ihren fast 40 Jahren hatte Alissa das Durchschnittsalter der Hüterinnen von ca. 30 Jahren weit überschritten. Und sie war sichtlich stolz darauf gewesen. Sie hatte ihre Aufgabe als Hüterin erst sehr spät aufgenommen, da ihre Mutter, Marlas Großmutter, früh schwanger geworden war, und wusste das sehr zu schätzen. Auch hatte sie ,wie Marla, ihren Vater nie kennen gelernt; eine weitere Eigenschaft einer Hüterin.
Nur um sich abzulenken sah sich Marla in ihrer notdürftigen Unterkunft um. Diesmal hatten sie sich ein relativ geräumiges Versteck gesucht. Im ausgehöhlten Wurzelwerk eines Baumes zu hausen, hatte zwar den Nachteil das Tageslicht eher selten zu sehen, und gelegentlich von einem Borki, einem sehr nervigem und holzigem Baumrindenbewohner mit spitzen Krallen geweckt zu werden, doch man konnte sich relativ frei ausdehnen und die Luft war generell sehr gut. Der Boden aus festgetretener Erde staubte wenn man auftrat und ihr Bett war eher provisorisch, als bequem. Marla und ihre Mutter besaßen nicht viel, außer einer kleinen Schatulle mit Erbstücken der jeweiligen Hüterinnen, da sie alles rasch zusammenpacken mussten, wenn mal wieder Ärger im Anmarsch war. Neben ihrer aus Erde, Sand und Blättern gebauten Schlafstätte stand ein Stuhl den ihr Nico, der Enkel ihres uralten Lehrmeisters Farren gezimmert hatte. Die beiden waren ihre zwei wichtigsten Verbündeten. Von ihrer Mutter und Farren hatte sie alles gelernt, was sie wusste und sie kannte Nico seit Kindertagen. In vielerlei Hinsicht war er ihr Bruder.
Sie erinnerte sich noch genau daran, wie Alissa ihr gesagt hatte, was es bedeutete, wenn Farren ihr einmal allein einen Besuch abstatten würde. "Den Anfang vom Ende" hatte sie es genannt und dabei sehr niedergeschlagen dreingeblickt. Wenn die 4 zusammen waren, vergaßen sie für eine Weile die Jagd, die auf sie gemacht wurde und waren mit ihrem Schicksal im Einklang, doch niemand wünschte dem Anderen dasselbe, schon gar nicht seiner eigenen Tochter. Schon lange suchten die beiden Herrscher Lenahwens nach den Verbündeten und den Hüterinnen selbst und alle wussten, dass sie, einmal gefasst, nicht mit dem Leben davonkommen würden. Nico hatte schon seine Eltern, an die er sich kaum erinnern konnte, verloren und keiner wollte der Nächste sein. Sie hatten alles gewusst, doch sie hatten trotz Folter und Versprechungen den Aufenthaltsort der Hüterinnen mit ins Grab genommen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Auf diesem Stuhl, den sie am liebsten überall hin mitgenommen hätte lag ihre einzige Hose aus grobem, braunem Stoff. Daneben ihr kurzärmliges Oberteil und ihr Wams. Sie liebte es das raue Leder an ihrer Haut zu spüren, wenn es langsam kälter wurde, denn es hieß, das bald ihr Geburtstag kam. Der einzige Tag an dem sie aus dem Wald herauskam. Nicht das sie den Wald nicht liebte, doch es war etwas ganz Anderes nach so langer Zeit ihr Versteck zu verlassen. Wer eine Hüterin an ihrem Geburtstag tötet, den erwartet Schlimmeres als der Tod. Ganz Lenahwen feiert sie und die Hetzjagd ist für kurze Zeit vergessen, genauso sollte es sein!
Je länger Marla nachdachte umso schwerer schien ihr die Bürde ihrer Aufgabe. Die Herrscher Lehnawens und ihre Soldaten hassten sie, doch die gewöhnliche Bevölkerung verehrte sie, denn nur sie brachte den Frieden. So war es seit Menschengedenken gewesen. Doch konnte man daran etwas ändern? Um sich abzulenken stand sie auf und zog sich an. Sie wollte nicht länger an einem Ort sein, der sie so an ihre Mutter erinnerte. Hier fiel ihre Abwesenheit nur noch mehr auf. Sie vermisste das Klackern der Nadeln, wenn sie ihrem Hobby nachging und Sachen strickte, ihre ansteckende Fröhlichkeit und das oft nervige Pfeifen. Sie musste hier raus.
Als sie aus ihrem Erdloch stieg fiel ihr erst auf, wie schön der Himmel draußen war. Eine Weile stand sie einfach an den Baumstamm gelehnt da, genoss die frische Luft, die leichte Brise um ihre Nase und die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Erst ein umherhuschendes Eichhörnchen schreckte sie aus ihren Gedanken und erinnerte sie daran, dass sie warscheinlich immer noch gejagt wurde. Leider. Also duckte sie sich, band ihre langen schwarzen Haare zusammen und rannte durch den Wald. Jedes Mal, wenn sie hindurchlief, wurde ihr bewusst wie schön und zeitlos er war. Die Wesen, die diese Welt bevölkerten konnten sich bekriegen, doch der Wald würde immer derselbe bleiben. Einige Bäume waren so alt, sie standen hier, seit es die ersten Siedlungen und damit auch die ersten Kriege gab. Sie hatten überlebt, länger als jeder andere es von sich behaupten konnte. Naja, vielleicht nicht so lange wie Farren. Marla kicherte.
Sie rannte auf den vertrauten Wegen, durch die vertrauten Büsche und freute sich über diesen schönen Tag. Auf einmal kamen ihr alle ihre Sorgen vollkommen belanglos vor. Natürlich kam ihre Mutter wieder und ihr würde es wunderbar gehen. Sie würden sich einige schöne Tage machen und dann bald tatsächlich zum Tal der Nymphen aufbrechen, um ihren Geburtstag zu feiern. Die leise, zweifelnde Stimme in ihrem Hinterkopf schob sie unterdessen beiseite. Sie sollte diesen Tag genießen und sich keine Sorgen machen müssen.
Es dauerte nicht lange und sie war dort wo sie sein wollte. Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung mit einem See und einer versteckten Höhle. Sie kam oft hierher um nachzudenken und mit einem kleinen Stich wurde ihr die Ähnlichkeit dieser und der Lichtung ihres Traumes bewusst.
Noch einmal sah sie sich aufmerksam um. Die Lichtung, ihre Lichtung, sah aus wie immer. Glücklich erinnerte sie sich an vergangene Tage in denen sie hier in diesem See geschwommen war. Das Wasser war kühl, und als Marla ihre Hand ins Wasser hielt, war es, als würde sie einen alten Freund begrüßen. Sie wollte nicht in ihrer Haut und im Hier und Jetzt stecken, wollte nicht glauben, dass sie war, was sie nun einmal war. Sie wollte einfach flüchten, aus dieser Welt und vor ihrer Verantwortung. Sie seufzte tief. Es nützte alles nichts. Sie war nunmal so geboren und sie würde so sterben.
Während sie über ihre Aufgabe, ja, über ihr ganzes Leben nachdachte, betrachtet sie ihr Spiegelbild im Wasser. Sie war sehr dünn, aber auch muskulös, hatte lange Beine und kräftige Arme. Ihr Statur erinnerte eher an einen Jungen, obwohl sie nicht groß war. Marla wusste nicht, ob sie ein schönes Gesicht hatte, denn sie hatte keinen Vergleich. In Lenahwen gab es keine Menschen, außer den Hüterinnen und ihrer Mutter war sie wie aus dem Gesicht geschnitten.Sie hatten dieselben großen, grauen Augen und die gleiche schmale Stupsnase. Auch die Farbe ihrer bleichen Haut und ihr Haar, tiefschwarz und hüftlang, war nicht zu unterscheiden. Im Gegensatz zu ihrer Mutter, trug sie ihr Haar allerdings zu einem Knoten im Nacken gebunden, alleine, weil sie sich nicht sehr um ihr Aussehen scherte und weil es einfach praktischer war.
Beim Gedanken an ihre Mutter durchzuckte sie ein Schmerz, den sie nicht einordnen konnte. Es war einfach alles so verwirrend.
Marla war hierher gekommen um nicht an Alissa zu denken, doch sie konnte nicht fliehen. Nicht vor der Erinnerung und schon gar nicht vor sich selbst. Nachdenklich schürzte sie ihre vollen Lippen.
Was war ihrer Mutter zugestoßen und war ihr überhaupt etwas zugestoßen?
Ihr war klar, dass sie diese Fragen dringen beantworten musste und schob ihren Schmerz deshalb entschieden beiseite. Den ganzen Morgen über hatte dieser Vedacht an ihr genagt und ihr keine Ruhe gelassen, doch erst jetzt befasste sie sich ernsthaft damit. Langsam zog sie ihre Hand aus dem Wasser, erhob sich geschmeidig und zog sich, tief in Gedanken versunken, in eine kleine Höhle am Rande des Sees zurück. Auch hier warteten Erinnerungen an längst vergessene, aber ebenso glückliche Tage auf sie und ließen ihr keine Ruhe, und dennoch hatte ihr diese schattige Höhle schon immer die gedankliche Klarheit verschafft, die sie zum Nachdenken dringend brauchte. Noch einmal rief sie sich, trotz Schmerzen, ihren Traum Stück für Stück ins Gedächtnis. Erst als sie ihren Schock verdaut hatte, war ihr klar geworden, wie detailliert und real dieser Traum gewirkt hatte. Keine Zombies, Geister oder anderes Fantasiegetier hatte ihre Mutter umgebracht, sondern etwas, das nicht nur real, sondern auch einleuchtend war. Ihre Mutter war von denen umgebracht worden, die ihr auch im wahren Leben an den Kragen wollten und wegen denen sie immer wieder fliehen mussten. Auch war ihr erst viel später klar geworden, was es vielleicht bedeutete. In einer denkwürdigen Stunde war Farren ihr viel weniger langweilig und alt vorgekommen. Er hatte ihr erklärt, woran sie erkennen konnte, wenn etwas sehr Bedeutendes für ihr Leben geschah. Er hatte ihr von den Schicksalsträumen erzählt, Visionen, die man hatte, wenn etwas geschah, was das Leben unmittelbar beeinflusst und in eine völlig neue Richtung lenkt. Sie erinnerte sich noch genau, wie er es ihr mit seiner ruhigen, knarrenden, fast einschläfernden Stimme erklärt hatte : >>Warscheinlich hat jeder sie einmal, doch die, die sie nicht kennen und nicht über sie Bescheid wissen, merken es nicht einmal. Es gibt eine geheime und undurchsichtige Verzweigung der Magie die von Traumfressern erlernt wird. Jedes Königshaus beschäftigt mindestens einen, dieser schwarzen Magiern, die in Schicksalsträume anderer Wesen sehen und diese deuten. Allerdings sollte man vielen nicht allzu viel Bedeutung geben, denn oft sind es einfach nur Schwindler, wie die, die es auch auf Jahrmärkten gibt.<< Er hatte es beläufig gesagt und dabei geschmunzelt, doch Marla hatte den ernsten Unterton in seiner Stimme nicht vergessen. Vielleicht war ihm klar gewesen, dass sie irgendwann so einen Traum haben würde und hatte es ihr deshalb erzählt. Auch ihre Mutter hatte betont beiläufig getan, als Marla sie gefragt hatte, ob ihr so etwas schon einmal passiert sei. Genaueres hatte sie nie erfahren und um ehrlich zu sein, hatte sie das Ganze fast vergessen. Doch nun, da sie einen so unglaublich realen Traum gehabt hatte, brach alles über ihr ein. Ihr ganzes behütetes Leben hatte bei längerem Nachdenken einen ziemlich bitteren Beigeschmack. Klar, sie mussten immer wieder ihre Unterkunft wechseln und vor unsichtbaren, aber deswegen nicht weniger gefährlicheren, Gegnern fliehen, dennoch hatte sie immer geglaubt ein gutes Leben zu führen. Hatte sie sich so täuschen lassen? Hatte sie nie nach ihrer Mutter gefragt, wenn Alissa mal wieder für einen halben Mond verschwunden war? Doch... sie musste zu ihrer eigenen Verteidigung sagen, sie hatte sich immer gewundert, aber sie hatte es nach einiger Zeit einfach akzeptiert.
Ein halber Mond... Irgendetwas daran rührte in ihren Gedanken. Alissa war nie länger als einen halben Mond weg gewesen, selbst wenn es unterwegs Komplikationen gegeben hatte, die sie allerdings nur durch geübtes Lauschen erfahren hatte. Sie hatte eigentlich fest damit gerechnet, ihre Mutter heute morgen an ihrem Bett sitzen zu sehen. Vielleicht hatte sie deshalb diesen Traum gehabt, denn Marla konnte es sich einfach nicht vorstellen, dass ihre Mutter tot sein sollte. >>Ich hätte es gespürt!<<, sagte sie sich immer wieder, doch sie wusste selbst nicht genau, ob sie sich nicht in die Tasche log. Was sollte sie denn spüren? Einen Riss im Herzen? Die Beziehung zu ihrer Mutter war zwar innig, doch sie waren sich einfach zu ähnlich. Je älter sie wurde, desto öfter mussten sie den Wohnort wechseln und Marla machte allein Alissa dafür verantwortlich. Sie wusste, dass das ungerecht war, doch das war besser, als irgendwelchen weit entfernten Herrschern oder längst verstorbenen Vorfahren, die diese Aufgabe angenommen und damit alle ihre Nachkommen dazu verdammt hatten, die Schuld in die Schuhe zu schieben.
Nein, sie weigerte sich an den vermeintlichen Tod ihrer Mutter zu glauben und sie würde solange auf sie warten, bis es einen Beweis gab.
Langsam stand sie auf und reckte ihre steifen Glieder. Sie hatte gar nicht bemerkt wie kalt der Boden war. Sie ging hinaus in die warme Luft, betrachtete nachdenklich die Blumen, auf dem See und fragte sich, wie lange sie wohl noch warten musste.
Das vertraute Gefühl der Sonne auf seinem Gesicht, weckte Thomas auf. Er wollte noch nicht aufwachen. Er hatte von einer wunderschönen Fremden geträumt, die er nicht vergessen wollte. Nie hatte er so ein Wesen gesehen, doch es kam ihm seltsam bekannt vor. Um den Moment des endgültigen Aufwachens herauszuzögern, beschwor er noch einmal das Bild des Mädchens vor seinem inneren Auge herauf. Er hatte keine Ahnung wer sie war, hatte noch nie von ihr gehört, doch er fühlte sich ihr auf wundersame Weise verbunden. Seufzend rieb er sich die Augen. Seine Glieder fühlten sich an wie Blei und über seinem rechten Auge pochte es. Er öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Zu hell, zu weiß, und dann wurde es auch schon wieder dunkel...
Als er seine Augen das nächste Mal aufschlug, war es angenehmer. >>...ihre Mutter, königliche, tapfere, wunderschöne, höchste Königin Rixa der Nymphen wartet dann unten auf sie.<< Mit diesen Worten ging Thalat, sein Leibwächter und verschwand hinter der hohen und reich verzierten Tür, um auf der anderen Seite auf ihn zu warten. Er hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die Aufgabe eines Boten weit unter seiner Würde lag.
Thomas verdrehte die Augen. Als Prinz der Nymphen hatte er natürlich einen Leibwächter, doch da er ,wie jeder andere Mann im Tal, unterdrückt wurde, hatte er in nichts zu melden und dementsprechend hatte auch noch niemand versucht ihn um die Ecke zu bringen. Seine Mutter hatte ihm nie etwas Anderes gezeigt , als dass er für sie nur eine Unnötige Gefahr war, falls er entführt werden sollte oder so. Damit hatte er sich abgefunden. Auch mit der Tatsache, dass Rixa ihn mit wachsender Verzweiflung versuchte zu verheiraten, hatte er sich abgefunden. Sie brauchte seine Zustimmung und er würde es ihr nicht leicht machen. Wenn es sein musste, würde er als verschrumpelter Junggeselle enden, obwohl er mit seinen 18 Sommern noch genug Zeit hatte. Er wusste, das war nichts Persönliches, aber sie musste ihn loswerden. Er verstand das, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Um die Kaltblütigkeit seiner Mutter zu verstehen, hatte er nicht das richtige Temperament, geschweige denn das richtige Geschlecht.
Seufzend fügte er sich also in sein Schicksal und stand langsam auf. Pah, ihn wie einen kleinen Diener zu sich rufen zu lassen... Eine Unverschämtheit! Aber auch dagegen konnte er nichts tun. Was sie wohl diesmal von ihm wollte? Wahrscheinlich würde sie ihn nur wieder vor allen am Hofe demütigen, wie so oft. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fragte er sich was er wohl ausgefressen hatte. Na gut, er war letzte Woche mit Arthur seinem besten Freund ausgeritten. Generell nichts Schlimmes, wäre Arthur nicht der Sohn des verstoßenen Schmiedes Martin. Es war unter seiner Würde sich mit solchem Volk zu treffen, auch wenn er ein Mann war. Rixa verspottete ihn immer, wenn er sich Mann nannte, doch Thomas fand seine 18 Sommer mehr als beeindrucken und ausreichend um diesen Titel zu tragen. Thomas kicherte. Den Titel des Kronprinzen konnte seine Kultur ihm verweigern, doch ein Mann würde er immer bleiben. Wie beruhigend.
Aus reiner Gewohnheit sah sich Thomas in seinem Zimmer um. Es war ein schönes Zimmer, obwohl es in einem schmuckloseren Teil des Schlosses lag und Thomas mochte es. Er war hierhin abgeschoben worden, seit er ohne Muttermilch auskam. Seine Mutter war sehr enttäuscht gewesen, dass sie zuerst einen Jungen geboren hatte. Im Tal hielt man es für ein sehr schlechtes Zeichen, wenn das erste Kind ein Junge wurde, auch wenn die Männer anscheinend gerade genügen Macht hatten um zu verhindern, dass die neugeborenen Nympher gleich getötet wurden. Oder aber die Nymphen hatten genug Verstand um zu begreifen, wie aufgeschmissen sie ohne Männer wären.
Nachdenklich betrachtete Thomas die großen, weiten Fenster die sowohl Licht als auch Luft hineinließen. Im ganzen Palast gab es nur wenige Fenster, da der größte Teil unter Wasser lag. Nymphen fühlten sich an der Luft immer ein wenig unwohl, obwohl sie dort ohne Probleme überleben konnten. Dennoch war es für sie etwas unangenehm. Thomas war eine seltsame Ausnahme, er hatte nie derartige Problem mit der Oberwelt gehabt und liebte es zwischen den menschenleeren, hohen Bergen die das Tal wie eine Wand umschlossen und vor Angreifern schützten zu reiten und auf die restliche Welt hinabzusehen.
Thomas trat ans Fenster und sah sich um. Es war noch sehr früh. Was zum Teufel wollte Rixa um diese Zeit von ihm? Die Straßen der noch schlafenden Stadt waren menschenleer und nur auf dem weit entfernten Marktplatz tummelten sich bereits einige Händlerinnen um ihre Stände aufzubauen und die ersten Ladungen der Fischer entgegenzunehmen. Er konnte sich einfach keinen Reim auf das Verhalten seiner Mutter machen, denn sie war ein bekannte Langschläferin. Je länger er darüber nachdachte, desto rätselhafter wurde alles.
Nachdem er noch einmal einen langen und tiefen Atemzug getan hatte, wandte er sich vom Fenster ab und seiner weißen, geräumigen Kommode zu. Er wusste immer noch nicht, was seine Mutter vorhatte, doch er würde es auch nicht herausfinden, wenn er noch lange hier stehen bleiben würde. Außerdem, würde seine Mutter, so wie er sie nunmal kannte, warscheinlich noch unfreundlicher und abwertender als sonst sein, je länger er sie warten ließe. Es half eben alles nichts.
Als er sich vollständig angekleidet und vergeblich versucht hatte seine kurzen, grünen Haare zu glätten und seinem Gesicht einen sowohl edlen, gleichmütigen und herablassenden, als auch einen entschlossenen Ausdruck aufzuzwingen, öffnete er die Tür und schritt würdevoll, wie er hoffte, in den Gang. Er hatte keine Ahnung wo seine Mutter auf ihn wartete, doch er hatte auch keine Lust, darauf zu warten, dass sich Thalat dazu bequemte ihm den Weg zu weisen. Er würde sie schon finden. Hoffte er, denn der Palast an sich, war unglaublich groß. Seine Katakomben zogen sich bis tief unter den Grund des Sees und es gab warscheinlich niemanden außer Thalat, der den Herrschafftssitz vollständig kannte. Sollte Rixa also tatsächlich auf die Idee gekommen sein, ihn in ihre persönlichen Gemächer einzuladen, wäre er völlig aufgeschmissen. Sie hatte ihn noch nie dorthin bestellt, doch Thomas spürte, dass heute Morgen alles passieren konnte. Irgendetwas würde sein Leben heute gründlich umkrempeln. Die einzige Frage war, was es sein würde.
Doch seine Sorgen waren unbegründet, denn als er sich fragend zur Seite wandte, schritt Thalat bereits neben ihm her, weitaus würdevoller als er selbst, und führte ihn treppab. Kein gutes Zeichen. Wäre es etwas Belangloses oder einfach nur eine Demütigung und Zurechtweisung, so hätte Rixa ihn in den Thronsaal vor das größtmögliche Publikum oder in den Speisesaal berufen. Das bestätigte nur seine dunklen Vorahnungen. Thalat bog rechts ein und Thomas folgte ihm. Sie waren nun im letzten Stockwerk über dem Meeresspiegel. Hier lagen die Quartiere der Hüterinnen. Sie kamen nicht oft vorbei, aber jedes Jahr bekam er sie einmal kurz zu Gesicht. Für ihn als Nympher war es nicht erlaubt mit Frauen gemeinsam zu essen, doch er hatte sie manchmal bei der Ankunft gesehen. Er wusste nicht viel über ihre regelmäßigen Besuche, denn solch wichtige Pläne wurden nicht mit Männern geteilt, doch er hatte aus Gesprächen der Dienerinnen, die die Hüterinnen sehr verehrten, herausgehört, dass die Hüterinnen nur in Herrschafftssitzen vor dem Tod sicher seien und auch an ihrem Geburtstag nicht getötet werden durften. An einem solchen Geburtstag reiste die Hüterin durch das ganze Land und auch in die Paläste und ließ sich feiern. Diese Hüterinnen wurden verehrt wie Götter, doch Thomas wusste weder wieso man sie ehrte und doch gleichzeitig verfolgte. Als er sich das Bild der Hüterin, die er gesehen hatte vor Augen rief, errötete er leicht. Die Hüterin, deren Namen er nicht einmal kannte, war so wunderschön gewesen und in manchen schlaflosen Nächten, nach Feiern, auf denen er eine Braut finden sollte, hatte er davon geträumt, stattdessen sie zu heiraten. Doch er wusste selbst, dass sie viel, viel älter als er selbst war und schon eine Tochter hatte. Dennoch hatte er immer davon geträumt, solch eine Frau einmal kennenzulernen. Plötzlich rastete in seinem Kopf etwas ein. Natürlich! Die Frau von der er geträumt hatte, sah der Hüterin die er schon einmal gesehen hatte, unglaublich ähnlich, doch es war nicht dieselbe Frau gewesen. Die Frau, oder wie er bei näherem Nachdenken erkannte, wohl eher das Mädchen, war viel jünger und noch ein wenig schöner gewesen. Sie hatte zartere, jüngere Züge gehabt und noch ein wenig hellere Augen. Er wusste nicht, ob ihm das weiterhalf, herauszufinden, wer dieses Mädchen war, doch er war froh, zumindest ein wenig herausgefunden zu haben.
Als sie die nächste Treppe herabgestiegen waren, konnte Thomas die Kälte des Wasser um sie herum, durch die dicken Wände spüren. Nun waren sie unter dem Meeresspiegel. Er konnte zwar unter Wasser atmen, dennoch fühlter er sich etwas eingeengt und unwohl. Auch Thalas, der kein Nympher, sonder ein Krieger aus dem fernen Osten war, schien so zu empfinden, denn er schritt nun stärker aus und Thomas musste sich beeilen um ihm folgen zu können. Nachdem sie weitere sechs Treppen heruntergegangen waren, mischte sich auch Angst in seine Neugier und das Herz schlug ihm nun endgültig bis zum Hals. Was, wenn Rixa ihm etwas anhang um ihn loszuwerden? Würde sie es übers Herz bringen, ihren eigenen Sohn umzubringen?
Am Fuße der nächsten Treppe blieben sie vor einer hohen und schlichten schwarzen Tür stehen. Thomas war sich sicher, dass Thalat sein Herz auch hörte, so laut klopfte es in seinen Ohren. Hier hatten seine früheren, nächtlichen Streifzüge durch das Schloss immer geendet. Er hatte oft versucht durch diese Tür zu kommen, um noch einmal die Räume dahinter, den Ort seiner frühen Kindheit, zu sehen. Wenn er ehrlich war, hatte er gehofft, dadurch irgendwelche Erinnerungen in ihm wachzurufen in denen er seiner Mutter kein Klotz am Bein gewesen war. In denen er Anzeichen von Zuneigung in ihrer Miene sehen konnte. Als er spürte, dass seine Augen feucht wurden, wandte er den Blick von der Tür ab. Tja, dachte er bitter, so war es eben. So endete es immer. Jedes Mal, stand er hier vor dieser verschlossenen Tür und weinte sich die Seele aus dem Leib. Natürlich war es nicht schicklich für einen Mann zu weinen, schon gar nicht für einen Prinzen, doch hier unten lief er nicht Gefahr entdeckt zu werden. Hier unten war er immer allein gewesen, so allein wie nie zuvor, von seiner Mutter nur getrennt durch diese Tür, und doch schien sie so weit entfernt, wie der Mond. Er hatte nie jemanden gehabt, denn sein Vater war kurz vor seiner Geburt verstorben. Von Calebs Falknern getötet. Dadurch entstand die einzige Gemeinsamkeit mit seiner Mutter, die er je gehabt hatte. Sie beide waren gezwungenermaßen auf der Suche nach einem Ehepartner, denn Rixa musste ein Mädchen gebären, sonst würde die Frau auf den Thron kommen, die Thomas heiratete. Allerdings suchte seine Mutter nicht nach einem neuen Mann um ihm diese Qual der Wahl zu ersparen, sondern allein, um das Volk nicht zu beunruhigen. Die Familie des Mädchens würde auf einmal zur Königsfamilie werden und das Volk auf jeden Fall empört über seine Wahl, weil er sie und nicht ein anderes Mädchen genommen hatte. Ihr Sohn war Rixa bei der ganzen Sache herzlich egal.
Thomas wurde durch Thalats energisches Klopfen an der Tür aus seinen Gedanken gerissen und als er das Rasseln der Ketten, mit denen die Tür verschlossen worden war, hörte, glaubte er, vor Ungeduld fast auf und ab zu hüpfen. Das die Tür so gut geschützt war, wunderte ihn nicht, denn Rixa war weithin bekannt für ihr Misstrauen und ihre Angst vor Attentaten, selbst aus den eigenen Reihen. Nach einigen weiteren nervenaufreibenden Sekunden, begann Thomas nervös mit dem Fuß zu scharren und blickte fragend auf Thalat. Der stand zwar schweigend da, dennoch hatte sich zwischen seinen Augenbrauen eine steile Falte gebildet. Und als das Scharren der Riegel und Ketten immer weiter ging, sah sich nun auch Thalat um und zuckte kaum merklich mit dem Schultern. In Thomas erwachte leises Mitleid, denn seine Mutter musste mittlerweile so panische Angst vor Angriffen haben, dass sie sich kaum noch aus diesem Keller heraustraute. Kein Wunder, dass er nie durch diese Tür gekommen war!
Dann, nachdem die ganze Tür gebebt hatte und wohl ein besonders großer Riegel beiseite geschoben worden war, schwang die Tür auf und drei Diener standen schweißgebadet vor ihnen, verbeugten sich vor Thomas und komplimentierten sie hinein. Er wäre gerne langsamer gegangen und hätte sich gründlich umgeschaut, doch Thalat zog ihn kurz am Ärmel, was er als Aufforderung zur Eile verstand. Dennoch warf er noch einen letzten Blick auf die schwarze Tür hinter ihm, bevor sie rechts abbogen und war erstaunt über die unglaubliche Anzahl von Riegeln, Ketten und Schlössern. Es war einfach unfassbar, wie geschützt diese unscheinbare, allerdings, wie er nun erkannte, von innen mit Metall stabilisierte, Tür war. Niemand würde durch diese Tür ohne Hilfe von innen hereinkommen und da dieses Stockwerk unter Wasser lag, konnte man auch nicht durch die Wand oder ein Fenster hereinkommen. Und trotzdem, so wurde Thomas klar, wurden Rixas eigentliche Räume außerdem von einem Labyrinth, das seinesgleichen suchte, umgeben. Am Anfang versuchte er sich noch den Weg, den sie zurücklegten einzuprägen, doch er versagte schon nach einigen Kreuzungen und ihm wurde klar, dass jemand, der die schwer gesicherte Tür überwand, spätestens an diesem Hindernis scheitern würde. Die Minuten zogen sich dahin, während Thomas und seine Begleiter immer weiter gingen und langsam verlor er jedes Zeitgefühl. Sie konnten nun schon ein Achtel, wohl aber auch eine halbe Sonnenzeit gegangen sein. Seinen Führern allerdings, die vom Entsichern der Tür schon geschwächt sein müssten, war allerdings keine Anstrengung anzumerken und sie zögerten kein einziges Mal an einer Kreuzung. Im Stillen bewunderte er sie für diese Gabe und er versuchte öfters ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, denn die angespannte Stille drückte ihm auf die Ohren und trug nicht dazu bei, seine Anspannung und Angst zu zerstreuen, doch die Diener sahen sich nur kurz einmal zu ihm um, brachen das Schweigen jedoch nicht. Und nach einer Weile hatte Thomas es aufgegeben und fragte sich stattdessen, ob das wirklich Diener oder eher Leibwächter und Krieger waren. Wenn er sie genau betrachtete, musste er sich eingestehen, dass er sie nie zuvor im Palast gesehen hatte und sie auch nicht die typische Diener- oder Knecht-Haltung und Kleidung hatten. Überhaupt sahen sie nicht sehr unterdrückt, sondern eher entschlossen und gleichmütig aus und bewegten sich nicht unterwürfig. Sie waren einfach da. Thomas konnte sich nicht helfen, aber irgendetwas an ihnen kam ihm seltsam fremd vor, aber vielleicht war er auch nur neidisch, weil sie sich deutlich würdiger bewegten, als er sich jemals bewegen würde. Zu lange hatte er die Schikanen seiner Mutter ertragen müssen.
Dann nach einer für ihn unendlichen Zeit, hielt der kleine Trupp vor der ersten Tür die sie erreichten und sie traten nacheinander hindurch. Als sich Thomas umsah, bemerkte er, dass sie auf einem hohen Plateau standen und ein weiteres, weit verzweigtes Labyrinth zu erkennen war. Er unterdrückte ein Stöhnen, denn seine Füße taten jetzt schon weh und er ahnte, dass er noch einen weiten Marsch vor sich hatte. Nun erhob einer der Führer zum ersten Mal die Stimme, sie klang tief und rau.
>>Verehrter Prinz der Nymphen<<, Thomas bemerkte, dass die Anrede einen spöttischen Beiklang hatte, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein, denn als der Mann weitersprach, war seine Stimme wieder völlig neutral.>>Es tut uns sehr Leid, aber wir kennen nur den Weg des ersten Labyrinthes. Wenn Ihr diese Treppe hinuntergeht, erwartet Euch unten eine neue Gruppe von Führern, die Euch den weiteren Weg weisen wird. Wir freuen uns, Sie begleitet zu haben.<< Mit diesen Worten verbeugten sich die drei Männer und nachdem Thomas und Thalat es ihnen gleich getan hatten, verließen sie den Raum.
Als Thomas sich erneut umsah, erkannte er am Ende des Felplateaus eine Treppe, doch er ging nicht direkt darauf zu. Zuerst musste er sich noch einmal das Labyrinth unter ihm ansehen. Es war vollkommen aus demselben grauen Stein gehauen, aus dem auch die Wände waren, doch es gab keine Ritzen, Symbole oder Lichter, die die Orientierung erleichtert hätten. Zwischendurch waren einige Bodenplatten schief, doch das änderte nichts daran, dass er sich hilflos darin verlaufen hätte. Auch von hier oben, konnte man sich keinen Plan eines Weges machen, denn weder der Anfang, noch das Ende war auszumachen. Er hätte nicht geglaubt, dass der Palast so groß sei, doch dann fiel ihm ein, dass er auch gedacht hatte, die schwarze Tür wäre auf der letzten Ebene gewesen, doch auch dort war er eines Besseren belehrt worden. Und wenn er sich nicht ganz täuschte, befanden sie sich gerade unter dem Grund des Sees. Er schluckte. Thomas hatte schon den ganzen Weg hierher darüber nachgegrübelt, was er tun sollte, wenn Rixa ihn tatsächlich töten wollte. Er hatte im ganzen Labyrinth keine Wachen gesehen und auch hier waren keine Krieger zu sehen, dennoch waren seine Chancen zu fliehen verschwindend gering. Klar war jedenfalls, dass er es auf jeden Fall probieren würde. Er ließ sich nicht so schnell aus dem Weg räumen.
Thalat wollte gerade seinen Schützling an der Schulter fassen um ihn weiter zu bugsieren, doch Thomas schien genug gesehen zu haben und wandte sich der Treppe. Er atmete noch einmal tief durch, als würde er gerade zum Galgen schreiten und begann dann den Abstieg. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Leibwächter, der schon das Schlimmste befürchtet hatte, war froh, dass dort unten keine Krieger warteten, und dennoch war er nicht gerade erbaut über den Anblick der sich ihnen bot. Von oben hatte das Felsenplateau nicht so hoch erschienen, doch als sie jetzt nach unten sahen, erkannten sie das genaue gegenteil. Bestimmt 150 Fuß unter ihnen lag das Labyrinth und dazwischen, mitten durch diesen leeren Raum schlängelte sich die Treppe wie ein schmales, goldenes Band. Es war unglaublich, und gleichzeitig so beängstigend, dass Thomas sich über den Rand beugte und übergab. Auch Thalat hatte große Mühe, sich davon abzuhalten, es seinem Schützling gleichzutun. Er war schon oft in den Bergen gewandert und war halsbrecherische Klippen hinuntergeklettert, doch das hier war etwas ganz Anderes. Es war ein wenig, als wäre man im Himmel, über den Wolken und sah hinunter auf die Erde. Auch hatte es anscheinend niemand für nötig gehalten, eine Balustrade zu bauen, die Stufen führten einfach so den Weg hinunter, und als Thalat ein wenig genauer hinsah konnte er erkennen, dass die Stufen unabhängig voneinander schwebten. Sie bewegten sich, aber dennoch war zwischen ihnen, nichts als leerer Raum.
Der Leibwächter räusperte sich und Thomas sackte vor seine Füße und blieb an die Balustrade gelehnt sitzen. Er hatte sich selten so elend wie jetzt gefühlt und fand es nicht gut, von Thalat dabei gesehen zu werden. Seine ohnehin schon blassen Züge hatten einen leichten Grünstich und er hatte einen schalen Geschmack im Mund. Als Thalat ungeduldig schnalzte, versuchte der Prinz aufzustehen, doch seine Beine taten ihren Dienst nicht und da er immer noch wie gebannt nach unten starrte, ließ der Schwindel auch nicht nach. Erst als Thalat sich ein Herz fasste und Thomas an den Schultern hochhob und auf den Boden stellte, konnte er wieder normal denken und versuchen seine Angst unter Kontrolle zu bekommen. Sie warteten, bis sein Atem sich wieder beruhigt hatten und machten sich vorsichtig an den Abstieg, während Thomas entsetzt, über die Angst seiner Mutter, auf den Boden sah.
Marla traf fast der Schlag, als sie etwas im See glitzern sah. Das konnte nicht sein, und fast wäre sie auch wieder in die Höhle gegangen, nur um herauszufinden, ob es tatsächlich noch da war. Aber kein Zweifel, dort vor ihr, auf dem See ihrer Lichtung, schwamm das Ei des letzten Wasseradlers und bevor sie sich irgendwie bewegen konnte oder ihr ein Laut der Überraschung entfliehen konnte, durchfuhr sie die Erkenntnis so heftig, als hätte sie nur darauf gewartet zuzuschlagen. Sie hatte Recht gehabt. Das Ei war hier und zwar ohne ihre Mutter. Das konnte nur eines bedeuten. Weinend sackte sie zusammen und schluchzte haltlos. Alles war plötzlich so egal. Warum sie hier war und was sie als nächstes tun musste. Sie dachte nur daran, dass ihre Mutter gestorben war und sie sich nicht richtig hatte von ihr verabschieden können. Alissa hatte so lange durchgehalten... Es war fast unmöglich zu glauben, dass sie tatsächlich noch getötet worden war. Als Marla das klar wurde, stand sie hastig auf und rannte, ohne etwas durch den Schleier ihrer Tränen zu sehen auf den See zu, um das Ei an sich zu nehmen. Ab jetzt, war sie das Ziel ihrer Jäger und für sie begann eine neue Jagd. Sie konnte nicht mehr so einfach auf einer Lichtung, auf einem Präsentierteller liegen und weinen. Und doch konnte Marla jetzt nicht rennen. Wieder kauerte sie sich hin. Noch einmal betrachtete die neue Hüterin das Ei, ihren Schützling. Die zurückgebliebenen Wassertropfen glitzerten im warmen Sonnenlicht erstrahlen. Es war nicht sehr groß, eigentlich nur so, wie ein kleiner Fels und so leicht, als sei es nur mit Luft gefüllt. Das Ei war nicht durch besondere Merkmale gezeichnet und doch schien es ihr das Schönste zu sein, das sie je gesehen hatte. Kleine Furchen zeichnete jede Stelle des Eies anders und sonderbar. Es sah aus, als würde es jeden Moment zusammenbrechen und war trotzdem so stabil wie ein Sein. Klar war, dass wusste Marla, dass sich das Aussehen des Eies nie geändert hatte und sich auch nie ändern würde.
Ihre Mutter hatte es geschickt und war nicht zu ihr zurückgekehrt. Alissa war nicht mehr.
>>Nein!<< Marla konnte nicht mehr. Sie schrie und schrie, weinte, bis sie glaubte nie wieder weinen zu können. Sie wiegte sich vor und zurück und hielt das Ei so fest umklammert, als wünschte sie, es würde zerbrechen, weil es für so viele Morde verantwortlich war. Und sie wollte für immer an diesem Ort bleiben, an dem sie ihrer Mutter am nächsten war. Marla hatte das Meer nie gesehen und das einzige Wasser, das sie kannte, war dieser See, doch sie hatte immer gespürt, dass Alissa Wasser geliebt hatte. Zwar wusste sie nicht, wieso ihre Mutter sich derartig mit dem kühlen Nass verbunden gefühlt hatte, doch das war ihr in diesem Moment, der ihr Leben verändert hatte, mehr als egal, denn sie versuchte ihre glücklichsten Momente mit Alissa noch einmal zu durchleben. Dabei bemerkte sie, dass es vor allem in letzter Zeit immer weniger von diesen gegebenen hatten und diese Erkenntnis machte sie noch trauriger. Sie hatten sich viel zu oft in den Haaren gelegen, weil Marla mal wieder vor Umzügen protestiert hatte. Nun hatte sie ihrer Mutter gar nicht sagen können, wie sehr sie sie jedesmal vermisste.
Sie schluckte und versuchte ihrem Weinen Einhalt zu gebieten. Langsam hörten auch ihre Hände auf zu zittern und sie stand mit wackligen Knien auf. Dann lehnte sie sich einen Baum und versuchte vergeblich tief und regelmäßig zu atmen, das Ei, immer noch fest and ihre Brust gepresst. Erst als sie versuchte ihre Finger zu bewegen, merkte sie, wie verkrampft sie ihre Arme hielt. Noch langsamer als zuvor, löste sie ihre Arme und als sich auch ihrer Stimme wieder traute, stieß sie drei schrille und hohe Pfiffe aus, um Farren Bescheid zu geben. Viel früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war hatte man ihr diesen Ruf beigebraucht und wenn sie ihn im Wald geübt hatte, war ein sehr ernster und feierlicher Farren jedes Mal zu ihr geeilt und hatte nach ihrer Mutter gefragt. Nun musste sie ihn viel früher als erwartet zu sich rufen.
Obwohl sie wusste, dass sie schneller als Farren war, begann sie zu rennen und sich die Tränen im Lauf vom Gesicht zu wischen. Sie hatte zu Hause noch etwas zu tun. Die kühle Luft des Waldes trocknete ihre Tränen endgültig und der Gegenwind tat ihrem erhitzten Gesicht gut. Darum hatte sie sich, als sie schon nach kurzer Zeit ankam, wieder einigermaßen im Griff.
>>Haltung bewahren...<<, sagte sie sich immer wieder. Diese Denkweise hatte man ihr schon als Kind eingeprägt und wenn ihre Vorgängerinnen damit klar gekommen waren, dass würde sie das auch schaffen. Mit ihrer Trauer musste und würde sie alleine zurechtkommen.
Zum letzen Mal sah sie sich in ihrer Unterkunft um. Es tat nicht weh zu wissen, vielleicht nicht wieder zurückzukehren, denn sie hatte keine glücklichen Erinnerungen, die sie mit diesem Ort verband.
Als sie sich zu einer unscheinbaren Schatulle auf einer schäbigen Kommode umdrehte, hatte sie bereits mit dem früheren Teil ihres Lebens abgeschlossen. Fast ehrfürchtig strich sie pber das raue und kühle Leder und legte ihre Hand auf die Schatulle. Wieder betrachtete sie den warscheinlich wetvollsten Gegenstand in ihrem Besitz. Schließlich seufzte sie, griff an ihren Hals und zog eine lange goldene Kette mit einem goldenen Schlüssel heraus. Sie hatte sich seinen ersten Einsatz immer einige Jahre später vorgestellt. Als sich das Schloss mit einem leisen Klicken öffnete, schlug ihr Herz schneller und sie wünschte sich, sie könnte irgendwie doch noch verhindern, dass Farren jeden Moment kommen könnte.
Dort lagen sie. Die Erbstücke ihrer Ahninnen. Einen unmessbaren Augenblick lang, starrte sie sie an. Sechs sehr unterschiedliche und doch von der gleichen Aura umgebene Gegenstände lagen vor ihr, währen ihr wieder die Tränen, die sie gedacht hatte, nie mehr weinen zu können, in die Augen stieg. Es tat weh zu wissen, dass, egal wie lange man sich in den Dienst des Friedens stellte, irgendwann nur noch solche Stücke übrig blieben. Trotz aller Verärgerung auf ihre Vorfahren, die sie zu diesem Leben verbannt hatten, empfand sie echte Trauer, dass sie diese Bürde hatten tragen und schließlich dafür sterben müssen. Und irgendwann würde ihre eigene Tochter hier stehen und sich für ihre erste Reise wappnen. Es war erst das zweite Mal, dass sie auf diese Stücke hinabsah und sie nahm sich Zeit, die sie vielleicht gar nicht hatte, um ihren Aufbruch hinauszuzögern, Ganz links, lag, das wusste sie, ihr Siegelring. Sie musste ihn in jeder Festung einmal tragen, um lebenslangen freien Eintritt zu erhalten. Die Ironie des Ganzen, war, dass sie von eben diesen beiden gejagt wurde. Daneben lag eine kleine silberne Flöte, allerdings wussten weder Alissa noch Farren, welche Bedeutung sie hatte und sie glaubten, dass ihre ehemalige Besitzerin ihr Geheimnis mit ins Grab nahm. Weiter rechts lag ein Schlüssel, ganz ähnlich dem, den sie um den Hals trug. Er war golden, mit vielen Schnörkeln am Griff und einem komplizierten Bart. Marla schluckte. Es war der Schlüssel zum geheimen Schrein. Niemand außer der amtierenden Hüterin wusste, wo er sich befand, um möglichen Grabschändern zu entkommen. Natürlich waren es nur Andenken, keine richtigen Gräber, denn meistens gab es keine Körper, die man vergraben konnte. Plötzlich fiel es Marla schwer zu atmen und sie fädelte den Schlüssel zu ihrem ersten, auf die Kette. Es würde ihre erste Aufgabe sein, ein Andenken für Malissa zu errichten. Sie wusste, sie würde Hilfe benötigen, allein, um den Schrein zu finden, denn Alissa hatte ihr den Weg nie erklärt, doch sie wusste nicht, wen sie bitten sollte, oder konnte. Darüber würde sie sich später Gedanken machte müssen.
Daneben lag eine Art Münze. Sie wusste nicht, was sie bedeutete und niemand hatte sich die Mühe gemacht, es ihr zu erklären. Auch sie war golden und in der Mitte dünner als am Rand. Auf der einen Seite prangte ihr Familienwappen, der Wasseradler und jeweils auf beiden Seiten die Wappen der Herrscher Lenahwens. Für Marla hatte sie nichts Besonderes und so wollte sie sich nicht länger mit ihr aufhalten.
Ganz rechts, das sah Marla sofort, lag das Erbe ihrer Mutter. Sie wusste es, weil sie vor zwei Jahren schon einmal in diese Schatulle gesehen hatte. Man hatte ihr den Schlüssel schon als kleines Kind gegeben, ihr jedoch nie erklärt, wofür er gut sei. Also hatte sie ausprobiert und schließlich diese Schatulle gefunden. Sie hatte sich zwar beeilen müssen doch hatte sie sich die Gegenstände gut eingeprägt und dieses Amulett war noch nicht dabei gewesen. Sie nahm es in die Hand und betrachtete gedankenverloren das Licht, das von dem strahlenden Silber reflektiert wurde. Es war wunderschön. Der runde, grüne Stein in der Mitte schien, durch feine Risse im Inneren und einer merkwürdigen Wärme, fast zu leben. An den Rand waren verschiedene Runen eingeritzt und so lange sie auch darauf starrte, sie konnte ihre Bedeutung nicht erschließen. Es war merkwürdig, aber allein der Gedanke, dass ihre Mutter das Amulett in der Hand gehalten hatte, machte ihr Mut. Alissa hatte diese Aufgabe gemeistert und sie würde es auch schaffen. Kurzerhand une einer inneren Laune folgend, fädelte sie nun auch das Amulett auf ihre Kette. Dabei fiel ein Blatt Papier vor ihr auf den Boden. Es musste auf dem Boden der Schatulle gelegen haben. Plötzlich fühlte Marla sich schlecht. Hatte sie, zwar unwissentlich, aber dennoch, etwas von seinem von seinem angestammten Platz in der Schatulle entfernt? Schnell, als könnte sie es wieder rückgängigmachen, hob sie den Zettel auf und wollte ihn schon wieder hineinlegen, als ihr ein Name am Rand auffiel. Tatsächlich, da stand ihr Name! Wer könnte ihr einen Brief geschrieben und ihn zu den Erbstücken gelegt haben? Langsam faltete sie ihn auseinander und als sie die feine, etwas ungelenke Schrift erkannte, füllte sich ihre Augen wieder mit Tränen. Alissa hatte nie viel schreiben müssen und ihre Tochter immer ein wenig beneidet, weil sie es so mühelos beherrschte. Marla sank auf die Knie und begann durch den Tränenschleier vor ihren Augen zu lesen.
Meine liebste Tochter,
es schmerzt mich sehr, aber wenn du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr und du wirst meine Aufgabe weiterführen müssen. Ich würde dir dieses Schicksal gerne ersparen, doch ich kann es nicht. Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mir so viel Zeit ließ, eine Tochter zu bekommen und du nun in so jungen Jahren, so viel Verantwortung tragen musst. Du weißt, was du zu tun hast und ich denke du solltest deine Reise zuerst zum Tal der Nymphen lenken. Du hast nicht viel Zeit! Wenn man denkt, du hättest das Ei verloren, kommt es zum Krieg! Trotzdem bitte ich dich, zum geheimen Schrein zu gehen und ein Andenken für mich zu errichten. Nur ich weiß den Weg dorthin, da ich aber nicht offen schreiben kann, aus Angst, dass nicht nur du diesen Brief liest, muss ich meine Anweisungen verschlüsseln.
Gehe in Richtung deines ursprünglichen Ziels,
Blau wie der Himmel, blau wie das Meer,
der letzte Wächter, dich nach Osten führt,
das Licht des Regenbogens zum hellsten Stern,
schiebe den Vorhang aus Diamanten beiseite und folge dem Pfad
Du wirst es schaffen, denn ich zähle auf dich! Ich möchte dir noch sagen, dass mein Erbe vielleicht nicht so nutzlos ist, wie es aussieht. Trage es an über deinem Herzen, denn es hat mir schon oft das Leben gerettet. Ich bekam es von einer alten Waldhexe, nachdem sie mir das Leben gerettet hatte, indem sie mich nach einem schweren Angriff aufnahm, damit ich mich erholen konnte. Ich weiß leider nicht, wo sie lebt, sonst würde ich es dir erzählen, glaub mir, denn als ich stark genug war, setzte sie mich im Wald aus und erst nach langer Irrwanderung konnte ich nach Hause zurückkehren. Es tut mir Leid.
Nur noch eines. Farren ist dein einziger Verbündeter und er setzt mehr als nur sein Leben aufs Spiel, wenn er uns hilft! Du kannst ihm bedingungslos vertrauen und du würdest ihm und auch mir schlecht danken, wenn du ihn unnötig in Gefahr bringst. Egal, was er dir sagt : Hör ihm zu und glaube ihm! Er wird dich nicht belügen.
Erledige deine Aufgabe so gut es geht und vergiss niemals, wie sehr ich dich liebe. Verzeih mir und deinen Ahnen und sei vorsichtig.
Alissa
Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Tränen tropften auf den Brief, während sie ihn immer wieder las, ohne etwas zu verstehen. Es gab so viele Dinge, über die sie nachdenken musste, so viel, das sie nicht verstand. Doch es war ihr egal. Alles war ihr egal.
Schluchzend und vergeblich um Fassung ringend fand Farren sie, und das genügte um ihm zu bestätigen, was er bereits befürchtet hatte. Er kniete sich neben sie, zog sie an seine Brust und seufzte schwer. Es war so weit.
Kapitel 2
Erst nach fast einer ganzen Stunde, hatte sie sich wieder gefasst und setzte sich auf ihren Stuhl, um ihre Gedanken zu ordnen. Schon jetzt schämte sie sich ihrer Gefühle, vor sich selbst, aber noch mehr Farren gegenüber. Er sollte sie nicht für schwach halten. Es war so schon schlimm genug, ohne, dass er glaubte, sie würde es nicht schaffen. Denn sie würde es schaffen, das hatte sie sich geschworen. Als er sich erhob senkte sie den Blick und erwiderte seinen auch noch nicht, als er sich auf ihrem Bett niederließ. Es war nicht ihre Absicht gewesen, bei ihrem Gefühlsausbruch beobachtet zu werden.
>>Dann ist es also vorbei<<, seufzte er und sprach damit aus, was schon so lange im Raum schwebte. >> Es ist nicht so, dass ich es nicht geahnt hätte, immerhin war Alissa bereits-<<
Er brach ab, als Marla ein Laut entfuhr, der sie in noch größere Verlegenheit stürzte. Sie musste versuchen, ihren Schmerz zu kontrollieren. >>Haltung<<, murmelt sie lautlos zu sich und sagte dann lauter : >> Verzeihung, was wolltest du sagen?<< Doch Farren schien sie zu verstehen und sagte leise : >>Schäme dich nicht deiner Gefühle, denn jeder hätte so reagiert. Du siehst dein Leben vor einer ganz neuen Möglichkeit und Gefahr stehen. Es ist ganz natürlich Angst zu haben.<< Fast hätte sie laut aufgelacht. Angst empfand sie keine. Es war so, als würde der Verlust ihrer Mutter, den sie mit jeder Faser ihres Körpers spürte, alle anderen Gefühle fortschwemmen, fort von ihr, von ihrem Leben, so dass sie Angst hatte, nie wieder glücklich zu werden. Die Trauer die sie empfand und sie jeden Moment zu überwältigen drohte, war übermächtig und ließ gar keine andere Regung in ihr zu. Es war hoffnungslos. Vielleicht war es unlogisch keine Angst zu empfinden, aber im Moment konnte sie warscheinlich niemand verstehen, schon gar nicht sie selbst.
Obwohl Farren im Unrecht war, ruckte sie unbestimmt mit dem Kopf. Sie hätte auch nicht gewusst, was sie hätte sagen sollen.
>>Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll.... ob es dich von deiner Aufgabe abbringen wird... ob du schon bereit dafür bist. Wenn man dieses Wissen, jedoch mit deiner Aufgabe vergleicht, erscheint es lächerlich, es dir zu verschweigen. Trotzdem, ist nur deine Bestimmung wichtig...<<, begann er leise und sprach mehr zu sich selbst, als zu ihr, aber sie wusste, dass er eine Antwort erwartete. Sie seufzte : >> Sag es mir. Wir werden sehen wie ich reagiere.<< Einen Moment lang, wunderte sie sich, wie ausdrucklos ihre Stimme klang, aber dann war ihr auch das wieder egal. Jetzt war es an Farren zu seufzen und er sprach beinahe gequält : >>Was würdest du sagen, wenn ich wüsste wer deine Mutter umbrachte? Würdest du es wissen wollen? Würdest du ihn jagen? Würdest du Rache wollen?<<
Marla lächelt traurig und merkte, dass es nicht über ihre Lippen, bis in ihre Augen reichte : >>Was würdest du sagen, wenn ich es bereits wüsste?<< Er war sprachlos. Sie hatte es geschafft, Farren, dem ältesten Bewohner Lenahwens die Sprache zu verschlagen. An jedem anderen Tag, wäre Marla vor Freude in die Luft gesprungen, aber heute blieb ihre Miene ausdruckslos.
>>Woher weißt du es?<<, fragte sie tonlos. Ihre normalerweise große Neugier war erloschen. Im Grunde interessierte sie die Antwort gar nicht.
>>Sagen wir, ich weiß es von einer Freundin, die in der Nähe lebt. Sie half deiner Mutter schon einmal, doch gestern kam sie zu spät<<, sagter er vorsichtig. Sein Gesichtsausdruck war merwürdig abwesend, als er von dieser Freundin sprach und eigentlich hätte Marla ihn bestimmt mit Fragen bombardiert, doch heute war sie zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um an so etwas zu denken. Sie fühlte sich unglaublich müde und wollte so schnell wie möglich wieder allein sein.
>>Farren... Ich hatte einen Schicksalstraum. Von ... Meiner Mutter<<, es tat weh über sie zu sprechen, >>wie sie ... umgebracht wurde ... Sie war auf dem Weg ins Tal ... <<, und es schmerzte noch mehr in der Vergangenheit von ihr zu reden.
Entweder hatte Farren sein Gesicht gut unter Kontrolle oder er war tatsächlich nicht erstaunt über ihren Schicksalstraum. Und wieder schien er ihre Gedanken zu lesen.
>>Hmm ... Du bist nicht die erste Hüterin, der sich ihr Schicksal so offenbarte. Deiner Großmutter erging es genauso, allerdings war sie zu diesem Zeitpunkt deutlich älter als du<<. Diesmal war sein Gesichtsausdruck wieder deutlich abwesend, als er von ihrer Großmutter sprach. Sogar Marla fiel es jetzt auf, doch sie traute sich nicht zu fragen.
Plötzlich schien Farren etwas einzufallen. Sein Blick wurde richtig panisch, als er drängend fragte : >>Sag mal, hast du das Ei oder ist es in Calebs Händen?<< Statt zu antworten, griff sie in ihren Beutel und gab ihm das Ei. Er untersuchte es lange und Marla wartete ungeduldig und ein wenig besitzergreifend. Würde er das Ei zurückgeben? Im nächsten Moment schämte sie sich für diesen Gedanken, schließlich war Farren immer für sie da gewesen und ihre Mutter hatte ihr ja auch geschrieben, sie könne ihm vertrauen. Es war abscheulich von ihr, ihm einen solchen Verrat zuzutrauen.
>> Das macht es deutlich leichter<<, murmelte Farren, als er ihr das Ei zurückgab. Trotz ihrer Beteuerungen, sie würde ihm vertrauen, war sie doch erleichtert, als sie es endlich wieder in den Händen halten konnte. Es war eine neue Verantwortung und Herausforderung für sie und sie wollte nicht versagen. Es war fast so als könnte sie spüren, wie wichtig ihre Aufgabe war und welche Last auf ihren Schultern lag.
>>Du weißt vermutlich auch, dass du nur sehr wenig Zeit hast und ich muss dir leider auch sagen, dass du das Tal über Land erreichen musst. Darum werde ich dich auch nicht lange mit meiner Geschichte aufhalten und mich kurz fassen<<. Sie sah ihn verständnislos an. Geschichte? Sie dachte er hätte ihr bereits alles beigebracht, was sie wissen müsste!
>>Geschichte? Ich dachte du hättest mir bereits alles gesagt<<, sprach sie ihren Gedanken laut aus und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme vorwurfsvoll klang.
>>Ja, es geht darum, wieso die erste Hüterin dich und deine Vorfahren mit dieser Bürde belastete<<. Unwillkürlicher setzte Marla sich gerader hin und hörte nun wirklich zu. Das war ein Thema, das Farren und ihre Mutter - sie zuckte leicht zusammen, als sie an Alissa dachte - immer gekonnt verschwiegen hatten. Irgendwann hatte sie aufgegeben und angenommen, niemand wüsste etwas. Würde sie jetzt endlich ihre Geschichte erfahren?
Farren lächelte, als er ihr Interesse bemerkte und fuhr fort : >>Es ist noch gar nicht so lange her, als vor ungefähr sechs Generationen das Reich Lenahwen zerbrach. Deine Urururgroßmutter Johanna herrschte über den gesamten Kontinent und hatte zwei Brüder mit denen sie sich sehr gut verstand. Zu dieser Zeit, lebten noch die Menschen in Lenahwen. Ich selbst war zu dieser Zeit noch ein Kind und mein Vater Johannas engster Berater. Als Johanna ungefähr 30 Sommer zählte, gab es eine Invasion von gewaltigen Ausmaßen<<. Er verstummte und schien sich an nicht so glückliche Zeiten zu erinnern. Erst als sie sich leicht räusperte kam er wieder zu sich.
>>Entschuldige, ich war damals noch so jung und ...-<<. >>Farren, wer griff Lenahwen an?<< Sie hatte keine Zeit für seine Entschuldigungen, auch wenn sie nun etwas harsch klang. Er hatte Recht, sie hatte keine Zeit!
>>Es waren Nixen und Falkner mit jeweils einem Wasseradler<<, es fiel im deutlich schwer darüber zu reden, >>es kam wie es kommen musste. Krieg brauch aus und die Menschen schlugen sich gut, hatten jedoch gegen diese Übermacht keine Chance. Ihr größter Erfolge war wohl, dass sie beide Wasseradler vernichteten. Johannas Brüder waren ebenfalls tot und auch sonst fast alle Männer. Die Frauen wurden nach langer Belagerung der Städte auch umgebracht. Die wenigen Überlebenden flohen und leben bis heute versteckt oder auf Inseln jenseits des tosenden Meeres<<. Seine Stimme hatte einen bitteren Beiklang als er weitersprach : >>Mein Vater floh mit Johanna und mir und als wir über eines der zahlreichen Schlachtfelder liefen, fanden wir das Ei. Johanna wusste sofort was es war, einer der toten Wasseradler muss es fallen lassen haben. Sie hatte vor zu warten bis es schlüpfte um dann ihr Land zurückzuerobern.
Mein Vater aber war schon immer feige gewesen und verriet sie an Calebs und Rixas Vorgänger. Die beiden konnten sich nicht einigen und teilten das Land. Als Johanna dies hörte, war für sie klar, was zu tun war. Auch der Verrat meines Vaters hatte sie wachgerüttelt. Über welches Volk wollte sie herrschen, wenn ihr bis dahin treuester Freund sie verriet? Ihr Volk war tot oder geflohen und sie eine der wenigen Überlebenden. Also beschloss sie, das Regieren den Anderen zu überlassen und dafür zu sorgen, dass der Richtige die tödliche Waffe in die Hände bekommt.
Und den Rest der Geschichte kennst du : Nur der Auserwählte mit dem reinen Geist und Herzen bringt das Ei zum Schlüpfen und hat damit alle Macht<<.
Sie war geschockt. Wirklich geschockt. Sie hatte Farren für einen ihrer treuesten Mitstreiter gehalten und nun erfuhr sie, dass sein Vater ihre Vorfahrin verraten hatte. Und, dass ihre Familie früher über Lenahwen regierte! Marla musste erst einmal tief Luft holen. Was war das nur für ein Tag an dem ihr Weltbild und ihr Leben, ein perfektes Kartenhaus, einfach so zusammenstürzte?
>>Wieso erzählst du mir das alles auf einmal?<<, stellte sie geschockt, die erstbeste Frage die ihr in den Sinn kam.
>>Weil du ehrlich zu mir bist<<, sagte er sanft, >>und es nur gerecht ist, auch ehrlich zu dir zu sein. Ich stehe bis zu meinem Ende in der Schuld deiner Familie und dir die Wahrheit zu sagen, ist das Mindeste was ich tun kann<<.
Marla nickte nur, stand auf und half auch ihm auf.
Er seufzte : >>Es gibt noch ein weiteres Problem. Du weißt nicht wo der geheime Schrein ist und ich - <<.
>>Ich weiß wo er ist<<, unterbrach sie ihn und machte ihn damit zum zweiten Mal an diesem Tage sprachlos.
>>W - Woher?<<, schaffte er nach einiger Zeit mühsam herauszubringen. >>Nicht so wichtig<<, sagte sie schnell und als Farren sie scharf ansah fügte sie hinzu : << Mama hat ihre Vorkehrungen getroffen<<. Damit schien er sich überraschenderweise zufrieden zu geben. Marla wusste nicht genau, wieso sie ihm nichts von dem Brief erzählte, aber ein Teil von ihr wollte diese Sache immer für sich behalten.
>>Du weißt also wo du hinmusst?<<, sie nickte. >>DU weißt was du zu tun hast?<< Wieder nickte sie, noch entschlossener als zuvor. >>Weißt du wen du mitnehmen willst?<< Sie zögerte. >>Ich würde niemanden dieser Gefahr aussetzen wollen, selbst wenn ich jemanden kennen würde<<, Farren nickte zustimmend. >>Aber ich brauche jemanden!<<
>>Ich denke ich bin der richtige Mann dafür<<, versprach plötzlich eine Stimme hinter ihr. Sie wirbelte herum.
>>Kommen Sie schon, nicht nach unten sehen!<<, riet Thalat völlig verzweifelt, doch Thomas hörte ihn kaum. Er konnte den Blick nicht vom Boden, der weit, weit unter ihm lag abwenden. Er versuchte verzweifelt, seine Füße zu bewegen, doch sie gehorchten ihm nicht mehr. Er wollte Thalat rufen, ihn um Hilfe bitten, doch aus seinem Mund kam kein Laut.
>>Alles muss man selber machen ... <<, hörte er Thalat noch murmeln, bevor der Boden unter seiner Kehrseite zu schwinden begann. Im ersten Moment dachte er, er würde fallen und ruderte wild mit den Armen und erst als diese in einem eisernen Griff gefangen waren, bemerkte er, dass ihn sein Leibwächter trug. Er schämte sich, war aber gleichzeitig dankbar, denn er wusste, er könnte keinen Schritt alleine gehen.
Thalat schien sein Gewicht und die Höhe nichts auszumachen. Er sprang die Stufen leichtfüßig hinab, als hätte er keinen gähnenden Abgrund unter sich und keinen 70-Kilo-Mann auf dem Arm. Natürlich.
So ging es fast zehn Minuten und Thomas hatte den Schwindel so langsam wieder unter Kontrolle. Die Flecken vor seinen Augen verschwanden und zu seiner Erleichterung trugen ihn auch seine Beine wieder, als Thalat ihn absetzte. Er atmete tief ein, sobald er wieder festen Boden unter den Füßen hatte und es hätte nicht viel gefehlt und er hätte eben diesen geküsst. Um den kümmerlichen Rest seiner Würde zu bewahren, ließ er es dann allerdings doch bleiben.
Thalat drehte sich um und warf ihm einen Blick zu, den Thomas als Sorge auffasste. Wow. Thalat sorgte sich um ihn. Thomas nickte und trat vor, nur um direkt wieder aufgehalten zu werden. Wütend sah er nach hinten, aber Thalat starrte nur erschrocken geradeaus. Sekunde mal. Thalat und erschrocken? Mit einem Kloß im Hals und dem Gedanken, dass er eigentlich gar nicht so genau wissen wollte, was dort auf ihn wartete, drehte Thomas sich um und sah nach oben.
>>Wow<<, war das Einzige, was er herausbrachte. Nein! Nochmal zurück. Das war eindeutig die falsche Reaktion! Wegrennen wäre viel realistischer, aber ein kleiner noch arbeitender Teil seines Gehirns, sagte ihm, dass er vermutlich nicht weit kommen würde. Vor ihm stand ein riesiger Ork und grunzte was das Zeug hielt. Er konnte nicht viel verstehen, aber er bewegte zum Schluss seine Hand, was wahrscheinlich heißen sollte, sie sollten mitkommen.
Nicht, dass er etwas gegen Orks hätte, allerdings bevorzugte er diejenigen, die seine Sprache sprachen. Die Tatsache, dass dieses Exemplar doppelt so groß war, wie ein normaler Ork, machte es dann auch nicht besser. >>Meine Mutter ist krank... Krank...!<<, murmelte er fast den ganzen Weg vor sich hin, nachdem der Ork losgegangen war. Thalat schien denselben Gedanken zu haben, auch wenn er sich nichts anmerken ließ.
Was für eine Angst musste jemand haben, wenn er dieses Muskelpaket vor seiner Tür stehen hatte? Und das nach dieser Treppe! Der Gedanke, dass seine Mutter so schlecht kannte, machte ihn seltsam traurig, obwohl er nichts dafür konnte. Seine Mutter hatte ihn immer auf Abstand gehalten und irgendwann hatte er aufgegeben, obwohl es ihm ein Loch in die Brust riss. Es war unglaublich, denn obwohl sie ihm nie etwas anderes als Verachtung entgegenbrachte, liebte er sie. Sie war eben seine Mutter.
Früher hatte er gehofft, sie müsste so handeln, könnte nicht anders, würde ihn aber lieben. Mittlerweile glaubte er selbst daran nicht mehr. Sie hatte ihm auch diese Hoffnung genommen.
Nach der zwanzigsten Biegung hatte er spätestens aufgegeben, sich zu orientieren und verließ sich vollkommen auf ihren Führer. Wieder konnte er nicht umhin, ihn zu bewundern. Allein seine Eleganz, mit der er sich, trotz seiner Größe durch die Gänge schlug. Die Tatsache, dass er offensichtlich ein Ork war, erstaunte ihn noch mehr. Je länger er ihn betrachtete, desto stärker wurde sein Verdacht, dass er vielleicht gar kein Ork war.
Er kannte keinen Ork, der einen Baum von einer Nymphe unterscheiden konnte. Außerdem wurde Orks nicht so riesig.
Plötzlich war es so klar. Da war die Größe, die offensichtliche Klugheit, die Ähnlichkeit mit einem Ork, die riesigen Ohren und natürlich die ungewöhnliche Eleganz. Aber ein... Riese?
Thomas stieß seinen Leibwächter ungeduldig mit dem Ellbogen an, um zu hören, dass er sich irrte. Thalat drehte sich um, hob fragend eine Augenbraue und legte einen Finger an die Lippen. Der Prinz nickte in Richtung ihres unglaublichen Begleiters und formte lautlos das Wort: >>Riese<<. Thalat nickte nur und schenkte ihm einen Blick, als wolle er sagen : Auch schon gemerkt? Natürlich.
Es gab nur noch sehr, sehr wenige Riesen, seit dem großen Krieg und eigentlich lebten sie allein und abgeschieden in den Bergen. Was also tat ein Riese im Labyrinth vor den Gemächern seiner Mutter?
Nach einiger Zeit blieben sie vor einer weiteren schwarzen Tür stehen und Thomas betete inständig es sei die Letzte. Kurz bevor er die Tür aufstieß, drehte sich ihr Führer noch einmal um und grinste, wobei er einige sehr unansehnliche Zahnlücken entblößte.
>> Ihr wart jedenfalls schneller als der Rest <<, sagte er schmunzelnd und in perfektem Meerisch. Thomas wunderte sich, wieso er vorher nicht gesprochen hatte >> die haben es erst gemerkt, nachdem ich ihnen jeden Knochen einzeln gebrochen hatte <<. Er lachte bellend und zwinkerte ihnen zu. Thomas schluckte. Er war zwar der Prinz und damit ziemlich sicher, wollte aber auch nicht für Thalats Tod verantwortlich sein. Der Riese hatte ihn mehr als deutlich gewarnt.
Nachdem er ihm noch einen halb belustigten, halb warnenden Blick zugeworfen hatte, drehte dieser sich um und klopfte zweimal. Warscheinlich hatte man sie schon erwartet, denn die Tür öffnete sich sofort, ohne das Klirren einer Kette, oder das Scharren eines Riegels. Vielleicht brauchte man an diesem Punkt des Labyrinths auch einfach keine solchen Sicherheitsvorkehrungen mehr. Thomas bezweifelte stark, dass jemand unerlaubt und unbeobachtet bis hier kommen würde.
Wieder öffnete ihnen ein schwarz gekleideter Diener mit einer Verbeugung und wieder bat er sie wortlos hinein.
Sie standen nun in einem großen, größtenteils schwarz-goldenem Empfangsraum mit einigen roten Stühlen, die an der Wand aufgereiht waren. Auf der gegenüberliegenden Seite waren drei große, geschlossene Türen. Das einzige Fenster im Raum war klein und nur sehr schwaches Licht kam herein. Thomas fragte sich dumpf, wie tief sie sich wohl unter der Wasseroberfläche befanden, war aber eigentlich beschäftigt damit, seinen schrecklichen hohen Puls zu beruhigen.
Schweigend geleitete der Diener sie zu den Stühlen, wobei der Riese stehen blieb und unsicher grinste. Thomas Mundwinkel zuckten, aber er war zu erschrocken um richtig zu lächeln. Er konnte es immer noch nicht glauben : Vor ihm stand ein Riese der ihn anlächelte. Normalerweise, müsste man in dieser Situation um sein Leben renne um nicht zermatscht zu werden.
Der Morgen und sein Traum schienen plötzlich so lange her. Wie lange waren sie hier wohl schon herumgeirrt? Er schwieg und widerstand dem Drang aufzuspringen und wegzulaufen, indem er sich die Konsequenzen aufmalte. Ihn würde man vermutlich verschonen, obwohl er sich dessen auch nicht mehr so sicher war, aber Thalat würde in jedem Fall kämpfen. Und verlieren.
Vielleicht hatte sein Leibwächter dieselben Gedanken, denn sein Blick huschte immer wieder zwischen seinem Schützling und der Tür hin und her. Thomas war beeindruckt. Dies war einer der wenigen Momente, in denen Thalat Nervosität oder gar Schwäche zeigte. Einen beruhigend verrückten Augenblick lang, dachte der Prinz, dass diese Erfahrung dem enormen Ego seines Beschützers eindeutig gut tun würde.
Das Schweigen lastete drückend im Raum und verdunkelte die ohnehin düstere Stimmung noch weiter. Hin und wieder öffnete der Riese den Mund um das Schweigen zu brechen, die Runde vielleicht etwas aufzulockern, doch sobald er einen Blick auf die Männer vor ihm warf, schloss er ihn wieder.
Eine leise Stimme in seinem Kopf, fragte Thomas, wie sein Gesicht wohl aussehen musste. Seit seinem Traum hatte er nur noch solche Gedanken. Verdammt, seit wann war er ironisch, gar sarkastisch? Und seit wann zur Hölle hörte er Stimmen in seinem Kopf? Er hatte absolut keine Ahnung.
Nach einigen weiteren, unbehaglichen Minuten, öffnete sich eine der großen Türen und der Diener kam wieder um sie immer noch wortlos hinein zu bitten.
>>Danke<<, sagte Thomas leise, als er über die Schwelle trat und der Diener zurückblieb, doch der warf ihm nur einen bedauernden Blick zu und verneigte sich.
>>Wie ist dein Name?<<, fragte Thomas lauter und wütender.>>Antworte mir!<<, befahl er, obwohl er nicht genau wusste, ob seine Position dies zulies. Würde seine Mutter ihn verstoßen? Ihn verurteilen? Sollte sie dies tun, hatte er niemandem mehr etwas zu befehlen, nicht einmal dem Knecht der im ersten Stock die Fenster polierte, die durch das Salzwasser immer milchig wurden.
Ungeachtet seiner harschen Worte, zuckte der Diener nur mit den Schultern und sah ihn hilflos, fast flehend an, bis schließlich eine kalte Stimme für ihn antwortete : >>Lass ihn! Er wird dir nicht antworten, auch wenn du es ihm noch zehnmal befiehlst. Er ist stumm.<<
Langsam wandte sich Thomas um und sah seiner Mutter in das Gesicht, das seinem so ähnlich sah und doch ganz anders war. Rixa saß aufrecht und stolz auf ihrem Thron, der blutrot und reich verziert war. Der Sockel und auch die Lehne waren mit Symbolen aus dem Altmeerischen beschriftet, die niemand mehr lesen konnte, weil die Übersetzung dieser Sprache noch niemandem geglückt war. Auch war keine Regelmäßigkeit oder Ordnung inmitten dieser Zeichen zu finden, noch waren sie besonders schön. Er hatte absolut keine Ahnung, wieso sie diesen Thron besaß. Jeder Kunsthandwerker dieses Tales, das nebenbei bemerkt ein gesamtes Gebirge ausfüllte, hatte ihr angeboten einen noch prunkvolleren zu entwerfen, allein für sie zu gestalten, einen, wie den, der in ihrem richtigen Thronsaal über dem Wasser stand, doch sie bestand darauf, ihren alten weiterzubenutzen. Hatte irgendwas von Tradition geschwafelt und sich auf diesen hässlichen Thron gesetzt. Frauen.
Erst als sich Rixa einmal räusperte und Thalas ihm einen ungläubigen Blick zuwarf, merkte er, dass er im Moment Wichtigeres zu tun hatte, als über die Eigenarten des weiblichen Geschlechts nachzugrübeln. Er hielt es für das Beste, so zu tun, als wäre er nie abgeschweift und wandte sich wieder seiner Mutter zu.
Ihr langes blaues Haar war in einem strengen Knoten gebunden und das kalte Blau ihrer Augen war um einiges dunkler als das ihrer Haare. Zu Thomas Enttäuschung kam er nicht drum herum festzustellen, dass nicht umsonst Gerüchte kursierten, Rixa sei die schönste Nixe im ganzen Tal. Ihre Haut war von einem besonders hellen Grün, was ihren Mund noch dunkler und sinnlicher erschienen ließ, als er ohnehin schon war und ihr Gesicht zeigte, trotz ihrer nicht besonders jungen 35 Sommern, keinerlei Zeichen von Alterung. Ihr Körper war schlank, aber durchaus üppig. Dennoch hatte jeder, der sagte, sie wäre schön und der nicht dafür bezahlt wurde, sie niemals von nahem und von Angesicht zu Angesicht gesehen, denn ihre Augen waren so kalt und ausdruckslos, dass sie ihrem Gesicht, fast alle Schönheit nahmen.
Thomas hörte oft, er sähe ihr ähnlich, doch das bezweifelte er. Bis auf die Farbe ihrer Augen, konnten sich ihre Gesichter kaum deutlicher unterscheiden. Seine Haut war von einem sehr bläulichen Grün und seine Augen waren runder. Sie sagten auch, er wäre schön, doch das mussten sie tun, schließlich war er der Prinz. Er war nicht stolz darauf, schließlich ging es ihm eigentlich ziemlich auf die Nerven, aber er bekam dauernd Komplimente, wurde verwöhnt, weil man hoffte, er würde sie vor seiner Mutter loben. Als ob es seine Mutter etwas darauf geben würde, was er dachte.
Die Einzigen angenehmen Ausnahmen waren Thalat und Arthur. Thalat blieb ihm meistens gleichgültig gegenüber und bewahrte erhabenes Schweigen. Arthur dagegen war manchmal so gnadenlos ehrlich, dass er schon so einiges für sein großes Mundwerk hatte einstecken müssen. Und doch hatte er Thomas schon so einige Male wieder auf den Teppich geholt, nachdem er einen seiner seltenen Höhenflüge hatte.
Nur sehr langsam, wandte er den Blick von ihren Augen und sah sich stattdessen den Raum genauer an. Enttäuscht stellte er fest, dass er ihrem offiziellen Thronsaal sehr ähnelte. Dieselben rotgoldenen Wände, ein großer Thron, zu beiden Seiten des Raumes eine Tür. Dort war er oft gedemütigt worden und zwar vor versammelter Dienerschaft. Natürlich konnten sie nicht mit ihm sprechen, aber manchmal glaubte er Mitleid, manchmal auch Schadenfreude in ihren Blicken zu sehen.
Was sollte er nur tun? Er hatte schon oft daran gedacht, von einem seiner Ausritte einfach nicht mehr wiederzukommen, aber zum Schluss hatte ihm dann doch der Mut gefehlt. Wo sollte er denn auch hin? Wie sollte er überleben? Er war ein guter Reiter und Schwertkämpfer, das war aber auch schon alles, was er konnte. Außerdem hätte er seiner Mutter damit wahrscheinlich in die Hände gespielt. Wen würde es kümmern, wenn er von Räubern niedergeschlagen und verschleppt worden war? Niemand würde diese Geschichte hinterfragen. Nur er wäre endlich weg. Nein, so leicht würde er es ihr nicht machen.
Er erinnerte sich an die Diener vorher, auch sie hatten nichts gesagt. Waren alle Diener hier unten stumm?
Seine Fragen mussten allerdings warten, denn seine Mutter deutete mit ihrem Kopf eine Verbeugung an und Thomas beeilte sich ihr nach zu kommen. Sie bedachte ihn mit einem weiteren abschätzenden Blick und bedeutete ihm und Thalat, der niedergekniet war, sich aufzurichten. Aber irgendwas war in ihren Augen, das Thomas noch nie zuvor gesehen hatte, jedenfalls nicht bei seiner Mutter. Oder täuschte er sich da?
>>Warum sind alle Eure Diener hier stumm, Mutter?<<, er legte alle Verachtung, die er aufbringen konnte, in das letzte Wort; für ihn war sie keine Mutter.
Als Rixa seinen Tonfall hörte, straffte sich etwas in ihrem Gesicht, doch ihr Blick blieb eisig und berechnend.
>>Glaub mir, sie wurden nicht stumm geboren<<, antwortete sie mit einem kurzen und grimmigen Lächeln. >>Wäre doch dumm, wenn sich jemand verplappern würde. Ich habe dieses Labyrinth nicht umsonst bauen lassen. Aber glaube mir, für sie ist es eine Ehre mir zu dienen. Egal ob mit oder ohne Zunge<<. Wieder dieses kalte Lächeln, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Früher wäre ihm das Entsetzen ins Gesicht geschrieben gewesen, doch viele Jahre mit, oder wohl eher ohne seine Mutter hatten ihm gezeigt, wann er seine Gefühle besser für sich behielt. Also schluckte er nur und zwang seiner Stimme einen unbeeindruckten Klang auf.
>>Sie dürfen das Labyrinth nicht verlassen?<<, fragte er fast beiläufig und fügte noch hinzu : >>Eine nicht besonders abwechslungsreiche Ehre, meiner Meinung nach<<.
Ein drückendes Schweigen trat ein und Thomas fragte sich, ob er zu weit gegangen war, ob er jetzt erst recht sterben würde. Seit wann ging er eigentlich davon aus, dass er sterben musste?
Sie durfte so mit ihm reden, aber er war ein Mann und hatte folgsam zu sein. Auch wenn sie allein waren war er sicher, dass er für seinen Ton bezahlen würde, die Frage war nur, ob jetzt gleich oder später.
Ein wenig beklommen sah er ihr wieder in die Augen und erschrak, als er sie gefährlich feucht schimmern sah. Als er jedoch blinzelte, waren sie wieder genauso eisig wie zuvor. Was war heute nur los mit ihm? Rixa war zu keiner Gefühlsregung fähig, da war er sich sicher und doch schien es fast so, als würde sie heute etwas weniger kalt wirken, als noch bei ihrem letzten Treffen.
>>Weshalb habt Ihr nach mir geschickt?<<, fragte er deshalb schnell, denn er war es nicht gewohnt seine Mutter, für ihre Verhältnisse, so emotional zu sehen. Wieder wurde es still und Thomas wunderte sich dumpf, was er denn jetzt schon wieder falsch gemacht hatte. Er hatte zweifellos das Recht zu wissen, wieso sie ihn diesen Horrormarsch hatte gehen lassen.
Rixa öffnete ihren Mund, sah sich um und schloss ihn wieder. Dann winkte sie ihn näher heran, bis sie schließlich nur noch ein Schritt trennte. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er seiner Mutter, das letzte Mal so nah gewesen war.
Sie sprach nun leise:>>Thomas, ich brauche einen Spion<<. Täuschte er sich oder hörte er tatsächlich eine Spur Wärme in ihrer Stimme? >>Du wärst wie geschaffen für diese Aufgabe, ich weiß nur nicht, ob ich das von dir verlangen kann. Wenn du nicht willst, muss ich dich anderweitig in Sicherheit bringen. Es tut mir Leid<<. Er wusste nicht woher dieser Gedanke kam, aber plötzlich wusste er, dass sie sich nicht nur dafür entschuldigte.
>>Spuck es aus, Mutter<<, in seiner Ungeduld sprach er sie plötzlich mit Du an, >>was müsste ich denn tun? Und wozu brauchst du überhaupt einen Spion?<<
>>Nun ja ... <<, sie zögerte und Thomas konnte nicht umhin sie ungläubig anzustarren. Sie verhielt sich so anders als sonst. >> ... Du würdest der Hüterin hinterher reisen. Wir erhielten gerade die Nachricht, dass eine Neue, ihr Erbe antritt. Das heißt sie muss über Land und du kannst ihr folgen!<< Sie sprach nun nachdrücklicher, doch für ihn war das Ganze immer noch unlogisch.
>>Aber ihre erste Station ist doch unser Tal. Wieso können wir nicht warten bis sie kommt und ihr dann folgen?<<, fragte er, gegen seinen Willen neugierig geworden.
>>Ihre Mutter ist gestorben und sie muss erst ein Andenken für sie im geheimen Schrein errichten. Bis sie unser Tal erreicht könnte sie schon tot sein! Zuverlässige Quellen haben mir berichtet, sie zähle erst 16 Sommer, das schafft sie nie!<<, berichtete Rixa. Thomas keuchte. 16 Sommer. Und schon belastet mit einer Aufgabe, die das Schicksal dieser Welt entscheidet. Er würde lieber 10 Sommer in diesem Labyrinth hier herumirren, als in ihrer Haut zu stecken.
>>Und deswegen<<, fuhr Rixa eindringlich fort, >>deswegen, möchte ich, dass du ihr folgst und sie beschützt. Natürlich wollen wir auch das Ei, doch wenn es in Calebs Hände fällt, sind wir erst recht geliefert. Tot nützt sie uns nichts, denn sie hat noch keine Nachkommen. Und bis der Auserwählte geboren wird, egal in welchem Gebiet, brauchen wir eine Hüterin, damit diese Welt nicht im Chaos versinkt.<<
>>Ich würde sie ja gerne beschützen, doch ich kann nicht. Ich bin weder ein großer Kämpfer noch ein ausgebildeter Spion. Und obendrein weiß niemand außer der amtierenden Hüterin, wo sich der Schrein befindet! Wie sollte ich sie also abfangen?<<, fragte Thomas aufgebracht. Das Schicksal dieser neuen Hüterin machte ihm unerklärlicherweise schwer zu schaffen. Er wollte ihr helfen und doch fühlte er sich selbst so hilflos.
>>Und außerdem<<, fügte er hinzu, >>du hörst dich an, als würdest du sie sowieso umbringen. Da mache ich nicht mit! Du kannst sie nicht erst aufbewahren und sie dann töten! Sie hat die ganze Drecksarbeit gemacht und das Ei von Caleb ferngehalten! Dafür soll sie sterben? Sie hat es schwer genug, du bist widerwärtig, Mutter<<. Seine Stimme überschlug sich und es war ihm egal, dass Rixa ihn nun wahrscheinlich für naiv und kindisch hielt. Die Sorge um die Hüterin, dessen Namen er nicht einmal kannte, brachte ihn um den Verstand.
>>Nun,<<, antwortete sie kühl und missbilligend, wegen seines Ausbruchs, >>wenn du nicht gehen willst, muss ich mir eben etwas Anderes überlegen. Du musst hier raus, es ist nicht mehr sicher hier!<<. Und plötzlich waren ihre Augen voller Zärtlichkeit und Angst um ihren einzigen Sohn. Für einen winzigen Moment war Thomas dabei ihr zu vertrauen, ihr zu glauben. Doch dann fiel ihm wieder ein, wem diese Augen gehörten, wer seine Mutter war und er schalt sich selbst, für sein Vertrauen.
Von wegen, sie wollte ihn einfach nur loswerden. Es war Rixa, von der er hier dachte. Wenn er es schon nicht geschafft hatte, vom Pferd zu fallen und sich das Genick zu brechen, musste sie es eben selbst in die Hand nehmen.
Als Rixa den Wandel in seinen Zügen sah wurde sie ungeduldig. >>Du musst hier raus! Es ist nicht sicher!<<, sagte sie leise und betonte jedes Wort, als wäre er nicht ganz dicht.
Thomas wusste nicht, was er tun sollte. Er hielt ihre Aussage, das Schloss sei nicht mehr sicher, für eine schamlose Lüge, aber trotzdem hatte er nur drei Möglichkeiten. Er könnte als Spion gehen, sein Ansehen wahren und sich in Lebensgefahr bringen. Annehmbar.
Er könnte in der Nacht fliehen, als vermisst gelten und seiner Mutter in die Hände spielen, indem sie ihn einfach von ihm aus los wurde. Nie im Leben.
Oder er wartete, bis sie sich etwas Neues und wahrscheinlich Schlimmeres einfallen ließ. Nicht sehr erbauend.
Drei Möglichkeiten und eine schlimmer als die Andere. Was sollte er nur tun? Naja, es gab eine weiter, die jedoch mehr als unmöglich war. Er könnte seiner Mutter glauben, dass sie ihn nur in Sicherheit wissen wollte, eine Erklärung verlangen und dann entscheiden. Vermutlich seine einzige Chance.
>>Okay<<, seufzte er. >>Erklär mir, was hier los ist und ich denke darüber nach<<.
>>Ich hab doch gesagt ich kann nicht!<<, erklärte sie ungeduldig, >>du wirst mir vertrauen müssen<<. Thomas schnaubte. Rixa war nicht gerade vertrauenerweckend.
Plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf. >>Natürlich<<, murmelte sie und ihr Sohn hatte wieder einmal das Gefühl, nichts zu verstehen.
>>Wärst du so freundlich, mir deinen Geistesblitz auch mitzuteilen?<<, fragte er ungehalten<<.
>>Wen möchtest du mitnehmen?<<, antwortete sie mit einer Gegenfrage und brachte ihn damit völlig aus dem Konzept.
>>Jemanden mitnehmen?<<, fragte er völlig ungehalten, >>ich weiß noch gar nicht ob ich überhaupt gehe!<<.
Wieder lehnte sie sich vor, als ob sie ihr Gespräch vor fremden Ohren schützen wollte und erklärte : >>Geh zu Martin, ich gehe davon aus, du möchtest Arthur mitnehmen. Frag Martin was los ist, er weiß Bescheid. Und wenn du dann gehen willst - und ich bitte dich es zu tun - kannst du Arthur und noch jemanden deiner Wahl mitnehmen. Ihr dürft nicht zu auffällig sein. Es steht dir frei Leute aus meinen Truppen zu wählen<<.
Nach diesen Worten neigte sie ihren Kopf, die Tür, aus der sie bereits gekommen waren, öffnete sich und es war klar, dass sie entlassen waren. Ergeben neigte auch er seinen Kopf und wandte sich um. Und konnte einen kleinen Seufzer nicht vermeiden. Schon wieder durch dieses Labyrinth. Nun ja, je schneller er es hinter sich hatte, desto schneller könnte er zu Arthur und seinem Vater. Das würde ein interessanter Besuch werden.
Marla wusste nicht wieso sie sich überhaupt umgedreht hatte. Sie hätte diese Stimme überall erkannt und sich gefreut, nur in genau diesem Augenblick wünschte sie, er wäre nicht gekommen.
Vor ihr stand Nico mit einem überlegen Grinsen im Gesicht und das Einzige, das Marla in seinen Augen lesen konnte, war pure Begeisterung. Sie blieb still und je länger das Schweigen anhielt, desto unsicherer wurde sein Grinsen.
>>Nun ja, ich wollte - <<, begann er schließlich, bis Marla ihn unterbrach. >>Nein<<, sagte sie emotionslos. >>Niemals werde ich dich dieser Gefahr aussetzen, Nico<<.
>>Und wieso nicht? Das ist so unfair. Immer hast du allen Spaß und ich darf mich langweilen. Wieso darf ich nicht mitkommen. Du brauchst jemanden. Bitte, lass mich dieser jemand sein<<, sagte er verzweifelt.
>>Spaß?! Meinst du es war Spaß, dass wir immer umziehen mussten, dass wir die ganze Zeit Angst hatten, getötet zu werden? Denkst du, es war Spaß, dass meine Mutter und deine Eltern gestorben sind? Hältst du das alles für ein bedeutungsloses Spiel?<<, schrie Marla außer sich. Wie konnte er nur so etwas denken? Sie wusste, dass er schmollte, weil sie ihn nicht mitnehmen wollte, aber so etwas zu sagen, hätte sie ihm nicht zugetraut.
>>Na ... Natürlich war das kein Spaß! Du willst mich wohl unbedingt falsch verstehen. Lass mich mitkommen Marla, ich werde dich mit meinem Leben beschützen!<<, er flehte nun, wollte, dass sie ihm in die Augen sah, doch sie wich seinen Blicken aus.
>>Aber genau deswegen sollst du hier bleiben! Ich werde dich nicht in Gefahr bringen!<<, versuchte sie zu erklären.
>>Ich kann schon auf mich aufpassen<<, murrte Nico weiter. >>Du hast doch keine Ahnung<<, sagte sie resignierend. >>Ich werde dich nicht mitnehmen. Ich werde nicht weiter mit dir streiten<<.
>>Nein, du bist die, die keine Ahnung hat. Du willst allen Ruhm für dich! Das ist so egoistisch von dir!<<, jetzt schrie er und Marla wurde wütend.
>>Ich möchte Ruhm?! Was glaubst du, wie gerne ich in irgendeinem kleinen Dorf ein ruhiges und langweiliges Leben leben könnte, aber ich kann nicht! Und warum nicht? Weil irgendjemand von früher unbedingt dieses blöde Ei mitnehmen musste. Wieso ist Mama nicht hier? Sie wüsste wie ich mich gerade fühle. Ihr versteht mich ja eh nicht!<<. Sie wurde immer leiser und sprach mehr zu sich selbst.
>>Pah, Alissa, als ob du sie - <<, rief Nico aus-
>>Nico! Pass auf, was du - <<, Farren wollte ihn aufhalten, doch er schaffte es nicht.
>> - als ob du sie wirklich vermissen würdest! Du hast doch nur darauf gewartet, dass sie draufgeht, damit du ihren Platz einnehmen kannst!<<.
Klatsch. Marla hatte weit ausgeholt und ihm mitten ins Gesicht geschlagen. Irgendwie schien das Nico aus seiner Wut herausgeholt zu haben. Auf seinem Gesicht konnte man deutlich erkennen, dass er gerade er st bemerkte, was er da gesagt hatte.
Die Sonne ging gerade unter und das rötliche Licht, das durch den Eingang schien, tauchte Marlas Gesicht in Schatten. Nervös trat Nico von einem Bein auf das Andere, bis er das Schweigen nicht mehr aushielt.
>>Marla, bitte, ich habe das nicht - ich war nicht - <<.
>>Lass gut sein, Nico. Es ist gut zu wissen, wie du über mich denkst<<. Ihre Stimme klang ungewöhnlich kalt und das warme Licht schien fehl am Platz.
>>Nein! Marla! So - <<, verzweifelt versuchte er zu retten, was nicht mehr zu retten war.
>>Geh! Verlasse. Mein. Haus. Das ist mein letztes Wort<<, sie klang beherrscht, unnatürlich gepresst, als würde sie nur mühsam ihre Wut unterdrücken. Nur Nico wusste, dass sie ihre Tränen unterdrückte. Er hatte nie gewollte, sie zu verletzen.
>>Sofort!<<, schrie sie. Ihre Schultern bebten und immer wieder fielen Tränen vor ihr auf den Boden. Nico hatte keine Wahl. Sie brauchte jetzt Ruhe und Zeit für sich. Jedenfalls zeigte Farren ihm auch er solle gehen.
Nico seufzte, wandte sich um und ging auf das Loch in der Decke zu.
>>Es tut mir Leid. Wirklich. Pass auf dich auf<<, sagte er, bevor er sprang und zwischen den Bäumen verschwand.
Diesmal brauchte Marla nicht so lange um sich wieder zu beruhigen. Sie war erschöpft von den Ereignissen des Tages und der unruhigen letzten Nacht. Am liebsten hätte sie geschlafen, einen traumlosen Schlaf, ohne Verantwortung, ohne Feinde, ohne die Erinnerungen an ihre Mutter, Farren und Nico. Sie wollte schlafen und nie wieder aufwachen.
>>Schlaf noch ein wenig. Die Sonne geht gerade erst unter und du solltest nicht bei Tageslicht reisen. Ich werde früh genug wiederkommen und dich wecken. Vielleicht ... Vielleicht bringe ich auch Nico mit. Er wird sich bestimmt noch einmal verabschieden wollen<<, fügte Farren noch hinzu, wobei auch er ziemlich durcheinander schien, immerhin hatten Nico und Marla noch nie gestritten. Was war nur in ihn gefahren?
>>Er macht sich nur Sorgen um dich, er denkt, er würde dich verlieren<<, versuchte er zu erklären, doch er sah sofort an ihrem starren Gesichtsausdruck, das sie nichts mehr hören wollte.
>>Na gut, dann ... bis nachher. Ruh dich aus und ... <<, auch Farren wusste nicht mehr, was er sagen sollte und verschwand schließlich aus.
Nun war sie wieder allein und obwohl sie gedacht hatte, sie würde kein Auge zutun, fiel sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf, sobald ihr Kopf das Kissen berührte.
3. Kapitel
Als Marla die Augen wieder aufschlag, sah sie im ersten Moment nur grün. Grünes Licht, grüner Boden, grüne Decke. Verwirrt setzte sie sich auf. Was sollte das? Der Boden in ihrem Baum war nicht grün, ebenso wenig wie die Decke und Licht gab es kaum welches. Wo zum Teufel war sie hier nur?
Merkwürdigerweise kam ihr dieser Ort bekannt vor, doch sie befand sich nicht in dem ihr geläufigen Teil des Ewigwaldes. Sie war sich nicht einmal sicher, ob dies hier überhaupt noch der Ewigwald war.
Plötzlich sah sie eine kleine Gestalt vorbeihuschen und hörte Stimmen, die immer lauter wurden.
>>Schneller, du elender Hund! Du hast ihn doch gehört, wenn sie uns mit dem Stein entwischt, sind wir dran!<<, hörte sie eine derbe Männerstimme sagen.
Erschrocken stieß Marla den Atem aus, von dem sie gar nicht mitbekommen hatte, dass sie ihn angehalten hatte. Sie war schon einmal hier gewesen. In einem anderen Traum. Einem Traum, den sie so gern vergessen würde.
Als sie laute Schritte hinter sich hörte, duckte sie sich schnell hinter ein Gebüsch, obwohl sie nicht sicher war, ob jemand sie sehen würde. Alles war so irreal. Würde sich die Vergangenheit ändern, wenn sie eingreifen würde? Ihr war klar, dass es ein Traum war, doch die Folgen des Ganzen waren ihr noch unklar. Wenn Marla ehrlich war, jubelte ein kleiner Teil von ihr über diese Chance. Sie hatte eine Hoffnung, die sie an den äußersten Rand ihrer Gedanken geschoben hatte, die sie sich nicht wirklich eingestanden hatte, weil sie Angst hatte, enttäuscht zu werden. Sie glaubte, nein hoffte, dass ihre Mutter noch lebte. Trotz all ihrer Differenzen, hoffte Marla, dass sie irgendetwas gespürt hätte, wenn ihre Mutter wirklich gestorben wäre. Vielleicht lebte Alissa noch und ihre Tochter hatte jetzt die Chance, das herauszufinden.
Als die beiden Verfolger, direkt vor ihrem Versteck entlang hasteten, zog Marla die Nase kraus. An diesen penetranten Geruch von Federn und Stroh würde sie sich nie gewöhnen.
Sobald die beiden Falkner ein wenig Vorsprung hatten, sprang Marla auf und folgte ihnen. Erst da bemerkte sie, dass sie keine Beine hatte; sie schwebte mehr oder weniger über dem Boden. Damit wäre wohl auch geklärt, ob man sie sehen könnte. Sie schien ein zum untätigen Zuschauen verdammter Geist zu sein. Verdammt, was machte sie hier?
Die Falkner waren doch tatsächlich so langsam, dass sie die Beiden innerhalb weniger Minuten wieder eingeholt hatte. Und so etwas nannte sich Verfolger.
Nachdem der mit der helleren Federfarbe, dem Anderen seinen Flügel zum dritten Mal ins Gesicht gestoßen hatte, flippte er aus.
>>Autsch! Pass doch auf, wo du deine Flügel hinstreckst, du bringst mich noch um!<<, rief er empört.
>>Pah, wenn wir uns nicht beeilen, erledigt Caleb das für mich!<<, stellte der Andere kalt fest. Marla und warscheinlich alle, die seine Worte gehört hatten, schauderten. Caleb. Nur wegen seiner Kaltherzigkeit war ihre Mutter tot oder schwer verletzt.
Und kaum 20 Schritte später kam auch schon Alissas erwarteter Schrei. >>Aahh! Verdammt!<<. Auch Marla zuckte zusammen. Und die Kerle hinter ihr lachten sich ins Flügelchen.
Sie waren eine seltsame Karawane und hätte irgendjemand ihnen zugeschaut und nichts von der ernsten Lage in der sie alle steckten gewusst, er hätte sich vor Lachen auf dem Boden gewälzt. Vorne weg die gehetzte und schwer atmende Alissa, dahinter die beiden keifenden Falkner und ganz hinten die schwebende, durchsichtige Marla.
Langsam beschlichen Marla leise Zweifel. Wollte sie wirklich wissen, ob ihre Mutter tot war? Oder wollte sie weiter hoffen, dass ihre Mutter noch lebte? Marla beschloss das Risiko einzugehen. Entweder Alissa war tot oder eben nicht. Tatsache war, dass sie die Wahrheit kennen musste, egal wie weh es tat. Nichts war schmerzhafter als die Wahrheit.
Also folgte sie den Falknern immer weiter und kam der Lichtung immer näher. Einer der Falkner stieß nun eine Reihe von schrillen Schreien aus, die auf dem Berg der Schatten als Militärkommandos galten. Vermutlich gab er seinen Kumpanen Bescheid, dass das Kaninchen geradewegs in das Schlangenmaul hinein lief. Wie hatte Alissa nur in so eine Falle tappen können?
Der Wald um sie herum wurde lichter und nur ein wenig vor ihr, konnte Marla Alissas Rücken ausmachen. Sie humpelte und wurde zunehmend langsamer. Marla hätte ihr so gern unter die Arme gegriffen, doch sie hatte bereits vorher bemerkt, dass sie scheinbar ohne Körper unterwegs war. Durch einige Bäume war sie problemlos hindurchgelaufen.
Sie waren nur noch ein paar Fuß von Alissa entfernt, als Marlas Mutter schließlich auf die Lichtung stolperte. Marla selbst reihte sich sofort, gemeinsam mit ihren beiden Verfolgern in die Reihe der Falkner ein, die rund um die Lichtung alle Fluchtwege versperrten. Alissas Gesicht nach zu urteilen, stieg ihr auch gerade der Geruch der Falkner in die Nase.
Als sie sah, wie ihre Mutter langsam eingekesselt wurde, wurde Marla panisch. Sie musste ihrer Mutter helfen. Sie musste einfach! Sie konnte Alissa doch nicht schon wieder sterben lassen.
Marla beugte sich zu einem der Falkner neben ihr hinunter und brüllte ihm ins Ohr : >>Da! Schau mal, eine Chimära! Hey! Sieh doch! Sie greift uns an! Hey! Bitte!<<. Marla schluchzte. Niemand konnte sie sehen oder hören. Das war noch viel schlimmer, als in ihrem Schicksalstraum. Nichts tun zu können und untätig zusehen zu müssen, riss die Wunde in ihrem Herzen noch weiter auf.
Die nächsten Minuten verfolgte Marla wie in Zeitlupe. Sie sah den ergebenen Ausdruck auf Alissas Gesicht und wie sie sich resigniert in die Luft schwang. Sie sah, wie sie nach unten blickte und sich ihr konzentrierter Gesichtsausdruck ein wenig entspannte, als sie den Tumult auf der Lichtung bemerkte. Und schließlich sah sie wie aus den Bäumen eine weite Reihe von Falknern aufstieg, Alissa in Sekundenschnelle einholte und wie Alissa das Ei in den See warf. Marla war unglaublich stolz, denn ihre Mutter hatte nicht aufgegeben und selbst, als alles verloren schien, hatte sie noch einen Weg gefunden, das Ei zu beschützen.
>>Mama<<, flüsterte Marla, als sie sah, wie ein Falkner immer tiefer sank und seine Klauen schließlich in ihren Rücken grub.
Der Anblick zerriss ihr das Herz und es schien fast, als spürte Marla den Schmerz, den Alissa nicht mehr fühlte, da sie bereits ohnmächtig geworden war. Die ältere Hüterin fiel vom Himmel wie ein Stein, aber Marla konnte ihre Augen nicht von ihrer Mutter abwenden.
Ein großer, muskulöser Falkner fing Alissa auf, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Er schien einer der Truppenführer zu sein, denn seine Kopffedern waren ausgeprägter und von einer kräftigeren Farbe, als die der übrigen Falkner. Das war das Wenige, das sie aus dem Unterricht von Farren behalten hatte.
>>Ihr da!<<, blaffte er auch sofort zwei junge und zitternde Soldaten an. Vor Schreck ließ der Eine seinen Helm fallen, während der Andere ihm einen schmerzhaften Streifer mit seine Flügel verpasste, in dem Versuch möglichst schnell zu salutieren. Sehr kompetent.
>>Ihr taucht in den See und sucht das Ei! Betet, dass ihr es findet!<<, sagte er grimmig. >>Und ihr! Bringt die Sanitäter! Und hofft, dass sie nicht stirbt, weil ihr zu langsam seid!<<.
Was? Hatte sie richtig gehört? Alissa sollte gar nicht sterben? Im Moment sah es gut aus, denn Marla konnte sehen wie sich ihre Brust hob und senkte. Sie zwar flach und unregelmäßig; aber sie atmete.
Plötzlich teilte sich das Meer von Falknern und durch die Gasse schritt auch schon Caleb selbst. Jedenfalls vermutete Marla das, denn wenn sie ehrlich war, hatte sie ihn schon ewig nicht mehr gesehen.
Sein Gefieder war schwarz. Pechschwarz. Genau wie seine Augen. Nur seine Füße waren weiß. Gerüchten zufolge lag das daran, dass der Boden seiner privaten Räume aus Knochen bestand und der Staub nicht mehr von seinen Füßen abging. Allein bei der Vorstellung graute es Marla.
>>Wieso ist sie verletzt? Hatte ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Ich will sie lebend!<<, rief er außer sich, sobald er Alissa sah. Seine Stimme schien wütend und da war noch etwas anderes. Etwas was so gar nicht zu seinem Ruf passen wollte.
In Marlas Kopf drehte sich alles, während die beiden Sanitäter Alissa flüchtig untersuchten.
>>Eine gebrochene Rippe und auch ihr Knöchel sieht schlimm aus<<, gab einer der beiden bekannt.
>>Sie scheit in sich erst gebrochen und dann mehr schlecht als recht geheilt zu haben. Dummes Mädchen. Sie sollte das in Zukunft lieber lassen<<, stimmte der Andere zu.
“Vermutlich keine inneren Blutungen, aber ihre Magiereserven sind aufgebraucht. Sie wird erst mal nicht wieder aufwachen<<, fuhr der erste Falkner fort.
>>Wie sieht ihr Rücken aus?<<, fragte der Falkner, der Alissa attackiert hatte, vorsichtig.
>>Nun<<, sagte der Sanitäter, als er die Verletzte langsam auf den Bauch drehte, >>du hättest ruhig etwas sanfter sein können! Das wird schrecklich dicke Narben geben und sich vermutlich entzünden, wenn wir die Wunden nicht schnellstmöglichst säubern. Wir müssen hier weg!<<. Seine letzten Worte waren direkt an den Leitfalkner gerichtet.
>>Sobald wir das Ei haben<<, sagte dieser zustimmend. >>Ich vermute zwar nicht, dass es noch hier ist, aber es ist einen Versuch wert<<.
Genau in diesem Moment kamen die beiden Anfänger wieder. Sie waren bis unter die Federn durchnässt und atmeten flach.
>>Keine Spur von dem Stein, Meister<<, rief einer der beiden und stolperte, als er versuchte sich im Lauf zu verbeugen, während sein Kamerad nur dümmlich nickte.
>>Dacht’ ich’s mir doch!<<, murmelte Caleb leise und Marla war sich nicht sicher, ob ihn außer ihr jemand verstanden hatte.
Der Leitfalkner selbst schien nicht überrascht oder gar enttäuscht zu sein, aber in den Reihen der Soldaten erhob sich frustriertes Gemurmel. Wieder einmal war ihnen das Ei entwischt.
>>Hört zu, Männer!<<, rief Caleb und augenblicklich verstummten seine Gefolgsleute. >>Wir mögen das Ei wieder nicht bekommen haben, aber wir haben die Hüterin! Ist das nichts, Männer? Und nun kehren wir zurück, denn ich weiß, wie sehr ihr euch nach eurem Heim sehnt. Bald schon, wird das Ei des letzten Wasseradlers uns gehören!<<.
Und als Caleb sich mit den beiden Sanitätern und Alissa in die Luft erhob, spürte Marla wie sie immer wacher wurde und ihr Traum verblasste. Sie hatte ihre Antwort bekommen, aber zu sagen, dass sie jetzt weniger verwirrt wäre, wäre eine Lüge gewesen.
Erschöpft klopfte Thomas an die schwere Holztür. Erst als er sah, wie im kleinen Flur das Licht anging, merkte er wie spät es bereits war und, dass vermutlich schon alle schliefen.
Als die Tür geöffnet wurde, musste der Prinz erst einmal blinzeln, da das Licht im Flur so hell war und der Himmel über ihm so dunkel.
>>Welcher elende Hund wagt es so spät noch - oh?<<. Auch Martin musste erst einmal blinzeln, bevor er erkannte, wer ihn aus dem Bett gejagt hatte.
>>Thomas? Was machst du denn hier? So spät noch ... Ich will nicht, dass du Ärger bekommst. Komm besser morgen wieder<<, sagte Martin, plötzlich hellwach.
>>Ich muss mit dir reden. Sofort. Rixa hat es mir befohlen<<, sagte Thomas bestimmt. Auf den groben Gesichtszügen des Schmieds ließ sich ein Lächeln erahnen.
>>Die alte Hexe hat sich also endlich ein Herz gefasst, was? Hat ja lange genug gedauert ...<<, murmelte Martin. >>Na gut, dann komm mal rein, Thomas, ich mache solange Tee<<. Und weg war er.
Schnell trat Thomas ein und schloss die Tür hinter sich. Verdammt, war er hungrig. Bestimmt hatten Martin und Arthur noch etwas essbares für ihn da.
Auch die Beine taten ihm schrecklich weh. Zum hundertsten Mal am heutigen Tag verfluchte er Rixa und ihren Verfolgungswahn. Er war den gesamten Morgen durch ihr Labyrinth gewandert, hatte sich dann rätselhafte Dinge aus dem Mund einer seltsam emotionalen Herrscherin angehört und war den gesamten Nachmittag wieder zurückgewandert. Aber nein, Thomas war danach keineswegs fertig. Er hatte noch nichts gegessen, getrunken und nur für eine geschätzte Stunde die Füße hochgelegt. Und weiter ging es : Einmal durch die Stadt, den kleinen Hügel hoch und zu Martins Schmiede. Thomas betete, dass Martin noch etwas zu Essen hatte.
Aus der Küche konnte Thomas bereits den Algentee riechen, der er persönlich verabscheute, ihn aber Martin zuliebe trank. Er ging in die Küche und setzte sich auf einen der vielen bunt zusammengewürfelten Stühle. Martin lehnte am Herd und beobachtete wie das Wasser zu kochen begann. Insgesamt war die Küche sehr einfach und trotzdem gemütlich. Die Wände waren bunt gestrichen und es war nicht penibel aufgeräumt. Trotz allem würde man nie auf die Idee kommen, dass in der Schmiede nur zwei Männer zusammenlebten. Thomas fühlte sich immer sehr wohl bei Martin und sah ihn mittlerweile als Vater ab.
Der Prinz wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als eine der beiden ramponierten Türen aufschwang und ein sehr verschlafener Arthur im Türrahmen lehnte.
>>Hey, Mann, meinst du nicht, es ist ein bisschen früh um die Mädchen beim Baden zu beobachten?<<, murmelte er. Sein Grinsen war schwach aber präsent.
Bevor Thomas etwas erwidern konnte, hatte Martin den Kessel bereits vom Herd genommen und vor Thomas auf den Tisch gestellt.
>>Setz dich, Arthur, es gibt Algentee<<, sagte Martin ruhig. Thomas und Arthur tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Das klang gar nicht nach Martin.
Wortlos setzte sich Arthur neben Thomas und Martin stellte beiden eine Tasse hin. Thomas schluckte schwer. Als Martin das letzte Mal so drauf gewesen war, hatten Arthur und Thomas das Holzlager der Schmiede angezündet. Nicht gut.
>>Ich komme besser gleich zur Sache<<, begann Martin geschäftsmäßig. >>Du willst also wissen, wieso Rixa dich unbedingt aus dem Schloss schaffen will?<<.
Als Marla die Augen öffnete, sah sie sofort was sie aufgeweckt hatte. Farren war zurückgekehrt und hatte begonnen, die Sachen im gesamten Versteck zusammenzupacken. Obwohl sie wusste, dass Farren sie hatte aufwecken müssen, war Marla ein wenig ungehalten. Wieso nur, hatte er ihren Traum gestört? Sie hätte sehen können, wo ihre Mutter jetzt war!
>>Oh, die Schlafmütze ist auch mal wach<<, sagte Farren und lächelte gütig.
>>Du hast deine Sachen doch schon gepackt, oder? Ich kann das Versteck mit den ganzen Sachen nicht unbeaufsichtigt lassen, darum muss ich es zwischenlagern<<, erklärte er.
>>Meine Mutter ist nicht tot, Farren!<<, platzte es plötzlich aus Marla heraus. Schnell schlug sie sich die Hand vor den Mund. Was war denn bloß mit ihr los?
Klirrend fiel der Gürtel, den Farren gerade in der Hand gehalten hatte, auf den Boden.
>>Was? Woher ... Wieso ... Ich dachte ...<<, rief er verwirrt.
Fast hätte Marla gelacht, aber dafür war die Situation ein wenig zu ernst.
>>Ich hatte wieder einen Traum, nein, eher eine Vision. Mein Schicksalstraum, ich habe ihn noch einmal durchlebt und ich habe das Ende gesehen. Mama lebt! Sie wurde nur von Caleb gefangen genommen!<<, versuchte sie ihre Erlebnisse zu erklären.
Farren schien sich wieder gefasst zu haben, denn sein Mund war wieder zu und er hörte Marla aufmerksam zu.
>>Darum muss ich auch nicht zum geheimen Schrein! Ich muss so schnell wie möglich zum Berg der Schatten!<<, rief sie aufgeregt.
>>Jetzt mal langsam mit den jungen Pferden, Marla. Du sagst, du hattest schon wieder einen Traum, der dir etwas offenbart hat? Wer sagt uns, dass deine Träume nicht manipuliert werden? Das wäre fatal und glaub mir, Caleb hat genug Traumfresser in seinem Gefolge, um sich Zugang zu deinen Gedanken zu verschaffen. Hast du in deinem Wunsch die Heldin zu spielen schon einmal daran gedacht?<<, rief Farren.
>>Ich ... Ich, also ...<<, stotterte Marla. Sie hatte sich noch nie so dumm gefühlt! Sie hatte einfach, ohne länger darüber nachzudenken, angenommen, dass ihre Träume real waren, dass es nicht nur simple Bilder waren, die ihr Verstand für sie entwarf. Marla war fast blindlings in eine Falle getappt!
>>Ja, das dachte ich mir<<, sagte der alte Mann und lachte. >>Aber keine Bange, das finden wir ganz schnell heraus. Erzähl mir mehr über den Traum!<<.
>>Ich weiß wirklich nicht, was du hören willst!<<, sagte Marla bedrückt. Sie war sich so sicher gewesen, ihre Mutter noch retten zu können.
>>Sag mir, aus welcher Perspektive du die Geschehnisse beobachtet hast<<, antwortete Farren verständnisvoll.
>>Ich ... Ich war selbst da, aber eigentlich auch nicht<<, versuchte Marla zu beschreiben, was sie erlebt hatte. Als nur verständnislos schaute, beeilte sie sich weiter zu sprechen. >>Also in meinem Schicksalstraum, habe ich nicht eigenständig gedacht, ich habe nur teilnahmslos von außen zugeschaut! Diesmal war ich da, war im Geschehen und wusste, dass ich Marla war. Aber niemand konnte mich sehen oder hören, als wäre ich ein Geist. Ich konnte Mama schon wieder nicht retten ... Ich habe es versucht, aber ... Ich ... Ich konnte auch nichts berühren ...<<.
Marla schluchzte und sah auf den Boden. Sie hatte sich so nutzlos gefühlt, weil sie schon wieder nichts hatte tun können. Farren gab ihr einige Minuten Zeit, bis er betont fröhlich feststellte : >>Das sagt uns zumindest, dass deine Träume nicht manipuliert werden<<.
>>Nicht?<<, fragte Marla überrascht.
>>Nein. Kein noch so begabter Traumfresser hat die Macht, dein gesamtes Bewusstsein zu projizieren. Verstehst du? Die Gedanken eines Menschen sind so komplex, dass man sie nicht nachahmen kann! Die Tatsache, dass du selbst im Traum warst, beweist uns, dass du Recht hast. Aber es macht mir trotzdem Sorgen<<.
>>Wieso das denn? Es ist doch ... Praktisch<<, sagte Marla.
>>Zwei Träume, innerhalb von zwei Nächten, die dir etwas Wichtiges offenbaren? Ist das nicht etwas merkwürdig?<<, fragte Farren.
>>Ja, schon, aber -<<, begann Marla, aber sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, da sie rücklings auf ihr Bett fiel. Vor ihren Augen drehte sich alles und am liebsten wäre sie wieder eingeschlafen. Mühsam setzte sie sich wieder auf und stöhnte : >>Oh, mann, mir ist so was von schwindlig!<<. Farren musste lachen. >>Ja, das wäre mein zweites Argument gewesen. So kann es ja nicht weitergehen, du siehst aus wie der Tod auf Beinen! Deine Träume oder Visionen oder wie auch immer man sie nennen will, scheinen dir nicht viel Erholung zu gönnen. Wir müssen etwas dagegen unternehmen, immerhin ist es nicht so, als würdest du nur eine kleine Wanderung machen!<<.
Marla konnte nur müde nicken. So konnte es wirklich nicht weitergehen!
>>Ich schlage also vor, dass du dich noch einmal zusammenreißt, dich fertigwachst und wir uns heute Mittag auf der Lichtung treffen. Es tut mir Leid, aber wir können deine Abreise nicht noch länger aufschieben. Ich werde dir etwas mitbringen, das dich wach hält und dir auch sagen, was wir wegen deinen Träumen tun werden!<<.
>>Wa ... Wa ... Was?<<, stotterte Arthur. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war es ihm noch ein bisschen zu früh für so etwas. Martin rollte mit den Augen.
>>Hör einfach zu, wir haben nicht genug Zeit es zu erklären, bis du es auch verstehst<<. Arthur schmollte und wollte gerade etwas erwidern, als Thomas ihm auf den Arm schlug.
>>Hör einfach zu<<, wiederholte er forsch.
>>Wir haben nicht genug Zeit<<, fuhr Martin fort,>>weil ihr vor dem Morgengrauen fort sein müsst!<<.
>>Fort?<<, stieß Arthur hervor, >>Wann? Wieso? Ach egal, ich komm einfach mit!<<. Thomas der ihm gerade einen Rippenstoß versetzen wollte um ihn verstummen zu lassen, warf ihm stattdessen einen dankbaren Blick zu. Seine ungewisse Zukunft sah jetzt schon viel rosiger aus. Arthur und er würden das schon schaffen.
Martin nickte. >>So hatte ich mir das gedacht. Aber glaubt mir, dass wird kein Ferientrip. Eure Aufgabe ist es die Hüterin - also eigentlich das Ei - zu beschützen. Sowohl vor Falknern, als auch vor Nymphen<<.
Thomas war geschockt. >>Wir ... Wir sollen Landsleute angreifen?<<, fragte er.
>>Die Nymphen, die Alissa angreifen sind keine Landsleute!<<, polterte Martin.
>>Ich glaube Alissa ist nicht mehr Hüterin, woher auch immer du ihren Namen kennst. Sie ist tot. Jedenfalls hat das Rixa gesagt<<, murmelte Thomas.
Martin seufzte. >>Arme Marla. Sie ist erst 16 ...<<.
Thomas unterbrach ihn : >>Und wieso sollen wir sie beschützen?<<.
Martin zuckte mit den Schultern. >>Anordnung von Rixa und die wurde von Caleb darum gebeten<<.
Wenn Thomas gerade noch geschockt gewesen war, verstand er jetzt die Welt nicht mehr.
>>Wie - wieso hört Rixa auf Caleb?<<, brachte er gerade noch hervor.
>>Sie mögen verfeindet sein, aber ein gemeinsamer Gegner hat sie vereint<<. Martin lächelte verschmitzt.
Jetzt mischte sich auch Arthur ein, da Thomas zu keiner Regung mehr fähig zu sein schien.
>>Welcher Feind? Wer sollte so bedrohlich sein, dass sie sich gezwungen sehen, Frieden zu schließen?<<.
>>Und genau da liegt das Problem<<, sagte Martin düster. >>Wusstest du, dass du einen Onkel väterlicherseits hast?<<, fragte er an Thomas gewandt.
>>Nein<<, antwortete dieser überrascht.
>>Das ist auch kein Wunder. Er hielt sich bis vor 12 Jahren im Hintergrund und obwohl seine Familie in Reichtum und Ansehen nur der Königsfamilie nachsteht, nahm Horaz nie am gesellschaftlichen Leben teil. Als sein Bruder - dein Vater - jedoch verstarb, wurde er als Nachfolger in die Gesellschaft eingeliefert. Drei Tage später wurden seine Eltern ermodert. Rixa hatte ihre Schwiegereltern sehr gemocht und veranlasste die Vertuschung der Tat, um ihren Sohn nicht noch weiter zu belasten. Sie dachte, das wäre im Sinne der Verstorbenen gewesen<<. Martin lachte bitter.
>>Fünf Jahre später, bereute sie es. Dein Onkel war nun vermögend und hoch angesehen; er scharrte Männer um sich und infiltrierte den Palast. Mittlerweile werden mehr als die Hälfte aller “Diener” von Horaz gelenkt. Sie ist von Verrätern umgeben und in einem Labyrinth, aus dem sie den Weg heraus nicht kennt, eingesperrt<<. In Martins Augen trat ein Ausdruck von Bewunderung. >>Trotz allem hat sie weiter gekämpft. Sie schickte einige ihrer loyalsten Männer und bat Caleb um Hilfe. Sie verbündeten sich, mussten aber nach außen hin den Schein wahren, damit Horan kein Verdacht schöpfte<<.
Martin nahm einen Schluck von seinem Tee und Thomas und Arthur hingen an seinen Lippen. Das Bild von Rixa, das in Thomas Kopf existierte, verschwamm langsam und begann neue Gestalt anzunehmen. Vielleicht hatte er sich doch nicht geirrt, vielleicht hasste sie ihn doch nicht so, wie es immer den Anschein hatte. Thomas wagte zu hoffen und doch hatte er Angst sich zu irren.
>>Das alles klappte<<, fuhr Martin fort, >>bis Horaz Rixa einen Befehl erteilte, den sie nicht befolgen konnte, weil ihr Gewissen es nicht zuließ. Sie sollte ihn heiraten und ihm dann alle Macht übertragen. Da sie sich weigerte, suchte er nach einem Weg sie zu erpressen<<.
Martins Blick, der immer wieder abgeschweift war, landete nun auf Thomas.
>>Und da kommst du ins Spiel. Rixa hatte dich vorsorglich in möglichst weiter Distanz von ihr platziert. Sie wollte, dass Horaz dich vergaß und sich voll auf seinen Traum von der Herrschaft konzentrierte. Obwohl sie deine Mutter war, befasste sie sich kaum mit dir und hielt dich aus allem raus. Jemand der Rixa nicht kennt, würde auf den Gedanken kommen, sie würde dich hassen<<.
Thomas musste schlucken. Plötzliche Schuldgefühle überkamen ihn, denn genau das hatte er geglaubt. Er kannte seine Mutter nicht, hatte sie niemals kennen gelernt. Er hatte nichts von dem geahnt, was sich hinter verschlossenen Türen abspielte und hochmütig über sie geurteilt. Seine Opferrolle hatte ihm gefallen, er hatte sie niemals hinterfragt. Plötzlich kam er sich unglaublich dumm vor.
>>Du kannst nichts dafür, Thomas<<, sagte Martin sanft. >>Du konntest nichts tun, du bist nur ein Kind. Sie wollte nicht, dass du sie kennst, weil sie Angst davor hatte von dir verachtet zu werden, weil sie nicht stärker war. An deiner Stelle, hätte jeder so gedacht, wie du<<. Thomas wusste nicht, woher Martin das alles wusste, aber seine aufgewühlten Gedanken saugten jeden Trost auf, wie ein Schwamm.
>>Komm schon, Paps, erzähl weiter. Um Thomas Seelenheil können wir uns später noch kümmern<<, murrte Arthur.
Thomas musste lachen. Arthur blieb Arthur, egal was für Abgründe sich in ihrem System auftaten.
>>Schon gut<<, auch Martin musste lächeln,>>wo war ich? Ach ja, sie weigerte sich, ihn zu heiraten. Rixa tat so, als würde sie sich nicht für dich interessieren, als würdest du ihr nichts bedeuten. Aber irgendeine Zofe muss geredet haben und ihm die Wahrheit gesagt haben. Er drohte ihr, dich umzubringen, sollte sie sich ihm widersetzen. Und damit hatte er ihre Schwachstelle gefunden. Du bist ihr wunder Punkt, Thomas, denn du bist das einzige, das sie noch von deinem Vater hat. Also tat sie das einzig Mögliche : Sie schickte dich fort<<.
Thomas nickte. So auf die Schnelle fiel ihm auch nichts Besseres ein.
>>Ihr beide schlaft heute hier<<, fügte Martin hinzu. >>Thalat kommt morgen früh mit deinen Sachen, Thomas, und dann brecht ihr drei auf<<.
In Thomas Kopf legte bleierne Müdigkeit seine Denkfähigkeit lahm, aber schlafen hörte sich gut an. Sehr gut sogar.
Alle drei standen auf und der Prinz war gerade auf dem Weg ins Bad, als die Haustür aufgerissen wurde. Martin, Arthur und Thomas sahen sich an. Wer war das? Ein Einbrecher? Oder gar einer von Horaz Leuten?
Wenige Augenblicke später wurde auch die Tür zur Küche geöffnet; Thomas hatte sich noch keinen Zentimeter bewegt. Der Ankömmling trug einen dunklen Reiseumhang, dessen Kapuze er aufgesetzt hatte. Sein Gesicht lag im Schatten, aber seine Statur kam Thomas bekannt.
>>Den Ahnen sei Dank! Ich bin noch rechtzeitig gekommen<<, seufzte Thalat und nahm die Kapuze ab. Martin, Arthur und Thomas entspannten sich ein wenig.
>>Was meinst du mit “rechtzeitig gekommen“? Rechtzeitig wofür?<<, fragte Martin scharf.
>>Horaz! Er will verhindern, dass Thomas das Dorf verlässt. Fünf Männer sind auf dem Weg hierher; wir müssen sofort aufbrechen!<<, drängte der Krieger.
Martin nickte grimmig. >>Ich mache die Pferde fertig. Thalat wartet draußen und warnt uns, sobald sie kommen. Thomas und Arthur, ihr packt Arthurs Sachen. Denkt an seinen Knüppel, er wird ihn gut gebrauchen können<<, bestimmte der Schmied.
>>Beeilt euch, wir haben nur wenige Minuten<<, sagte Thalat noch und verschwand nach draußen.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Thomas und Arthur hasteten ins Nebenzimmer, rissen einen Lederbeutel hervor und warfen wahllos Sachen hinein. Obwohl Thomas Kopf gerade noch vor Müdigkeit gebrummt hatte, versuchte er an alles zu denken, was nützlich werden konnte. Leider hatte Thomas keine einschlägigen Erfahrungen.
Sie hatten gerade den Knüppel aus dem Schrank genommen und den Beutel auf Arthurs Rücken drapiert, als Martin die Tür aufriss.
>>Sie kommen! Beeilt euch!<<, keuchte er. Thomas und Arthur nickten und hasteten hinter Martin her. Arthur sah Thomas an.
>>Ich sollte so nicht denken<<, grinste Arthur, >>aber mir macht das hier richtig Spaß. Es ist wie ein großes Abenteuer aus all den Büchern, die in den Regalen der Bücherei vor sich hin vergammeln!<<.
Auch Thomas musste grinsen. Arthur hatte noch nichts aufregenderes, als eine Hinrichtung erlebt. Für ihn musste die alles wie ein Traum sein. Der verbannte Schmiedssohn rettet das Tal der Nymphen. Thomas konnte in seinen Augen lesen, wie gerne er das dachte.
Thomas dagegen wollte nichts lieber, als im Schloss zu sitzen. Gestern noch, war ihm sein Zimmer wie ein Gefängnis vorgekommen, nun erschien es ihm wie ein Zufluchtsort. Ehrlich gesagt, wäre er sogar lieber in diesem kranken Labyrinth, als auf dem Weg ins Ungewisse.
Innerhalb von Sekunden waren sie aus der Tür geeilt und bei Thalat und drei, nun ja, etwas klapprigen Reittieren angekommen.
Thalat stand bereits neben einem großen, schwarzen Hengst und überprüfte, ob das Gepäck fest saß.
>>Thomas, du nimmst Schnuppe, die braune Stute<<, sagte er, ohne sich umzudrehen.
Arthur kicherte. >>Er ist halt ein Frauenversteher<<.
>>Sehr witzig<<, sagte Thomas trocken und hielt unfreundlichere Worte lieber im Zaun.
>>Und du, Arthur, du nimmst das Pony. Ein kleines Tier für einen kleinen Geist<<. Während Arthur der Mund aufklappte, musste sogar Thalat über seinen kleinen Witz schmunzeln. Auch Thomas versuchte zu lachen, aber irgendwie gelang es ihm nicht ganz. Es fühlte sich an, als hätte sein Magen einen Knoten bekommen und fast hätte er hyperventiliert. Fast, wohlgemerkt. Schlimm genug, dass er die Stute ritt, da musste er sich nicht auch noch wie ein Mädchen benehmen.
Martin räusperte sich hinter ihnen. >>Ich denke nicht, dass ihr dafür Zeit habt<<, sagte er missbilligend.
Arthur seufzte entnervt. >>Kein Grund zur Hektik, Paps. Noch sehe ich niemanden<<.
>>Und das ist auch gut so<<, gab der Schmied scharf zurück. >>Sie würden euch verfolgen, sobald sie nur den kleinsten Zipfel von euch entdecken würden!<<.
Thalat nickte zustimmend. Thomas schwang sich in den Sattel. Seine Stute schnaubte unruhig und tänzelte.
Auch Arthur und Thalat saßen nun auf ihren Pferden. Martin sah seinem Sohn in die Augen.
>>Pass gut auf unseren Prinzen auf<<, brummte er. >>Tu nichts Unüberlegtes und mach mir keine Schande<<. Aus Höflichkeit, entschied Thomas an diesem Punkt wegzusehen. >>Sieh zu, dass du heil wieder zurückkommst. Ich brauche schließlich einen Nachfolger<<.
Sie schwiegen eine Weile, bis Thalat leise sagte : >>Wir müssen los<<. Er trieb seinen Hengst an, der in einen leichten Trab verfiel. Thomas wagte nicht sich umzudrehen, als er Thalat folgte. Martin war für ihn immer eine Vaterfigur gewesen und er konnte sich ausmalen wie sein Gesicht jetzt wohl aussah. Es würde ihm noch viel schwerer fallen wegzugehen, würde er es wirklich sehen.
Arthur schien das einzig gutgelaunte Mitglied der kleinen Reisegruppe zu sein. Trotz des emotionalen Abschieds von seinem Vater, saß er aufrecht im Sattel; sein übliches Grinsen auf dem Gesicht und einen neuen Glanz in den Augen.
Als sie die ersten Bäume des Waldes, der das Tal umsäumte, erreichten, hörte Thomas noch schwach, wie Martin mit jemandem sprach.
>>Woher sollte ich das denn wissen?<<. Und dann : >>Mein Sohn? Der schläft noch! Es wäre besser, wenn sie ihn schlafen lassen würden!<<.
Thomas sah Thalat an. Martin musste allein klarkommen und sie mussten sich beeilen. Sie gaben ihren Pferden die Sporen; Schnuppe schnaubte und schon waren sie zwischen den Schatten der ersten Bäume verschwunden.
Ungeduldig lief Marla auf der Lichtung auf und ab. Sie hatte nicht lange in ihrem Versteck bleiben können; zu groß war die Aufregung endlich auszubrechen. Natürlich hatte sie Angst, sehr große sogar, aber die Aussicht, ihre Mutter zu retten, besiegte die Angst.
Seufzend ließ sie sich unter einem Baum nieder und sprang kurz darauf wieder auf. Fluchen rieb sie sich die Augen. Wie gerne sie jetzt einfach schlafen würde; ihre Lider waren bleischwer und ihre Bewegungen nervtöten langsam.
Um sich abzulenken sah sie hinauf in das grüne Blätterdach über ihr. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, hatte sie noch Zeit, bis Farren kommen würde. Vielleicht konnte sie doch ein bisschen schlafen, nur ein paar Minuten ...
Nein! Marla hätte sich beinahe selbst geschlagen. Wie konnte sie so etwas nur in Erwägung ziehen? Sie konnte sich doch nicht einfach irgendwo schutzlos hinlegen. Sie war nun die Zielscheibe all ihrer Feinde. Würde sie es ihnen wirklich so leicht machen?
Noch einmal lief sie ziellos umher. Eigentlich gab es genug, worüber sie hätte nachdenken müssen, aber es war schon schwer genug, den nächsten Schritt zu tun. Sie entschied sich, ihre Probleme für die nächsten paar Stunden beiseite zu schieben.
Als die Bäume um sie herum, anfingen zu verschwimmen, entschloss sie sich, dass sie sich doch lieber hinsetzen wollte. Ehe sie sich versah, hatten sich ihre Augen geschlossen und sie driftete ab in süße Dunkelheit.
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2008
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Thomas, meinen besten Freund.
Für wen auch sonst?