Das mG
und
die Glückseligkeit
Christin Rolfs
Inhaltsverzeichnis
Utopie
Polaris
Padparadscha
Hopen
Diorit
Porzellanpuppe
Das mG
Der Landwirt und die Selbstfindung
Atopie
Abzweigung Richtung Glück
Die Rückkehr
Maschinengefahr
Neu
Neuanfang
Unter die Haut
Verworren, verwirrt, irritiert?
Wingmann und Messer
Eine Stimmung als die Lösung
Immer
Atopies Vermächtnis
Utopie
Es war einmal ein vollkommener Ort, an dem die Seelen durch und durch von Glückseligkeit geprägt waren. Sie waren zufrieden mit dem, was war. Die Rede ist von der wunderbaren Welt Utopie. Versuche erst gar nicht diesen Ort zu entdecken, zu erforschen. Du wirst ihn nicht finden, niemals ergründen. Wenn man in dieser Welt von Utopie spricht, versteht man eine Welt, die bisher keinen Ort hat und nur als Gedanke oder Idee existiert. Es mag ungerecht sein, dass die Seelen dieser Welt nicht von Utopie wissen, doch was wäre eine Welt der Glückseligkeit, der Vollkommenheit, wenn all die negativen Gefühle dieser Welt auf sie einprasseln würde? Traurigkeit zöge dunkle Wolken über den strahlend blauen Himmel und der Tod riefe die Nacht herbei.
„Tage wie dieser gehen viel zu schnell verloren, sind viel zu kurz. Man wacht mit einem Lächeln auf und schläft in der Hoffnung, morgen wieder lächeln zu dürfen, ein“, dachte jede Seele Tag für Tag. Sie waren sehr dankbar für ihr Leben, auch wenn sie es nicht anders kannten.
Weder litt man unter Hungersnöten noch stritt man sich. Die Seelen Utopies lebten in vollkommener Harmonie.
Utopie war so groß wie ein Dorf, das eine Bäckerei, eine Schule und einen Badesee hat. Zu jeder Jahreszeit blühten Blumen, Bäume und Felder. Das Grün war kräftiger als das dieser Welt, als strahle es die Glückseligkeit der dort lebenden Seelen aus. Landwirte sorgten sich nicht um ihre Felder. Sie gedeihten Jahr für Jahr. Ohne Motoren bewegte sich jedermann fort, was die friedliche Idylle unterstrich. Abgesehen von den Kieswegen gab es überall kleine, plätschernde Bäche. Das fließende Wasser untermalte sanft die geordnete Lebensfreude Utopies. Man fühlte sich wohl, egal wohin man ging. Die Luft roch immer frisch. Das Wort „Abgase“ hätte ihnen ja noch nicht einmal etwas gesagt. Sie kannten nur den frischen Sommerduft der Blumen, des Windes und ab und zu stieg der Geruch von einem frisch gebackenen Brot in ihre Nasen. Sogar der Qualm, der aus ihren Schornsteinen drang, roch angenehm. In Utopie gab es nicht einen Fleck, der unvollkommen war. Jedes Haus hatte nur ein Stockwerk und nicht allzu große Zimmer. Da jede Seele mit dem zufrieden war, was sie hatte, strebte sie es nicht an, ein schöneres Haus als ihr Nachbar zu haben.
Wenn Wind durch die Bäume pfiff, wenn Vögel vor sich hinpiepten, verstanden die Seelen Utopies im Ansatz die Aussage eines solchen Klanges. Sie lebten in Einklang mit der Natur.
Über diese verwunderlich schöne Welt regierte ein König, dem zwei Söhne waren. Der König hatte schon seit Jahren graue Haare und gehörte nicht zu den Schlankesten, was ebenso auf die Königin zutraf. Als Nachfolger des Königs galt der Erstgeborene Arminius, auch bekannt unter „der Entschlossene“. Den jüngeren rief man beim Namen Atopie, auch bekannt unter „der Unbeschreibliche“. Beide ähnelten sich vom Aussehen her. Groß, sportlich, elegant. Ihr braunes Haar trugen beide etwas länger, aber so kurz, dass man es nicht zusammenbinden konnte. Am besten unterscheiden konnte man sie an ihrer Kleidung. Arminius bevorzugte seit Lebzeiten einen blauen, seidenen Mantel und Atopie einen roten.
Arminius war unsterblich verliebt in ein junges Mädchen. Er schmachtete jeden Moment nach ihren braunen Augen, ihrem hübschen Lächeln, ihrem braunen Haar, ja sogar nach ihrem Geruch. Viele Jahre hatte er um ihre Liebe kämpfen müssen bis auch ihr Herz für das seine entflammte. Es waren Jahre der Hoffnung. Nicht ein Zweifel kam in diesen Jahren auf. Auch wenn ihr Herz niemals entflammt wäre, wäre Arminius nicht unglücklich gewesen, weil ihn die Hoffnung aufrecht gehalten hätte.
Doch eines Mittwochs war Arminius wie vom Erdboden verschluckt. Man beraubte Utopie um ein Stück Glückseligkeit. Nicht ein Atemzug seiner Seele war der Welt geblieben. Das Volk trauerte zutiefst. Dunkle Wolken zogen über die Welt. In den ruhigen Abendstunden, wenn sich die Wege der Seelen getrennt hatten und ein klein wenig Einsamkeit in der Luft lag, gewitterte es. Der Donner grummelte seinen Namen und der Blitz ließ seine Gestalt am Himmel erscheinen. Jeder Blitz entsprach einem Herzstechen und jeder Donner einem schmerzhaften Aufheulen. Utopie durchlebte eine grauenhafte Zeit. Es hieß, ein böser Zauber habe auf Arminius gelegen, so dass er nun in einer Welt lebe, wo die Seelen nicht vollkommen glücklich seien und weder Pflanzen noch Tiere sprechen hören könnten.
Es heißt, die Zeit heile alle Wunden. So auch in Utopie. Denn die friedliche Ruhe kehrte nach und nach wieder ein. Nachdem man sehr um Arminius getrauert hatte, verkrafteten das Volk und die Königsfamilie seinen Verlust. Doch bis in alle Ewigkeit hatte er einen Platz im Herzen der Welt Utopie ergattert.
Es wäre schön, wenn die Geschichte hier ende, weil alle wieder glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende wären. Doch meistens ist die Wahrheit nicht schön.
Das schöne, junge Mädchen, welches ihn liebte, kam nicht über sein Verschwinden hinweg. Es war als habe man ihre Seele entzweit. Keine Seele vermochte ihr Herz zu retten. Es hing zu sehr am Vergangenen, an dem, was längst in den Sternen geschrieben stand und nie mehr zurückkam. Wie oft versuchte sie vergeblich zu vergessen, von Neuem zu beginnen, Kraft aus dem zu schöpfen, was ihr von ihm geblieben war? Doch sie vermisste ihn so sehr, dass ihr Herz brannte. Natürlich sah sie ihn in ihren Träumen, aber was waren diese noch wert ohne sie in der Realität ausleben zu dürfen? Sie wollte ihn vergessen, ja, das wollte sie, um ihr Herz zu retten, doch es schmorte dahin. Immer wieder sagte sie sich, es sei besser ihn loszulassen. Es sei so viel besser. „Herz, hör auf ihn! Der Verstand weiß. Er besitzt ein Wissen, das du nicht kennst: Vernünftiges. Du fühlst und diese Dinge kannst du nicht fühlen. Hör doch endlich auf zu fühlen! Mittwoch. Ich will diesen letzten Mittwoch zurück, meinen geliebten Arminius will ich zurück. Wie – um Himmels Willen – soll ich immer und immer wieder diesen Mittwoch überstehen?“ Sie wusste es nicht und schimpfte sich selbst aus. „NEIN. Es muss endlich geschehen, dass ich auf meinen Verstand höre. Seitdem ich mich unsterblich in ihn verliebt habe, hat er nichts mehr zu sagen. Ich weiß, dass es besser ist aufs Herz zu hören, doch bezüglich dieser Seele geht das nicht mehr ohne weitere seelische Opfer zu leisten und ohne eine einst so glückliche Welt zu zerstören.“
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg? Nein, nicht dort, wo Verstand ohne Herz auskommen muss. Jeden verfluchten Mittwoch litt das schöne Mädchen samt Utopie unter diesem mittwochs-Gefühl - wie die Einwohner es getauft hatten - da dieser Tag immer und immer wieder ihre Wunden aufriss und erneut bluten ließ.
Atopie nannte man den Unbeschreiblichen, weil er so viel Charisma besaß, dass er sich selbst und sein Leben liebte, aber nicht arrogant wirkte, dass er sich seiner selbst durchaus bewusst war, aber nicht von sich selbst auf andere schloss, dass er automatisch Interesse an dem Leben der anderen zeigte und selbst zugleich interessant wirkte. Einfacher gesagt: Atopie war unbeschreiblich.
Atopie verstand es richtig zu handeln. Man munkelte, er verfüge über einen siebten Sinn. So kam es, dass er eines Tages seinen Vater bat, nach einem Gegenmittel für das mittwochs-Gefühl suchen zu dürfen, indem er sich in die Welt begebe, wo die Seelen nicht vollkommen glücklich seien und weder Pflanzen noch Tiere sprechen hören könnten. Schnell sprach sich diese Bitte herum. Das Volk war schockiert und begeistert zugleich. Es sorgte sich um ihn, aber noch viel mehr war es neugierig. Konnte Atopie, eine unbeschreibliche Seele, die Welt Utopie retten? Der König gab zur Antwort, er solle tun, was er wolle, was bedeute, dass er mit den Konsequenzen leben müsse, egal, welche es seien. Zwar liebte der König Atopie sehr und hatte somit Angst ihn zu verlieren, doch er vertraute der Tatkraft seines Jungen und wollte ihn keinesfalls aufhalten. Der König war schließlich auch nur ein fürsorglicher Vater, der sich ein schönes Leben für seinen Sohn wünschte.
Viele Nächte schlief Atopie über diesen Gedanken. Ihm war bewusst, dass es womöglich die wichtigste Entscheidung seines Lebens sei, die er zu treffen habe. Und wie entscheidet man dann richtig? Auch in Utopie gab es keine Anleitung, die einem das Leben erleichterte, die einem quasi ein bisschen Freiheit stahl, so dass eine Entscheidung weniger wichtig war, weil sie weniger auf die eigene Verantwortung, richtig oder falsch gehandelt zu haben, zurückzuführen war. Nächtelang wälzte er sich hin und her. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen zwei Welten, zwischen seiner eigenen Glückseligkeit und der der anderen.
In solchen Fällen ist es äußerst günstig ein gutes Herz und einen gesunden Verstand zu haben. Der gesunde Verstand weiß, was richtig und was falsch ist. Dadurch ist es möglich, die Situation gut einschätzen zu können. Ein guter Verstand will sich zudem instinktiv für das Richtige entscheiden und somit auch für das Gute, das schon eher mit dem guten Herz in Verbindung gebracht werden kann. Das gute Herz ist die Stimme des Gewissens, die flüsternde Stimme der Moral. Ob sie in einem nuschelt oder klar und deutlich spricht, hängt ganz vom Hinhören ab. Atopie war einer von denen, die sie klar hören konnten und auch demzufolge handelten. Er hatte ein gutes, reines Herz und einen gesund ausgeprägten Verstand, den er anzuwenden wusste.
Trotzdem fiel ihm die Entscheidung fortzugehen nicht leicht, da die menschlichen Seelen dazu neigen, den leichteren Weg zu wählen. Der leichtere Weg ist so viel angenehmer, so viel bequemer, dass er einfach schmackhafter wirkt. Er duftet nach einem gut schmeckenden Leben. Einen guten Lebensgeschmack hat jedoch nur der, der sich traut zu wagen. Denn nur wer in seinem Leben die großen Schritte wagt, bekommt eine große Portion vom Leben ab, die wahrhaftig unglaublich gut schmeckt. So gut, dass man nicht einen Happen von der Lebensdelikatesse abgeben will.
Das Zaubern (hauptsächlich praktiziert durch Zaubersprüche) war in Utopie erlaubt und vor allem normal. Um einen Zauber aussprechen zu dürfen, brauchte man zwar die Erlaubnis vom König höchstpersönlich und man musste reimen können, doch das war weniger ein Hindernis, um Magie auszuüben. Es war viel problematischer keinen Fehler bei der Formulierung zu begehen. Dies konnte drastische Folgen haben, die unabsehbar und teils unwiderruflich waren. Deshalb ließen die meisten von Anfang an die Finger von diesem Teufelszeug und brachten sich erst gar nicht in Teufelsküche.
Nichtsdestotrotz wollte Atopie diesen Sprung durch einen Zauber ins kalte Wasser der anderen Welt wagen. Mit seinem Vater suchte er stundenlang nach den richtigen Worten, nach den richtigen Reimen, so dass sie ihre Angst verminderten, einander zu verlieren. In solchen Stunden ist es oft so, dass dem kreativen Geist gerade dann die passenden Worte fehlen, weil man sie genau dann braucht. Ein Widerspruch, der zeigt, wie kompliziert das Leben ist, wenn man nicht den einfacheren Weg wählt.
Als die letzten Stunden Atopies in Utopie angebrochen waren, hatte man auch die letzten Vorbereitungen für das Fest vollendet und begann ausgelassen und fröhlich zu feiern. Seine Reise war ein Anlass zum Feiern und zum Fröhlichsein, weil jedermann ihm die letzten Stunden in seiner geliebten Heimatwelt versüßen wollte. Man kam dort nicht einmal auf den Gedanken, traurig zu sein oder Tränen zu vergießen, da das ja bedeute, man freue sich nicht für Atopie oder glaube nicht an seine Rückkehr oder sogar an eine erfolglose.
Die einzige Seele, die auf solche Gedanken kam, war das schöne Mädchen, was die Wichtigkeit seines Entschlusses umso mehr unterstrich.
Den entscheidenden Schritt wollte er jedoch alleine und in Ruhe ausführen. Als es am schönsten war, verließ er die Feier und stieg auf den höchsten Berg – eher Hügel – Utopies. Von dort aus waren die Stimmen der glücklichen Seelen kaum noch zu hören. Wie ein kalter Mantel umhüllte ihn die sternenklare Nacht. Er fühlte sich wohl und wäre am liebsten umgekehrt, zurück zu dem, was ihm am Herzen lag. Doch ihm war bewusst, dass es für eine Umentscheidung schon längst zu spät war. Im Nachhinein dachte er sich sogar, dass ab dem Augenblick, in dem er die Idee nach einem Gegenmittel für das mG zu suchen gehabt habe, sein Entschluss schon so gut wie fest gestanden habe, weil ihm als der Unbeschreibliche kaum eine andere Möglichkeit geblieben wäre. Fühlte er sich also zu dem, was er nun vorhatte, gezwungen? Nein, denn auch wenn es ihm schwer fiel alles, was er liebte, zurückzulassen, raste sein Herz vor Aufregung, weil er sich sehr auf all das Abenteuerliche und Neue freute. Sein Verstand und Herz waren bereit loszulassen, so dass er begann den Zauber in die Nacht zu flüstern.
„Gute Macht nimm mich fort
an den anderen Ort
wo Lösung liegt in der Hand
will bleiben unerkannt“
Polaris
Sand. Nichts als Sand. Offensichtlich befand sich Atopie in der Wüste. Der Welt Utopie war er entrissen, der Wüste war er ausgesetzt. Die Sonne brannte auf sein Haupt. Benommen rieb er sich seine Augen. Sah er richtig? Nichts als Sand? Mit seiner rechten Hand griff er nach ein paar Sandkörnern, zerrieb sie zwischen seinen Fingern, ließ sie zwischen seinen Fingern wieder zurück zu den anderen rieseln, als wenn ihm dies helfe zu verstehen, was sich vor seinen Augen abspiele oder wegen des vielen Sandes und der Stille auch nicht abspiele.
Wer war er? Er war Atopie. An seinen Namen erinnerte er sich. Ebenfalls fielen ihm sein Titel „der Unbeschreibliche“ und seine Heimatwelt namens Utopie wieder ein. Aber wer war er? Atopie runzelte seine Stirn, flüsterte seinen Namen in die dürre Wüste. In der Hoffnung darauf, dass alles nur ein böser Traum sei, schloss er seine Augen, atmete tief ein und aus und öffnete sie wieder. Erwartete Enttäuschung hätten ihn übermannen müssen. Doch was war das? Er glaubte, Enttäuschung zu fühlen, weil er sich noch immer in der sandigen Gegend befand, hätte Enttäuschung aber nicht definieren können. Er fühlte sich nicht übermannt, nicht enttäuscht, fand aber auch kein anderes Adjektiv, das annähernd beschrieb, wie er sich fühlte.
Ihm war, als fehle in seiner Seele ein Stück Atopie. Hatte er sich auf den Weg von Utopie bis hierhin selbst verloren? Atopies Gefühle entsprachen seinem Titel, da man sie nicht beschreiben oder umschreiben konnte. Er dachte, ein Stück von sich selbst auf der Reise verloren zu haben, weil ihm die Gabe zu fühlen genommen wurde.
Sinn und Zweck des Zauberspruches war, dass Atopie von einer guten, höheren Macht geleitet werde, um die Rätsels Lösung zu finden. Alleine durch eine Wüste zu stapfen entsprach nun aber wirklich nicht seinen Vorstellungen. Und als wenn ihn die jene Macht erhöht hätte, nahm er plötzlich ein glückliches Pfeifen wahr. Schnell drehte er sich um, wollte mit seinen Augen erfassen, was er hörte und erblickte eine Gestalt. Diese Gestalt trug einen weiß/hellblau karierten Schlafanzug. Ihre Haare waren voll und lang. Atopie konnte die Haarfarbe kaum definieren. War es hellblond oder sogar weiß, was sehr seltsam gewesen wäre, da sie zumindest von weitem sehr jung aussah?
„Glückliches Leben“, sagte Atopie erwartungsvoll. Verdutzt blickte die Gestalt ihn an und gab zur Antwort: „Guten Tag.“ Erst nun, als sie nur noch einen Meter entfernt vor ihm stehen geblieben war, sah Atopie in ihre Augen. Sie strahlten. Sie leuchteten hellblau, gelb und weiß zugleich. Atopie fürchtete sich nicht, auch wenn er solche ungewöhnlichen Augen noch nie gesehen hatte. Schließlich konnte er ein derartiges Gefühl gar nicht zuordnen und empfand deshalb pure Neugier. „Erlaube mir zu fragen, bei welchem Namen du gerufen wirst.“ „Ich heiße Polaris“, antwortete die Gestalt. „Und du?“ „Man nennt mich Atopie, den Unbeschreiblichen“, gab er zurück.
„Mich faszinieren deine Augen“, sagte Atopie. Polaris lächelte. Aber es war kein Lächeln wie Atopie es aus seiner Welt kannte. Dieses Lächeln raubte ihm den Atem. Polaris lächelte nicht, sondern strahlte, auch wenn es so schien, als sei es ein normales Lächeln. „Mich fasziniert eher, was du so gottverlassen in der Wüste zu suchen hast. Hast du dich verlaufen? Wie bist du hierher gekommen?“, fragte Polaris. „Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Darf ich sie dir erklären, währenddessen ich dich ein Stückchen auf deinem Wege begleite?“ Für Atopie war eine Zustimmung so gut wie selbstverständlich, da er es gewohnt war, schon nach dem ersten Eindruck gemocht zu werden. Dies war auch in Bezug auf Polaris der Fall. Sie gewann sofort sein überzeugtes Auftreten lieb und freute sich auf seine Erklärung.
Atopie begann die Geschichte Utopies und des Mädchens zu erzählen. Polaris lauschte seiner angenehmen Stimme und schwieg zunächst, als Atopie sie vollendet hatte. „Kennst du ein solches Gegenmittel? Weißt du, wovon ich spreche?“, überrumpelte er sie etwas. „Ganz sachte, du Unbeschreiblicher!“, erwiderte sie, „glaub nicht, in dieser Welt ein perfektes Rezept zu finden! Das Gefühl ist viel zu komplex, als dass es ein perfektes Gegenmittel geben kann, das dann tatsächlich hilft. Ich glaube nicht, dass du deinen Auftrag erfüllen wirst.“ Zwar wusste Atopie ihre Ehrlichkeit zu schätzen, doch dies war keinesfalls, was er hören wollte.
Wieder fühlte er sich nicht enttäuscht, obwohl es verständlich gewesen wäre, da Polaris ihm ja nicht einmal eine Chance gab. „Also kennst du das mG? Wie nennt man es in deiner Welt? Hast du es auch jede Woche?“, fragte Atopie, weil er nicht locker lassen wollte. „Spontan würde ich es Traurigkeitsgefühl nennen, aber, wie gesagt, ist es sehr komplex und kann somit nicht einfach von mir beschrieben werden. Hinzu kommt nämlich, dass es mir an Erfahrung mangelt. Ich bin nicht so und werde dich, so leid es mir tut, in der Hinsicht nicht weiterbringen können. Ja, klar, ich habe es schon empfunden“, gab sie zu, „doch diese Phase ist zum Glück schon einige Zeit her und mir ist, ehrlich gesagt, gar nicht danach darüber groß zu reden.“ Polaris blickte zum Himmel, kniff die Augen nicht ein klein wenig zusammen, da die Helligkeit sie nicht zu stören schien und versuchte durch einen Seufzer Desinteresse zu zeigen, als ob sie das Thema langweile.
„Nun wird erst einmal gegessen“, sagte sie. „Was speist man denn üblicherweise in einer Wüste? Ich bitte um Verzeihung, doch ich sehe nichts als Sand“, entgegnete Atopie. Polaris lächelte ein weiteres Mal, was ihn nur so dahinschmelzen ließ. „Na dann wäre es sehr sinnvoll Sand zu essen“, schlug sie mit Selbstverständlichkeit in der Stimme vor. Polaris ergriff eine Hand voll Sand und schob diese genüsslich in ihren Mund. Man denkt nun, Atopie hätte wissen müssen, dass er doch keinen Sand möge. In Bezug auf so etwas Neues glich er jedoch einem kleinen, unerfahrenen Kind. Woher hätte er es schließlich wissen sollen? In Utopie war noch keiner auf den Gedanken gekommen, Sand zu essen, da es dort zumindest ja auch als weniger sinnvoll galt. Naiv ergriff er ebenfalls eine Hand voll, schob sie in den Mund und biss ordentlich zu. Schon im selben Moment spuckte er die Sandmasse im hohen Bogen wieder aus. Er prustete sehr aufgebracht vor sich hin, verzog sein Gesicht vor Ekel und knirschte wie wild auf den Sandkörnern herum. „Was soll das?“, brachte er mit zorniger Stimme hervor. Polaris war jedoch nicht in der Lage eine Antwort zu geben. Sie schüttete sich aus vor Lachen, krümmte sich und begann sogar sich auf dem Boden zu kringeln. Atopie verstand nicht, was daran so lustig sei und war sehr damit beschäftigt, jeden einzelnen Sandkorn auszuspucken. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass du in Utopie noch nie Sand gegessen hast und es nicht magst.“, sagte Polaris grinsend, nachdem sie tief ein - und ausgeatmet hatte. „Ich es was nicht?“, fragte Atopie, als wenn er es akustisch nicht verstanden hätte. „Ich sagte, dass ich ja nicht ahnen konnte, dass du es noch nie gegessen hast und es nicht magst.“ Atopie hinterfragte daraufhin: „Deine letzten Worte sagen mir nichts. Was meinst du, wenn du sagst, ich habe es nicht gemocht? Ich verstehe nicht.“ Nun blickte Polaris in wirklich sehr verdutzt an. Entweder er hatte das Gefühl, dass sie sich mit ihm durch das Sandessen einen Spaß erlaubt hatte, worauf nun Rache folgen sollte, oder Atopie meinte es ernst. Da er ja wirklich nicht begriff und Polaris ebenso, als wenn er keinen blassen Schimmer habe, anblickte, sagte sie sehr ruhig: „Im Leben gibt es Dinge, die man mag und die man nicht mag. Das Nichtmögen ist also das Gegenteil vom Mögen. Sagt dir das nichts?“ Da Atopie nur sehr fasziniert – im Sinne von Neugier, also im Sinne von Wissensdurst – und weniger verständnisvoll seine Stirn runzelte, fuhr sie fort: „Lass mich raten! Wegen deiner merkwürdigen Welt kennst du nur das Mögen und somit auch nur das Lieben. Hast du schon einmal Hass empfunden? Wahrscheinlich nicht. Und dann kennst du auch keinen Krieg, weil in deiner Welt nur Frieden herrscht. Du kannst Gutes und Böses quasi gar nicht voneinander unterscheiden, weil du nur die eine Seite kennst. Weißt du, was eine Münze ist?“ „Ja, neben dem Warentausch ein Zahlungsmittel“, entgegnete Atopie sehr gespannt. „Nun gut. Eine Münze hat zwei Seiten. Man kann sie ja schließlich umdrehen. Stell dir vor, auf der einen Seite befände sich das Essen, das du gerne magst. In Utopie kennst du nur diese Seite von der Münze, was natürlich eine angenehme Sache ist. In dieser Welt musst du jedoch auch mit dem Kehrseite rechnen. Das heißt zum Beispiel, dass du etwas nicht essen magst.“ Ein Lächeln konnte sich Polaris nicht verkneifen, da das Ausspucken ein göttlicher Anblick gewesen war. „Fällt dir ein gutes Beispiel für das eben Erklärte ein, Atopie?“, fragte sie. „ Ja“, nachdenklich blickte er auf den Sand, „zunächst wecken deine Worte natürlich eine Erinnerung an das mG. Ich verstehe nun, dass ich es nicht mag und dass ich es mag, zufrieden zu sein. Als gutes Beispiel würde ich jedoch eher das Leben und den Tod nennen, der in dieser Welt existiert.“ Polaris' Augen funkelten, weil sie vom schnellen Verständnis begeistert war. Sie nickte schließlich, nahm ihn an die Hand und sagte, sie müssten nun einen Ort zum Schlafen zu suchen, da es in der Nacht sehr kalt werde.
Von Anfang an mochten sich Atopie und Polaris. Von Anfang an vertrauten sie dem anderen. Von Anfang an empfanden sie enorme Sympathie. Sobald die Nacht eintrat legten sie sich nieder und schenkten sich gegenseitig Wärme. Und nun ist die Frage, ob es körperliche oder innerliche Wärme war. Die Welt der Polaris' war nachts eiskalt und es schien so, als sei sie auch zum einen sehr warm und zum anderen kalt. Doch im Grunde strahlte sie eine Art Wärme aus, die im Inneren Atopies Zutritt fand. Er wollte Polaris nie wieder loslassen, weil sie zu zweit von warmer Geborgenheit umgeben waren. Nicht jedem kam ihre Wärme zuteil. Es war etwas Besonderes und kostete ihr viel Vertrauen, sie fühlte sich umgeben von Misstrauen. Doch bei ihm ließ sie es zu. Sie hätte in dem Moment nicht einmal sagen können warum, vielleicht hätte sie nicht einmal darüber sprechen wollen, hätte er gefragt, weil das nun einmal nicht ihre Art war. Aber sie ließ es zu, den Zutritt zu ihrem Herzen, und das spürte und genoss Atopie.
In der Morgendämmerung gönnten sie sich, die Ruhe noch nicht abzubrechen. Atopie verspürte jedoch den Drang fragen zu müssen, was Polaris denn nun von dem mG halte. „Atopie, hast du in den letzten Stunden viel an dieses Gefühl gedacht?“, fragte Polaris direkt. „Nein, eher weniger“, gab Atopie zu. „Das liegt daran, dass du abgelenkt warst. Bevor du weiterreist“, in Atopie zuckte alles zusammen, als er das Wort „weiterreist“ hörte, da er daran noch gar nicht gedacht hatte, „musst du verstehen, dass Ablenkung zumindest meiner Meinung nach das beste Gegenmittel ist. Zwar löscht sie das Gefühl nicht aus, verhindert aber immerhin, dass man überhaupt daran denkt. Ist das nicht schon viel wert? Deshalb komme ich niemals zur Ruhe. Ich habe fast schon Angst vor Langeweile, weil man dann die Zeit hat über alles, sozusagen über Gott und die Welt, nachzudenken. Und ich glaube, dass dieses Denken der Auslöser ist. Wenn man sich ablenkt und sich nicht den Kopf macht, wie es tief im Inneren aussieht, dann rutscht man erst gar nicht in einen Gedankensalat ab.“ Atopie sah tief in ihre Augen und antwortete: „Ich danke dir für deine Meinung.“ „Lebe einfach im Hier und Jetzt“, fuhr sie fort, währenddessen er auf den Boden sah und ihren Blick mied, „morgen kann es vorbei sein. Stell dir das vor! Herzstillstand! Was machst du dann? Willst du dir nicht sicher sein, immer alles gegeben zu haben?“
Polaris bemerkte, dass er kontern wollte. „Vielleicht bin ich anders als du. Ich bin mir sehr sicher, alles zu geben. Für diesen Weg habe ich mich entschieden, aber es ist ein Weg, der nicht im Hier und Jetzt seine Erfüllung finden kann.“
Er hielt einen Moment lang inne und da Polaris merkte, dass er noch etwas sagen wolle, unterbrach sie ihn nicht: „Polaris, glaubst du, dass es Seelen gibt, die zur Glückseligkeit beitragen, die das Herz einer anderen Seele öffnen?“ „Ja, das glaube ich. Und ich denke, wenn man erst einmal eine solche Seele gefunden hat, braucht man sie zum Leben. Man will sie nie wieder verlieren.“ Beide schwiegen und sahen sich lächelnd in die Augen. Es tat ihr leid für ihn, mit ihrer Realität seine heile Welt zu zerstören, doch sie hielt es zugleich für das Richtige. Wie sollte ein solch liebenswürdiges Wesen sonst zurecht kommen? Wenn er wüsste, wie böse, schlecht, hinterhältig und eigennützig die Menschen sind, dachte sie sich, das wäre vermutlich unerträglich. Schließlich versuchte sie erneut Atopie zu erklären, was sie meine: „Irgendwann wirst du verstehen, dass es doch nur um das Hier und Jetzt geht, um den einen Augenblick, wie vergänglich er auch sein mag. Lass uns die gemeinsamen Momente genießen, mein Unbeschreiblicher.“
Noch einen Tag blieb Atopie. Polaris erzählte von ihrer geheimnisvollen Heimat. Sie war ein Stern, wenn nicht sogar der bekannteste. Atopie war hin und weg, als sie erzählte, dass sie sogar mehrere Namen habe. Besonders Gehör fand sie bei Atopie, als sie schweren Herzens erzählte, dass sie ihre Heimat vermisse, von der sie fort gerissen wurde, sie es aber sehr aufmuntere, ihre Artgenossen des Nachts leuchten zu sehen. Daraufhin musste Polaris natürlich erst einmal erklären, was Vermissen sei. „Wenn du etwas sehr gerne hast, wie zum Beispiel deine Heimat, und du lange nicht bei ihr bist oder, wenn du sie sehr, sehr gerne hast, und nur eine kurze Zeit nicht bei ihr bist, dann tritt ein Gefühl auf, das zeigt, wie sehr du deine Heimat magst und wie gerne du wieder dort wärst. Vermissen zu erklären ist gar nicht so leicht. Verstehst du, was ich meine?“ „Ich glaube, im Ansatz verstehe ich es, auch wenn ich es selbst nicht empfinde“, antwortete er. „Versprichst du mir eins?“, fragte Polaris und sah mit ihren bewundernswerten Augen tief in Atopies, der zustimmend nickte. „Falls dir auf deinem Weg noch einmal jemand begegnet, der dir Vermissen erklärt oder davon redet, dann denke an mich und daran, dass ich für dich leuchte, egal, wo du bist und wie es dir geht.“ Polaris nahm Atopie in den Arm und Atopie flüsterte leise in ihr Ohr: „Ich gebe dir, Polaris, mein königliches Ehrenwort“.
Schließlich gab Polaris Atopie den Rat, er solle die Augen schließen, wenn er fortgehe, und immer seiner Nase folgen bis ihm ein anderer Geruch in die Nase steige. Sie umarmten sich sehr innig während ihrer letzten Minuten und Atopie musste noch etwas loswerden bevor er diese Gestalt womöglich nie wieder sehe: „Du tust mir gut.“
Padparadscha
Sofort, nachdem er sich verabschiedet hatte, schloss Atopie seine Augen und marschierte davon. Seine Gedanken kreisten nur um die Erlebnisse mit Polaris, wobei er sich immer und immer wieder ihre Augen vor seine Augen führte. Mittlerweile lief er nicht mehr auf Sand, sondern auf Kies. Wo er war, wusste er nicht und das spielte auch keine Rolle.
Langsam nahm er einen unnatürlichen Geruch wahr und öffnete schnell seine Augen, weil ihn aufs Neue die Neugier gepackt hatte. Entweder sein Verstand spielte ihm wegen der Hitze einen gewaltigen Streich oder er sah wirklich einen gewaltigen Riesen in dieser kiesigen Gegend. Das Wort Angst sagte Atopie eh nichts. Also trat er immer näher an den Riesen heran. Begeistert sah er zu ihm herauf und rief: „Glückliches Leben!“ „Fürchtest du dich denn nicht vor mir?“, fragte dieser entgeistert. „Entschuldigung, doch sollte ich?“, gab Atopie fragend zurück, da ihm auf die Schnelle auch nichts Besseres einfiel, als auf eine solche Frage mit einer Gegenfrage zu antworten. Der Riese sah jedoch äußerst seltsam aus. Abgesehen vom Braun seines Stofffetzens war seine Hautfarbe nicht zu definieren. War sie orange? Nein, keinesfalls. Eher hatte sie eine rotgelbe oder gelbmorgenrote Grundfarbe mit einem Rosa im Überton. Ging Atopie jedoch nur einen kleinen Schritt zur Seite glich die Hautfarbe einem intensiven Rosa mit einem Stich ins Bläuliche.
„Ich weiß, dass eine klare Beschreibung meiner Hautfarbe so gut wie unmöglich scheint. Hast du ein Problem damit?“, fragte der Riese. „Nein, keinesfalls. Ich bitte um Verzeihung, dass ich so lange von deiner interessanten Hautfarbe gefesselt war. Erlaube mir zu fragen, bei welchem Namen du gerufen wirst.“ „Ich heiße Padparadscha. Und wie heißt du?“ „Man nennt mich Atopie, den Unbeschreiblichen“, gab er zurück. „Schön. Und du fürchtest dich wirklich nicht?“, fragte Padparadscha. „Nein, wirklich nicht. Vertraue auf meine mutige Seele und erzähle mir lieber, warum ich dich zu fürchten habe.“ Sofort stellte der Riese klar, dass er ihn nicht zu fürchten habe, auf keinen Riesenfall, doch die meisten Wesen würden sofort fortlaufen, wenn sie ihn sähen, weil man über ihn schlechte Dinge erzählte, die nicht stimmten. „Also fällen die meisten Wesen voreilig ein schlechtes Urteile?“, fragte Atopie. „Ja, es sind Vorurteile. Aber ich muss sagen, dass es sich gebessert hat. Früher war es wirklich sehr schlimm für mich Anschluss zu finden, weil ich für alle als seltsam galt. Nach der Zeit hatte mich das so verunsichert, dass ich nach außen komplett anders wirkte als ich im Grunde war. Ich verstellte mich, weil ich nichts falsch machen wollte, nicht seltsam wirken wollte, doch es geschah, was geschehen musste. Gerade weil ich immer versuchte, alles richtig zu machen, fanden sie mich noch seltsamer als eh schon. Ich bestätigte ihre Vorurteile.“
Atopie hörte in seiner Stimme, dass es eine schwierige Zeit gewesen sein musste und sagte, dass ihm das für ihn leid täte und er keine Vorurteile habe. Dies freute den Riesen zu hören. Atopie hatte es bewusst und unbewusst zugleich geschafft, die richtigen Worte zu finden, so dass Padparadscha ihm zu vertrauen begann, weil er das Gefühl bekam, dass Atopie nachempfinden könne, wie er sich fühle. Nachempfinden konnte er es nicht, aber Atopie verstand es zu verstehen. „Was meinst du, wenn du sagst, es habe sich gebessert?“, fragte Atopie, um das Gespräch fortzusetzen. „Eines Tages, als ich schon längst am Boden zerstört war, traf ich auf eine Seele, die anders war als die anderen. Sie hatte ein besonders großes Herz. Trotz Vorurteile gab sie mir eine Chance und zwang seine eigenen Freunde mir auch eine zu geben, indem sie sagte, dass sie auch nicht komme, wenn ich nicht mitkommen dürfe. Mir bedeutete diese Aufopferung natürlich sehr viel. Vielleicht baute es mich auch so sehr auf, einen Freund gefunden zu haben, der sich sehr für mich einsetzte, weil der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, ein Freund gewesen war, der mich verließ, obwohl er mir immer geschworen hatte bei mir zu bleiben, egal, was andere über mich reden würden. Ich denke, das gab mir den Rest, um am Ende meiner Kräfte angelangt zu sein. Bis heute habe ich mit diesem Freund niemals darüber gesprochen. Ich wüsste gerne, warum er mich letzten Endes auch wie einen Aussätzigen behandelte.“
Um zu verstehen, was er auf den Weg von Utopie bis hierhin vergessen hatte, musste Atopie Padparadscha unterbrechen. Er war so verwirrt und irgendwie unwissend, besonders, was Zwischenmenschliches betraf. „Ich möchte nicht unhöflich sein oder gar als dumm erscheinen. Verzeihe mir, fragen zu müssen, was du unter einem Freund verstehst. Erklärst du mir den Begriff bitte?“ „Kein Problem, ich erkläre es dir gerne. Was verstehst du denn unter einer Seele?“, fragte Padparadscha. Atopie antwortete, dass die Seele für ihn das Innere, Unsichtbare sei, worunter er sowohl Herz, Verstand, Werte als auch Erinnerungen an Vergangenes verstehe. „Also hat die Seele nichts mit dem Äußeren zu tun?“ Atopie stimmte ihm zu. „Glaubst du denn dann auch, dass man von Seelenverwandtschaft sprechen kann, worunter ich verstehe, dass sich die Seelen im Grunde zumindest etwas ähneln und man deshalb gut miteinander harmoniert?“ Daraufhin hielt Atopie einen Moment lang inne und sagte: „Ja, ich glaube an Seelenverwandtschaft. Aber spricht man nicht eher von Seelenverwandten in Bezug auf Liebespärchen?“ Padparadscha lächelte freundlich und gab zu Antwort, dass ein Liebespärchen, das durch Dick und Dünn gehe und bis ans Lebensende halte, im Grunde doch auch gewissermaßen befreundet sei, wobei er nicht vergessen solle, dass es bei solchen Pärchen auch aufs Äußere ankomme. Atopie verstand nun sehr gut, was ein Freund sei, indem er es mit Seelenverwandtschaft verband, und dachte an Polaris. Die Frage, was genau aber ein Liebespärchen sei, obwohl er den Begriff selbst verwendet hatte, verdrängte er, weil es ihm wichtiger war, der Geschichte Padparadschas zu folgen als zu verstehen. Hier kam es ja schließlich nicht auf den Begriff Liebespärchen, sondern Freund an.
„Verstehe ich dich richtig? Ein Freund mit besonders großem Herzen rettete also deine Seele?“, fragte Atopie. „Noch nicht ganz. Das stimmt zwar, aber eine andere Seele trug auch einen großen Teil dazu bei, indem wir Kontakt durch geschriebene Worte hatten und uns durch diese Worte verstanden. Die Worte dieser Seele bauten mich auch sehr auf.“ Padparadscha schien es gut zu tun über seine Vergangenheit zu sprechen. Es war, als wenn ihn dies von ihr loslöste. Atopie fragte schließlich, um den Riesen immer mehr zu verstehen: „Wenn die Rettung deiner Seele derartig erfolgte, stellst du also die These auf, man benötige mehrere Seelen, um von so etwas gerettet zu werden. Verstehe ich richtig?“, fragte Atopie neugierig. Padparadscha antwortete, dass er es genauso sehe. Nun war Atopie an einem Punkt angekommen, der ihn innerlich Luftsprünge veranstalten ließ. Denn Padparadscha schien in seiner Vergangenheit das mG durchlebt zu haben und sogar davon befreit worden zu sein.
„Wie fühltest du dich während dieser Zeit?“, fragte Atopie. „Oh, ich fühlte mich sehr schlecht. Ich konnte ja auch nicht verstehen, warum es gerade mich getroffen hatte oder was ich denn falsch gemacht hatte, so dass ich so etwas durchmachen musste. Warum? Mir ging es so schlecht, dass ich mich verschloss und anderen keinen Zutritt mehr zu meinem Inneren gewährte.“ Atopie bemerkte nun zum ersten Mal, dass Padparadscha Tränen in den Augen hatte. Und weil er das Leiden des Riesen nun nicht nur verstand, sondern sogar sah, verstand er noch mehr. Atopie war von unglaublicher Intelligenz. „Das verstehe ich“, sagte Atopie, „also war es bestimmt schwierig, sich anderen nach der Zeit wieder zu öffnen.“ „Ja, das war es. Ich erinnere mich gut daran, wie ich mich zum ersten Mal jemanden öffnete, dem Freund mit besonders großem Herzen. Wir machten einen sehr langen Sparziergang und ich erzählte ihm einfach all das, was mich innerlich erdrückte. Außerdem ist es natürlich schön, mich heute so gut mit denen zu verstehen, die damals auch Vorurteile hatten.“ „Hat heute keiner mehr von ihnen Vorurteile?“ „Nein“, antwortete Padparadscha, wobei ihm eine Riesenträne herunter kullerte, „es gibt welche, die sie noch immer haben und solche Seelen werden auch wohl immer so bleiben.“ Atopie sagte, dass er das gemein fände und es bestimmt schwierig sei, noch immer keine Antwort auf das Warum zu haben. „Ja, das ist es. Aber heute bin ich eh ganz anders als damals. Ich gebe mich wieder so, wie ich wirklich bin.“ „Und das ist toll. Ich mag dich so wie du bist“, bestätigte Atopie.
Padparadscha bereitete Atopie einen Platz zum Schlafen vor, als das Himmelsgewölbe immer dunkler wurde. Unter freiem Himmel zu schlafen war Atopie Recht. Er betrachtete die Sterne und dachte über all das nach, was er heute dazu gelernt hatte. Lange dauerte es nicht bis seine Gedanken abschweiften und um Polaris kreisten. Atopie schrieb ihren Namen in den Himmel und zählte alle Sterne über seinem Kopf ohne die Lust daran zu verlieren. Als er bei 12.000 angekommen war, gab er jedoch auf, da es langsam wieder hell wurde und schlummerte noch ein wenig im Träumeland dahin. Am Morgen fühlte er sich gedankenloser. Denn in seinen Träumen hatte er ein paar von seinen verborgenen Angst -, Wunsch – und Erlebnisgedanken zurückgelassen. Zwar fühlte er diese Gedanken nicht, dennoch waren sie in ihm.
Atopie kümmerte sich nicht um seinen Gefühlsverlust, den er durch seine Reise von Utopie bis hierhin erlitten hatte. Denn auch das Gefühl der Sorgen kannte er nicht. Leider verpasste er auch sich glücklich zu schätzen, weil er nichts fühlte. Denn was wäre gewesen, wenn er sich über seine Gefühle im Klaren gewesen wäre? Hätte er seine Heimat nicht viel zu sehr vermisst, so dass er die Reise hätte abbrechen müssen? Hätte er Polaris nicht viel zu sehr vermisst, so dass er die Reise hätte abbrechen müssen? Wäre er nicht vielleicht sogar schockiert gewesen, weil sein Herz so laut für einen Stern schlug? All das wusste er nicht, weil sein Herz nicht zu seinem Verstand sprach. Doch genau das war gut für ihn. Also war der Verlust seiner Gefühle Fluch und Segen zugleich.
Als Atopie erwachte und Padparadscha Essen zubereiten sah, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Padparadscha. Die Bezeichnung hatte er schon einmal bezüglich seltener Schmucksteine gehört. Ihr Name Padparadscha war umstritten. Atopie verstand nun, warum man dem Riesen einen solchen Namen gegeben hatte. Er war etwas Besonderes, weil er das mG überwunden hatte, weil er sein damals verschlossenes Herz nun wieder öffnete. Padparadscha war ein Schmuckstein mit Seele. Atopie schmunzelte, weil er so dumm gewesen war, sich vom ersten Eindruck blenden zu lassen. Der Riese war nämlich nicht riesig. Er war höchstens einen Kopf größer als Atopie und doch schien er riesig. Dies lag schlicht und ergreifend an seiner Ausstrahlung. Schließlich hatte ihm das Überwinden einer solch schwierigen Zeit zu innerlicher Größe beholfen, die nach außen strahlte und prächtig wirkte. Nun verstand Atopie, was sein Vater einst meinte, als er sagte: „Vertraue dem, was du weißt, nicht dem, was du siehst!“
Nach einem ausgewogenen Frühstück verabschiedeten sie sich voneinander. Padparadscha wünschte Atopie alles Gute für seinen weiteren Weg und dieser bedankte sich, dass er sich ihm geöffnet habe und sagte, es sei schön gewesen, einer solch besonderen Seele begegnet zu sein.
Hopen
Nach dem Motto „immer der Nase nach“ marschierte Atopie davon. Die Wüste hatte er schon längst genauso wie seine Gefühle zurückgelassen. Den Weg hätte er im Nachhinein jedoch nicht erklären können – einmal sandig, einmal kiesig - da seine einzige Regel lautete, der Nase zu folgen. Wer wünscht sich nicht, einmal durch die Weltgeschichte ohne jegliche Sorgen spazieren zu dürfen? Er war befreit vom Kummer der Welt, aber ebenso gebunden am Kummer der Welt, da durch diesen seine Reise erst sinnvoll war.
Wenn man schon durch die Weltgeschichte spazieren darf, wohin geht man, um es sich gut gehen zu lassen? Er dachte an keinen bestimmten Ort, ließ sich einfach leiten bis er einen auffälligen Geruch wahrnahm. Salz. In der Luft roch es nach Salz. In Utopie hatte Atopie noch nie einen solch starken Salzgeruch in der Nase gehabt, weshalb er nun verwirrt und neugierig durch die Gegend blickte. „Woher kommt dieser Geruch? Ich will es wissen“, dachte er sich.
Voller Wissensdurst rannte er los in Richtung des Geruches, der immer stärker wurde. Plötzlich blieb er stehen, um sich zu vergewissern. Hörte er richtig? Er nahm ein Rauschen wahr, das er nicht zuordnen konnte. „Was für ein Ort muss das sein, an dem es nach Salz riecht und rauscht?“ Atopie kam einem Sandhügel, der sich über das ganze zu erblickende Land erstreckte, immer näher. Dieser Sandhügel war circa fünf Meter hoch und mit ein paar Sträuchern bedeckt. Obwohl Atopie schon völlig außer Puste war, erklimmte er diesen mit Mühe. Über ihm kreiste ein weißer Vogel, den er ebenfalls noch nie gesehen oder gehört hatte. Wo war er?
Eine gigantische Wassermasse erblickten Atopies weit aufgerissene Augen. Sein Verstand konnte ihm keine Erklärung für das zu Sehende geben. Er war ratlos und deshalb gefesselter denn je. Die faszinierende Wassermasse erstreckte sich bis zum Horizont. Sogar links und rechts war kein Ende zu sehen, als sei sie unendlich. Für Atopie war dies ein Atem beraubender Moment seines Lebens, weil er mit etwas Realem konfrontiert wurde, das er sich überhaupt nicht erklären konnte.
So schnell wie möglich wollte er sich alles merken, was er sah. Schließlich hatte er in Utopie schon einen See gesehen, aber der war nicht so unendlich groß und bewegte sich nicht. Unerklärlicherweise schob sich das Wasser hervor und ging dann wieder zurück. Atopie war fasziniert, voller Neugier. Sehr begeistert war er auch von dem weißen Etwas, das sich auf dem bewegenden Wassermassen befand. Hinzu kam auch noch diese gut riechende Luft, die sehr beruhigend auf ihn wirkte. Das Rauschen war Musik in seinen Ohren.
Zwar wusste er nicht, wo er war und was es war, das er sah, doch er schwor sich, diesen Ort niemals verlassen zu wollen, da in ihm die vollkommene Schönheit ruhe.
So stand er nun da und war gefesselt von der gigantischen Wassermasse. Vielleicht hätte Atopie bis in alle Ewigkeit dort gestanden, wenn nicht eine Stimme ihn wach gerüttelt hätte. „Spürst es auch, was das Meer mit dir anstellt?“ Atopie blickte das Wesen verdutzt an, das klein war, einen blau/weiß gestreiften Pullover trug und dazu eine blau/weiß karierte, zu lange Hose. Atopie sah zum Wesen hinunter, runzelte seine Stirn und entgegnete: „Du nennst die große Wassermasse das „Mehr“? Wie bist auf diesen Begriff gekommen?“ Das Wesen blickte ihn daraufhin selbstverständlich sehr entgeistert an. Es schien, als wüsste es gar nicht, was es antworteten solle. „Wenn du nicht weißt, was das da ist, dann hast du wirklich etwas verpasst“, gab das Wesen schließlich zurück und zeigte mit dem Finger auf die große Wassermasse. „Oh ja“, bestätigte Atopie, „ich verstehe, wie du das meinst. Ich habe Jahre lang diese unglaubliche, beruhigende Schönheit verpasst.“ Atopie lächelte zufrieden und bemerkte nicht einmal, dass das Wesen ihn für verrückt erklärt hatte. „Woher kommst du denn, wenn ich fragen darf?“, fragte das Wesen. „Ja, darfst du. Ich stamme aus Utopie und habe meine Welt verlassen, weil ich auf der Suche nach einem Gegenmittel für ein bestimmtes Gefühl bin. Wenn ich gewusst hätte, dass es in dieser Welt so etwas Schönes gibt, hätte ich nicht eine Sekunde gezögert“, antwortete Atopie schmunzelnd. „Warum bewegt sich das Mehr?“ „Wegen der Gezeiten. Unter den Gezeiten versteht man den durch die Gravitation des Mondes und der Sonne verursachten Zyklus von Ebbe und Flut auf den großen Gewässern dieser Welt. Und nun fragst du dich, was Ebbe und was Flut sind, richtig? Flut ist der gesamte Zeitraum des Steigens, auflaufendes Wasser, Ebbe ist der Zeitraum des Sinkens des Wasserspiegels, ablaufendes Wasser. Waren das nun zu viele Informationen auf einmal?“, fragte das Wesen. „Nein. Es ist in Ordnung, wie du es mir erklärt hast. Ich danke dir, dass ich nun besser verstehe, was ich sehe. Ist das Mehr denn unendlich?“ „Oho, welch Vorstellung“, sagte das Wesen, „es wirkt so, nicht wahr? Aber nein, es ist nicht unendlich, bedeckt aber den größten Teil dieser Welt.“
„Wohnst du hier?“, fragte Atopie. „Ja, ich wohne hier. Ich empfinde es als befreiend auf die unendliche Weite des Meeres blicken zu können. Dann geht es mir besser.“ Sofort schnappte Atopie das Wort „besser“ auf und wusste, die Situation des Wesens nun mit Fingerspitzengefühl hinterfragen zu müssen, um es verstehen zu können. „Kann man näher an das Wasser herantreten?“, fragte er schließlich. „Ja“, antwortete das Wesen lächelnd. Atopie mochte sein Lächeln, obwohl es nicht richtig ist, von Mögen zu sprechen. Er empfand diese Sympathie gegenüber des Lächelns natürlich nicht, sondern fasste sie nur mit seinem Verstand auf. Da es nicht gestellt war und sehr freundlich wirkte, gab ihm sein Verstand das Signal, dass er es möge.
Atopie und das Wesen gingen nun etwas näher an das Meer heran. Man stelle sich vor, Atopie hätte fühlen können: Zwar wäre er ebenso fasziniert gewesen, aber hätte ihn nicht auch Angst ergriffen? Noch nie in seinem Leben hatte er vom Meer gehört und trotzdem nahm er seine gigantische Anwesenheit, nachdem ihm ein paar Fakten genannt worden waren, als selbstverständlich hin. Er dachte nicht einmal daran, dass das Meer auch gefährlich sein könnte, weil er sich nicht fürchtete. Wegen seines Wissensdurstes hatte er den Drang zu verstehen, dabei fühlte er jedoch kein Fünkchen Unsicherheit.
„Wohnst du hier alleine?“, fragte Atopie, während sie nur noch zehn Meter vom Meer entfernt waren. „Nein, eigentlich nicht, aber im Grunde schon.“ Dem Wesen fiel selbst auf, dass das eine weniger nachvollziehbare Antwort gewesen ist. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte es. „Man nennt mich Atopie, den Unbeschreiblichen. Ich bitte um Verzeihung, nicht nach deinem Namen gefragt zu haben. Nenne mir ihn bitte!“, entgegnete Atopie mit sanfter Stimme. „Mein Name ist Hopen. Die Betonung liegt auf dem „Ho“, wobei es so klingt, als befände sich noch ein h zwischen dem o und p. Das e zwischen dem p und n wird verschluckt.“ Atopie lächelte Hopen an und sagte: „Das ist ein interessanter Name. Und was bedeutet es, dass du hier nicht alleine wohnst, aber im Grunde schon? Es wäre schön, wenn du dir die Mühe machen würdest, mir dieses zu erklären.“ „Meinetwegen. Aber wo soll ich anfangen? Kennst du das Gefühl von Seelen umgeben zu sein, sie stehen nur wenige Zentimeter von dir entfernt, aber in Wahrheit sind sie innerlich Kilometer weit von dir entfernt?“ „Ist das bildlich gesprochenr?“, fragte Atopie, „ich kann es mir vorstellen, kenne das Gefühl bedauernswerterweise aber nicht. Ist es ein gutes oder schlechtes Gefühl?“ „Ein sehr schlechtes, weil man sich dann alleine fühlt.“ „Man fühlt sich also alleine, obwohl man von Seelen umgeben ist. Man ist in der Gemeinschaft einsam. Ich habe darüber, dass so etwas möglich ist, noch nie nachgedacht.“
Hopen sah verträumt aufs Meer, als fange es seine Gedanken auf. „Du siehst sehr nachdenklich aus“, sagte Atopie. „Tue ich das?“, fragte Hopen, „ja, ich bin sehr nachdenklich. Mich erdrückt innerlich zu viel.“ „Erdrücken? Aber es sind doch keine Gegenstände, die dich erdrücken, oder etwa doch? Ich habe schon einmal von diesem Wort gehört, doch verstehen kann ich es nicht.“ „Nein, es sind keine Gegenstände“, antwortete Hopen, „dieses Erdrücken passiert im Inneren des Körpers und ist leider nur schwer in Worte zu fassen. Kennst du das Gefühl, wenn ein wichtiger Teil in deinem Leben fehlt? So und noch schlimmer fühlt es sich an.“
„Ich verstehe. Du vermisst Dinge oder Seelen, die dir sehr am Herzen liegen, wenn fehlen zumindest das gleiche heißt wie vermissen. Hat es dieselbe Bedeutung?“ Hopen stimmte zu und Atopie fuhr fort: „Ich möchte nicht unhöflich sein oder gar als dumm erscheinen. Verzeihe mir, fragen zu müssen, was du unter Vermissen verstehst. Erklärst du mir den Begriff bitte?“ „Da verlangst du ja etwas von mir. Vermissen zu erklären ist nicht leicht, aber ja, ich möchte es versuchen. Wenn das Herz nach den Dingen schreit, die man liebt, wenn bestimmte Bilder sich vor den Augen festsetzen, und die Gedanken verrückt spielen, weil man am liebsten an einem ganz anderen Ort wäre oder die Dinge, die man liebt, zu sich wünscht, vermisst man. Es ist ein sehr starkes Gefühl und man vermisst eigentlich nur dann, wenn man auch liebt. Also glaube ich, dass Vermissen eine bestimmte Art des Liebens ist.“
Atopie dachte, wie versprochen, an Polaris. Er wusste nicht, ob er sie vermisste, weil er das Gefühl nur verstehen und nicht fühlen konnte, verstand aber sehr gut, dass die Beschreibung auf seine Gedanken zutraf. „Ich danke dir für deine Erklärung. Hopen, in meinen Augen bist du weise“, lobte Atopie. Dann lächelte er und sagte: „Ich möchte ein weiteres Mal nicht unhöflich sein oder gar als dumm erscheinen. Verzeihe mir, fragen zu müssen, was um Himmels Willen Lieben ist. Weder fühle ich es noch verstehe es annähernd. Lieben ... was ist das?“
Hopen lachte und sagte: „Du bist verrückt, Atopie. Aber das mag ich an dir.“ Verrückt war in Utopie zwar kein nettes Wort, aber er verstand, dass es sich um ein Kompliment an ihn handelte und bedankte sich deshalb. Schließlich sagte Hopen, dass es sich beim Lieben wohl um einer der kompliziertesten Gefühle handele. „Für mich beginnt Lieben ab dem Punkt, an dem man sich wohl bei einer gewissen Seele fühlt, z.B. bei einem Freund, und ihn vermisst, wenn man nicht mehr bei ihm ist. Hast du schon einmal eine zweite Welt in einer anderen Seele gefunden?“ „Ja, das habe ich am Anfang meiner Reise. Liebe ich diese Seele also?“ „Denkst du denn sehr viel an diese Seele?“, fragte Hopen. „Ja, ich denke viel an sie!“ „Hat sie dein Bewusstsein gegenüber Gott und der Welt verändert? Siehst du die Welt mit anderen Augen?“ „Ja!“ „Und nun die entscheidende Frage: Vermisst du sie?“ Atopie blickte auf den feinen Sand, versuchte in sein Inneres zu hören, zu erhaschen, was sein Herz flüstere, doch er hörte nichts. Eine innerliche Leere hatte sich seit seiner Ankunft in dieser Welt breit gemacht. „Nein, tue ich nicht.“ Hopen wollte nicht, dass es ihm nicht gut gehe und sagte schnell: „Das hat auch sein Gutes. Denn wenn du sie nicht liebst, musst du das Vermissen während deiner Reise nicht ertragen.“ „Ja, das stimmt natürlich“, gab er zurück und fragte, was Hopen denn nun eigentlich vermisse.
„Ich vermisse eine Menge. Zum einen meinen Vater, meine Freunde und zum anderen das Gefühl, eine richtige Familie zu sein. Die meiste Zeit streiten wir uns. Hast du eine Familie?“ Atopie nickte und wunderte sich, warum er sie nicht vermisse, fuhr aber sofort durch seine Frage fort, ob es also das Lieben und Vermissen sei, dass Hopen so nachdenklich mache. „Ja, gewissermaßen schon. Wie gesagt, ist Lieben sehr kompliziert und was noch komplizierter ist, aber gleichzeitig auch umso schöner, ist geliebt zu werden. Das, was mich bedrückt und mich somit nachdenklich macht, ist die Frage, ob ich so geliebt werde, wie ich es mir erhoffe. Verstehst du das?“ „Natürlich verstehe ich das. Lieben scheint wirklich sehr kompliziert zu sein“, sagte Atopie, „aber von wem erhoffst du dir das geliebt Werden noch einmal? Kann man denn nicht einfach fragen, ob man geliebt wird? Würde dies die Situation denn nicht erleichtern?“, fragte Atopie so neugierig wie er nun einmal war.
„Diese Gedanken habe ich bezüglich meines Vaters, meiner Mutter, meiner Freunde und, um ehrlich zu sein, auch bezüglich einer gewissen Person aus meiner Vergangenheit. Hach, es klingt so schön einfach, zu fragen, ob man geliebt werde und dann sei das Problem im Nu aus der Welt geschafft. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Aber leider gehöre ich zu der Sorte von Seelen, die sich solch einfache Fragen nicht auszusprechen wagen. Das liegt einfach daran, dass ich zu viel Angst vor der Antwort habe, die mir dann gegeben wird. Ich habe Angst enttäuscht zu werden und Enttäuschung schmerzt. Eine Welt breche für mich zusammen.“
Atopie konnte verstehen, was Hopen ihm erklärte und gab zur Antwort: „Meinst du eine Welt, die dir alles bedeutet?“ „Ja, genau das meine ich“. „Auf mich machst du den Eindruck, zwar noch körperlich jung zu sein, aber innerlich hundert Jahre Weisheit in dir zu tragen.“ Atopie blickte Hopen tief in die Augen, denn es war sein voller Ernst gewesen, was er gesagt hatte. Hopen schien sich über Atopies Eindruck zu freuen. Es lächelte.
Nachdem sie beide für einige Minuten die rauschende Stille des Meeres genossen hatten, wobei Atopie noch immer nicht die beruhigende Wirkung auf ihn begreifen konnte, sprach er das Thema Angst an. „Ich kann mich nicht erinnern, wie sich Angst anfühlt, doch so weit mein Verstand sich erinnert, ist es ein sehr extremes, schwer zu kontrollierendes Gefühl. Stimmst du mir zu?“ Hopen sah ihn an, als sei er ein alter, vertrauter Freund. „Atopie, erst einmal stimme ich dir zu. Aber was ich dir eigentlich sagen will und gerade nicht zum ersten Mal dachte, ist, dass ich den Verdacht habe, dass dir deine Gefühle geraubt wurden. War es schon immer so, dass du nichts fühlst, sondern nur verstehst oder ist das erst so, seitdem du in diese Welt gereist bist?“ „Ich danke dir, dass du mich darauf ansprichst. Auch ich wunderte mich schon, weil es in Utopie nicht so war, dass ich meine Gefühle nicht zuordnen konnte oder sogar gar keine hatte. Hinzu kommt, dass es mir nicht einmal etwas ausmacht. Es ist also erst der Fall, seitdem ich in dieser Welt stecke, wo die Seelen nicht vollkommen glücklich sind und weder Pflanzen noch Tiere sprechen hören können.“
Hopen nahm Atopie an die Hand und sagte: „Hattest du, als wir uns begegneten, nicht gesagt, du seist auf der Suche nach einem Gegenmittel für ein bestimmtes Gefühl? Wenn ja, welch Ironie des Schicksals! Du suchst nach einem Gegenmittel für ein Gefühl, das du selbst nicht einmal fühlst, weil du generell nicht fühlst.“ Auch Atopie belächelte diese Ironie des Schicksals.
Dann kniete er sich nieder und malte in den feinen Sand einen Stern. Das Gefühl auf der Hand von den feinen Sandkörner erinnerte ihn an Polaris.
Der strahlend blaue Himmel wurde von schwarzen Wolken eingeholt. Die Meeresluft duftete nun nach einem frischen Sommerregen. Atopie schaute Hopen fragend an. Wohin mit ihnen, wenn es gleich regnen sollte? Sie rannten zu einem Strandhäuschen und stellten sich vor dem Regen geschützt unter dessen Veranda. Der kalte Wind pfiff trotzdem um ihre Ohren. Atopie breitete seinen roten, seidenen Mantel so aus, dass sie Arm in Arm stehend beide darunter Platz fanden. „Das ist nun ja blöd, dass es regnet. Ich wünschte, deinen ersten Tag am Meer würdest du nur mit einem strahlend blauen Himmel erleben.“ „Ach, was redest du? Regen ist schön.“, gab er lächelnd und überzeugt zurück. „Ich meine es ernst. Regen ist schön. In Utopie ist er zwar ein Zeichen von Trauer, aber hier ist Regen doch nun wirklich eine schöne Sache. Mich freut es, dass es regnet. Sieh dir doch nur die vielen kleinen Tropfen an, die auf den Sand und auf das Meer prasseln! Schön, wirklich schön. Außerdem duftet der Regen sehr gut. Das kannst du nicht leugnen.“ Hopen mochte Atopies in seinen Augen verrückte Art und drückte ihn ganz fest an sich. Seitdem dachte Hopen immer an Atopie, wenn es regnete. Es sah seinetwegen die Welt mit anderen Augen.
„Du fühlst dich ja nicht gut, wenn du vermisst. Was ist deiner Meinung nach das Gegenmittel für dieses ungute Gefühl?“, fragte Atopie. „Ich denke, Liebe“, sagte Hopen, „aber ob das nun ein gutes oder schlechtes Gegenmittel ist, weiß ich nicht.“ „Wenn es hilft, ist es eindeutig ein gutes. Aber wie kommt man den an Liebe heran? Kaufen kann man sie ja schließlich nicht.“ Hopen antwortete: „Richtig, kaufen kann man sie nicht. Finde eine Seele, die dir sympathisch ist, lerne sie kennen, versuche sie immer zu verstehen, ergründe sie und lerne dann sie zu lieben.“ Atopie schmunzelte, weil Hopen sehr gute Antworten auf all seine Fragen auf Lager hatte.
„Was ist das für ein Gefühl, für das man ein Gegenmittel braucht?“, fragte Atopie sehr direkt. „Es ist ein Gefühl, das du manchmal schon nach dem ersten Blinzeln am Morgen spürst. Dieses Gefühl ist das Stechen im Bauch, das dich quält. Es lauert dich auf, wenn du dich alleine fühlst. Dein Herz brennt, weil es von all den Problemen, die es alleine tragen muss, erdrückt wird. Mir hilft es dann aufs Meer zu schauen. Ich habe das Gefühl, dass es mich auffängt. Ablenkung ist meine Medizin, doch die Krankheit kann immer wieder ausbrechen. Man muss versuchen sich abzulenken, die schlimmen Gedanken und Gefühle durch schönere ersetzen, aber meist reicht schon ein kleines Traurigkeitsbakterium und man ist wieder krank. Manchmal weiß man nicht einmal, warum man sich so fühlt. Das Gefühl, für das man ein Gegenmittel braucht, kann also auch unergründet sein. Bei mir ist es oft am schlimmsten, wenn ich im Bett liege. Dann holt es mich ein und ich würde mich am liebsten weg wünschen, weil es dann so ist, als reiße das Gefühl mein Herz auseinander. Momentan fühlt es sich an, als hätte ich meine Freunde verloren. Und wenn dieser Gedanke in einsamen Stunden hochkommt, zieht das Gefühl mich herunter, weil sie eigentlich immer mein Leben waren.
Da hast du mir eine wirklich gute Frage gestellt.
Was ist das für ein Gefühl, das mir Traurigkeit verschafft, das mir Schmerzen und Stechen im Bauch verpasst, das mich unsicher und unwohl fühlen lässt? Es lässt mich viel nachdenken. Es lässt mich nicht los. Wann wird es mich endlich loslassen und wann wird die Zeit kommen frei zu sein? Ich bin gefangen in all diesem Geschehen und in all meinen Gedanken, die ich nicht abstellen kann. Warum hält mich so viel fest und wieso überflutet mich die Traurigkeit immer wieder dann, wenn ich denke, ich habe sie überstanden? Ich renne durch meine zweite Welt auf der Suche nach Erlösung. Verfolgt vom Dunklen, unerreichbar das Helle vor mir, was sich immer weiter von mir entfernt. Ich falle zu oft zurück.
Wann werde ich stark genug sein, um das Helle endlich sicher erreichen zu können? Um mich herum sehe ich viele Situationen, die mir Hoffnung schenken und nehmen. Doch ich weiß, ich darf mich nicht beunruhigen lassen, denn auch wenn ich oft zurückfalle, darf ich eines nicht vergessen:
Die Hoffnung nie aufgeben!
Wie schwer mir jedoch dieser Gedanke fällt weiß keiner. Habe ich das Helle erreicht, sehe ich das Dunkle wieder hinter mir, das mich wieder aufholt. Wenn das Dunkle mich festhält, sehe ich das Helle vor mir und bin entschlossen, es zu erreichen. Es ist ein irrer Kreislauf, der nie zu enden scheint und mich völlig umhüllt. Trotzdem stelle ich mir weitere Fragen: Was ist hell und was dunkel? Und was bringt mir immer wieder dieses Gefühl der Traurigkeit? Ist es Unentschlossenheit? Oder der Kampf zwischen Hell und Dunkel? Sind es Erinnerungen, die ich nicht verkrafte? Fühle ich mich nicht wohl in meinem Ich? Was ist los? Was fühle ich? Wer weiß es? Wird es mich irgendwann loslassen?
Ich bin verwirrt und weiß nicht, was der richtige Weg für mich ist. Soll ich meinem gewöhnlichen Weg folgen? Oder neue Wege suchen? Ist es überhaupt richtig weiterzugehen? Oder sollte ich lieber stehen bleiben? Ich fühle mich unwohl und merke, dass so viel in meinem Herzen fehlt. Doch was?“
Hopen schloss seine Augen, atmete tief ein und aus, woraus es neue Kraft schöpfte, sah Atopie in die Augen, während der Regen noch immer vor sich hin prasselte, und sagte: „Vergiss das eben Gesagte und behalte nur eins im Hinterkopf: Hoffnung! Egal, was geschehen mag, die Hoffnung erhält dich am Leben. Sie ist es, die man niemals vergessen darf, denn sie stirbt zuletzt. Hoffnung stärkt dich und mich, jeden. Sie ist so schlagkräftig, dass man an bessere Zeiten glaubt. Atopie, gib alles auf, jeden einzelnen Gedanken, nur nicht einen: Hoffnung! Mein Name „Hopen“ stammt übrigens aus dem Norden Deutschlands, wo man Plattdeutsch spricht. Es heißt schlicht und ergreifend „hoffen“. Also steht es schlicht und ergreifend für das, wovon ich durch und durch geprägt bin, was mich wiederum am Leben hält: hoffen.“
Der Himmel klarte wieder auf. Nur noch wenige Wolken verzierten ihn und die Sonne stand tief. Atopies Verstand konnte die Abendröte nicht ergreifen. Er konnte den Sonnenuntergang nicht in Worte fassen. Für ihn war der Anblick der orangeroten am Horizont verschwindenden Sonne unglaublich. Hopen freute es natürlich Atopies Augen wegen des Sonnenunterganges strahlen zu sehen.
„Ich denke, erst jetzt ansatzweise zu verstehen, womit ich bei diesem mG zu tun habe. Im Übrigen nenne ich es mG, was für mittwochs-Gefühl steht, weil es in meiner Welt bei einem schönen Mädchen, das um ihre Liebe beraubt wurde, jeden Mittwoch erneut auftaucht. Somit leidet meine Welt jeden Mittwoch. Ich muss das Gefühl verstehen, um sie heilen zu können.“ Hopen seufzte und schwieg.
„Ich finde es mutig“, entgegnete es, „aber mache dir nicht zu viele Hoffnungen. Wer vom sogenannten mG erst einmal ergriffen wurde, wird auch immer wieder davon eingeholt. Es ist schwer aus einem solchen Loch der Gefühlswelt herauszukommen, weil es jeden verzweifeln lässt.“
Atopie dachte sich, vielleicht ja sogar Hopen helfen zu können: „Wäre es nicht schön, jeden um das Gefühl zu berauben, den ich auf meiner Reise begegne? Ja, sie wären stolz auf mich. Was muntert Hopens Herz auf? Wenn er die Mauer zwischen sich und seinen Freunden abreiße, ja dann, glaube ich, ginge es ihm besser.“ Nachdem er das gedacht hatte, was nicht lange gedauert hatte, weil Gedanken in Lichtgeschwindigkeit durch den Kopf schießen, schlug er Hopen vor, einen Freund zu besuchen, den er nicht verlieren wollte. Doch Hopen schien nicht von dieser guten Lösung begeistert zu sein, was Atopie sehr stutzig machte. Es wäre doch das Richtige, um sich besser zu fühlen. Wollte es dies denn nicht?
Doch dann verstand Atopie plötzlich: Natürlich wollte Hopen sich besser fühlen. Er wollte auch alles dafür tun, konnte aber nicht, weil ihn seine Angst daran hinderte. Es konnte nicht einfach voller Zuversicht auf einen Freund zugehen und alles retten, weil es sich unsicher fühlte. Dies war traurig, aber wahr. Atopie verstand, dass die Seelen etwas Kompliziertes waren, was man nicht einfach durch ein paar Worte oder Augenblicke verstehen konnte. Seelen waren unergründlich. Unergründlich für andere und noch viel mehr für sich selbst.
Atopie hatte sehr viel übrig für Hopen und versprach diesem deshalb, als er sich in der Morgendämmerung auf den Weg machen wollte, dass sie sich immer in ihren Träumen sehen werden. Wenn es ihn zu sehr vermisse oder zu sehr vom mG gefangen sei, solle es an den Augenblick mit Atopie denken, als er zum ersten Mal die Schönheit des Regens erkannte und Hopen dadurch verhalf, die Welt mit anderen Augen zu sehen.
Diorit
Wenn Atopie hätte fühlen können, hätte er sich wohl kaum von der Schönheit des Meeres getrennt. Zum Glück seines Volkes war dies nicht der Fall, weshalb er davon marschierte und gespannt auf das Neue war, das schon in den Bergen auf ihn wartete.
Seine Füße trugen ihn, seine Nase führte ihn. Je weiter er lief, desto holpriger wurde sein Weg. Erschöpfung empfand er nicht. Dafür aber überrumpelnde Neugier, so dass er es nicht mehr aushalten konnte, die Augen geschlossen zu lassen. Was war das? Das war Stein. Sehr viel Stein. Während des blinden Folgens seiner Nase und des Denkens an Polaris hatte er nicht bemerkt, mühelos einen Berg zu erklimmen. Eine weit entfernte Stadt sah aus wie Spielzeug. Er schaute sich um und war erstaunt, wie diese Welt von oben aussah. In Utopie gab es auch Berge. Davon war aber keiner so hoch wie dieser. Atopie fühlte sich dem Himmel näher und dachte sich, dass es nun auch nicht schade, wenn er noch höher klettere.
Weit oben, wo ein anderer Wind wehte, blieb er stehen, weil er plötzlich eine Melodie hörte. Eine Melodie, die ihm aus seiner Kindheit vertraut war. Manchmal, wenn er als Kind seinem Bruder Streiche gespielt hatte und sein Vater ihn eines Besseren belehren wollte, wurde er in eine dunkle Kammer eingesperrt. In Utopie war dies eine harte Strafe. In jener Kammer hörte er die Melodie ebenfalls. Wenn aber nur ein kleiner Lichtstrahl von draußen in die Kammer drang, verstummte sie. Darüber ist Atopie immer sehr froh gewesen, denn es war eine Melodie, die ein Kribbeln auf der Haut und einen Kälteschauer im Körper verursachte. Sie krabbelte ihm unter die Haut, ob er wollte oder nicht. Die Melodie hatte das Sagen.
In den Seelen erklang sie zwar auch, wenn sie traurig waren, doch es gehörte mehr dazu ihre grauenhafte Macht zu spüren. Die Melodie hatte die Macht jeden Körper erstarren zu lassen. Es gab Seelen, die sie jedes Mal hörten, wenn sie Spinnen sahen. Nur ein Ton der Melodie reichte aus und sie schrien schreckhaft auf. Es gab Seelen, die sie in der Dunkelheit spürten, weil sie glaubten, ein böses Wesen lauere unter ihrem Bett. Die Melodie löste also ein Gefühl aus, das jeder ebenso wie die Traurigkeit kannte. Ihre Töne verursachten ein unangenehmes Herzrasen.
Wenn er sich nicht nur an diese Fakten aus seiner Kindheit, sondern auch an das Gefühl, das diese Melodie also ausgelöst hatte, erinnert hätte, wäre er wahrscheinlich hastig umgekehrt oder hätte einen großen Bogen um sie gemacht. Doch Atopie fühlte nichts außer Neugier, um seinen Wissensdurst zu stillen.
Drum spitzte Atopie seine Ohren und entdeckte auf der anderen Seite des Berges einen kleinen Eingang zu einer Höhle. Dort war die Melodie klar und deutlich zu hören. Für ihn sprach nichts dagegen sie zu betreten. Mutig, wie er nun einmal war, bückte er sich, kroch auf Knien durch die Öffnung und war sehr überrascht.
Von einer Höhle erwartet man nicht viel, aber mit Sicherheit eine steinige Ausfüllung. Diese Höhle schien jedoch eine besondere zu sein. Ihr Boden, ihre Wände, ihre Decke waren aus Moos. Ihr Äußeres war steinig, ihr Inneres war weich. „Wunderst du dich über mich?“, fragte eine Stimme. Es war die Stimme der Höhle. „Ja, ich wundere mich über dich. Erlaube mir zu fragen, bei welchem Namen du gerufen wirst. Man nennt mich Atopie, den Unbeschreiblichen.“ „Mich nennt man Diorit. Bitte sei vorsichtig! Du weißt nun, wie es in mir aussieht. Eigentlich gewähre ich kaum einer Seele Zutritt zu meinem Inneren. Wie hast du zu mir gefunden?“ Atopie antwortete: „Ich hörte diese Melodie, folgte meinen Ohren, kroch durch diesen kleinen Spalt dort und dann stand ich wie noch immer hier.“
„Mich wundert es, dass du weißt, dass ich mich wundere. Woher weißt du das?“, fuhr Atopie fort. „Ich weiß es, weil ich weiß, dass ich nach außen hin einen anderen Eindruck mache. Man denkt, innerlich sei ich so hart wie äußerlich. Wenn man mich aber betritt - ich weiß nicht, wie du das so schnell geschafft hast - wird man vom Gegenteil überzeugt.“ Das war für Atopie sehr logisch.
Er verstand aber nicht, warum Diorit sein Inneres nicht auch nach außen scheinen ließ. „Was hindert dich daran, dich so zu geben wie du bist?“ „Mich hindert mein Umfeld daran. Es würde meine Situation nicht verstehen, es sei denn, ich erkläre sie bis ins kleinste Detail. Aber die Wahrheit will ich nicht preisgeben“, antwortete Diorit. „Was ist denn die Wahrheit?“, fragte Atopie direkt. Bei so gut wie jedem anderen hätte Diorit nun abgeblockt, um die Wahrheit zu verbergen. Doch Atopie strahlte etwas aus, das die Seelen zum Sprechen brachte. Er legte es darauf an, nicht oberflächlich zu sein, sondern über das zu sprechen, was letztendlich wichtig war. Er strahlte aus, neugierig aus eigenem Interesse zu sein und nicht der anderen wegen, um neuste Neuheiten auf Lager zu haben.
„Die Wahrheit ist, dass ich seit vielen Jahren die Erde liebe.“ „Das ist doch schön oder ist es eine unschöne Wahrheit?“ „Die Wahrheit ist, dass sie mich nicht liebt, was unschön ist. Ich bin ihr wichtig, sie braucht mich zum Leben, was schön ist, aber sie liebt mich nicht, was unschön ist. Zusammen sein könnten wir aufgrund ihrer Bedeutung beim Verwitterungsprozess eh nicht. Die anderen Bodenschichten wären enttäuscht von ihr. Sie musste schon einmal durchmachen von einer Liebe getrennt zu werden, von einer seltenen Blume, weil die darunter liegenden Bodenschichten ihr nicht die nötigen Nährstoffe lieferten. Sie ließen meine Erde im Stich. In solch schweren Zeiten bin ich besonders für sie da.“ „Aber müsste sie nicht auch für dich da sein, weil es schmerzt, nicht auf die erwünschte Liebe zu stoßen?“ „Ich finde, sie ist für mich da, indem ich mich auf ihr stützen darf.“
„Im Laufe der vielen Jahre habe ich begonnen für andere zu leben. Besonders für die Erde, so dass ihre Sorgen mir genauso nahe gingen wie ihr selbst. Ich opferte mich für die Probleme der anderen auf“, sagte Diorit. „Was war denn mit deinen eigenen Problemen?“, fragte Atopie. „Sie blieben dabei auf der Strecke. Ich glaube, ich opferte mich auf, um genau das zu erreichen. Man kann von einem passiven Wegrennen vor meinen Sorgen sprechen, da ich sie durch Ignorieren hinter mir lassen wollte.“ „Geschafft hast du es aber nicht, weil jeden die Probleme aus der Vergangenheit und Gegenwart immer wieder einholen. Habe ich Recht?“, fragte Atopie. „Ja, da hast du Recht“, antwortete Diorit, „oder man schafft es, mit ihnen abzuschließen. Aber genau das ist ja das Problem an der Problemlösung: Wie schließt man mit ihnen ab?“ Atopie stimmte der Höhle zu.
„Weiß die Erde denn, dass du sie liebst?“, fragte Atopie. „Nein, das weiß sie nicht. Für sie bin ich ein Freund, wie man sich ihn wünscht. Stets für sie da, egal, wie es mir selbst geht.“ „Ich verstehe unter einem Freund einen Seelenverwandten. Was heißt es, dass man stets für den anderen da ist?“, wollte Atopie wissen. „Ein Freund baut den anderen auf, indem er auch in schwierigen Zeiten für ihn da ist und sich um ihn sorgt.“ „Aufbauen? Ist das bildlich gesprochen? Denn eine Seele kann man ja nicht aufbauen.“ „Du bist ja ein lustiges Kerlchen“, gab Diorit mit einem kleinen Lachen in der Stimme zurück, „ja, das Aufbauen ist bildlich gemeint. Wie soll ich dir das erklären? Man sagt doch auch, dass man sich wegen Problemen geknickt fühlt oder das einen die Probleme herunterziehen. Auch das ist bildlich gemeint. Somit baut man die Seele bildlich gesehen auch wieder auf.“ „Mir gefällt diese bildliche Sprache sehr“, entgegnete Atopie, „aber wenn die Erde dich sogar zum Leben braucht, dann liebt sie dich doch auch.“ „Ja, natürlich tut sie das. Sie liebt mich aber auf eine andere Art und Weise, auf eine freundschaftliche. Man sagt in freundschaftlichen Fällen also eher, dass man jemanden gern oder lieb habe. Kannst du mir folgen?“, fragte Diorit. „Oh ja, kann ich. Diese Welt ist zwar kompliziert, aber wenn man sich mit ihr auseinander setzt, versteht man sie ein wenig.“
„Wie fühlst du dich?“, fragte Atopie. „Ich fühle mich schlecht. Dauerhaft könnte ich weinen. Denn die Zeit wird immer knapper. Sie rennt weg. Ich höre die Melodie“, antwortete Diorit panisch. „Wer rennt weg?“, fragte Atopie, „die Zeit? Die Zeit mit der Erde?“ „Ja, weil sie bald für 31.536.000 quälende Sekunden weg sein wird. Der Gedanke an die nur noch kurze Zeit mit ihr lässt mich in Tränen ausbrechen. Doch genau wegen der kurzen Zeit will ich wieder hochkommen, schaffe es aber nicht.“ „Ich verstehe, was du mir erzählst. Es tut dir sehr weh. Innerlich zerfrisst dich dieser Gedanke der kurzen Zeit, weshalb du es nicht schaffst, wieder hochzukommen, dich also besser zu fühlen.“ „Ja, es tut mir so weh. Ich weiß nicht, wohin mit mir und meinen Gedanken und Gefühlen. Abends bekomme ich kein Auge zu. Die Melodie ist dann viel zu laut, so dass sie mich beinahe umbringt.“
„Ich verstehe noch nicht, was genau die Melodie ausmacht? Hörst du sie immer?“ Diorit sagte daraufhin: „Nicht immer. Denn wenn ich abgelenkt bin und gar keine Zeit habe, an die Erde zu denken, verstummt sie. Sobald die Zeit jedoch da ist, beginnen diese grauenhafte Töne in mir zu erklingen. Was sie ausmacht, weiß ich nicht. Eigentlich ist es blödsinnig sie zu hören. Momentan ist alles in Ordnung zwischen der Erde und mir, abgesehen von der Wahrheit an sich. Aber ich kann die Melodie nicht abstellen.“ „Ist Ablenkung gegen diese Melodie und gegen das schlechte Gefühl also dein Gegenmittel?“ „Ja, es ist ein Gegenmittel. Oft begebe ich mich dann zu anderen Höhlen, um nicht alleine zu sein. Das hilft.“ „Siehst du denn nicht ein klein wenig Licht im Sinne von Hoffnung?“, fragte Atopie. „Ist das eine ernst gemeinte Frage? Ich sehe kein Licht, habe keine Hoffnung. Das Einzige, auf das ich mich freue, ist ein spezielles Gebräu, von dem man berauscht wird und somit vergessen kann, wenn man zu viel davon trinkt.“ „Wieso willst du denn vergessen?“ „Weil es mir dann besser geht. Nun gut, besser ist vielleicht das falsche Wort. Denn in dem Moment fühlt man sich vielleicht besser, aber wenn das Gebräu nachlässt, fühlt man sich meistens noch schlechter als vorher.“ Atopie war schockiert von einem solchen Gebräu. „Sollte man dann nicht lieber gleich die Finger davon lassen?“ „Wenn man stark genug ist zu widerstehen,“ sagte Diorit nach einem langen Seufzer, „sollte man auch die Finger davon lassen. Aber es ist leicht so etwas jemandem zu raten, wenn man nicht weiß, wie sehr er leidet. Du musst verstehen, dass das Gebräu und die Freundschaft zu der Erde meine einzigen Lichtblicke sind. Den einen kann ich doch nicht auch noch aus den Augen verlieren.“
„Ich habe Verständnis für dich, Diorit. Glaube mir das! Doch wenn das Gebräu etwas Berauschendes ist, das vergessen lässt, gib es auf und finde eine andere Lösung!“, bat Atopie. „Was für eine Lösung denn? Es fehlt nur noch, dass du sagst: Du schaffst das schon! Kopf hoch! Dann bist du wie die anderen.“ „Nein“, erwiderte Atopie mit bebender Stimme, „unterstelle mir nicht, ich sei wie die anderen. Schließlich habe ich vor Augen, dass du nicht der Fels bist, für den sie dich alle halten. Ich sehe doch, wie verletzlich du innerlich bist. Ich verstehe, dass du leidest und von dieser panischen Melodie erdrückt wirst. Wie gesagt, habe ich Verständnis und das Bedürfnis dir zu helfen.“ Diorit traf Atopie an einem wunden Punkt, als sie sagte, er sei wie die anderen. Zwar fühlte er nicht, wie ungern er so etwas hörte, doch es genügte sein Verstand, der ihm zuverlässig mitteilte, dass er ganz und gar nicht wie die anderen sei. Er war Atopie, der Unbeschreibliche. „Danke, dass du mir helfen willst. Das weiß ich zu schätzen. Ich merke ja, dass du mutig bist. Verändern kannst du die Begebenheiten jedoch nicht. Eine solche Macht hast du nicht. Du kannst zuhören und Verständnis haben, was sehr wertvoll ist und auch schon helfen kann. Aus dem Loch muss man sich aber selbst herausziehen oder die Situation ändert sich tatsächlich, was in den meisten Fällen aber wohl kaum zutrifft.“
Durch die Worte, Atopie könne der Höhle nicht helfen, ließ er sich bezüglich des schönen Mädchens nicht aus der Fassung bringen. Sein Ziel hatte er klar und deutlich vor Augen. Wiederum lag dies an seinem Gefühlsverlust. Wo keine Gefühle waren, konnten auch keine Selbstzweifel auftreten. An dieser Stelle ist also die Frage, ob ihn seine übersteigerte Selbsteinschätzung in den Tod treiben könnte oder ob einfach die Weisheit zutreffe, dass Hochmut vor dem Fall komme. Fest steht, dass er für den Gefühlsverlust nicht verantwortlich war, weshalb er für unschuldig gesprochen werden muss. Atopie war mit Sicherheit zu sehr von sich selbst eingenommen, doch hätte ihm der Zauber nicht seine Gefühle und Emotionen genommen, ginge er wahrscheinlich ganz anders an die Dinge heran. Wie gesagt, war dieser Verlust Fluch und Segen zugleich, jedoch unabhängig davon, welch gutes Herz und guter Verstand ihm waren.
Atopie verstand, dass es sinnlos war gegen Diorits Lebenseinstellungen anzureden. Ihr Leben bestand aus den Glücksmomenten des seltsamen Gebräus – der Konsum war für Atopie beinahe unverständlich, weil er in ihm zu Recht keinen Ausweg vor Augen hatte – und aus den Momenten mit der Erde, was Diorit ebenso aufmunterte wie deprimierte.
Er sprach Diorit nicht weiter auf die 31.536.000 Sekunden an, da er sich denken konnte, was Sache sei: Zum einen sah Diorit gegen diese Zeit an, weil sie die Erde höllisch vermissen werde, doch zum anderen erhoffte sie sich auch ein klein wenig Unabhängigkeit in Bezug auf ihre Glückseligkeit, auch wenn sie nicht ein bisschen daran glaubte. Diorit wollte also ein Leben ohne die Erde, konnte dieses aber nicht leben, weil sie die Erde zum Leben brauchte. Die Höhle erlitt einen dauerhaften Konflikt zwischen Verstand und Herz, wobei das siegte, was lauter in ihr schrie: ihr Herz. Denn das Herz braucht immer die meiste Zuneigung. Verstand und Herz sind keine Geschwister, die gleich behandelt werde müssen. Das Herz hat Vorrang, weil eine jede Seele ohne Herz ein Niemand ist. Ohne Verstand ist eine jede Seele vielleicht dumm, aber sie ist kein Niemand, weil sie Gefühle hat.
Als Atopie Diorit davon berichtete, dass er weiterreisen müsse, weil er noch nicht glaube, ein Gegenmittel für das Gefühl, das man habe, wenn man sich schlecht fühle, gefunden zu haben, sagte sie: „Pass bitte auf, dass du niemals so endest wie ich! Ich will nicht, dass du diese nervös machende Melodie eines Tages auch jede ruhige Sekunde deines Lebens hörst.“ Zwar versicherte Atopie, dass er aufpassen werde, doch im Grunde wusste er, dass man noch so viel aufpassen kann, wie man will. In ein tiefes Loch fallen will niemand und das hat auch niemand verdient. Keine Seele kann darauf aufpassen, dass ihr niemals das Herz fein säuberlich in Stückchen zerrissen wird. Wie will man das verhindern? Durch Abschottung und Abkapselung, Verschlüsselung der Seele? Doch das führt letztendlich zum selben Abgrund.
Porzellanpuppe
Atopie hätte Polaris gerne gefragt, ob er jedes Mal die Augen schließen solle, wenn er weiterreise, oder nur das eine Mal, als er bei Padparadscha landete. Da es bis jetzt jedoch immer gut geklappt hatte, vertraute er aufs Neue blind Polaris' Rat und marschierte davon.
Er war lange durch einen Wald gewandert, in dem es nach Laub geduftet hatte. Diesen frischen Blätterduft kannte er zuvor nicht, weil es in Utopie nur den Sommer, nicht den Herbst, gab. Natürlich war der Geruch von Laub für Atopie sehr angenehm und würde der Welt Utopie nicht schaden, doch das Fallen der Blätter symbolisiert nicht weniger den Tod wie der Tod einer Seele, auch wenn der Herbst ebenso mit einem Neubeginn, mit einem Frühlingserwachen verbunden ist. Mit dem Tod wurde das idyllische Leben in Utopie bis zum Verschwinden von Arminius nie konfrontiert.
Der Laubduft lag noch immer in der Luft, als sein rechter Fuß plötzlich am Boden klebte. Aus Reflex, weil es nicht mehr vorwärts ging, öffnete er seine Augen und sah eine große Pfütze an durchsichtigen Klebstoff. In der Mitte dieser Klebstoffpfütze stand ein goldenes Podest, verziert mit silbernen Rosen, auf dem sich weiße Porzellanscherben befanden. "Was willst du hier?", fragte eine Stimme, die unangenehm hoch, gequetscht und rau klang. „Glückliches Leben!“, sagte Atopie zunächst. „Glücklich?“, fiel ihm die weinerliche Stimme fragend ins Wort. „Bist du unglücklich?“ „Ach, unglücklich ist bei meinem Elend gar kein Ausdruck mehr.“ Atopie, der mittlerweile annahm, dass die hässliche Stimme nur von den Scherben ausgehen konnte, wusste zwar nicht warum, aber irgendetwas war ihm zumindest vom Verstand her unsympathisch an diesem Wesen aus Porzellan. „Was bedrückt denn dein Herz?“ „So vieles, so vieles. Alles ist so schwer.“ „Du stehst auf einem schönen Podest.“ „Das waren noch Zeiten.“ „Wann waren was für Zeiten?“, fragte Atopie, um verstehen zu können, was denn so schwer sei. „Als man sich noch um mich sorgte und wollte, dass es mir gut geht, waren noch gute Zeiten. Dann aber brach meine Welt zusammen.“ „Und dann brachst auch du zusammen?“, fragte Atopie mit sanfter Stimme. „Sag das doch nicht so hart! Mein Leben lang stellte man mich auf dieses Podest, aber dann ...“ Sie seufzte laut auf und klang dabei sehr weinerlich.
Atopie hatte seinen rechten Fuß mittlerweile vom Klebstoff befreien können und setzte sich auf einen kleinen Felsen nieder. Er dachte an Polaris und daran, dass er durch sie verstanden hatte, dass es immer eine Kehrseite gab. Mit seinem Fuß malte er einen Stern in den Waldboden und sagte verträumt: „Bitte nenne mir deinen Namen!“ „Meinen Namen habe ich verdrängt. Was sagt ein Name schon über eine Seele aus? Ist es so wichtig einen Namen zu haben?“ Atopie entgegnete: „Ich finde es wichtig einen Namen zu haben. Meiner kommt aus dem Griechischen. Sokrates nannte man auch Atopie. Frei übersetzt heißt mein Name „Ortslosigkeit“ oder „nicht zuzuordnen“. Die Bedeutung ist nicht leicht zu erklären, weil es sich um eine Unbeschreiblichkeit im Sinne von selten Erlebtem, von Herausgehobenem handelt. Dabei ist nicht die Rede von einem Ideal. Was sagst du zu dieser Definition?“ „Es freut mich wohl, dass dein Name eine solche Bedeutung hat“, sagten die Scherben, „auch du scheinst von Bedeutung zu sein. Das kann ich von mir nicht behaupten. Ich versagte und bin allein. Also benötige ich auch keinen Namen.“
Atopie beschloss sich auf dem Felsen auszuruhen und gab dem Wesen den Namen Porzellanpuppe. Er dachte sich, dass sie einst auf Händen getragen wurde, wenn nicht vergöttert, und sie eines Tages auf sich gestellt war, aber nicht mit der Situation klar kam und deshalb zerbrach. Atopie hatte im Laufe seiner Reise viel dazu gelernt. Oft sprach diese Welt nicht nur durch Worte zu ihm, sondern durch Bilder. Diese Scherben symbolisierten eine kaputte Seele.
Ein leises Schlurzen riss ihn aus seinen Gedanken. „Was ist denn? Darf ich dir helfen? Weine doch nicht“, sagte er tröstend. „Alles liegt in Scherben. Ich bin einsam und niemand will mich mehr.“ „Wieso sollte dich niemand wollen? Ich will gerne mit dir reden und dich verstehen.“ „Was soll es da schon groß zu verstehen geben? Ich habe es ja so schwer.“ Atopie wusste nicht recht, was er darauf entgegnen solle, weil sie verblüffend gut im Selbstbemitleiden war.
„Ich hatte eine so wunderbare Kindheit in einer wunderbar heilen Welt. Und was ist mir nun geblieben? Nichts.“ „Bitte verzeihe mir zu fragen, wie es zu der Klebstoffpfütze kommt.“ „Ach, du Guter“, antwortete sie mit ihrer schrillen Stimme, „man versucht ja alles, um sich irgendwie zu retten, damit das Leben nicht noch mehr den Bach hinunter geht.“ Es war nicht leicht solche Aussagen zu verstehen, da die Porzellanpuppe sich nicht nur unpräzise ausdrückte, sondern auch noch eine verwirrende Bildersprache einschob. Deshalb hinterfragte er: „Als dein Leben plötzlich den Bach hinunterging, alles also in die Brüche ging“, er war selbst überrascht, dass er davon redete, wie etwas in die Brüche ging, wie metaphorisch, „wolltest du dir selbst helfen, scheitertest aber.“
Dieses Scheitern war klar zu sehen. Er blickte auf die Klebermasse am Boden und fragte sich, warum so viel Kleber nicht genügen konnte. „Bekamst du Hilfe von deiner Familie, als du dein Leben retten wolltest?“ „Ja, bekam ich. Aber nun meinen sie, dass ich sie enttäuschte. Ich wollte nicht auf sie hören, als sie sagten, ich solle nicht zurück zu dem, der mein Herz brach, mich ausnutze. Sie hatten Recht und nun bin ich vollkommen allein.“
Diese Einsamkeit mitten im Walde verstand Atopie. „Ich verstehe dich und wünschte, dir helfen zu können. Du bist traurig, nicht wahr?“ „Jaa“, hörte man im unangenehmen Klang die Scherben sagen. „Erzähle mir doch in Ruhe, was in deinem Leben vorgefallen ist.“ Schon lange hatte keiner mehr Interesse an ihrem Leben gezeigt. Sie erzählte einfach los. „Ich wurde schwanger, heiratete, lebte dahin. Ich ahnte, dass dieses Leben irgendwann sinnlos sei. Unglücklich fiel ich in die Hände eines anderen, der mich für einen Moment glücklich machte. Er wollte mit mir ein neues Leben aufbauen. Ich blühte auf. Doch dann ließ er mich wieder fallen, nachdem er Geld von mir gesichert hatte.“ In ihrer Stimme war noch immer ein Hauch von Selbstmitleid, aber es war viel mehr Atopies Scharm, der sie nun beim Erzählen umhüllte. Sie erzählte einfach aus ihrem Leben dahin, weil sie auf eine Seele getroffen ist, bei der man gar nicht anders konnte.
„Ich will nicht mehr leben. Ich bin kurz vorm Selbstmord.“ „Du ziehst Mord in Betracht? Aber dann gibt es doch keine Chance auf Besserung.“ „Es freut mich, dass du Selbstmörder nicht verstehst. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen in Bezug auf dein Leben. Selbstmord begeht man, wenn man keinen anderen Ausweg mehr sieht als alles zu beenden. Von Hoffnung ist dann nicht mehr die Rede, weil man hofft, dass der Tod endlich den Schmerz sterben lässt. Natürlich ist jeder Selbstmörder egoistisch, weil er nicht nur seinen Schmerz, sondern auch die Seelen die ihn lieben, zurücklässt. Seinen eigenen Schmerz stellt er über den der anderen, den er durch seinen Tod verursacht. Angehörige können Selbstmord also nicht nachvollziehen, was sehr verständlich ist. Ich denke, bis hierhin verstehst du es.“ Atopie nickte und fragte, ob Selbstmörder ihren Tod ankündigen. „Einige schon, doch das sind meistens die, die dadurch Aufmerksamkeit erlangen wollen. Die, die das Leben wirklich satt haben, keinen Ausweg mehr sehen, sind innerlich so kaputt, dass sie nicht einmal Hilfe suchen und es lieber heimlich beenden. Ein solches Verhalten zeugt von einem wahren Willen.“
Sie hatte erwähnt, kurz vorm Selbstmord zu sein. Wollte sie also nur Aufmerksamkeit von Atopie? Ein weiterer Fakt machte ihn stutzig: „Du sagtest, deine Kindheit war wunderbar. Die ersten Lebensjahre prägen die Seele am meisten. Warum bist dann heute so hoffnungslos verzweifelt?“ „Ich weiß es nicht.“ Aber dann erkannte Atopie die Wahrheit, die sie selbst nicht vor Augen hatte. Ihre Eltern hatten sie immer auf Händen getragen. In ihrer Kindheit und auch Jugend war sie niemals auf sich selbst gestellt gewesen. Selbstverständlich zerbrach sie innerlich und auch äußerlich als Porzellanpuppe in dem Moment, in dem sie niemand mehr fest hielt. „Ach, alles ist so schwer“, murmelte sie weinerlich vor sich hin.
Atopie war an einem Punkt angekommen, an dem er nicht wusste, wie man helfen solle. Nicht einmal vom mG erzählte er, obwohl sie ergriffen war von diesem Gefühl.
Er ließ ihre Verzweiflung nicht an sich heran und war stets verständnisvoll. Es war ein Schutz. Denn somit konnte er für sie, die Porzellanpuppe, und für all die anderen da sein, die vom mG ergriffen waren. Das wollte er nicht, weil er sich dazu verpflichtet fühlte, sondern weil ihm danach war. Er wollte es aus freien Stücken.
Nach ein paar Tagen Rast, an denen beide viel geschwiegen hatten, verabschiedete sich Atopie von der Porzellanpuppe. „Willst du mit mir reisen? Denn das, was du brauchst, ist Ablenkung.“ „Ich danke dir, aber ich bleibe lieber auf meinem Podest.“ Für Atopie war es ein Bleiben im Selbstmitleid, aber er hatte durch Diorit verstanden, dass Helfen nur in Maßen möglich war.
Das mG
Atopie marschierte hinaus in die weite Welt der Seelen, die nicht nur weder Pflanzen noch Tiere sprechen hörten, sondern auch vom mG aufgelauert wurden. Er fragte sich, ob man ihm wohl glaube, dass jede Seele, auf die er traf, dieses Gefühl kannte. Er dachte an Polaris, Padparadscha, Hopen, Diorit und die Porzellanpuppe und fragte sich, wie es ihnen wohl gehe. Wie sah es in seiner Heimat aus? Zum ersten Mal während seiner Reise stieß er auf viele Fragen. Es waren Fragen, die ihn beschäftigten und auf die er keine Antworten hatte.
Als er davon marschierte, schloss er nicht seine Augen. Er wollte nicht blind auf das vertrauen, was auf ihn zukommt, sondern miterleben, wohin der Weg ihn führen werde. Die Gegend, die er durchschritt, war sehr ländlich und abgelegen von der Stadt. Er lief Tage lang über Felder und fand nachts trotz der Sternendecke kaum Schlaf.
Er fragte sich wie am Anfang seiner Reise, wer er war. Er war Atopie, der Unbeschreibliche. Für ihn bedeutete dies jedoch nichts mehr. Unbeschreiblich? Was sollte das schon über ihn aussagen? Was machte ihn also aus? Ihm genügte die Antwort der Unbeschreiblichkeit nicht mehr und er hatte den Drang zu verstehen, wer er war. Doch er verstand nicht, was seinen Verstand noch mehr dazu trieb, sich dies zu fragen; immer wieder dies zu fragen.
Atopie, der Unbeschreibliche, war an einem Punkt angekommen, an dem sein Verstand versagte. Andere hatte er immer verstehen können, nun jedoch, als er diese Frage beantworten wollte, scheiterte er.
Da er es beim besten Willen nicht wusste, bohrte er in sich weiter: „Ist diese Reise sinnvoll? Habe ich ein klein wenig verstanden, was das mG ausmacht? Wozu nützen mir all die Fakten, wenn ich durch sie nicht zu einem Gegenmittel gelange?“ Alles wäre schön und gut gewesen, wenn er sich diese Fragen, auf die er keine Antworten hatte, gefragt hätte. Nicht zu verstehen, trieb ihn in den Wahnsinn. Wer war er? Was war er? Was war wichtig? Was für einen Sinn hatte sein Leben? Er wusste, zufrieden sein zu wollen, aber war er das? War er noch immer zufrieden mit dem, was war?
Auf diese Frage hatte er eine Antwort und weil es nicht dieselbe war wie früher, begann er zu weinen. Zum ersten Mal in seinem Leben wurden seine Augen feucht und lauwarme, nach Salz schmeckende Tränen kullerten an seinen Wangen hinunter. Er spürte wie sich seine Stirn zusammenzog, wie sich sein Mund krümmte. Atopie schluchzte laut auf. Er weinte bitterlich und fühlte nun, wie es war, wenn man so sehr weinte, dass man nach Luft schnappen musste.
Er legte sich weinend auf den Rücken, schlug die Hände über seinen Kopf und versuchte ruhiger zu atmen. „Was ist das in mir für ein grausames Gefühl?“, fragte er sich schluchzend. Atopie konnte sein Gefühl nicht in Worte fassen. Er wusste nur, dass momentan sein sehnlichster Wunsch war, davon zu fliegen. Nicht, um sich besser zu fühlen, sondern um irgendwo zu hart aufzuprallen.
Er ballte seine Faust und schlug auf die kalte Erde. Was trieb ihn dazu? Wut. Er war wütend auf sich selbst, weil er das Gefühl hatte, versagt zu haben. Zu seiner Rechten befand sich eine Pfütze. Atopie rappelte sich auf, stütze sich auf seinen Händen und sah ins Wasser, um sein Spiegelbild zu erblicken. Er schrie laut auf und schlug mit seiner Faust ins Wasser, um seinen erbärmlichen Anblick nicht ertragen zu müssen.
Wieder auf dem Boden liegend wollte er sich weg wünschen und all seine Wut und seine Tränen zurücklassen. Atopie hatte zunächst das Bedürfnis zu fliehen und erst dann zurückzukehren, wenn er sich besser fühle. Als er jedoch erneut daran dachte, nicht mehr zu wissen, wer er war, weil ihm dieses grausame Gefühl seinen Verstand geraubt hatte, wollte er weder gehen noch stehen. Es ging ihm so schlecht, dass er sich nicht mehr besser fühlen wollte. In diesem Augenblick gab er die Glückseligkeit auf.
Seine Entscheidung Utopie zu verlassen bereute er zutiefst. Er hasste sich selbst für seine Dummheit.
Erst jetzt hatte er das Gefühl, die Beendigung des eigenen Lebens zu verstehen, weil er selbst diesen schweren Stein auf seinem Herzen empfand. Sein Herz brannte. Ihm fielen nicht einmal Worte ein, warum dies so war. Er dachte nur: „Ich verstehe ein Ende zu wollen. Wer allem ein Ende setzt, will den Schmerz doch nur hinter sich lassen. Der subjektive Gedanke, alles sei dadurch besser, ergreift einen. Man will nicht mehr und kann nicht mehr.“
Atopie war verzweifelt und in diesen Momenten der Verzweiflung entdeckte er in seinem Herzen ein weiteres Gefühl, das er nie zuvor gefühlt hatte. Sein Herz schrie nach den Seelen, die er liebte. Dieses Gefühl der Sehnsucht erkannte er dadurch, dass er sich ihre Gesichter vor Augen führte. Er schloss seine Augen, griff nach ihnen, doch als er seine Augen öffnete, waren sie nicht da. Weil er dies aber sehr erhofft hatte, fühlte er ein kaltes Stechen im Herzen. Es zog sich zusammen, als krampfe es. Gleichzeitig schmerzte sein Magen. Er krümmte sich, weil es sich so anfühlte, als schlage ihm eine Faust in den Magen. Was war nur mit ihm geschehen? Wie konnte das mit ihm passieren? Er war doch stark gewesen. Warum brach nun seine heile Welt zusammen?
Wer schon einmal so bitterlich geweint hat wie Atopie, wird verstehen, dass seine Augen nach der Zeit brannten. Jedes Blinzeln schmerzte. Was sehr viele traurige Seelen in dieser Welt Nacht für Nacht heimlich taten, tat er zum ersten Mal: Atopie weinte sich in den Schlaf.
In der Nacht träumte er davon, dass er sich innerlich aufschlitzt, weil alle Seelen, die er liebt, tot sind. „Warum stoppe ich nicht die Blutung?“, fragte er sich. Im Traum hatte er Gedankengänge wie nie zuvor: „Mittwochs-Gefühl, ich weiß, wie billig und schwach zugleich ich armselige Kreatur bin. Aber ich muss aufhören, mir selbst weh zu tun, weil sie mich ansonsten wegsperren. Mein Herz werden sie in eine kleine, weiße Jacke ohne Arme stecken.“ Der Geschmack seines Blutes widerte ihn an. Seine Augen waren rot unterlaufen. „Ich verstecke meine Augen hinter meinem blutigen Lächeln“, dachte er sich, „welch Glück ich habe, dass mein blasses, blutverschmiertes Gesicht für die anderen Seelen nicht sichtbar ist. Sie können es in Utopie nicht sehen, obwohl sie es manchmal für wenige Sekunden zu fühlen glauben, den Gedanken aber wieder loslassen und verlieren, weil meine Wunden sich hinter meinem Lächeln verbergen. Eines Tages wird das jetzt noch frische Blut getrocknet sein und nach und nach abblättern, so dass nur noch unsichtbare Narben hinter meinem Lächeln verborgen sind. Auf diesen Tag warte ich, Atopie, der Unbeschreibliche. Bis dahin, um mir die Zeit zu vertreiben und nicht zu sehr an die Schmerzen zu denken, kümmere ich mich um meine Wunden, weil ich nicht so lange bluten will bis es zu spät ist. Das will ich nicht.“
So verwirrt und zerrissen verblieben er und das mG mehrere Tage. Am schlimmsten war es am Morgen, wenn er das erste Mal blinzelte und von allen Erinnerungen des wahren Lebens eingeholt wurde. Da wünschte er sich wieder vom irrealen Alptraum der Nacht ergriffen zu werden und fragte sich verzweifelt, wie oft er denn noch immer und immer wieder erwachen solle, wenn er doch so sehr darum gebeten habe, für immer schlafen zu dürfen. „Gute Macht, gute Macht, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage? Gute Macht, ich rufe bei Tag, doch du gibst keine Antwort. Ich rufe bei Nacht und finde keine Ruhe. Ausgelöscht sei der Tag, an dem mein Dasein beginnt. Verfinstert seien die Sterne. Ich warte auf mein Ende, auf die Dunkelheit meines Daseins. Wozu Licht für mich, wenn mein Leben zum Ekel geworden ist? Lebendigkeit hatte die gute Macht im Sinn, doch bin ich es, der den Sinn scheitern lässt.
Atopie begann ohne Sinn nur noch dahinzuleben. Er sah sehr herunter gekommen aus. Sein Mantel war teils aufgerissen und das Rot war kaum noch zu erkennen. Das kümmerte ihn aber nicht. Er hatte nun verstanden, was es mit diesem mG auf sich hatte und konnte nicht begreifen, was geschehen war: Er wollte ein Gegenmittel für das mG in dieser Welt suchen und es deshalb verstehen. Durch den Zauber verlor er jedoch die Gabe zu fühlen und gewann sie in dem Moment wieder, in dem er selbst vom mG ergriffen und niedergeschmettert wurde. Hatte die im Zauberspruch genannte gute Macht dies beabsichtigt? Wollte sie ihn dort haben, wo er jetzt war und zwar am Boden?
Der Landwirt und die Selbstfindung
Wahrscheinlich wäre Atopie heute ein Teil jenen Feldes geworden, wenn nicht eines Tages ein verbitterter Landwirt gekommen wäre und ihn gepackt hätte. Dieser konnte ihn gut für seine Arbeit auf dem Land gebrauchen. Atopie wehrte sich nicht einmal, als er mitgeschleppt wurde. Dazu war er viel zu schwach. Der Landwirt gab ihm zu essen und ein Schlafgemahl, zwang ihn aber gleichzeitig hart zu arbeiten. Zwar hatte Atopie wenig Lust dazu, da es sein Leben nicht aufheiterte - nicht einmal die schönen Erinnerungen an Utopie, wo man lebensfrohe Lieder bei der Arbeit sang - doch ihm war sein leben so egal geworden, dass er sich seine Freiheit stehlen ließ und für den Landwirt arbeitete. Er hatte das Gefühl, nichts mehr verlieren zu können, da er schon alles verloren habe.
Der Landwirt war ein zorniger Mann. Wie Atopie trug er einen zerrissenen Mantel, hatte aber viel längere, braune Haare und einen buschigen, ungepflegten Bart. Er brüllte Atopie an, auch wenn es keinen Grund dazu gab. Zwar hatte Atopie seine Lust zu leben verloren, doch intelligent war er noch immer. Er beobachtete die Lebensweise des Landwirtes Tag für Tag und machte sich ein Bild von ihm. Dabei erinnerte er sich daran, wie er es war, sich selbst zu hassen. Er war der Meinung, dass es einen Grund für den Zorn des Landwirtes geben müsse.
Im Übrigen flüchtete Atopie auch deshalb nicht, weil die Arbeit ihn vom mG ablenkte. Erst nun verstand er, was Ablenkung bedeutet und warum sie so wichtig ist. Wenn Atopie sich auf die Arbeit konzentrieren musste und nicht an seinen innerlichen Schmerz dachte, fühlte er die Traurigkeit nicht. Zwar holte sie ihn kurz nach seinen Verpflichtungen wieder ein, doch er genoss die wenigen Minuten.
Mit einem Knecht hatte Atopie sich sein Zimmer zu teilen, der des Nachts das ein oder andere Mal durchs Fenster verschwand. Wohin interessierte Atopie zunächst nicht bis dieser fragte, ob er nicht mit wolle. Was hatte er schon zu verlieren, abgesehen von ein paar Stunden Schlaf? Sie liefen schnellen Schrittes eine halbe Stunde bis sie in einer kleinen Vorstadt angekommen waren. Dort betraten sie ein Lokal, in denen viele Gäste saßen und laut miteinander redeten. Alle tranken etwas. Das Licht war gedämmt. Kerzen standen auf den Tischen. Dort schien der Knecht viele zu kennen, so dass ihnen sofort etwas zu trinken angeboten wurde. Sie setzen sich an einen hölzernen Tisch zu denen, die sich als sehr freundlich erwiesen. Atopie nahm ebenfalls wie der Knecht einen Krug zu trinken entgegen. Der Inhalt war bräunlich und hatte eine Schaumkrone. „Was ist das für ein Getränk?“, fragte Atopie neugierig. Der Knecht lachte, sagte, „Prosit!“, wobei er seinen Krug anhob. Atopie schaute nur verdutzt aus der Wäsche und wusste nicht, was er antworteten solle. Prosit? „Ach nee, kommst aus der Stadt, wo man „prost“ sagt, was? Wir auf dem Land bleiben dem „prosit“ treu. Heißt „möge es nützen“. Ich kann Latein. Na da staunst, was?“ Noch immer seinen Krug hebend erwartete der Knecht nun anscheinend ein „prosit“, das Atopie lächelnd entgegnete. Denn zum einen hatte er noch keine Seele derartig sprechen hören und zum anderen fand er die momentane Situation sehr interessant, in der er ein Getränk trank, das nützen solle.
Nach und nach hatte er wie die anderen immer mehr Krüge getrunken und konnte nicht fassen, was mit ihm geschah. Unbeschreiblicherweise fühlte er sich besser, als wenn ihn diese Flüssigkeit aufmuntere. Er grinste übers ganze Gesicht, lachte über Scherze anderer, war einfach gut gelaunt und vergaß seinen Schmerz. Atopie hatte seine Glückseligkeit wieder gefunden. In dieser Nacht hatte er das Gefühl, frei zu sein, frei von allem, frei von Schmerz. Er hatte sich noch nie so glücklich gefühlt. Alles drehte sich, als der Knecht und Atopie das Lokal verließen, was er wunderbar fand. „Polaris, ich kann dich sehen“, lallte er in die Nacht hinein. „Psst, die Dorfbewohner schlafen!“
Schlafen konnten sie nicht mehr viel, aber daran dachte er nicht. Samt Kleidung legte er sich nieder, schlief kurz, erwachte und erschrak. Das mG war wieder da! Hinzu kamen Übelkeit und Bauchschmerzen. Ohne Appetit verschlang er etwas Essen. Die Glückseligkeit der Nacht war erloschen und er hatte das Gefühl noch trauriger als zuvor zu sein. „Es war doch so schön, meinen Schmerz zu vergessen“, dachte er sich „Das Einzige, auf das ich mich freue, ist ein spezielles Gebräu, von dem man berauscht wird und somit vergessen kann, wenn man zu viel davon trinkt“, hörte er plötzlich Diorit leise sagen. „Nein, nein! Ich werde doch nicht von dem Gebräu getrunken haben, von dem Diorit mir erzählt hat. Nein!“ Er wollte es nicht wahr haben, denn als im dieser Gedankenblitz kam, starb der letzte Funken Glück in ihm. Das mG hatte einen neuen, sicheren Besitzer gefunden, weil er nun nicht einmal mehr Stolz empfand. Er fühlte sich wie ein nichtsnutziger Niemand. Eines Nachts war nicht einmal der Schlaf auf seiner Seite. Wach im albtraumhaften Zustand lag er da, ertränkt in seinen Gedanken:
„Ende. Anfang. Neuanfang. Veränderungen. Schmerz. Herzschmerz. Missverständnisse. Kein Verstehen. Polaris braucht mich nicht zum Leben, ließ mich gehen. Enge. Richtige Wege. Meiner war nicht ihrer. Man kann nie in eine Seele hineinblicken. Nie Gedanken hören. Diese Welt ist verflucht. Wenn alles einigermaßen gut läuft, muss man mit etwas Schlechtem rechnen. Für mich lief alles auf meiner Reise gut. Ich verstand die Seelen, aber sie wollten mir nicht folgen. Alle, sogar Polaris, habe ich verloren. Für eine Zeit war es vielleicht schön, so wie es war, aber so unbeschwert konnte es nicht weitergehen. Wahrscheinlich verstand ich alles falsch, deswegen versuche ich mich an Worte zu erinnern. Abhängigkeiten. Ist meine Glückseligkeit an einen Stern gebunden? Es ging mir so gut in ihrer Nähe. Aber das wollten wir anscheinend nicht auf Dauer. Wir waren von Anfang an endlich. Sie würde mich hinsichtlich des mGs nicht weiterbringen, mich nur ablenken wollen. Das Gefühl, abgelenkt zu werden, hatte ich nicht einmal. Pure Ablenkung, pure Endlichkeit. Aber sie will einfach etwas Anderes. Ein Stern... andere Wünsche, Träume, Ziele. Höhere. Was will ich schon? So tief, wie ich bin. Sie will so vieles, was ich ihr nicht geben kann. Hoch hinaus. Dem Boden so nahe, wäre sie unglücklich, gebunden, eingesperrt, angekettet an meiner Schwermut. Aber auf meiner Reise dachte ich, blind mit meiner Nase als Führer, dass ein Wiedersehen selbstverständlich ist. Sie und ich. Wir. Ich war zu blind für die Wahrheit. Wenn sie nicht einmal in Erwägung gezogen hat, mir zu folgen trotz all der Momente, dann will ich nicht an sie denken. Dann soll Vermissen nichts mit ihr zu tun haben. Vielleicht sagen Sterne nicht die Wahrheit. Sie log, um mir den Abschied leichter zu machen, weil sie wusste, welch sanftmütiges Herz einst in meiner Brust schlug. Hier, da hast du es, mein Herz. Nimm es! Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Mit Gefühlen, der Vergangenheit, mit dir. Neuanfang. Du würdest ja nicht einmal darüber reden wollen! Es belächeln! Verdrängen! Mich nicht ernst nehmen. Genau das habe ich verdient, denn ich ging und wusste nicht mehr zu sagen, als dass du mir gut getan hättest. Hast du. In Augenblicken, die nie für die Ewigkeit bestimmt waren. Für mich hat sich alles verändert. Mein Bild von der Welt, von anderen und von mir selbst. Eigentlich ist sie als Stern ja immer da, als Abbild, etwas sinnlich Wahrnehmbares. Aber man kann jede Nacht zu den Sternen schauen und innerlich entfernter sein, als man wahr haben will. Nichts dabei empfinden. Leere. Mehr nicht. Doch ich will sie nicht verloren haben. Meinen Stern. Tränen. Du tatest mir gut, Polaris. Warum weine ich dann? Ich hätte bei ihr bleiben können, aber das hätte sie nicht gewollt. Dafür hätte ich meine Reise abbrechen müssen, meinen Kampf gegen das mG, meinen Sinn, mein Leben. Für sie. Welch wahre Aussagen. Aber könnte ich es nicht irgendwie hinbekommen? Zurück zu Polaris? Doch Unendlichkeit? Sie und ich. Wir. Wie unglücklich würden wir uns machen? Ich weiß es nicht. Ich kann weder wortwörtlich wiedergeben, worüber wir sprachen – zu viel Zeit verging, trennte uns, Zeit – noch verstehe ich ihr Herz. Ohne mich leben, obwohl wir eine unvergleichbare, prägende Zeit miteinander hatten? Ich habe mich so in ihr getäuscht. Wieder kommen Tränen hoch. Kopfschmerzen. Sie sei immer da. Ein Stern. Soll sie doch zugeben, zu hassen, dass sie fortgerissen von ihrer Heimat alleine in der Wüste lebt. War das nicht einer ihrer ersten Erkenntnisse, dass ich keinen Hasse kenne? Sie braucht ihre Sterne zurück. Sie vermisst sie so sehr. Ich kann es verstehen. Und all das kann ich ihr nicht geben, was sie bräuchte, um glücklich zu sein, um nicht zu verdrängen. Angst sie verloren zu haben. Sie leuchte immer für mich. Wie lieb sie war. Ganz lieb, zuhörend, erklärend, aber ich verstand es nicht. Ist unsere Zeit für immer zuende, ohne dass ich es zuvor spürte? Übel. So wollte ich das alles nicht. Verrannt. Es ist zwar gut, hier abgelenkt zu werden, aber wenn ich sie wirklich verloren habe, weiß ich nicht mehr, was ich hier soll. In dieser Welt. Eine Welt ohne Gegenmittel. Alles, was mir von ihr bleibt, ist eine Lücke. Ja, die eine, die ich zuvor nicht kannte. Sie füllte sie und sie ließ mich mit dieser gehen. Für immer scheint die Lücke da zu sein. Vielleicht ja nur für diese dunklen Tage, weil bald wieder alles in meiner Welt, in meinem Herzen heile ist. Kaputt. Zerstört. Gebrochen. Innerlich. Egal, ob sie für mich leuchtet oder nicht. Ist es nur eine Phase? Ist irgendwann wieder alles gut? Mein Herz tut weh. Ihretwegen geweint. So etwas kann man nicht rückgängig machen. Natürlich hatte ich mich nicht bemüht, sie zu halten, aber ich bin mir keiner Schuld bewusst. Gar nicht. Ich hatte nie den Gedanken, sie überhaupt verlieren zu können, sah uns als ewig an, bis ich es so hart spüren musste. Sie muss uns schon immer als endlich empfunden haben, sonst hätte sie andere Worte gewählt. Das ist einfach nur konträr. Dann braucht sie mich weniger als ich sie. Ich habe das Gefühl, sie wollte mich nur für kurze Zeit ersetzen, weil sie andere verloren hatte. Intensive, gut tuende Augenblicke auf Zeit. Ersatz, mehr war ich nicht. Jemand, der Zeit für sie hat, ihr alles geben will, aber nicht kann, und deswegen ist es endlich. Deswegen ließ sie mich gehen, weil sie wusste, es werde früher oder später ein neuer Ersatz kommen. Mit einem Endzeitcharakter, aber Intensität. So muss sie sich das gedacht haben. Ich glaube, alles wegen ersetzen, verlieren, nicht für mich leuchten würde sie abstreiten. Aber ich weiß auch nicht. Wir sind beide speziell, aber so unterschiedlich speziell, dass wir scheitern. So empfinde ich es momentan zumindest. Wenn ich vor mir hin flüstere, nie gedacht zu haben, dass ich sie verloren habe, könnte ich sofort wieder weinen. Bestimmt stelle ich mich nur an. Unvernünftig. Ich muss sie doch verstehen. Ein Stern hat eine andere Wahrnehmung. Doch ich sehe gerade nur meine Situation. Ich schwanke zwischen sie lieben und hassen, zwischen Ende und mich verbiegen. Ich will und kann sie nicht verloren haben. Genau deswegen scheine ich zu müssen.
Zuvor kannte ich nur quantitatives Glück. Ein Gefühl, mit dem man lächelnd am Abend einschläft und morgens wieder aufwacht. Es ist fast immer da, man weiß es sehr zu schätzen, zuverlässig und beinahe unerschütterlich begleitet es die Seele. Doch Qualitatives Glück... Es geht nach der Zeit, ist endlich, ist anspruchsvoll, fordernd, zeitaufwendig, intensiver. Es war nur kurz bei mir und es war unglaublich schön. Es erfüllte mich. Ich würde alles dafür tun, die Zeit mit ihr erneut zu erleben. Jeden Atemzug bei ihr, aber noch bewusster. Ich versinke so sehr in dieser Gedankenwelt, dass ich den Blick fürs Große und Ganze, für das Mehr, das dahinter liegt, verliere, aber bei ihr empfand ich ein Glücksgefühl, das ich zuvor nicht kannte; ich verlor quantitatives Glück, indem ich es da ließ; das kann ich mir nicht verzeihen. Ich machte alles falsch, weil ich alles richtig machen wollte. Ich, der Unbeschreibliche. Unbeschreiblich dumm und nur auf quantitatives Glück aus. Was ich davon habe, sehe ich ja jetzt. Nichts sehe ich. Weder meine alte Heimat, weder die Begegnungen der Reise, weder sie, noch mich. Doch ich verstehe mich und ich weiß, was ich will. Zumindest dachte ich das. Dieses Wir, die Hoffnung, sie wiederzusehen. Aber nein, jämmerlich liege ich weinend hier und habe nichts von dem verstanden, was sie mir in der intensiven, vertrauten Zweisamkeit erklären wollte. Ich verstehe sie nicht! Wenn sie ein Stern ist und nicht von dieser Welt, spürt sie nicht, wie sehr ich sie doch vermisse? Entzug. Doch all das reicht nicht, was wir uns gegenseitig hätten geben können. Und was für kurze Zeit war, das für mich so Selbstverständliche, das kommt nie mehr zurück. Ich hätte es wissen müssen und nun muss ich mich neu definieren, weniger über sie. Quantitatives Glück, komm zurück zu mir! Und ich will mich nicht bemitleiden. Das bin ich nicht.“ Vor Erschöpfung schlief Atopie ein und suchte in seinen Träumen die Glückseligkeit.
Atopie hatte in jenen Tagen das Gefühl in ein schwarzes Loch gefallen zu sein. Er fühlte sich einsam und verlassen vom Glück seiner Welt, vom quantitativen und qualitativen; einfach unglücklich, glücklos, verunglückt. Atopie hatte sogar das Gefühl, selbst ein schwarzes Loch zu sein. Trotzdem wusste er noch immer, wie man auf Seelen so zugeht, dass sie zubeißen mussten. In ihm war es dunkel, aber er war noch er selbst. Er hatte sich selbst nicht verloren. Er strahlte Vertrauen aus und irgendetwas Sympathisches, sodass die anderen nicht locker ließen, wenn es darum ging, ab und zu mitzukommen. Nicht wie beim ersten Mal trank er Unmengen von dem Gebräu, sondern in Maßen, in Genuss und irgendwann musste oder durfte er sich eingestehen, dass er ihre Gesellschaft genoss. Sie waren weniger kompliziert gestrickt, aber auch sie hatten Sorgen. Jeder seine individuellen, ohne fühlen zu können, wie schwer die Sorgen der anderen wohl sein mögen. Exakt das war ja eben Atopies Gabe: Durch seine Empathie, gelang es ihm mit vielen der Arbeiter ruhige Gespräche, etwas abseits der anderen, zu führen. Wie gut den Seelen das auch hier tat, empfand er als unglaublich schön und erfüllend! Drum erkannte Atopie seinen Sinn im Hier und Jetzt. Er war für andere da und er liebte es, weil dadurch wieder sein Glauben daran gewann, dass andere sich selbst besser fühlen, sich selbst näher kommen in dem Moment, wenn sie den mG-Grund preisgeben. Es schwindet nicht ganz, aber jemand Anderes teilt es ab dem Augenblick mit dem Leidtragenden. Gespräche stiften Gemeinschaft, denn wenn sie in die Tiefe reichen sind sie ein Erweis von Vertrauen.
Obwohl er den Verlust des eigentlich Geliebten akzeptiert und sich diese neue Lebensform angeeignet hatte, waren Herz und Trauer unzertrennliche Worte in seiner Wirklichkeit. Sein Verstand wusste, dass es damals das Richtige gewesen war fortzugehen, doch er empfand seine Trauer als Eigenverschuldung. Schicksalsschläge, wie sie einige seiner in Einsamkeit verlassene Mitarbeiter in der Bitterkeit angesichts erlittenen Unrechts erlitten hatten, Einschläge von außen, konnte er sich nicht erklären, keinen Schuldigen finden. Doch an seinem mG war nur er Schuld. Wenn Atopie deswegen nicht traurig war, entfachte sich Zorn in seiner Brust. Er hatte sich selbst noch unter Kontrolle, er blieb der Unbeschreibliche, aber Sanftmut, nein Danke. Wenigstens diente ihm diese Emotion als Antrieb, als Motor, als Rückenwind in seinem Handeln. Wer noch nie Zorn empfunden hatte, wäre ein schlechter Ratgeber für einen aufgebrachten Arbeiter, der einmal alles raus lassen muss. Eine Empfindung, früher unbekannt und nie gefühlt, war ihm nun eine Bereicherung für sein Charisma, sogar für seinen unerschütterlichen Glauben an das Gute.
Es wäre schön, wenn die Geschichte hier ende, weil Atopie sein Leben wieder als sinnvoll ansah. Doch meistens ist die Wahrheit nicht schön. Oft weinte er sich nachts in den Schlaf. Zu viel, das er vermisste, ließ sein Herz still stehen, zu viel, das er sich vorgenommen hatte, kam ihm nun wie naive Dummheit vor. Er hatte seine Situation wirklich angenommen, Stärke bewiesen, war sich selbst treu geblieben. Ein normaler Weg. Was will man mehr? Es ist fast unbeschreiblich, was er in Wahrheit wollte, was ihn so auffraß des Nachts: Die Welt retten, verbessern, das Gute siegen lassen, den Seelen die Augen öffnen. Und so schlief er meistens ein, versunken in Gedanken. Nicht völlig verzweifelt. Ein solches Bild darf man nicht von ihm haben. Elegant wandelte er gerne beim Wegnicken seine Gedanken um: „Ja, morgen, Atopie, morgen ist es so weit… jeder Tag zählt… jeder Augenblick… Ich darf nicht zulassen... dass auch nur eine Seele nicht glücklicher ist... wenn sie mir begegnet ist... Glücklicher… das mache ich...“
Es war an einem kühlen Sommermorgen, der Tau bedeckte noch den Boden, als Atopie mutig den Landwirt zu fragen traute: „Warum bist du so traurig?“ Dieser zögerte nicht lang und warf, ohne an die Konsequenzen zu denken, seine Forke mit weit aufgerissenen Augen in Atopies Richtung – Atopie duckte sich noch rechtzeitig - und der Landwirt brüllte: „Was wagst du dich zu fragen?“ „Wenn ich im Unrecht bin, tut es mir leid. Meines Achtens nach empfindest du jedoch nicht Wut, die doch so handeln lässt, sondern tiefsitzende Traurigkeit, die begründet, aber auch unbegründet sein kann. Das sehe ich ja ein, aber wenn es einen Grund gibt, will ich ihn jetzt erfahren.“ Der Landwirt starrte Atopie noch immer mit weit aufgerissenen Augen an, bewegte sich jedoch nicht auf ihn zu, als habe dieser ihn mit seinen direkten Worten und seiner klaren Stimme erstarren lassen. „Sei still, sonst bringe ich dich um!“, drohte der Landwirt. „Warum willst mich töten?“ Wie konnte Atopie in einer solchen Situation noch so viel Mut haben? Woher nahm er diesen? „Weil du mir weh tust.“ „Warum tue ich dir weh?“ „Weil du meine Vergangenheit aufwühlst.“ „Was war denn Schlimmes in deiner Vergangenheit?“ Der Landwirt seufzte laut und gab dann mit zorniger Stimme zur Antwort: „Ich lebte vor langer Zeit in einer schöneren Welt, von der du keinen Schimmer hast. Denn wenn all die negativen Gefühle der Seelen dieser Welt auf meine Heimatwelt einprasseln würden, zögen wegen der Traurigkeit dunkle Wolken über den strahlend blauen Himmel und der Tod riefe die Nacht herbei.“
Atopies Lippen bebten. Sein Herz raste. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Wundervolle Tränen. Diese Worte aus dem Mund des Landwirtes waren unglaublich, weil es die Worte seiner Heimat waren. Unglaublich! Traumhaft! Wenn dieser Jemand aus Utopie stammen sollte, konnte es nur eine Seele sein. „Arminius, ich bin es, dein Bruder Atopie.“ Zunächst sahen sie sich direkt in die Augen, um zu begreifen, dass es die Augen des eigenen Bruders waren. Eine Sekunde wurde zu einer Ewigkeit. Arminius und Atopie fielen sich weinend in die Arme und wollten, dass dieser Augenblick niemals ende, weil er zu schön war, um wahr zu sein.
Atopie
Helles Licht bestehend aus einer Centillion von Sternen umschloss die beiden. Um ihnen herum war es dunkel. Dunkelheit und Helligkeit waren vereint, Weite und Enge, Fülle und Leere. Alle Gegensätze schienen aufgehoben zu sein in diesem für sterbliche Seelen unbegreiflichen Moment. Der Zauber löste sich auf und brachte sie zurück nach Utopie auf den kleinen Berg, auf dem alles begann. Denn nun hatte die gute Macht ihn dort, wo sie ihn haben wollte. Atopie sollte nicht nur verstehen und erleben, was das mG wirklich für eine Grausamkeit ist und wie sehr man an diesem Gefühl wachsen kann, sondern auch Arminius wieder finden, weil er auf die gute Macht im Spruch vertraut hatte. Sie hatte immer Acht auf ihn gegeben, auch wenn er am Ende war. Denn wäre er nicht so fertig gewesen, hätte ihn der Landwirt nicht gefunden. Drum musste alles so geschehen, wie es geschah, damit das Schicksal seinen Lauf nehmen konnte.
Ihre Rückkehr feierte man Tage lang in Utopie, da keiner der glücklichen Seelen ein solches Glück begreifen konnte. Arminius und das schöne Mädchen lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Sie vereinten Qualität und Quantität.
Eines Tages, als der Alltag zurück gekehrt war, ließ der Vater Atopie zu sich holen, weil er mit ihm reden müsse. Sie trafen sich in dem Turm, der Atopie wegen der schönen Aussicht am besten gefiel.
„Mein Sohn, ich schätze mich glücklich keinen meiner Söhne verloren zu haben. Ich bin stolz auf dich, weil du mutig warst und dein Volk somit zur Zufriedenheit verhalfst.“ „Danke“, erwiderte Atopie. Der König bat ihn mit ans Fenster zu treten und zum Himmel zu schauen.
„Ich danke dir für alles, und ich will dir gegenüber nicht unhöflich sein. Aber, Papa, warum? Ich verstehe es nicht. Kannst du nicht für alle etwas gegen das mG unternehmen? Wenn es jemand könnte, dann doch du.“ Atopie lächelte und sein Vater erst recht: „Meinst du, dass ich das könnte? Also willst du, dass die andere Welt wie Utopie ist?“ Ratlos blickte Atopie nach draußen. „Die Wahrheit ist, dass das eine nur sein kann, wenn auch das andere besteht.“ „Du meinst das Bild der Münze mit den zwei Seiten?“ „Richtig, hier haben wir nur die eine Seite und das soll auch nicht zur Debatte stehen. Aber dort, wo du nun warst, dort sind Liebe und Hass, groß und klein, schlau und dumm. Alles in selber Hinsicht und gleichzeitig. Das Problem ist, dass ein Widerspruchsprinzip dahinter steckt. Wie kann etwas groß und klein zugleich sein? Nur dadurch, indem das Größte auch das Kleinste ist.“ Der König grinste: „Ich will dich nicht verwirren, aber vertraue auf die Ordnung in der Welt, auf meine Vollendung und glaube daran, dass ich nichts Schlechtes will und das nicht alles war. Schließlich weißt du ja sogar mehr als die anderen. Erzähl ihnen von vollkommener Glückseligkeit. Aber verbiete ihnen nicht das Trauern und Klagen! Lass die Seelen weinen, weinen, weinen. Solange bis ihr Herz frei ist vom Schmerz. Wahre Liebe ist nur in Verbindung mit Freiheit zu erfahten. Lass die Seelen klagen, klagen, klagen. Nur so kann man in der anderen Welt zufrieden sein, sodass man zu einem gesunden Gleichgewicht der Dinge kommt.
Kleine Wölkchen verzierten den strahlend blauen Himmel. „Atopie“, sagte der Vater zum Sohn, „ich möchte, dass du ehrlich zu mir bist. Hast du diese Wolken mitgebracht?“ „Ja, das habe ich. Denn ich liebe einen Stern der anderen Welt, Polaris, und die unendliche Weite einer gigantischen Wassermasse, das Mehr.“
Abzweigung Richtung Glück
Atopie saß unter dem größten, dicksten, also auch ältesten Baum Utopies, welcher ein Ahornbaum war. Unter diesem wurde auch unterrichtet. Denn das Alter symbolisierte viel Wissen. Viel Wissen wurde den Kindern durch die wahrscheinlich älteste Seele Utopies vermittelt. Man konnte das Alter jener Frau nicht genau bestimmen, sondern nur abschätzen, weil es zu der Zeit, als sie zu leben begann, weder eine Schriftart gab noch das nötige Material zum Schreiben erfunden worden war. Sie selbst hatte nie mitgezählt, was auch ihre Mitältesten betraf. So etwas konnte es natürlich auch nur in Utopie geben, denn nur dort gab es nicht den Tod auf Erden. Hier lebt man in Frieden. Atopie jedoch hatte Wolken mitgebracht. Sie waren nicht einmal grau oder wirkten auf irgendeine Weise bedrohlich. Es genügte die Tatsache, dass sie existierten.
Die älteste Frau gehörte zu denen, die es liebten zu erforschen, zu ergründen. Utopier waren zwar nicht so neugierig, dass sie über die Grenzen ihrer Welt schritten und sich auf die Suche nach etwas Neuem begaben, da sie ja mit all dem, was sie hatten, sehr zufrieden waren, doch sie waren trotzdem schlau genug, um ihre eigene Welt zu verstehen soweit sie dies konnten. Alles, was neu war, und sie verstehen und lernen sollten, kam zu ihnen.
Als die Seelen um Arminius getrauert hatten, war nicht der klare Kopf gewesen, um über die Wolkengebilde nachzudenken. Nun aber begannen die älteste Frau und andere Forscher sich Gedanken zu machen, Fragen zu stellen. Zunächst stellten sie Wolken zeichnerisch dar.
WolkenWolkenWolken WolkenWolkenWolken WolkenWolkenWolken
WolkenWolkenWolken WolkenWolkenWolkenWolken WolkenWolkenWolken
WolkenWolken WolkenWolkenWolken WolkenWolken WolkenWolkenWolkenWolken
Geheimnistuerei gab es in Utopie nicht. Warum sollte man auch Geheimnisse haben, wenn Mitseelen für alles Verständnis aufbrachten? Der Spannung wegen? Auf eine solche Idee kam keine Seele, weshalb ein jeder von Atopies Trauern wusste. Aus diesem Wissen schlossen sie einen Zusammenhang zwischen Wolken und Trauern. In der grauenhaften Zeit, als das mG über Utopie herrschte, hatte es immer geregnet. Wasser fiel aus den Wolken. Dieses Wasser waren für die Forscher die geweinten und ungeweinten Tränen. Zum Glück war dies in der Welt, in der es immer eine Kehrseite gab, nicht der Fall. Wann hätte es dann jemals für eine Sekunde Sonnenschein gegeben? Nach der Zeit verwarf Atopie diesen Gedanken: Natürlich hätte es auch dann Sonnenschein gegeben, denn Tränen sah er nicht als Zeichen der Schwäche, sondern der Stärke. Sie können mehr Sagen als Worte, sind Boten überwältigender Trauer, tiefer Reue oder unsagbarer Liebe. Weinen ist gut für die Seele.
Groß und klein war ein Liebhaber der weißen Wölkchen am Himmel. Denn in Utopie sah man auch im Negativen das Positive, was man schon allein an Atopies Gedankengang sieht. Sie waren allesamt gnadenlose Optimisten. Drum waren diese Wölkchen ein Spielzeug. Wer sieht heute ein Bild in den Wolken? Groß und klein liebte dieses neue, alltägliche Spiel. Ob Müllerssohn oder Straßenkehrer, jede Seele ließ seine Arbeit einmal für ein paar Sekunden im Stich, wenn es um eine Wolkengestalt ging. Schließlich hat in einer vollkommenen Welt niemand seine Phantasie verloren. Die kindliche Glückseligkeit schlummerte von Ewigkeit zu Ewigkeit in ihren Herzen.
Atopie interessierte sich weniger für Bilder in den Wolken, für die er verantwortlich war. Unter dem Baum sitzend schaute er traurig auf das strahlend grüne Gras. Die zwischen den Gräsern wachsenden Kleeblätter zupfte er heraus, als wenn es seine eigenen Gedanken und Gefühle seien, die er aus sich heraus zupfen wolle. Nun fühlte er, was es bedeutet zu vermissen. Aber was sollte er schon tun?
Sein Herz hing an der Vollkommenheit Utopies und schrie zugleich nach der zerrütteten Welt der Traurigkeit. Dort hatte sein Herz nicht zu ihm gesprochen. Es war verstummt, aber nicht tot gewesen. Es hatte Tag für Tag geschlagen, hatte jede Sekunde gefühlt und sich verliebt.
Atopie stand auf und schländerte zu einem nahe liegenden Bach. Eine Hand voll kühles Wasser sollte ihm Klarheit verschaffen, seine Gedanken waschen. Er betrachtete das fließende Wasser. Sein Leben hatte einen anderen Verlauf eingeschlagen. Es floss nicht mehr friedlich durch Utopie, sondern durch komplexe Ritzen. In Utopie waren die Wege vorgegeben. Man brauchte sie nur noch einzuschlagen. Doch in der anderen Welt musste sich das Lebenswasser einen Verlauf erkämpfen und das ein oder andere Mal an einer Abzweigung nach Gefühl handeln.
Was sagte also sein Gefühl? Auf einem kaputten, dunkelbraunen Schild, das eine Neigung nach unten hatte, stand „die andere Welt“ geschrieben. Auf dem anderen, das hellbraun bis weiß war, eine Neigung nach oben hatte und wie frisch gestrichen wirkte, stand „Utopie“. Verträumt dachte er bei sich: „Die andere Welt. Ich werde sie retten und wenn ich das geschafft habe, ja, dann wird das Schild glänzen.“
Noch immer stand er am Ufer des Baches, als endlich wieder etwas Wunderbares geschah. Atopie lächelte sein Spiegelbild zufrieden an. Seine Rückkehr war beschlossen und er lächelte. Plötzlich zog Wind auf. Die Bäume rauschten. Atopies Mantel flatterte hoch. Was geschah? Blätter tanzten wild in der Luft. Und es geschah, was geschehen musste. Der Wind trug die Wolken hinfort und hinterließ einen strahlend blauen Himmel. Atopie hatte sein Glück durch einen Hoffnungsschimmer zurückerlangt. Er hoffte auf ein Leben mit den anderen, besonders Polaris, und auf die Rettung der traurigen Welt. Die Seelen Utopies würden diesen Beschluss verstehen, dachte er sich.
Bevor er sich auf den langen Weg machte, nahm er sich viel Zeit für seine Familie und Freunde. Was sein Überleben betraf, zweifelte er durch Optimismus nicht, doch er wusste nun, dass es auch anders kommen könnte. In Atopie brodelte die perfekte Realistenoptimismusmischung.
Er hatte sich so sehr verändert, dass er nun Gebrauch vom Verdrängen machte. An Polaris versuchte er nicht zu denken. Wenn doch, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Polaris. Wenn er an sie dachte, war er überfordert und wusste nichts mehr. Ihre Augen bedeckten seinen Verstand.
Atopie, der Unbeschreibliche, war drauf und dran aufs Neue den Sprung ins kalte Wasser zu wagen. Als ihm die Idee kam, nach einem Gegenmittel zu suchen, schrieb sich die Zukunft von selbst. Das Schicksal nahm seinen Lauf und Atopie vertraute auf das Gute, was ihn bis in alle Ewigkeit beschützen möge. In den stillen Momenten, die er zum Schreiben des Zauberspruches brauchte, fragte er sich ab und zu, ob es wirklich das Richtige sei, was er tue. Dann zündete er eine Kerze an. Nicht, weil es des Schreibens wegen zu dunkel war, sondern weil die ruhige Flamme Beruhigung ausstrahlte. Im Stillen verspürte er nämlich manchmal Unsicherheit, hörte leise die Melodie der Angst in seinem Zimmer erklingen. Er war kein Utopier mehr, sondern eine Seele, die grübelte, die zweifelte. Er war wie die der anderen Welt geworden mit einer faszinierenden Ausstrahlung von Unbeschreiblichkeit, weil sein Herz immer noch dasselbe war. Utopische Herzen sind durch und durch gut und hoffen. Jene ruhige Flamme einer Kerze symbolisierte für ihn die Kraft aller Herzen Utopies.
Nach langem Tüffteln hatte Atopie mit Hilfe seines Bruders einen Zauberspruch zustande gebracht, indem klar hervorging, bei Polaris landen und weder Gefühle noch Verstand verlieren zu wollen. Erneut bestieg er den höchsten Ort Utopies und flüsterte die zauberhaften Worte in die Stille Nacht hinein.
Die Rückkehr
Sand. Nichts als Sand. Offensichtlich hatte der Zauber funktioniert. Noch benommen von der kurzen Reise rieb er seine Augen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Plötzlich tippte jemand auf seine linke Schulter. Rasch drehte er sich um und sah die strahlenden Augen und das umwerfende Lächeln. Wie lange hatte er diesen Anblick vermisst? „Polaris“, stotterte Atopie hervor. „Polaris“, wiederholte er, als wenn er es nicht glauben könnte. Sie schwieg und sprach durch ihre Schönheit. Noch im selben Moment umschlossen sie sich fest.
Lange hatte Atopie diesen Moment ersehnt. Sein Herz flatterte vor Glück. Polaris war ein Stern. Sterne haben eine andere Zeitempfindung. Sie hatte also nicht lange auf diesen Moment warten müssen. Für sie ist es ein Augenblick gewesen und empfand somit dieselbe Symphatie für Atopie wie beim ersten Mal.
Atopie und Polaris setzen sich in den heißen Sand nieder, sahen sich in die Augen und Atopie begann von all den Seelen zu erzählen, auf die er getroffen war. Er beschrieb sie zunächst, erklärte dann, wie jede Seele für sich das mG empfand. „Jedes Mal, wenn ich weiterreiste, schloss ich meine Augen, wie du es mir geraten hattest.“ Voller Stolz glänzten seine Augen, als er dies charmant umhüllend sagte.
Schön und gut, nun aber begann der Teil, in dem es um seinen Absturz ging. Atopie fasste sich kurz. Details wären ihm unangenehm gewesen. Lieber schmückte er das Wiedersehen mit Arminus aus und die Feiertage in Utopie. Polaris war eine Seele, die einfach lauschte und wenig zum Erzählten sagte. Atopie erzählte sehr lebendig, artikulierte wild mit seinen Händen und war glücklich. Endlich war Polaris wieder in seiner Nähe. Polaris hatte in den Momenten ohne ihn zwar auch an ihn gedacht, sich gefragt, wie es ihm geht, was er macht, aber bei Atopie war es anders gewesen. Er hatte nicht nur an sie gedacht und sich gefragt, wie es ihr geht. Er hatte sie vermisst, sein Herz hatte nach ihr geschrien, als sei sie für ihn die Luft zum Atmen gewesen.
Atopie wäre nicht von unbeschreiblicher Natur gewesen, wenn er nicht schon einen Plan im Kopf gehabt hätte. Durch das Schließen seiner Augen war ein Wiederfinden der anderen Seelen seinerseits unmöglich. Drum musste es ein Plan sein, der beinhaltete, dass nicht er zu ihnen, sondern sie zu ihm finden. Wie das, wenn man kein Kommunikationsmittel zur Verfügung hat? Atopie hatte ein solches beziehungsweise hoffte, dass der Plan durch sein besonderes Kommunikationsmittel aufgehe. Es war eins, das sich nur durch Polaris verwirklichen ließ. „Polaris“, begann Atopie, „ich will mit dir und den anderen diese Welt zu einer besseren machen, ein Stückchen Utopie hinterlassen. Ich brauche deine Hilfe, um die anderen zu uns zu führen. Sie wissen weder, wo du lebst noch, noch weiß ich, wie ich zu ihnen gelange.“ „Bevor du weitersprichst“, unterbrach sie, „tut mir leid, aber, wie soll ich sagen, du willst auch mit mir die Welt verbessern?“ Atopie erwiderte, dass es eine Selbstverständlichkeit für ihn sei. „Atopie, dies ist mein zu Hause. Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, durch die Welt zu reisen und anderen Seelen zu helfen. So etwas ist und wird niemals mein Schicksal sein.“ Atopie sank seinen Kopf. Sand, den er nicht sah, weil er auf ihn starrte. „Bitte sei nicht traurig. Ich mag dich ja auch sehr, aber ich kann nicht alles für dich stehen und liegen lassen. Hier schlägt mein Herz. Aber ich werde an dich denken und du kannst ja immer zu mir zurückkehren.“
Atopie schwieg. Mit einer solchen Reaktion hatte der Unbeschreibliche nicht gerechnet. Die Illusion, den Rest seines Lebens mit dem hellsten Stern am Himmel zu verbringen, hatte sich in seinem Herzen verankert, welcher mit einem Zug herausgerissen wurde. Fort der Halt des Ankers, fort ein Teil seines Herzens. Zumindest fühlte es sich in dem Moment so für Atopie an. Sie legte ihren Arm um ihn, strich sanft mit der anderen Hand über sein Knie. „Das ist doch kein Weltuntergang.“ Weltuntergang. Wieder einmal erweiterte sich der Horizont seines Wortschatzes. Natürlich war es kein Weltuntergang, aber er wollte doch nichts sehnlicher als bei ihr zu sein. Trotzdem hatte er das Gefühl dem folgen zu müssen, was er für richtig hielt, und das war die Rettung der traurigen Welt.
„Kann ich dir trotzdem helfen?“, fragte Polaris lieb wie sie war. Diese Frage brach sein Schweigen, was Polaris sehr erleichterte. Schließlich hatte sie ihn wirklich sehr gern. „Ja, nur du bist es, die mir helfen kann. Die Sterne sind deine Freunde. Kannst du für mich zu ihnen sprechen, so dass sie Padparadscha und Hopen zu uns führen?“ Bewusst hatte er Diorit und die Porzellanpuppe vergessen. Denn Diorit war des Laufens nicht mächtig und Porzellanscherben, die sehr verzweifelt waren, hielt er für weniger auserkoren, um die Welt von Traurigkeit zu befreien. Verdutzt begeistert sah Polaris mit ihren wunderbaren Augen in Atopies. Er hatte Großes vor. Sie bewunderte ihn für seinen unbeschreiblichen Mut, den er der guten Macht, an die er glaubte, entnahm. „Wenn ich das täte, bekäme ein jeder, bei dem ebenfalls Nacht wäre, das Spektakel mit. In der Milchstraße können mit bloßem Auge keine einzelnen Sterne wahrgenommen werden. Wenn ich aber von der Erde aus zu ihnen spreche, wird ein jeder Stern heller denn je erleuchten. Willst du das wirklich?“ „Ich möchte nicht unhöflich sein oder gar als dumm erscheinen. Verzeihe mir, fragen zu müssen, was die Milchstraße ist.“ „Natürlich, das kannst du ja nicht wissen“, antwortete Polaris, „die Milchstraße ist eine bandförmige Aufhellung am Nachthimmel, wobei man keine Einzelsterne erblicken kann. Sie sieht wunderschön aus. Du siehst sie nur, wenn die Luft klar und kein anderes Licht um dich herum ist.“
„Ja, Polaris, sprich zu den Millionen Sternen und einer soll sie führen.“
Als es Nacht wurde, richtete Polaris sich auf, sah zum Himmel, erhob ihre Arme. Plötzlich ging grelles Licht von ihr aus. Sie strahlte so sehr, dass Atopie sie nicht mehr erkennen konnte. Drum sah er zum Himmel und war ergriffen vom hellen Licht, das von Polaris bis zu den Sternen reichte. Eine Art Wispern oder eher Knacken des Lichtes konnte er wahrnehmen. Polaris sprach durch Licht, als schreibe sie die Botschaft in die dunkle Nacht hinein. Jetzt schienen die Sterne der Milchstraße zu antworten. Von ihnen aus strahlte noch viel grelleres Licht zurück. Ein jeder Stern strahlte heller denn je. Alles um Atopie und Polaris mitten in der Wüste des Nachts war erhellt. Sekunden später erlosch das grelle Licht sowohl im Himmel als auch um Polaris, währenddessen ein Rauschen wahrzunehmen war, als zöge sich das Licht zurück in ihren Körper. Es war geschehen.
Abgesehen davon, dass Atopie sich noch mehr in diesen einen Stern verliebt hatte, war die halbe Welt außer Rand und Band. Man sieht ja nicht alle Tage für wenige Sekunden einen erhellten Himmel. Schlagzeilen fanden sich in jeder Zeitung wieder, Physiker sträubten sich die Haare, wilde Theorien wurde aufgestellt, der Weltuntergang wurde verkündet. Wer es nicht glaubte, hielt es für Kommerz. Natürlich konnte niemand ahnen, dass in Wahrheit der noch kleine Held Atopie dahinter steckte, der sich mit Polaris schweigend schlafen legte.
Zur gleichen Zeit sahen Padparadscha und Hopen einen Stern aufgehen. Er strahlte etwas aus, das sie anzog, für das sie sofort alles stehen und liegen lassen wollten. Andere nahmen ihn als normalen Stern wahr. Er stand am Himmel wie jeder andere. Doch Padparadscha und Hopen sahen ihn als einen besonderen, der durch sein Licht sie zu führen schien über Wiesen und Felder, Berge und Täler. Und der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo Atopie war; dort blieb er stehen. Als sie Atopie sahen, wurden sie von sehr großer Freude erfüllt.
"Glückliches Leben", sagte Atopie voller Erleichterung. Padparadscha und Hopen hatten zu ihm gefunden. "Glückliches Leben", erwiderten sie, "du hast Großes vor, stimmt es?" Er lächelte sanft. "Wie geht es euch denn überhaupt?" "Gut, denn wir sind ja bei dir", sagte Hopen. Padparadscha nickte. "Das erfreut mich sehr. Darf ich vorstellen? Polaris, der schönste Stern weit und breit." Polaris grinste die beiden an.
Ihrer Stimmung nach zu folgen, müssten kleine niedliche Vögel in der Luft tanzen und fröhlich zwitschern. Pinke Wölkchen verzierten den Himmel und es dufte nach Honigkuchen. Wie blumig! Harmonie schwebte über ihren Köpfen. Besser hätte es nicht sein können für das, was Atopie vor hatte.
"Hast du herausfinden können, was das mG ausmacht und wie man es bekämpft?", fragte Padparadscha. "Das kann man so sagen. Man muss sich ablenken, trotzdem sich mit dem Problem auseinander setzen und darf auf keinen Fall alleine sein." "Gegen das mG gemeinsam, niemals einsam!", sagte Hopen leicht verträumt. "Das ist gut", warf Polaris ein, "als Motto, meine ich."
Maschinengefahr
„Wirst du mich vermissen?“, fragte Atopie Polaris bevor sie los reisten. „Stelle doch nicht solch dummen Fragen“, raunte sie ihm zu und nahm ihn in ihre strahlenden Arme. Noch ein letzter Blick in ihre wunderbaren Augen, dann gingen sie fort. Padparadscha hatte als Einziger etwas Ahnung davon, was auf sie zukommen könnte. Die anderen beiden waren noch nie in einer großen Stadt gewesen. Eine große Stadt aufzusuchen ist nötig gewesen, um großes Aufsehen zu erreichen. „Erwartet keine Herzlichkeit“, sagte Padparadscha, „wir wollen zwar nur Gutes, sie vor dem mG schützen, doch wir wollen zugleich, dass sie uns zuhören und uns Zeit schenken. Das ist schwierig für die Seelen einer Stadt.“ „Wir wissen ja eh noch nicht, wie wir es angehen wollen, etwas zu bewegen“, entgegnete Hopen. Atopie sagte beruhigend, alles werde seinen Lauf nehmen. Er sah zum Himmel. Mittag konnte es noch nicht sein. Wo würden sie wohl am Abend rasten?
Einige Stunden waren vergangen, als sie durch immer bewohntere Straßen liefen. Hier standen die Häuser dichter beisamen und es schien mehr Leben zu herrschen als auf dem ruhigen Land. Mit großen Augen beobachtete Atopie alles haargenau. Am interessantesten und auch Angst einflößesten empfand er diese lauten Maschinen, die sich schnell auf Gummirädern bewegten. Padparadscha hatte schon von ihnen erzählt, damit er sich nicht fürchte. Hopen hatte schon einmal eins oder zwei von ihnen gesehen und war deswegen nicht überrascht. Es sei eine Ortsveränderungsmaschine, so Padparadscha, wobei man schneller als mit seinen eigenen Füßen vorankomme. Nachteil sei, dass diese Maschinen die Umwelt verschmutzen, weil schmutzige Luft aus ihnen herauskomme. „Warum schafft man sie dann nicht wieder ab?“, fragte Atopie. Hopen lächelte und sagte: „Die Zeit, Atopie, sie ist mächtiger als Liebe und Schmerz. Denn wenn sie vergeht, vergehen auch sie. Im Anfang war die Zeit und ohne sie wäre nichts geworden, was nun ist.“ Atopie verstand Hopens Worte. Hatten die Seelen dieser Welt überhaupt Zeit ihrem Herzen zu lauschen? Schnell wusste er, dass es nicht darauf ankomme, ob man die Zeit habe, sondern ob man sie sich für das Wesentliche nehme. Wie sollte er die hier wohnenden Seelen dazu bringen? Durch seine Worte? Mehr hatte er nicht.
Padparadscha hatte bereits erwähnt, dass es sich um eine Vorstadt handele. Als man von weitem sehr, sehr große Gebäude erblickte, wussten Hopen und Atopie, dass sie sich auf Gigantisches gefasst machen konnten.
Padparadscha trug einen braunen Stofffetzen und seine Hautfarbe war abhängig vom Blickwinkel. Eine rotgelbe oder gelbmorgenrote Grundfarbe mit einem Rosa im Überton oder intensives Rosa mit einem Stich ins Bläuliche. Zudem wirkte er riesig. Hopen war klein. Es hatte einen blau/weiß gestreiften Pullover an und dazu eine blau/weiß karierte, zu lange Hose. Atopies Größe lag zwischen den beiden. Er hatte etwas längere braune Haare und trug einen roten seidenen Mantel. Wie sahen Seelen der Vorstadt solche Gestalten an? Entgeistert. Man empfand sie als bedrohlich, weil sie unbekannt waren. Gut oder böse? Woher sollte man das wissen? Fremde waren sie so oder so.
Es war Nachmittag. Die Sonne stand schon tief. Eine Seitenstraße müsste sie den Geräuschen zur Folge zum Getummel führen. Große Häuser beugten sich erschreckend über sie. Die Maschinen auf Rädern rasten an ihnen vorbei. Es war laut. Atopie ging vor, als sie die Straße überqueren wollten. Zu spät. Er hatte nur flüchtig geschaut, ob eine Maschine von links kommt. Zu verträumt war er ein paar Schritte zu viel auf die Straße gegangen. „Nein“, war sein erster und einziger Gedanke gewesen, als er plötzlich zu seiner linken eine Maschine sah. Zu spät. Sie erfasste ihn. Mit seinem Kopf prallte er auf die Windschutzscheibe, flog zurück, kam mit seinem Hinterkopf auf. Das Auto kam sofort zum Stand. Sofort rannten Hopen und Padparadscha auf ihn zu. Auch der Mann aus der Ortsveränderungsmaschine war sofort bei ihm. „Atopie?“, fragte Hopen völlig aufgebracht. „Ja, alles in Ordnung.“ Um ihn herum sah er kleine Sternchen. Der Mann fasste ihm an den Hinterkopf. Atopie blutete nicht. „Oh Gott, es tut mir so leid. Ich rufe sofort einen Krankenwagen. Er soll so liegen bleiben. Hört ihr zwei? Deckt ihn etwas zu!“ „Nein, nein“, mischte sich Atopie ein, „mir tut es leid. Ich hätte achtsamer sein müssen. Du brauchst niemanden zu rufen.“ „Sie sind gegen meine Scheibe geknallt. Sehen sie? Vielleicht haben Sie eine Gehirnerschütterung.“ Man konnte gut erkennen, wo Atopie mit dem Kopf gegen die Scheibe geprallt war. Dort war sie zersplittert. „Das war ich?“, fragte Atopie verwirrt. Der Mann hörte ihm schon gar nicht mehr zu. Er sprach in die Luft hinein und hielt sich etwas an sein Ohr. „Ja, das warst du“, antwortete Hopen. Padparadscha vergrub sein Gesicht in seinen Händen und nuschelte: „Ich bin so glücklich, dass dir nicht mehr passiert ist. So glücklich.“ „Ja, ich auch. Ein Arzt muss prüfen, ob dir etwas passiert ist.“ „Ein Arzt? Was ist das? Mir ist nichts passiert.“ „Der Krankenwagen kommt gleich. Bewegen Sie sich nicht.“ Der Mann war daraufhin damit beschäftigt ein paar Schaulustige zu verscheuchen, sodass Hopen flüstern konnte: „Ein Arzt erkennt Krankheiten und versucht diese durch Mittel und Ratschläge zu beheben.“ Atopie nickte.
„Es kann nicht mehr lange dauern.“ Der Mann kniete sich ebenfalls zu Atopie nieder. „Wie fühlst du dich?“ Unter Schock war er das förmliche Sie über Bord. „Ganz gut. Ich bin schockiert, aber mir geht es gut.“ „Das freut mich. Ich heiße übrigens Herr Wingmann.“ „Mein Name lautet Atopie. Das sind meine Freunde Padparadscha und Hopen.“ Herr Wingmann runzelte seine Stirn, hatte aber keine Zeit mehr Fragen zu stellen, weil der Krankenwagen mit lauter Sirene angekommen war. Für Atopie war es eine weiße, große, bedrohliche Ortsveränderungsmaschine, die ihn in kleinerer Ausführung gerade angefahren hatte. „Da will ich nicht rein“, sagte Atopie. Zu spät. Weiß/orange gekleidete Männer und eine Frau im blauen Anzug kamen auf ihn zu. „Können Sie aufstehen?“ Zwar verwunderte Atopie das „Sie“, welches auch schon Herr Wingmann verwendet hatte, doch er fühlte sich angesprochen. Somit stimmte er zu und rappelte sich auf. Er hörte wie die Frau seine Freunde fragte, ob sie mitfahren wollten. Folglich stieg Padparadscha vorne ein und Hopen ging mit in das hintere Abteil der Maschine. Atopies Herz raste. Ein weiß/orange gekleideter Mann bat ihn, sich auf die Liege zu legen. Hopen stand in seiner Nähe. „Dann wollen wir einmal sehen, was mit Ihnen passiert ist. Tut Ihnen irgendetwas weh?“, fragte der Mann, wobei er ihn nicht ansah, „erinnern Sie sich an alles?“ Nun sah er hoch in Atopies geschmeidiges Gesicht. „Alles ist in bester Ordnung. Ich erinnere mich an alles. Verzeihe mir meine Unhöflichkeit, doch ich möchte aus dieser Maschine.“
Nun machte der Mann große Augen und holte die Frau zu sich. „Guten Tag! Ich brauche Ihre Personalien“, sagte sie, „Name?“. „Mein Name lautet Atopie.“ „Gut, Herr Atopie, dann nennen Sie mir nun einmal Ihren Vornamen.“ „Mein Name lautet nur Atopie.“ Daraufhin tauschten Frau und Mann Blicke aus. „Herr Atopie, haben Sie Kopfschmerzen?“, fragte der Mann. „Ja, ein klein wenig.“ „Legen Sie sich hin und bleiben Sie ganz ruhig. Meine Kollegin und ich werden Ihnen nun ein paar Fragen stellen.
Waren Sie, nachdem sie aufgeprallt sind, bewusstlos?“ „Nein, ich sah Sternchen, war aber bei Bewusstsein.“ „Wer ist das hier? Ist das ein Freund von Ihnen?“ „Ja, das ist Hopen, ein Freund von mir.“ Die Frau wandte ihren Blick rasant und sah Hopen scharfsinnig an. „Das stimmt“, stammelte Hopen rasch. „Erinnerungen sind anscheinend vorhanden. Amnesie schließe ich aus. Vielleicht ist es der Schock, den er widerfahren musste“, sagte der Mann zur Frau. „Haben Sie schon den Blutdruck gemessen?“, fragte sie. „Nein, gute Idee. Wie wäre es, wenn Sie mit zum Krankenhaus fahren. Ich denke, es würde uns sonst zu viel Zeit kosten.“ „Selbstverständlich. Eine Sekunde. Ich sagen meinem Kollegen Bescheid.“
Viel verstand Atopie nicht von ihren Worten, doch er hatte Angst und fühlte sich eingeengt in einem kleinen weißen Zimmer mit geriffeltem Glas in den Fenster. Der Mann kam auf ihn zu und befestige ein dickes Band um seinen Oberarm, an dem ein Schlauch war. Atopie richtete sich schnell auf und erklärte: „Entschuldige mich, doch ich möchte nicht hier drin sein. Bitte lasse mich wieder hinaus! Mir ist nichts zugestoßen.“ „Beruhigen Sie sich, Herr Atopie. Ich messe nun Ihren Blutdruck.“ Der Mann begann zu pumpen. Das Band zog sich immer mehr zu. „Nein, das will ich nicht“, sagte Atopie panisch. „Schon vorbei. Beruhigen Sie sich! Das Messen hat mir gezeigt, dass sie vom Unfall noch sehr aufgebracht sind. Stimmt das?“ „Ja, so etwas habe ich noch nie erlebt. Als ich die Maschine sah, dachte ich, mein Leben sei vorbei.“ Wiederum wechselten der freundliche Mann und die Frau Blicke.
„Nun wieder zu Ihren Personalien. Geburtsdatum?“ Mittlerweile fuhren sie. „Im Frühjahr wurde ich geboren und nun bin ich schätzungsweise 20 Jahre alt.“ Die Frau riss ihre Augen weit auf, atmete böse aus und fragte: „Können Sie mir einen exakten Termin nennen, Herr Atopie?“ „Nein“, entgegnete er ruhig, „in Utopie schreiben wir kein genaues Jahr oder halten uns an ein Jahr Null. Das braucht man dort nicht zum Leben.“ „Er scheint vollkommen neben der Spur zu sein. Seien Sie ihm nicht böse“, riet der Mann der genervten Frau, „er muss unbedingt eingeliefert werden.“ „Ja,ich weiß, na gut. Wohnort?“ „Ich wohne in Utopie.“ „Utopie? In welchem Land liegt das?“ „Utopie ist eine Welt für sich.“ „Na klasse“, murmelte sie genervt vor sich hin, „und wer hatte Schuld am Unfall?“ „Ich nehme alle Schuld auf mich, weil ich mehr Acht auf die Maschinen hätte nehmen müssen.“ Die Frau notierte fleißig, was er sagte, als sie die Einfahrt des Krankenhauses hoch fuhren. Sobald der Wagen zum Stillstand kam, stieg sie aus und gab Atopie mit auf dem Weg: „Sie haben wirklich Schwein gehabt. Und merken Sie sich bitte eins: Die Maschinen heißen Autos. Tschüss.“
Im Krankenhaus mussten Hopen und Padparadscha lange warten, währenddessen sich Atopie Untersuchungen unterzog. Als Röntgenbilder von seinem Kopf gemacht wurden, fühlte er sich sehr allein. Was war bloß geschehen? Das Bild vom Auto kam in seinem Kopf hoch, als eine Maschine über seinem Kopf baumelete, die veranlasste, dass er allein im Raum sein musste. Er vertraute der Frau im weißen Kittel, vermutete, dass sie ein Arzt sei und ließ alles mit sich machen. „Gute Nachrichten“, sagte sie Minuten später und hielt ein schwarzes Blatt mit weißem Aufdruck in der Hand, „ich erkenne keinerlei Anzeichen von Problemen. Laut meines Kollegen bleiben Sie aber besser eine Nacht bei uns.“ Atopie nickte und folgte ihr. Er sollte schließlich bei Hopen und Padparadscha warten, weil sie ihn anmelden müsse. Anmelden für eine Nacht im Krankenhaus, wobei er doch gar nicht krank war. „Und sie hat wirklich gesagt, dass sie keine Probleme erkennt?“, fragte Hopen besorgt. „Ja, drum macht euch keine Sorgen. Vielleicht könnt ihr ja bis in den späten Abendstunden bei mir bleiben.“ Atopie bekam ein Einzelzimmer. Die Wände waren weiß und das Bett ähnelte einem Bett aus Utopie kaum. Trotzdem bemühte er sich bei guter Laune zu bleiben. Man kümmerte sich in dieser Welt um ihn, auch wenn man ihn nicht zu verstehen schien. Außerdem war er froh, Hopen und Padparadscha abends bei sich zu haben. Eine freundliche Frau erklärte ihm ausführlich, wie alles in diesem Haus ablaufe. Sie schien über sein Unwissen aufgeklärt zu sein und als sie das kühle Zimmer verließ, waren die drei endlich wieder allein. „Wie soll es weitergehen?“, fragte Padparadscha, „sie wundern sich sehr über dich, Atopie.“ „Lass' sie sich wundern! Das kümmert uns doch nicht, oder? Aufzufallen ist eher in unserem Sinne. Denn wie sollen wir sonst diese Seelen dazu bringen, uns zuzuhören? Ich habe überlebt und das ist gut.“ Welch kleine Rede über seine Lippen floss. Worte, sanft gesprochen, machten ihn mächtig.
Padparadscha riet ihm zu schlafen und versicherte, dass sie noch etwas da bleiben würden, sodass er sofort weg nickte. Kurz vorm Einschlafen dachte er noch bei sich, dass er aus diesem kühlen Haus rolle wolle. Die Angst, nicht wieder frei zu kommen, plagte ihn, plagte ihn... und es wurde so kühl, eiskalt, hellblaues Licht. In seinem weißen, unpersönlichem Gewand stand er auf, wollte das Fenster schließen, eins, das nicht mehr war und nur fiktiv gewesen ist, Da stand er dar. Nur noch er und sein Schatten. Es schauderte ihm. Schwere, drückte ihn nieder, seinen Schatten nicht. War das nicht die grundlegendste aller Fragen: wie wird man seinen Schatten los? Unsichtbare Blicke raubten ihm den Atem der frischen Luft. Um ihn herum wurde es stickig und heiß. Rotes Licht warf anders, aber ebenso ekelhaft einen Schatten auf ihn. Er hatte etwas Bedrohliches. Sein Schicksal als Schattengebilde, unter ihm, hinter ihm. Das wahre Leben lag nicht vor ihm und war nie für ihn vorgesehen gewesen. Wie sagt man seinem Schicksal nein? Atopie hätte seinen Vater fragen wollen, doch er wusste nicht was. Es waren Fragen, die das Schweigen stellte, das keine Antwort auf den Sinn gab. Keine tiefe gut tuende Stille, sondern endloses Schweigen, bedrückendes, das sich so unwohl anfühlte als stehe er neben sich, nein, vor sich, sich selbst im Weg. Man selbst als sein größtes Problem. Nur noch er und sein Schatten. Mehr nicht. Dunkelheit. Näher kommende Wände. Pochen. Herzrasen, eingeengtes Herz. Herzstechen. Keine erfüllende Wärme, sondern bildlose Verschmelzung mit dem Nichts und der Sinnlosigkeit. Dunkel, unsichtbare gestalten kreisten um ihn, lachten ih aus. Da wurde er sich seiner farblosen Welt bewusst und er schwieg. So redegewandt wie er sonst war, so schweigsam schien er nun für immer zu seine. Schwere Zunge, Worte, die fehlten, um nach außen zu gelangen, raus aus sich, weg von seinem Schatten. Hilflos. Da flüsterte der Schatten: Zeit, das Schweigen zu durchbrechen, zeit, mit mir zu kommen. Ich war immer bei dir und nun werden wir eins.“ Mitten im roten Licht erkannte er Utopie. Brennend. Feuerrot. Knistern. Flackern. Der Geruch vom dreckigen Rauch, welcher in seiner Lunge schmerzte. Seine Heimat, seine identität brannte vor seinen Augen nieder. Sein Herz krampfte, und das noch mehr als Arminius mit funkelnden Augen neben ihm stand und gelassen sagte: „Wer sich seiner Heimat nicht als treu erweist, hat den Entschluss gefasst, sie niederzubrennen. Du schließt mir ihr ab. Vergangenheit, um mit dem Schatten abzuschließen. Doch genau dann wird man zu ihm, hat den Schatten auf dem Herzen, verhüllt es, ein Schleier stärker als erbaute reale Mauern. Sag mir, mein Bruder, wann war es, als du uns verlassen hast, wann hast du dein Herz an Begierden und Sehnsüchten der anderen Welt verloren? Und wer trägt Schuld daran?“ „Arminius, wie wird man seinen Schatten los? Wen soll man fragen, wenn man die Antwort selbst nicht weiß? Ich will Licht!“ Es war die vertrauliche Stimme seiner Mutter, die ihm versprach: „Ohne Licht gibt es keinen Schatten. Das Licht wird immer der Ursprung sein, der Anfang und das Ende.“
Durch das Anklopfen an der Tür und die ungewohnte Situation im kühlen Zimmer, vergaß er all die schlimmen Bilder, doch die Worte blieben in seinem Herzen. Sobald man schläft, träumt man schließlich immer, und ob man sich erinnert oder nicht: es bleibt zumindest mental eine für wirklich empfundene Erfahrung, die je nach Kontext und Wahrnehmung eine Auswirkung auf das Bewusstsein im wachen Zustand haben kann. Solche Horrorszenarien hatte Atopie darauffolgend tagsüber nicht im Kopf, aber der Gedanke, dass das Licht der Ursprung sei und dass es ohne Licht gar keinen Schatten gebe, was ihm das bedrohliche stahl, behielt er als Erkenntnis in seinem Erfahrungsschatz.
Neu
Behutsam öffnete jemand die Tür. Herr Wingmann trat herein und hielt in seiner linken Hand eine dunkelblaue Aktentasche. Er war sehr vornehm gekleidet. Dunkelblauer Anzug, weißes Hemd und eine passende Krawatte. Seine Haare trug er sehr kurz und sein Gesicht sah sehr jung und gepflegt aus. Es sah nach etwas Wichtigem aus, das er im Leben tat. „Na Herr Atopie! Wie geht es Ihnen?“ „Mir geht es gut. Der Arzt will mich nur vorsichtshalber für eine Nacht hier behalten. Bitte lass' das „Herr“ weg. Meine Name ist Atopie.“ Solche Worte und sein Wille gegen das mG erhellten sofort seinen Geist. „Na klar, kein Problem. Dann lass' mein „Herr“ auch weg. Wingmann hört sich doch nett an und duzen macht die ganze Sache persönlicher. Natürlich wollte ich wissen, wie es dir geht, aber ich habe da noch eine weitere Frage auf dem Herzen.“ Einen Moment lang hielt er inne; vielleicht, weil er es selbst als spannender empfand. „Was verschlägt euch drei in diese Stadt? Wer seid ihr?“ „Wir wollen die Welt retten“, entgegnete Padparadscha und grinste frech. „Ja, denn es geht darum, innere Zufriedenheit zu finden, um gegen das mG zu kämpfen“, setzte Hopen fort. „Das mG steht für das mittwochs-Gefühl. In meiner Welt durchlebte ein wunderschönes Mädchen jeden Mittwoch ein grauenhaftes Gefühl, weil sie an einem Mittwoch um ihre Liebe beraubt wurde. Gegen dieses Gefühl von Schmerz, Traurigkeit, Verlust, Leere muss angegangen werden. Jeder kennt das mG. Da sind wir uns sicher.“ Wingmanns Augen konnten sich nicht entscheiden, wen sie ansehen sollten. Sie schossen hin und her, währenddessen sein Körper starr da stand. „Sensation“, dachte er, „Sensation.“ „Habt ihr denn eine Idee, wie ihr das umsetzen wollt?“ „Erst einmal müssen wir Gehör bei diesen Seelen finden.“ Hopen und Padparadscha nickten.
„Ich bin Manager. Was haltet ihr davon, wenn ich euer Manager bin?“ Mittlerweile konnten Atopies Freunde einschätzen, was er kannte und was nicht. „Erkläre bitte für Atopie, was ein Manager ist.“ „Manager ... ich manage euch?“, sagte er hilflos fragend. „Nein, gut, das heißt, ich leite euch, ich organisiere Termine für euch, habe Verantwortung. Eigentlich werde ich auch dafür bezahlt, aber darauf kommt es momentan nicht an. Erst einmal müssen wir eure Botschaft an den Mann bringen. Dann sehe ich weiter.“
„Ich finde wir sollten jede Hilfe annehmen, die wir bekommen. Was meint ihr zwei?“ Hopen und Padparadscha stimmten zu. „Wollt ihr zwei bei mir übernachten? Ein Hotel wird euch in dem Aufzug wohl kaum aufnehmen und so können wir Atopie morgen gemeinsam abholen.“ „Kannst du uns vielleicht einen kleinen Moment alleine lassen?“, fragte Hopen. Wingmann nickte freundlich und ging auf den Flur. „Können wir ihm trauen?“ Hopen sah besorgt aus. „Ich denke schon“, antwortete Atopie. „Er ist wirklich sehr zuvorkommend. Außerdem können wir einen Manager gut gebrauchen“, fand Padparadscha. „Ja, in Ordnung.“ Hopen sah den beiden tief in die Augen und vertraute auf ihre Einschätzung.
Schließlich verabschiedeten sie sich von Atopie und fuhren mit Wingmann nach Hause. Er hatte ein großes Haus, das von innen auf schwarz/weiß gehalten war. Die Einrichtung war für sie ungewohnt. Ledersessel und - stühle schien Wingmann zu mögen. Atopie mochte seine Zimmereinrichtung im Krankenhaus gar nicht. Zum Glück waren seine Augenlider viel zu schwer, um sich weiterhin daran zu stören. Er schlief ein und verarbeitete den Schock so gut wie möglich in seinen Träumen, sah wieder wirre Bilder, sah Wingmann. War es richtig ihm zu vertrauen?
Am frühen Morgen wurde Atopie geweckt. Vorhänge auf, frische Luft rein. Zum Glück gab es Wingmann. Denn in der Welt, in der Atopie gerade wohl behütet geweckt worden war, konnte man einen solchen Luxus niemals ohne Geld genießen, was das Krankenhaus der Krankenkasse entnommen hätte. Atopie war natürlich bei keiner Krankenkasse registriert, weshalb Wingmann schon am Abend vorgesorgt hatte.
Um 10 Uhr klopfte es an Atopies Tür. Auch sein Herz klopfte. Nicht weil es sich erschrak, sondern weil es sich freute.
Gemeinsam fuhren sie zu Wingmann, was Atopie sehr viel Überwindung kostete. Ans Autofahren hatte er sich noch nicht gewöhnt. Angekommen setzten sie sich zusammen an einen gläsernen Tisch. Wingmann holte eine Akte und einen Stift heraus. Neugierig sah Atopie sich um. Das Zimmer war auf hellblau/ weiß/ schwarz gehalten und mit modernen Möbeln eingerichtet. Was Atopie davon halten sollte, wusste er nicht so ganz, aber eigentlich kümmerte ihn es auch nicht groß. Möbel schmückten den Raum, sagten aber nichts über Wingmann aus. „So“, begann Wingmann das Schweigen zu brechen, „ich habe Kontakte zu einer Fernsehshow, die jeden Mittag läuft. Was haltet ihr davon? Atopie, ich möchte dich so schnell wie möglich auf Sendung bringen. Für euch zwei wäre sofortig ein Platz in der ersten Reihe gesichert. Was meint ihr?“ Die drei runzelten ihre Stirn. Fernsehshow? „Wisst ihr was Fernsehen ist?“, fragte der kluge Manager. Nein, natürlich nicht. Woher denn auch? Padparadscha musste grinsen. Sich in eine Großstadt zu begeben, war eine sehr gute Idee gewesen. Alles war neu, sie waren neu. Neues ist interessant. Er freute sich und grinste vor sich hin, während Wingmann noch eifrig überlegte, wo man anfangen sollte, Fernsehen zu erklären. „Welch Herausforderung. Also, ein Fernseher ist ein Gerät, das Strom benötigt. Strom? Kennt ihr überhaupt Strom? Bewegte Ladungen? Na ja egal, am Fernseher ist ein Kabel befestigt und das muss man einstöpseln. Sonst ließe er sich nicht einschalten. Ist er eingeschaltet, kann man Bilder sehen, die sich bewegen. Bewegte Bilder sind ein Film oder eine Sendung. Dann unterscheidet man zwischen Programmen. Auf jedem Programm laufen andere Filme, Sendungen, Reportagen. Ein Fernseher ist ein Fenster in die Welt. Was man sieht, kann bildend sein oder einfach nur unterhaltsam. Soll ich euch einmal meinen zeigen?“ Die drei nickten natürlich und gingen mit ihm ins Nebenzimmer. Da stand ein solches Gerät. Wingmann drückte einen Knopf am Fernseher. Ein roter Punkt erleuchtete. Dann nahm er ein dazu farblich passendes, rechteckiges Ding, drückte darauf, der Knopf erleuchtete grün und der Fernseher zeigte versprochene Bilder.
Die nächsten Stunden verbrachten die drei damit, sich alles Mögliche anzusehen. Wingmann zeigte ihnen am Mittag die Show, in die er Atopie bringen wollte. Natürlich waren sie von den beweglichen Bildern hin und weg. Ein Fernseher. Was ist das schon für ein alltägliches Gerät? Doch wenn man in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht hätte, dass man Geschichten, die sich in der Realität vor eigenen Augen abspielen, mit Geräusch und Bild durch ein Gerät im Wohnzimmer zeigen kann, war man geplättet, fasziniert, verzaubert.
„Mögt ihr alle Fleisch und Käse?“, fragte Wingmann. Ihr Zustimmen erleichterte ihn, denn er hatte vor den Fernseher zu toppen. Als erfolgreicher, alleinstehender Manager hatte er keine Zeit, sich Essen zu kochen, sich vorwiegend gesund zu ernähren. Deshalb hatte er in seiner Kühltruhe immer genügend Pizza. Schnell schob er vier Salami-Pizzen in den Backofen, deckte den Küchentisch und ging zurück zu den Fernsehbegeisterten. Er setzte alles daran, sie bei sich zu behalten, sie für sich zu gewinnen und vernachlässigte sonstige Arbeit. Denn er war umhüllt vom Scharm Atopies und mochte seine Freunde. Wingmann hatte einfach das Gefühl, richtig zu handeln, indem er alles, besonders für Atopie, stehen und liegen ließ und sich darauf konzentrierte ihn und seine Botschaft gegen das mG an die Öffentlichkeit zu bringen.
„Schmeckt es euch?“ „Na klar. Pizza, Fernsehen ... ich wäre fast in meiner kiesigen Heimat als Riese versauert“, antwortete Padparadscha. „Genau, das Meer ist wunderschön, ich will es nicht missen, aber ab und zu sollte man sich in eine Stadt begeben. Sie hat viel zu bieten“, sagte Hopen. Atopie lächelte, genoss seine Pizza und fühlte sich ebenfalls wohl.
„Atopie, wenn wir morgen die Sendung aufnehmen, also filmen lassen, dann würde sie schon übermorgen ausgestrahlt werden, also im Fernsehen laufen. Was meinst du?“ In der Öffentlichkeit zu stehen, war auch mit Gefahr verbunden. Aber woher sollte er das wissen? Die Lebenserfahrung, die er bis jetzt gesammelt hatte, kam ja nicht aus dieser Welt, sondern aus einer ohne Kehrseite. Dort gab es keine Reporter, die darauf erpicht waren, Geld durch Schlagzeilen zu verdienen. Drum stimmte er zu. Denn er wollte, wie Wingmann es sagte, seine Botschaft an den Mann bringen.
„Du arbeitest viel, nicht wahr?“, fragte Atopie, „wie sieht es denn sonst so in deinem Leben aus?“ Wingmann blickte ihn skeptisch an. Nun wollte Atopie ihm wohl auf den Zahn fühlen. Wie sollte es sonst aussehen, wenn man kaum für sich selbst Zeit hatte? „Ach Atopie, als wenn du das nicht schon längst bemerkt hättest. Zu wenig Zeit. Ich bin da in etwas hinein gerutscht, dass ich nicht ahnen konnte. Ich mache nun Karriere.“ „Was meinst du mit Karriere? Deinen beruflichen Werdegang?“ Wingmann nickte. „Und nun bleibt keine Zeit zum Nachdenken?“ „Es wäre schön, wenn die Zeit nicht mehr wäre. Denn sie kommt, wenn ich eigentlich schlafen sollte. Dann liege ich da, plötzlich ist alles still. Gedanken kommen hoch. Halte mich für verwirrt, aber manchmal frage ich mich, was „ewig“ ist. Je mehr ich mir dann Ewigkeit vorstelle, desto mehr Panik bekomme ich. Denn wie kann etwas ewig sein? Meine Zeit ist dabei so kurz.“ Und da war es wieder. Das sanfte Lächeln Atopies, das über seine schmalen Lippen lief. „Du bist nicht verwirrt, sondern nachdenklich.“ Wingmann tat es gut während des Essens nicht über das, was er tat, sondern das, was er dachte, zu reden. Wann hatte er das zuletzt getan? Er seufzte und fuhr fort: „Wie komme ich da wieder raus?“ Seine hellblauen Augen sahen hilflos in Atopies. Atopie erwiderte diesen Blick hoffnungsvoll und gab zur Antwort: „Du tust längst das Richtige, indem du auf der Suche nach Glückseligkeit bist. Gib das Suchen nicht auf!“
„Ich bin froh, auf dich gestoßen zu sein, auch wenn es kein schönes aufeinander Stoßen war.“ „Wir auch“, fügte Hopen schmatzend hinzu.
Sie räumten gemeinsam auf, waren begeistert von Wingmanns Spülmaschine und verbrachten den restlichen Tag vorm Fernseher (Wingmann an seinem Schreibtisch). Zwar wären sie auch gerne zusammen an die frische Luft gegangen und Wingmann hätte ihnen die Stadt gezeigt, aber ihr Manager hielt es für zu gefährlich. Die drei sahen ja auch wirklich merkwürdig aus. Er spielte mit dem Gedanken sie ihrer Umgebung entsprechend anzukleiden. Natürlich war er verliebt in den seidenen roten Mantel, aber so konnte man doch nicht auftreten. Darunter trug er etwas Schwarzes, das selten zum Vorschein kam. Eine Jeans war es jedenfalls nicht. Der braune Stofffetzen Padparadschas war auch nicht so der Hit und Hopens kariert/ gestreifter Aufzug entprach auch keinem Hingucker. Was also tun als ernannter Manager?
Am späten Nachmittag klopfte es an seiner Bürotür. „Wir müssen mit dir reden“, begann Padparadscha freundlich wie er war, „uns ist aufgefallen, dass wir nicht wie diejenigen im Fernseher aussehen und befürchten deshalb negativ aufzufallen. Natürlich wollen wir auffallen, aber nicht negativ. Hast du eine Idee wie wir ihnen mehr ähneln können? Das lindert ja nicht die Bedeutung unserer Botschaft an die Seelen dieser Welt.“ Ein Felsbrocken fiel mucksmäuschenstill von Wingmanns Herzen. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass die Geschäfte noch offen hatten. Also auffällig ins Getümmel, um unauffällig wieder hinauszukommen.
In einem Wingmann vertrauten Geschäft bekam jeder von ihnen eine Jeans. Zum Glück gab es den bezahlenden Wingmann. Hopen und Padparadscha wählten eine blaue, Atopie eine schwarze. Wingmann hielt schlichte Hemden für am praktischsten. Atopie wählte ein rotes, Padparadscha ein braunes und Hopen ein blaues. Hopen hatte blonde Haare, die weder zu kurz noch zu lang waren. Padparadscha braune Haare, die ebenso unauffällig waren. An Atopies fehlte Wingmanns Meinung nach der letzte Schliff.
Am nächsten Morgen wollten sie deswegen einen Friseur aufsuchen. Dorthin wollte Wingmann Atopie nicht alleine lassen. Er war noch viel zu unerfahren für das normale Verhalten in einer Stadt.
Der neue Haarschnitt würde sein etwas längeres Haar nicht allzu sehr verändern, sondern es nur gepflegter aussehen. Bei so viel Neuem, war das Thema des neuen Haarschnitts eh nebensächlich. Wie die Seelen Utopies lächelten die vier vorm Einschlafen und freuten sich auf den neuen Tag.
Neuanfang
Es wäre schön, wenn die Geschichte hier ende, weil Atopie mithilfe der anderen überall und bei jedem seine Anti-mG-Spuren hinterlassen wollte. Doch meistens ist die Wahrheit nicht schön.
Am Morgen darauf war Wingmann als erster wach und ging seiner gewöhnlichen Routine nach, Die Handlungen im Bad, in der Küche, das Ankleiden, jeder Schritt verlief wie üblich. Im Vergleich zum üblichen Alltagsstress empfand er seine Routine als Gegengewicht, als Ausgleich. Ruhe durch Routine. Als Hopen und Padparadscha mit Wingmann frühstückten, schlief Atopie noch immer, was ihm nach all der Hektik, dem Neuen und dem Stress gegönnt war. Atopie war sowieso jemand, dem man alles Glück der Welt wünschte, weil er selbst so viel Glückseligkeit ausstrahlte; eine, die durch Leichtigkeit und Ernst fuß fasste. Als der Nachmittag anbrach und Wingmann ein paar Minuten Zeit hatte, wollte er nach den Dreien sehen. 14:07 Uhr. Atopie schlief noch immer. Padparadscha und Hopen hatten den Vormittag mit Sparziergängen verbracht. Sie erkundeten die neue Gegend und waren um 14:07 Uhr gerade an einem idyllischen See mit einer kleiner Hütten und ringsherum vielen Bäumen... ihnen ging es gut und sie freuten sich auf die Zukunft mit allem, was kommen mochte. 14:07 Uhr. „Atopie? Schläfst du noch?, Wingmann betrat vorsichtig das Gästezimmer und hatte im Sinn, ihn mit neuen Leckereien zu erfreuen. „Eben Atopie in meinen Zeitplan einbauen, dann geht es weiter“, dachte er sich als Belohnung nach all den bisher erledigten unwichtigen Dingen. So machte er das immer mit all seinen Bezugspersonen, denn es zu schwierig sie für einen längeren Zeitraum einzuplanen. Solche, die er wirklich gern hatte, verlor er nach der zeit sowieso. Die Erfahrung hatte er in seinem Leben immer wieder machen müssen. Wingmann hatte ein großes Herz, zweifelsfrei, aber seine meiste Energie steckte er seit eh und je in die Arbeit. Seine Karriere verlief seit der Vorschule einwandfrei. Der makellose Schwiegersohn, wie er im Buche steht mit dem kleinen hinterhältigen Sternchen, das in winziger Schrift anmerkt: „Aber er hat nie zeit oder nur kurz, sehr kurz, je nachdem.“
Wingmann beugte sich vorsichtig über Atopie, den Unbeschreiblichen. Wie friedlich er aussah: auf der linken Seite liegend, den rechten Arm gebeugt und in Richtung seines hübschen Gesichtes. Seine Haare verdeckten es ein wenig. Wingmann rüttelte sanft an seinem rechten Oberarm, zog die Hand schnell wieder weg. Herzhüpfer. „Atopie?“ Kälteschauer im Nacken. „Atopie?“ 14:12 Uhr. Wingmann sag den unschuldigen Unbeschreiblichen mit weit aufgerissenen Augen an, schüttelte den Kopf, legte behutsam seine Hand auf seine Wange. Atopie war eiskalt. Ende. Er musste schon vor Stunden gestorben sein. Wingmann schlug die Hände in sein Gesicht, alles erschien von der einen Sekunde auf die andere so irreal, so sinnlos, so vorbei. Das konnte nicht wahr sein. Nicht Atopie. Nein, das war nicht alles. Er hatte so viel mit ihm vor, wollte noch so viel Zeit mit ihm verbringen. Seit ihrer ersten Begegnung und dem einem Gespräch hatte Wingmann etwas Besonderes gesehen und nun ging er. Er war gegangen. Der Zauber und sein Scharm. Warum? Er selbst, aber doch nicht Atopie. An viel erinnerte sich Wingmann nicht mehr. Er brach zusammen, rief anscheinend den Notruf, stand noch immer unter Schock als Hopen und Padparadscha vor den vollendeten Tatsachen gestellt wurden. Hopen brach sofort in Tränen aus, Padparadscha reagierte wie Wingmann fassungslos. Schock. Die Ärzte stellten als Todesursache „plötzlichen Herzstillstand“ fest und erzählten seinen Angehörigen nichts vom Broken-Heart-Syndrom, welches in der Welt mit den zwei Seiten einer Münze zur Realität gehörte: Man starb demnach an einem gebrochenen Herzen. Mit dem Unfall hatte Atopies Tod insofern etwas zu tun, dass es der Tropfen war, der das Herzfass zum überlaufen brachte. Sein Herz war es, das entschieden Nein sagte, weil alles, all das Neue, zu viel für sein kleines Herz gewesen war. Zu viel. Was im Krankenhaus in Form eines Traums noch ein Hilfeschrei seiner kaputten Seele sein sollte, zerfressen vom mG, hatte sich bewahrheitet und meistens ist die Wahrheit nicht nur nicht schön, sondern exakt das, was man aus seinem Leben verbannen will. Stunden, die man zurück will, Momente, noch eine Chance. Alles vertan. Ende.
Schweiß gebadet und verheult erwachte Wingmann morgens. Er musste nach Luft schnappen, tief einatmen. Ein Traum. Absolut unwichtig. Sein Herz raste. So ein Herzrasen hatte er schon einmal empfunden, er glaubte, das müsste im Kindesalter gewesen sein. Tief atmend legte er seine Hand auf die Brust und spürte sein Herz kräftig schlafen. Was er nun dachte, sollte er am nächsten Tag schon wieder vergessen haben, nicht, weil er es bewusst vergessen wollte, sondern weil er und sein Ich so harmonisch im Ausgleich waren: „Atopie war der erste seit Ewigkeiten, der erste...“ Ihm fehlten sogar die Gedanken dafür. Neben all dem Stress und der Routine war war es auch üblich, dass er immer wieder die Person verlor, die ihm auf eine ganz besondere Art und Weise wichtig war, denn dann versaute er es entweder oder er legte es sogar darauf an, dass die Verbindung endlich sein sollte. Er hatte ein Talent dafür solche besonderen zwischenmenschlichen Beziehungen zu zerstören. Er wusste nicht warum, aber wenn es darum ging so etwas wie das, was mit Atopie anbahnte, aufrechtzuerhalten, tat er alles in seiner Macht stehende, um das Gegenteil zu bewirken. Konkreter ist die Rede von zerstörerischer Eifersucht, von Kälte als Schutz, von Misstrauen anstatt Vertrauen, denn Kontrolle ist besser als Vertrauen, die Rede von Betonmauern anstatt den Ball zurückzuspielen oder auch einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Warum nan so ist? Die Antwort findet man nur im eigenen Bewusstsein, kann einem keiner nennen. Sekuinden können alles verändern. Jahre können vergehen bis man fühlt, das etwas fehlt, sei es eine geliebte Seele, sei es das Urvertrauen in die Welt. Üblicherweise hat man ein Stück Glückseligkeit verloren. Wingmanns Gedanken lauteten selbstverständlich nicht derart. Aus dem Tiefschlaf gerissen, todmüde, schlief er schnell wieder ein, denn für schlaflose Nächte hatte er nun wirklich keine Zeit.
Unter die Haut
11:23 Uhr. Es war höchste Eisenbahn zum Studio zu fahren. Um 12 Uhr sollten sie da sein, da um 14 Uhr aufgenommen werde. Atopie machte sich immer viele Gedanken, so dass er es fraglich fand um 14 Uhr zu filmen, wenn man das Gefilmte erst in 23 Stunden zeigte. Doch er vermutete, dass das alles nicht so einfach war, wie es auf dem ersten Blick schien. Vielleicht ahnte er dieses auch schon in Bezug auf das Kommende.
Die Decke des Studios war sehr hoch und voller Lichter. Atopie musste vor einem Spiegel Platz nehmen (zum Glück war er diesen gewohnt), um den wiederum Glühbirnen waren. Hopen und Padparadscha nahmen auf der kleinen Publikumstribune Platz und beobachteten die Mitarbeiter. Nach und nach kamen mehr Gäste. Das Studio füllte sich. Atopies Gesicht wurde von einer stark geschminkten Frau leicht geschminkt. Auf die Frage, warum sie ihn mit hautfarbigem Pulver bedecke, antwortete sie abwesend, dass er dann nicht glänze. "Ich glänze dann nicht." Das beantwortete seine Frage, warf aber weitere Fragen auf. Doch er wollte die Frau mit seinen Fragen über Fragen verschonen. Lieber ließ er es auf sich zukommen, anstatt sich einzumischen. "Haben Sie sich vorbereitet?", fragte ein Mann, der Kabel in den Ohren hatte. Mental hatte er sich vorbereitet. Von daher nickte er.
Der Teil vom Studio, den man letztendlich im Fernsehen sah, war schlicht gehalten. Zwei rote Sessel füllten das Bild. Zwischen ihnen eher im Hintergrund stand ein hoher Tisch mit zwei Wassergläsern. Die Wand hinter den Sesseln war gelblich und mit dem roten Logo der Sendung verzirrt. "Unter die Haut". Wird es unter die Haut gehen, wenn er mit dem Moderator spricht? Den Gedanken an diese Metahper tat er schnell wieder ab. Der Mann mit den Kabeln erklärte: "Sie werden gleich ein Zeichen von mir bekommen, wenn Sie durch diesen Gang ins Studio gehen können. Solange laufen bis Sie auf dem ersten roten Sessel sitzen und nicht zu lange ins Publikum oder in die Kamera starren! Verstanden?" Was sollte er daran nicht verstehen, wobei ihn doch nicht einmal Lampenfieber plagte, was er von der Bezeichnung her auch nicht gekannt hätte.
"Herzlich willkommen bei 'Unter die Haut'!", sagte der Moderator herzlich. Applaus folgte. Er hatte blonde, gegelte Haare, war fast 40 Jahre alt und besonders wegen seiner Grübchen beim Lachen sympathisch. "Heute kommt ein ganz besonderer Gast. Ein Freund von mir fuhr ihn an - keine Angst, er kam mit einem Schrecken davon - und ist sich sicher, dass er ein Liebling meines Publikums sein wird. Wollt ihr ihn kennen lernen?" Das Publikum applaudierte. "Herzlich willkommen Atopie!"
Wingmann war nervöser als Atopie. Das Leben war für ihn eine Geschichte wie sie in einem Buch geschrieben steht. Das Ende konnte jedoch niemals offen sein. Es endete mit dem Tod. Dabei waren die Kapitel sehr verzwickt miteinander, da sie sich aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzten. Mit Atopie hatte eine neue Geschichte begonnen und er wollte, dass diese gut ausgeht.
"Nimm Platz, Atopie. Schön, dich in meiner Sendung zu haben." "Glückliches Leben! Mich freut es auch." "Wie alt bist du denn?" "Ich müsste um die 20 Jahre alt sein." "Du müsstest? Kennst du dein Geburtsdatum nicht?" Die Kamera hielt nur auf Atopie. Nur sein Gesicht füllte den Bildschirm. Furchtlos antwortete er: "Richtig, ich weiß nur, dass es im Frühling war." "Aber warum denn?" Neugierig hörten alle zu. "Weil man aus der Welt, aus der ich komme, nicht jedes Jahr, jeden Monat oder Tag zählt. Man lebt nicht nach einem Jahr Null." "Aber wie soll man ohne genauen Zeiteinheiten Termine einhalten?" "Das braucht man dort nicht." "Dort? Woher kommst du denn?" "Ich komme aus Utopie. Das ist eine andere Welt, deren Zugang man in dieser nie finden wird."
Stille trat ein. Alles fixierte sich auf Atopie. Atemberaubende andauernde Stille. Wer war er? Wie konnte er so etwas Selbstbewusstes von sich geben? Atopie, der, den man sich als besten Freund, Vater, Ehemann, Sohn oder Schwiegersohn, als Retter wünschte. Der, der all dies individuell ausstrahlte - wer sich nach einem besten Freund sehnte, sah diesen in ihm - saß nun da und gab es zu, etwas Besonderes zu sein. In dem Moment der Stille öffneten sich die Herzen der anwesenden Seelen. Er war wunderbar. Was hatte er aber in dieser Welt verloren? Diese Frage des Moderators brach die Stille der Herzen.
"Viele Seelen leiden unter dem mG. Diese Abkürzung steht für das mittwochs-Gefühl. In meiner Welt durchlebte ein wunderschönes Mädchen jeden Mittwoch ein grauenhaftes Gefühl, weil sie an einem Mittwoch um ihre Liebe beraubt wurde. Gegen dieses Gefühl von Schmerz, Traurigkeit, Verlust, Leere muss angegangen werden. Jeder kennt das mG. Seelen, die wütend sind, ihre Wut an andere auslassen, sind auch vom mG ergriffen. Es blockiert das Herz. Seinetwegen hasst man es, am Morgen zu erwachen und hat eine Last auf dem Herzen, die man wegwischen will. Aber wie? Genau deswegen bin ich gekommen, um zu helfen, den Stein vom Herzen zu wischen. Dabei begleiten mich zwei Freunde, die ich kennen lernte, als ich herausfand, was es mit diesem Gefühl auf sich hat. Sie sitzen gleich dort vorne und heißen Hopen und Padparadscha."
Ein Kameramann, ebenso ergriffen von Atopie wie alle anderen, verstand zum Glück, sie jetzt einblenden zu müssen. Freundlich winkten sie in die Kamera. Schnell folgte jedoch wieder der Bildwechsel auf Atopie.
"Ein Motto könnte lauten: Gegen das mG gemeinsam, niemals einsam", fuhr Atopie fort. Noch immer lag diese verblüffte Stille in der Luft. Der Moderator wandte sich zum Publikum und fragte auffordernd laut: "Was haltet ihr davon?" Tobender Applaus, strahlende Gesichter. Der erste Schritt war getan.
"Ich glaube, für alle zu sprechen", so der Moderator, "wenn ich behaupte: das geht unter die Haut." Da er erneut das Wort ergriffen hatte, wurde der Applaus langsam leiser. "Gibt es aus deiner Welt denn sozusagen einen Zaubertrank gegen das mG?", fragte er. Atopie schmunzelte charmant. Verwandelt sich in Utopie Toilettenpapier in Geld? "Tut mir leid, aber ich muss dich enttäuschen. Wenn ich schnipse oder geheimnisvolle Worte flüstere oder einen Trank zusammenbraue, verschwindet es nicht plötzlich. Es steckt viel mehr dahinter und ist, so leid es mir tut, nicht geheimnisvoll", einen Moment hielt er inne, "wenn ich so darüber nachdenke, steckt doch ein Geheimnis dahinter. Genau das will ich ja aber lüften.
Man wird mit dem mG fertig, wenn man sich zunächst einmal mit ihm auseinander setzt. Warum lauert es in einem? Was bedrückt das Herz? Wo liegt der Ursprung? Versteht ihr mich? Es ist wie mit einem Fernseher, der nicht angeschlossen ist. Der Bildschirm ist schwarz. Keine bunten Bilder leuchten auf. Der erste Schritt ist, zu erkennen, dass er nicht angeschlossen ist. Dann kann er ja gar nicht funktionieren. Diese Erkenntnis ist im übertragenen Sinne wichtig." Ein solches Gleichnis konnte nur Atopie einfallen.
"Wie geht es weiter? Ist man plötzlich nach der Erkenntnis glücklich und zufrieden? Der Fernseher läuft? Nein, so ist es nicht. Es tut mir leid, dass noch mehr dahinter steckt. Aber nur weil man einen Fernseher anschließt, zeigt er ja nicht gleich seine bezaubernden Bilder." Atopie war bezaubernd, wie er niedlich von seinem Vergleich sprach. "Wenn man erkannt hat, was überhaupt mit einem los ist, ist es an der Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Glaubt mir, wenn ich sage: Lasst das mG zu! Der Bildschirm ist schwarz. Wie soll es einem dann schon gehen? Verdammt schlecht und das sollte man nicht unterdrücken. Weint! Lasst alles heraus! Jeder einzelne Träne. Und wenn euch weniger zum Weinen zumute ist, dann starrt aus dem Fenster zum Himmel hinaus! Legt euch einfach hin und starrt die Decke an, solange wie es nötig ist! Wie lange diese Phase dauert, kann ich nicht sagen. Das ist von Seele zu Seele verschieden. Dies sei Schritt zwei.
Ich persönlich finde den nächsten Schritt anstrengend. Niemanden will ich entmutigen, aber er kostet Kraft. Der Fernseher ist angeschlossen, man schaltet ihn ein. Und was sieht man? Bunte, fröhliche Bilder? Vielleicht flackern sie einmal für ein paar Minuten bunt auf, aber zunächst sind sie schwarz/ weiß. So schnell wäre es ungesund, wieder Farbe ins Leben zu bringen. Der dritte Schritt sei, sich abzulenken, etwas zu unternehmen, sich etwas zu gönnen. Langsam beginnt ein Leidender wieder zu leben. Diese Phase ist von Ablenkung geprägt.
Ist es lächerlich nun wieder auf den Fernseher zu verweisen? Als ich das mG hatte, hatte ich keinen. Wenn ich es noch einmal durchleben muss, dann wird er mein Freund sein. Ich will nicht sagen, dass man ständig davor sitzen sollte, aber ab und zu, in den Momenten, in denen man von seinem Schmerz eingeholt wird. Man schaltet die Sorgen ab und ihn ein. Auf Dauer ist das auch keine Lösung, aber es ist ein gutes Beispiel für eine Ablenkung, die keiner Seele bedarf.
Jedenfalls führen Ablenkungen zum Leben. Man kann wieder atmen, ist manchmal traurig, aber dafür auch manchmal glücklich.“
Atopie runzelte seine Stirn, sah zum Publikum und fuhr fort: „Ob man Schritt vier erreicht, kann ich beim besten Willen nicht versprechen. Er wäre der fortlaufend angeschaltete Fernseher mit bunten Bildern. Im Klartext: Glückseligkeit. Ehrlich gesagt, vermute ich, dass die beste Lebensform der 3,5. Schritt ist. Kann man von Grund auf für immer glücklich und zufrieden sein? In Utopie kann man es und hier beinahe. Um den Seelen zu helfen, den 3,5. Schritt zu erreichen, bin ich gekommen. Lasst uns zusammen gehen und das mG hinter uns lassen!“
„Ich danke dir für diese bildliche Ausführung. Wir sind jedoch nicht am Ende unserer Sendung gelangt. Vielleicht hast du etwas von den momentanen Menschenrechtsdebatten mitbekommen, das heißt, von der Frage inwiefern Foltermaßnahmen und die Menschenwürde konträr sind. Du sagst, es geht um das Gute, um den aktiven Einsatz dafür. Wie weit darf man gehen, wenn es um unschuldiges Leben geht? Muss man es aufs Spiel setzen, weil die Menschenrechte des Täters dennoch volle Wirksamkeit haben? Wie würde man in Utopie darauf antworten?“ „Wer der Würde des anderen schadet, hat sich bewusst gegen die eigene entschieden...“, er guckte den Moderator stutzig an und fuhr fort: „Ich verstehe überhaupt nicht, wie man einer unschuldigen Seelen überhaupt etwas Böses wollen kann. Da fehlt mir der Sinn dahinter, ja, das Gute. Denn dann hat sich der Täter ja für das Böse entschieden, und auch, wenn er dann doch davon ablässt, er war im Begriff es zu tun.“ „Und wie geht man gegen solche vor? Ich rede nicht von Privatjustiz, sondern vom differenzierten, professionellen Schutz für das Leben, die Freiheit und das Eigentum eines jeden.“ „Weit.“ Er war sich nicht sicher, ob er sich selbst gerade für etwas Böses entschied, seine Moral rang und schwangte, aber intuitiv und folglich von Herzen sagte er: „Wer nichts tut, lässt das Böse zu, also tut man auch Böses. Was du sagst, klingt nach akzeptierter, trauriger Ohnmacht. Ich meine, angenommen, es wäre absolut professionell und von vielen Faktoren abhängig, dann dürfte es ja zu keinem Übermaß kommen. Aber die grundlegende Frage ist doch, wieso es überhaupt dazu kommt.“ „Vielleicht weil die Gesetze nicht hart genug sind? Vielleicht müssen sie abschreckender sein. Angenommen, man droht berechtigt Folter an, man droht lediglich. Verletzt das die Würde des anderen?“ Atopie war völlig verwirrt. Mittlerweile hatte er so viel gesehen, so viel mitempfunden und verstanden, er dachte diese Welt und ihre Kehrseite begriffen zu haben. Aber so etwas … und deswegen äußerte er sich charismatisch: „Es liegt nicht an irgendwelchen Gesetzen, es sind die Herzen derer, die böse sind. Ich weiß nicht einmal – das gebe ich offen zu – ob es böse Herzen gibt, und ich will es nicht hoffen. Aber in dieser Welt, die mir noch immer nicht vertraut zu sein scheint, wohnt etwas, dem ich nicht zu tief in die Augen sehen will, etwas, das dem Leben anderer so sehr schadet, dass es Spuren hinterlässt, und ich will mich zu dieser Debatte aufgrund mangelnden Wissens nicht äußern, aber ich bin voll und ganz gegen böse Spuren.“
Verworren, verwirrt, irritiert?
Der Auftritt war ein Erfolg. Atopies Plan: Erst auf die Toilette, dann zu seinen Freunden und Wingmann. Doch die Erde begann zu schwanken, als er sich die Hände wusch. Er wechselte seinen Blick von den Händen zum Spiegel, bewegte seinen Kopf, doch das Bild kam nur langsam hinterher. Der Boden gab nach, als er in den Spiegel sah. Alles drehte sich, doch er war es nicht. Der Raum war es. Atopie verlor die Orientierung. Es wurde dunkel im sich drehenden Raum. Atopie schwankte, fühlte sich benommen. Dunkel.
Sand. Nichts als Sand. Grelles Licht blendete ihn. Nun fühlte er sich besser. Leicht über den Sand schwebend gewöhnte er sich an das Licht. Neben ihm hockte sein Vater in einem weiß/hellblau karierten Schlafanzug. „Wie spät ist es?“, fragte Atopie. Sein Vater trug eine große Armbanduhr ohne Ziffern, blickte in den Himmel und gab gelassen zur Antwort: „Mein Junge, wie kannst du so etwas fragen? Zeit ist nicht spät oder früh. Sie ist ewig. Also frage nicht nach ihr.“ „Als ich deine Uhr sah, hatte ich das Gefühl, die Uhrzeit wissen zu wollen und es ist ja nicht verkehrt, nach ihrem Takt zu leben.“ „Was für einen Takt hat denn bitteschön die Zeit?“ „Weißt du das gar nicht?“, fragte Atopie verdutzt, „es gibt Stunden, Minuten; viele Einheiten, die den Takt bilden.“ „Du meinst also, die Zeit hat einen Takt. Das ist ja interessant. Und was sagst du, wenn ich antworte, dass soeben zwei Stunden vergangen sind?“ „Dann widerspreche ich dir natürlich, weil es sich höchstens wie fünf Minuten angefühlt hat.“ Sein Vater schmunzelte. „Kann man Zeit fühlen?“ Atopie blickte ihn grimmig an: „Ja, man kann sie fühlen und das war es auch schon. Man kann sie nur fühlen, nicht sehen, nicht schmecken, riechen oder sonstiges. Deswegen lebt man ja auch nach ihrem Takt. Bei manchen Uhren hört man sogar den Sekundenschlag. Tick, tack, macht es dann.“
„Ach Atopie, ich bin dir nicht böse, dass du Zeit nicht verstehst. Schließlich bist du Mensch geworden.“ „Ich bin ein Mensch geworden“, sagte er fragend, „wie die Seelen der anderen Welt?“ Ihm jagte diese Aussage einen kleinen Schrecken ein. Denn in Utopie gab es nur Seelen, keine Menschen, und er wollte doch irgendwann auch zurück zu seinem Vater kommen dürfen. „Verängstigt wie die Menschen“, warf sein Vater ein, „ja du bist Mensch geworden, aber fürchte dich nicht.“ „Ich will aber kein Mensch sein.“ Traurig blickte Atopie auf die endlose Tiefe des Meeres. „Weißt du denn was ein Mensch ist?“, fragte der König im Schlafanzug.
„Wo bleibt Atopie?“, fragte Wingmann besorgt. „Wir wissen es auch nicht.“
Der Manager rieb seine Stirn. Er saß in seinem Zimmer und sortierte seine Spielfiguren der Farbe nach. Schreie rissen den kleinen Jungen aus seiner Phantasie. „Ja dann hau doch ab“, schrie seine Mama. „Du machst mich verrückt“, brüllte sein Papa. Dann zerbrach etwas. Das Zerscheppern klang grauenhaft. Ängstlich rannte er die Treppe hinunter, schnell hinein in die Küche. „Mama, Papa, ich habe etwas Tolles gebaut. Wollt ihr es euch anschauen? Dann seid ihr gleich wieder glücklich.“ Hilflos stand der Kleine da, lächelte gewollt. „Gabriel“, begann sein Papa, „wenn du dich zwischen uns entscheiden müsstest, zu wem würdest du gehen?“ Das kleine Herz machte einen Hüpfer und brach sofort in Tränen aus. Seine Mama lief schnell auf ihn zu und flüsterte: „So meinte Papa das gar nicht.“ Dann knallte die Tür und sein Papa war für immer fort. Auch seine Mama begann zu weinen. Sie drückte ihn fest an sich und von dem Moment an wusste der kleine Wingmann, dass sein Papa es doch so gemeint hatte und er nur seinetwegen gegangen war. Seine letzten Worten gingen an ihn. Er hätte anders reagieren müssen. Vielleicht wäre sein Papa dann irgendwann zurückgekehrt. Vielleicht wäre seine Mama dann wieder glücklich geworden. Diese Schuld konnte Wingmann niemals aus seinem Herzen streichen. Natürlich wucherten im Laufe seines Lebens andere Erinnerungen über diese Schuld, aber verdeckt blieb sie immer in seinem Herzen verwurzelt. Er war schuldig.
„Ein Mensch“, so fuhr sein Vater fort, „ist ein Wesen, das andauernd mit Zeit konfrontiert wird. Was für Zeiten könnte ich nun speziell meinen? Ich gebe dir einen Tipp: es sind die größten Einheiten.“ „Wenn es die größten Einheiten sind, handelt es sich wahrscheinlich um Jahre.“ „Atopie, wenn du Zeit beschreiben müsstest – angenommen, die Seele hätte noch nie davon gehört – müsstest du ganz von vorne anfangen. Ich rede von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ „Vielleicht hätte ich noch etwas gebraucht, um darauf zu kommen“, sagte Atopie lächelnd, „diese Zeiten prägen mich von nun an also. Das will ich nicht leugnen.
Was die Vergangenheit betrifft, frage ich mich, was ich wissen kann. Damit meine ich meine Herkunft. Natürlich weiß ich, dass ich aus Utopie komme, aber woher kommt Utopie? Was war als wir noch nicht waren? Wie kann es sein, dass ein Stern nicht mehr am Himmel steht, dass eine große Wassermasse bis an den Horizont reicht? Das verstehe ich nicht.“
„Sehr weise, mein Sohn. Wie denkst du über die Gegenwart?“ „Ich frage mich natürlich, was ich tun soll. Was ist der Sinn meines Lebens? Lohnt sich das alles? Ich lebe gerne, aber es kostet Kraft. Keineswegs lebe ich sinnlos. Sinnvoll ist es, nach dem Guten zu streben. Aber ich spüre, momentan zu sehr an jemandem zu hängen. Diese Seele beeinflusst meine Gedanken, lässt sie so subjektiv werden, dass ich das Wesentliche, sprich das Gute, aus den Augen verliere. Dann folgt gleich die nächste Frage: Wie soll es weitergehen? Was darf ich bezüglich der Zukunft hoffen? Ich bin sterblich. Diese Sterblichkeit bereitet mir keine Angst, beunruhigt mich aber in Bezug auf meine Zeit. Mich geht, so finde ich, auch die Zeit meiner Freunde etwas an. Denn was passiert mit ihnen, wenn sie sterben?“
„Atopie? Atopie?“
„Ich werde gerufen.“ „Ich weiß. Was heißt das für dich?“ „Dass ich zurück muss.“ „Musst du oder willst du?“ „Natürlich will ich das auch.“ „Wie kannst du das wollen? Du faszinierst mich. Andere Seelen ignorieren es, wenn sie gerufen werden, und wollen um jeden Preis bei mir bleiben.“ „Papa, hier ist ja auch sehr schön, man kann sich hier wohl fühlen, die andere Welt würde sagen „man kann die Seele baumeln lassen“, aber was hält mich hier, wenn dort noch so viel auf mich wartet? Vielleicht ist der entscheidendste Unterschied zwischen den anderen Seelen und mir schlicht und ergreifend, dass ich den Weg als Mensch nicht nur geschenkt bekommen, sondern selbst gewählt habe.“
„Atopie, Atopie!“ „Er ist wieder bei sich ... zum Glück“, sagte Wingmann erleichtert.
Nachdem Atopie sich von seiner kleinen Reise erholt hatte und ein paar Tage vergangen waren, zog Wingmann ihn zur Seite: „Hast du einen Moment Zeit? Ich muss mir einfach 'mal etwas von der Seele reden.“ Natürlich war Atopie sofort ganz Ohr. Wingmann vergrub sein Gesicht in den Händen und murmelte: „Eine Phase, eine Phase, nichts mehr. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, um dir zu erklären, was in mir vorgeht. Vieles geht in mir vor. Vieles, das in mir schlummerte und in letzter Zeit immer mehr zu blühen beginnt. Es ist ein Gedanke, eine Idee. Es ist etwas in mir. Darf ich es Erkenntnis nennen? Sag es mir, Atopie!“ Ohne tatsächlich eine Antwort zu wollen, fuhr er fort: „Vielmehr ist es eine Meinung über Menschen, über das Leben, über das Sein, über mich. Ich bin primitiv. Nein, ich muss woanders anfangen, um dir irgendwie erklären zu können, was ich meine. Man lebt sein Leben und man will es schön leben, wobei man sich nur auf seine Wenigkeit konzentriert. Also, nein, ich will mich durch ein „Ich“ gewagter ausdrücken und das Vorurteil vermeiden, dass alle Menschen so sind.
Ich lebe so, dass es mir selbst gut geht. Wann geht es mir gut? Was muss ich tun, damit mein Leben schön ist? Ich habe das Gefühl, ein Wesen zu sein, dass sich seine Welt schön denkt. Weil ich freundlich zu einem anderen bin, erwarte ich von dem anderen, auch freundlich zu mir zu sein. Ich lebe so, damit es sich für mich gut stellt. Freunde geben mir ein gutes Gefühl. Freunde hat man, damit man sich nicht einsam fühlt, damit man sich verstanden fühlt. Verstehst du?
Ich weiß nicht, wie ich dir erklären soll, was ich fühle und denke. Fühle ich das mG?
Wie auch immer, ich lebe so, dass es mir nützt, und das auch noch unbewusst. Das Leben ist voller Kleinigkeiten, die es erleichtern, die es verschönern im Sinne von „man denkt es sich schön“.
Ich verstehe nichts mehr, Atopie ...“, seufzte Wingmann und setzte wieder an: „Ständig setze ich mich dem Alltag aus. Ein Mensch, dem ich mein Herz schenkte, hat mich verlassen. Ich bin ja auch ständig nur am Arbeiten und Arbeiten. Und nun habe ich das Gefühl, dass es mich zu sehr verändert hat. Es hat mich in eine eigenartige Selbstfindungsrichtung mitgenommen. Wer bin ich? Ich bin alles andere als normal, ich bin gesellig, lustig, freundlich, manchmal ehrlich, verlogen, gutgläubig, tiefsinnig, einigermaßen intelligent, einzigartig. Das kann ich anderen bieten. Dafür verlange ich auch einiges. Mit Langweilern gebe ich mich nicht ab. Solche verschwenden ja meine Zeit. Und Zeit ist mir wichtig.“ Wingmann war gar nicht mehr zu bremsen.
„Als Mensch bin ich immer darauf aus, unterhalten zu werden und vor allem, nicht allein zu sein. Schon bei der Arbeit fängt es damit an, dass ich nicht gerne alleine zu einem Meeting gehe. (Atopie wusste natürlich nicht, was ein Meeting ist, wollte ihn aber nicht unterbrechen.) Ich tue es. Aber das erst seit kurzem, genauer gesagt, seitdem ich dich kenne. Noch bin ich in der Gewöhnungsphase. Es ist eine Gewöhung an das Alleinesein. Nein, nein“, warf er schnell ein, „ich bin in meinem Leben nicht einsam. Schließlich habe ich ja Freunde, die mir das Gefühl nehmen. Aber es gibt seit neustem Momente, in denen ich spüre, dass sich etwas in meinem Leben, in mir verändert hat.
Diese Veränderung zeigt sich dadurch, dass ich keine Lust mehr habe bestimmten Menschen hinterherzurennen. Heute Abend könnte ich noch eine besondere Frau anrufen, noch bis in die Nacht mit ihr telefonieren, aber was habe ich denn davon? Ich weiß es nicht mehr. Früher wusste ich es sicher. Denn ich mag sie ja und sie mag ja mich. Das genügt doch, um mich um sie zu bemühen. Irgendetwas für diesen Glauben daran fehlt mir heute.
Eine Phase, ja es ist nur eine Phase.
Warum liebe ich hübsche Frauen? Ich verstehe es wirklich nicht mehr, obwohl es zu 100% so ist. Wieso bin ich so primitiv und lege Wert auf das Aussehen? Sag es mir, Atopie! Die inneren Werte sind x-mal wichtiger, aber ich lege trotzdem Wert auf eine hübsche Aussicht. Das ist doch dumm.“ Wingmann seufzte, hielt einen Moment lang inne und fuhr erneut fort: „Der Sinn des Lebens ist es, sich sein Leben schön zu gestalten und das geht – zumindest bei den meisten – nur durch eigennütziges Denken.
Um noch mehr auszuschweifen: Hat alles einen höheren Sinn? Das Gute? Was meinst du, Atopie? Hört jemand meine Gedanken? Man stelle sich vor, Menschen könnten Gedanken lesen. Das bedeute Mord und Totschlag auf der Stelle. Die Menschen sind Nutz-Wesen. Aber was ist mit denen, die dies durchschaut haben? Mir bleiben doch zwei Möglichkeiten: Weiter leben, sich ein schönes Leben – mit hübschen Menschen und Geld – machen oder irgendetwas ändern und so leben, dass man weniger eigennützig lebt. Ach, ist das sinnvoller? Ich weiß es wirklich nicht und werde wahrscheinlich eh nie etwas anders machen, weil es mir dann ja wie jetzt geht. Jetzt geht es mir nachdenklich.“ Wingmann musste lachen. „Ich weiß, dass es kein richtiges Adjektiv ist, oder Adverb. Wie auch immer, aber es drückt aus, wie es mir geht. Wenn ich diesen Gedanken, diese Idee oder, übertrieben gesagt, diese Erkenntnis wieder in mein Unbewusstes verdrängt habe, geht es mir richtig gut. Dann lache ich über Blödsinn und bin einfach menschlich.
Wenigstens bleiben mir bei beiden Gemütszuständen, die Einstellungen, dass ich glücklich bin zu leben und ich es zu etwas bringen will, was auch immer ich damit meine. Auch wenn mich meine Mitmenschen irgendwann alle nicht mehr ausstehen können, zu irgendetwas werde ich es schon bringen. Denn letztendlich bleibt mir eh nichts anderes als meine Wenigkeit. Mit mir lebe ich, mit mir sterbe ich.“
Wingmann und Messer
Wingmann löste sein Dasein immer mehr vom Materiellen und stieß von Atopie bewegt in diesen Zeiten des Wandels auf eine heraus stechende Seele namens Messer, die er eines Tages bei Tagesanbruch, als es dämmerte und er auf dem Rückweg von Polaris war, getroffen hatte. Man nannte ihn Messer, weil er es liebte, messerscharf seine Meinung auf den Punkt zu bringen. Diese Schärfe machte seine Kommentare einzigartig. Vermutlich wünschte er sich nichts sehnlicher für seine Gedankengänge, von denen die anderen nichts wussten. Anfangs ging es in ihren Dialogen lediglich darum, was Messer glücklich mache, Bildung und Gespräche gehörten dazu. „Ich bin am liebsten allein, weil man sich selbst immer versteht, ob Witze oder Ernstes. Manchmal will man auch nur sich selbst, weil andere eh nichts von dem verstehen, was man ihnen sagt. Trotzdem braucht man Leute, die einen verstehen als seien sie ein Spiegel für die Seele, als spräche man ihnen aus der Seele. Und findest du nicht auch, dass man vom Horizont und Intellekt da weiter macht, wo die Eltern aufgehört haben? Nicht jeder, aber ich erfahre es so. Deswegen bin ich auch so gelangweilt von all dem Oberflächlichem, weil es einen nicht weiterbringt. Keinen Schritt. Vergoldete Zeit, mehr nicht, also nichts.“ In seinem bisherigen Beruf hatte Messer keine Anerkennung gefunden, wobei er doch hoch, höher hinaus wollte, aber wenn man auf keine Unterstützung trifft, niemand an einen glaubt... „das sind keine Steine, die einem in den Weg gelegt werden, das sind Schluchten, in die man hinein fällt. Man muss sich also selbst erkämpfen und dann auch noch merken, wie viele Deppen das gleiche ausüben ohne gekämpft zu haben und ohne etwas von all dem verstanden zu haben. Nichts verstehen sie und fühlen sich wie die Schlausten. Ich habe das Gefühl nichts von der Welt zu verstehen und hasse somit, wenn andere sagen, sie hätten verstanden. Aber man spürt doch, ob der andere wirklich etwas begriffen hat. Und nein, du hast rein gar nichts verstanden. Das denke ich so oft. So oft empfinde ich puren Hass, aber ich glaube an die Liebe, denn sie schützt vor dem Fall in die vielen Schluchten, die nur auf einen warten. Hass regiert in meinem Leben als Messerschneide. Hass und Liebe. Sie kämpfen um mich, um meine Seele. Kennst du positives Leiden?“ „Meinst du Heimweh und vermissen?“ „Ja, zum Beispiel, man kann positiv depressiv sein. Das ist besser als negativ glücklich, denn die haben ja eben nichts verstanden. Meiner Meinung leiden die positiv Depressiven mehr. Trotzdem darf ich nicht der Oberkluge oder Intellektuelle sein. So etwas will ich nicht raus hängen lassen.“ „Wie findest denn Atopies Lebensmotto: glücklich sein und andere glücklich machen?“ „Das finde ich nobel.“ Er hielt einen Moment lang inne, guckte skeptisch und erklärte Wingmann: „Manchmal kann ich unter Menschen nicht atmen. Ich will es ja, ich weiß ja, dass ich mir das sicherlich nur einbilde. Nicht atmen können... klaaar. Ich will es doch unter Menschen mögen, ich will ja wie die anderen ticken und gar nicht so viel verstehen. Dann bin ich vielleicht dumm, aber glücklich. Weißt du was glücklich macht? Wenn man plötzlich atmen kann, wenn man gefunden hat, was atmen lässt, weil man etwas hat, bei dem man man selbst sein kann und dafür Anerkennung findet.“ Messer erwartete nicht, dass andere ihn verstehen, doch in dem Moment dachte Wingmann an sich selbst. Plötzlich atmen können. Eine Befreiung der Seele aus all den Zwängen. Das wollen doch alle, dachte Wingmann man sich, aber die meisten schuften nun einmal hart im hier und jetzt in der Schlucht und sie graben sie immer tiefer, für sich selbst, tiefer und tiefer in die Schlucht, bis es zu spät ist. Man wollte sich Zeit erarbeiten, sich sie verdienen und aufsparen, für später, nicht im hier und jetzt. Dann war es einmal mit dem hier und jetzt und am Ende bleibt das Ende.
Wingmann und Messer gefiel der Grundsatz „leben und leben lassen“. Eines Nachts, als beide guter Dinge waren, dass die Welt weniger dumm und schlecht sei, als sie so oft dachten, als sie selbst einfach lebten, nahmen sie sich die Zeit für etwas Verrücktes, also für etwas, das man nie vergessen werde, für etwas, das man später erzählen kann: Mit Tinte und Nadel machten sie sich ans Werk und tätowierten sich ihren Grundsatz gegenseitig. Für immer würde sie dies verbinden, für immer erinnern. Es tat gut. Manchmal muss man sich einfach aus der Situation herausnehmen und über Blödsinn lachen und über den Dingen der Situation stehen.
Messer war es, der Wingmann von den Konventionen befreite, von der materiellen, unbefriedigenden Sucht. Wingmann konnte Messer viel geben, aber hin und wieder widerfuhr er das Gefühl der Messerschneide und er war kurz davor, sich noch mehr zurückzuziehen als eh schon, obwohl er ja wusste, dass das nicht die Lösung sein kann, dass das ein Sein in der Schlucht bedeute. „Wenn einem gesagt wird: Tu dies und das, du dies und das nicht, müsste man eigentlich immer genau das Gegenteil machen. Ich bin mir sicher, dass das richtiger wäre. Das andere jedenfalls bringt einen nicht weiter.“ Ein anderes Mal erzählte Messer von einem Gedankengang, den kaum jemand verstehen könnte, da war er sich sicher: „Hast du schon einmal in den Spiegel gesehen und dich nicht so gesehen, wie du aussiehst, sondern eher etwas Gruseliges? Irgendwie ist es eine Erkenntnis und zugleich eine Nichterkenntnis, weil es so nichtig in dem Moment ist und es ist seltsam. In dem Moment erfährt man die absolute Realität und Wahrheit, ein neues Gefühl. Soll man Angst haben oder lachen? Ich finde, die meisten sind eh nicht empfänglich für die unsichtbare Welt. Man kann es auch Gefühlswelt nennen. Keine Ahnung.“ Und da musste Wingmann ihn sogar unterbrechen: „Ich habe das ab und zu, dass ich nach ein paar Sekunden/ Minuten Stille oder Schweigen etwas sage und plötzlich höre ich meine eigene Stimme und es ist ganz fremd. Das ist dann nicht einmal eine Sekunde lang so, aber es ein durchaus abgefahrenes Gefühl.“ „Ja, es muss ähnlich sein. Sieh dir einmal solange in die Augen bis du dich nicht mehr siehst.“
Wingmann liebte es Messer zuzuhören, der lieber Widerworte als Zuspruch wollte, um seinen Horizont zu erweitern. Messer genoss es, dass Wingmann zumindest ein bisschen den ersehnten Spiegel verkörperte, besonders, wenn er verwirrt und irritiert von seiner Stimmung als die Lösung sprach. Nach und nach, die Zeit verging, das Vertrauen blühte, erzählte Wingmann von seinen verborgensten Ängsten, von der einen auslösenden Situation, an die er sich selbst kaum noch erinnerte, die überwucherte. Messer wollte ihn wegen enormer Verlassensängste oder dem Gefühl,. Es wie immer zu versauen als sei er dazu verflucht, nicht heilen oder sonstiges, was die meisten sicherlich als vernünftig empfunden hätten. Sie beide hatten die Kunst der elegantesten Zwischenmenschlichkeit erkannt: Widerworte, unerlässlich, wichtig, zweifelsfrei; das heißt, nichts nicht hinterfragen, aber um sich gegenseitig zu verstehen und die Größe des Geistes zu weiten, nicht um den Kern der anderen Seele zu verändern oder sogar absichtlich verändern zu wollen. Dann macht man sich nicht zu gut tuenden, ewigen Spiegeln, sondern zu eingesperrten Vögelchen. Freiheit und trotzdem freiwillig gebunden sein wollen, ein positives sich brauchen, verbunden mit Witz und Humor, Geheimnissen, Vertrauen. Das andere Ich, du, wir.
Eine Stimmung als die Lösung
Wie endete es? Zunächst einmal gar nicht. Denn Atopie lebte ja weiter. Der Unbeschreibliche war nun berühmt, berieselte die Seelen mit Anti-mG-Worten, lebte so wie er es für richtig hielt. Wenn man sich diese Geschichte erzählt, könnte man meinen, es ginge um Atopie. Das mag sein, aber im Grunde ging es nur um das eine. Das mG. Atopie war sein Träger, der Einzige, der durch seine Art in der Lage war rüberzubringen, worum es beim mG näherungsweise geht.
Schließlich hat er selbst eine Lösung gefunden, die ihm erst nach einer Erzählung von Hopen bewusste wurde.
„Hach, wenn ich nur in Worte fassen könnte, wie sehr ich mir ein Wesen wünsche, das mich so liebt wie ich es liebe. Ich glaube in dieser Welt an die ewige Zweisamkeit. Jeder wünscht sich sozusagen ein zweites Ich. Ein Ich, das Freund und Liebschaft ist. Ich sehne mich so sehr nach Liebe. Ich schmunzele, weil ich stolz darauf bin, lieben zu können. Ja, ich bin fest davon überzeugt, meinem Gegenüber Liebe schenken zu können. Außerdem ist heute einer der Tage, an denen ich zufrieden zu den Sternen blicke und mich voller Optimismus auf meine Zukunft freue. Und all diese Worte beweisen ein weiteres Mal, dass Liebe der größte Feind des mGs ist.“
Momentan war Hopen verknallt, wenn nicht sogar verliebt, und keiner kann leugnen, dass das nicht schön ist. Zudem ist es bekloppt, weil man die Welt mit völlig anderen Augen sieht. Hat man sich außerdem verliebt, obwohl man den Menschen gar nicht sicher kennt, nur eine Ahnung von seinem Wesen hat? Oder kannte man sich schon länger und irgendwie wurden aus freundschaftlichen Gefühlen diese blühenden, kribbelnden Gefühle? Wie war das? Und wieso verschwindet dieses Verliebtsein nach der Zeit und wird zu Liebe? Hat die neue Liebe auf Dauer eine Chance? Wie war das bei Hopen?
Atopie hatte für sich beschlossen, dass es ihm besser gehe, wenn er sich von solcher Zweisamkeit loslöse. Aber kann man so etwas beschließen, auch wenn man es besser weiß?
Anfangs war es nur Neugier, die Atopie bewegt hatte. Mittlerweile war das mG das faszinierendste Gefühl für ihn geworden. Das Verliebtsein sah er nur als ein Gegenmittel an. Denn im Leben strebt man dauerhaft danach dem einem Gefühl zu entrinnen. Er behauptete sogar, dass das eigentliche Ur-Gefühl im Menschen, das mG ist und alles andere nur darauf aufbaut. Ein Beweis dafür war für ihn, dass Verliebtsein eigentlich ein wunderschönes Gefühl ist – er war sich sicher – man aber trotzdem Angst hat: Angst sich zu binden, enttäuscht zu werden, zu enttäuschen, einfach Angst, dass es nicht so läuft, wie man es sich wünscht. Denn das würde wieder zu dem mG führen, dahin, wohin man nicht will.
Hopen hatte genau so jemanden gefunden, der ihn momentan absolut vom mG entfernte, aber auch dazu führen könnte. Deswegen müsste rein theoretisch die die einzig wirksame Lösung gegen das mG ein Lösen von solchen angeblichen Gegenmitteln sein.
Zu diesem Gedankengang kam Atopie im Laufe der Zeit, nachdem Wingmann sein Herz ausgeschüttet hatte. Er entdeckte in sich ein Gefühl, nein, eher eine Stimmung, als habe er etwas von der Welt verstanden und zugleich als werde er niemals etwas von der Welt und ihrem Sinn verstehen können. Dabei war es kein angenehmes oder unangenehmes Fühlen, sondern eine Form über dem. Jedes Mal, wenn er einen Hauch dieser Stimmung wahrnahm, wusste er, sie bald wieder zu verlieren. Sie war noch nicht zum Greifen nahe. Sie war für einen Moment schon da, aber noch nicht vollendet. Somit machte er sich es zur Lebensaufgabe, diese Stimmung immer öfter zu haben, wenn er dann einmal nicht damit beschäftigt war, einfach glücklich zu sein, einfach etwas Leckeres, Ungesundes zu essen und mit gemochten Seelen zu reden, ihnen zuzuhören, ihnen tief in die Augen zu sehen.
Immer
Immer wenn für Diorit die Melodie an Übermaß gewann, dröhnte und schallte, wenn sie über ihn hinaus wuchs und ihn in seinem Leben einengte, weitete die Höhle ihre Angst: nicht sie war es dann, die Sekunden, Minuten, Stunden oder sogar Tage fern blieb, sondern sie. Dann genoss sie es, wenn sie das Bedürfnis nach ihm hatte. Sie schaffte durch Mut und Wagnis einen Ausgleich der Abhängigkeit. Zudem lockerte sie diese, indem sie offen für neue Seelen in seinem Inneren wurde. Das konnte nichts mit der Erde ersetzen, es war nicht einmal vergleichbar. Aber das weniger Fixierte, löste die innere Spannung, tat gut. Die Melodie besaß sie nur noch selten und oft war sie glücklich.
Immer, wenn Wingmann die Arbeit zu Kopf stieg nahm er sich eine Auszeit. Weniger ist manchmal mehr, stand nun in seinem Terminkalender. Das hatte natürlich zur Folge, weniger Geld zu haben, weniger Materielles. Aber was nützt ein großes Haus, die teuren Maschinen, wenn ihm Herzen Leere regiert, wenn sich tagsüber die Melodie ausbreitet und die Gedanken blockiert, wenn man nachts von Albträumen gestresst wird, sich die Brust zusammenzieht und man kaum noch Luft bekommt. Weniger ist manchmal mehr, so lautete für immer seine Formel für seine innere Ruhe, für seine Glückseligkeit. Immer wieder die Wichtigsten zu verlieren war noch immer seine Urangst, doch er nahm sie an und folglich machte sie ihm keine Angst mehr. Er nahm ihr das Bedrohliche, indem er begann, die vermutlich endliche gemeinsame Zeit intensiv zu genießen. Immer wieder brachten Wingmann die Unterhaltungen mit Messer oder Atopie bezüglich des mGs, des Sinns von allem oder des Nichtsinns von niemanden gedanklich weiter und machten ihn reifer.
Immer wenn Atopie zu zweifeln begann, wenn er sich fragte, warum in der Welt der Kehrseite so viel ungerechtes Leiden sei, sprachen seine Träume zu ihm. Sein Vater und er sehen zum Himmel. Vertrauenswürdig sagt der König: „Dahinter, hinter dem, was du siehst, liegt so viel mehr verborgen, so viel Gutes, das du nun nicht schauen kannst. Habe keine Angst, geliebte Seelen zu verlieren, glaube nicht, den Leidenden erginge es ewig so. Alles Begrenzte wird verwandelt, nicht für immer zerstört.“ „Ja, wenn es nicht das Schlechte gebe, wüsste man das Gute nicht zu schätzen.. Aber das Böse in einige Seelen versteh ich nicht... wird es allumfassende Gerechtigkeit geben? Für jeden? Für die Guten und die Bösen? Wenn ja, warum? Gerechtigkeit für immer?“ Sein Vater lächelte und schwieg. Bevor er erwachte oder in seinen Träumen abschweifte, hörte er ihn noch sagen: „Bewahre und bereichere das Leben der anderen. Darin liegt das Geheimnis.“
Immer freute er sich auf Besonderes, auf die nicht alltäglichen Ereignisse. Er vertraute auf die immerwährende gute Macht und machte Vorfreude zu seinem Gebot für Glückseligkeit. Er liebte das Paradoxe an seinem neuen Dasein, was ihm in der Stimmung bewusst wurde: Das Zerrinnen der Zeit und nur dadurch das Festhalten an Momenten, die einem selbst die Ewigkeit bedeuten.
Immer wenn ihm die Stimmung zu Kopf stieg, bot Polaris ihm nachts einen Zufluchtsort. Das eigentlich Negative der Nacht, das Dunkle, das Einsame und Gefährliche, mit dem Tode verwandt, wandelte in das Positive, in Licht und Lebendigkeit. Für sie machte er die Nacht zum Tag. Immer brachte sie ihn zum Lachen, sein Herz zum Strahlen. Bei ihr tankte er das auf, was er brauchte, um andere glücklich zu machen. Als es eines Tages darum ging, dass sie von denen ihrer Art fortgerissen sei und dass diese Verglühen könnten, sagte sie: „Verglühen ist einfach, ewig leuchten schwer.“ In solchen Momenten brauchte sie wie jede Seele ein offenes Ohr. Atopie wusste es zu schätzen ihr Auserwählter zu sein. Keineswegs wollte sie Mitleid, welches die meisten geheuchelt oder von Herzen entgegen gebracht hätten. Sie verabscheute es, bemitleidet zu werden, verabscheute die, die sich in Selbstmitleid suhlten und vor allem verneinte sie das mG. So wollte sie nicht sein und so war sie auch nicht. Er liebte, wie sie folglich all die mG Gespräche mied, wie sie den verglühenden Stern liebte, weil jener keine Angst vorm Verglühen hatte, wie er ihr Vorbild war, wie sie aufsog, seine Seele zu ihrer Seele werden zu lassen. Atopie liebte ihren Umgang mit Herzensangelegenheiten und ihre Priorität, im Leben Spaß zu haben; nicht, weil sie oberflächlich war oder permanent vor etwas weg lief. Sie hatte ihren Akzent einfach auf das Hier und Jetzt gelegt. Diese innere Haltung hing mit ihrer Gewissheit zusammen, nicht zu verglühen, sondern plötzlich auszubrennen. Dann war es sein Herz, das brannte. Wenn sie so etwas wie selbstverständlich anmerkte, liebte er sie noch mehr. Doch natürlich blieb er seiner selbst treu. Er wollte keine innige Zweisamkeit, die gewiss nur auf eine bestimmte Zeit begrenzt gewesen wäre. Für eine solche muss man Versprechen geben, die man vielleicht nicht halten kann. Das lässt die Verbindung zweier Herzen endlich werden. Er wollte ewig an ihrer Seite bleiben, bei ihr, die sein Antrieb zum glücklich Sein und andere glücklich Machen war. Wenn er Polaris nie kennen gelernt hätte, wäre er vermutlich nicht in die Welt mit den zwei Seiten der Münze zurück gekehrt, hätte nie das durchblickt, was man durchblicken muss, um glücklich zu sein.
Atopies Vermächtnis
[In Arbeit]
Quelle des Coverbildes:
http://www.google.de/imgres?imgurl=http://view.stern.de/de/picture/1280765/Strand-Ostsee-Wetterblicke---stern-de-sand-510x510.jpg&imgrefurl=http://view.stern.de/de/picture/Strand-Ostsee-Wetterblicke---stern-de-sand-1280765.html&usg=__9SVSK41jo0uOKe0PvvpUDchFyUA=&h=341&w=510&sz=21&hl=de&start=18&zoom=1&tbnid=l0BwgTabhZtVwM:&tbnh=127&tbnw=184&ei=UdfEToWELojTsgbEqM2MDA&prev=/search%3Fq%3Dstern%2Bsand%26um%3D1%26hl%3Dde%26client%3Dfirefox-a%26rls%3Dorg.mozilla:de:official%26biw%3D1296%26bih%3D639%26tbm%3Disch&um=1&itbs=1&iact=rc&dur=281&sig=106766149943032430499&page=2&ndsp=19&ved=1t:429,r:9,s:18&tx=125&ty=64
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2011
Alle Rechte vorbehalten