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„Mama“, hörte ich leise durch den einlullenden, einschläfernden und noch angenehmen Alko-holnebel, der mich umgab. „Mama!“ Jetzt klang es schon fordernder, aber nicht so akut, dass ich meinte, sofort reagieren zu müssen. Jemand zog und zerrte an meinem Arm und ich hörte erneut die helle Kinderstimme, nun aber nicht mehr leise. „Mama, “ rief sie weinerlich. „Ma-ma, was ist? Ich hab Durst. Hörst du nicht? Mama!“ Vorsichtig und ungelenk drehte eine kleine Hand meinen Kopf so, dass mein Gesicht, eben noch im Sofakissen vergraben, zu se-hen war. „Oh Mama“, sagte Vicky erschrocken, „du hast ja geweint. Hast du Bauchweh, oder Kopfschmerzen? Deine Augen sind ganz schwarz und dein Gesicht ist ganz schmutzig.“ Un-beholfen versuchte Vicky mir mit ihrem langen Nachthemd das Gesicht zu säubern. „So kannst du doch nicht ins Bett gehen“, tadelte sie mich leise. „Mit uns schimpfst du auch im-mer, wenn wir uns vor dem Zubettgehen nicht waschen.“ Sie rieb und wischte in meinem Gesicht herum. Spuckte auf den Zipfel ihres Nachthemdes in ihrer kleinen Hand und rubbelte energisch weiter. Nach kurzer Zeit schien sie mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Sie strei-chelte mir ganz behutsam über die Wange und sah mich traurig an. „Du hast wieder Bauch-weh`, stimmt`s", stellte sie fest. „Wenn du abends immer so doll Bauchweh` hast wie jetzt, dann musst du mal zum Arzt gehen. Der gibt dir eine Medizin und dann geht es dir wieder besser. Aber wenn du dem Arzte das nie sagst, kann er dir nicht helfen", belehrte sie mich altklug. Sie schien zu überlegen. „Vielleicht fehlt dir aber auch nur der Papa“, überlegte sie. “ Weil, weil du hast immer Bauchweh` oder Kopfschmerzen wenn der Papa nachts arbeiten muss. Dann sitzt du hier und weinst und hast Bauchweh`, oder manchmal auch deine schlim-men Kopfschmerzen. Hast du Angst allein?“ Sie schüttelte energisch ihren Kopf und beant-wortete ihre Frage gleich selbst. „Das musst du doch gar nicht. Wir sind doch bei dir. Wir halten doch immer zusammen.“

Langsam und leicht verärgert ob dieser Störung versuchte ich meinen Blick zu focousieren und sah Vicky aus glasigen und vom Trinken geröteten Augen an. Immer musste dieses Kind nachts aufwachen und wollte irgendetwas. Konnte sie nicht wie ihre Geschwister durch schla-fen? Mir meine Ruhe lassen? Für kurze Zeit mal nichts von mir wollen? Nur schlafen? Wie alle anderen auch? Aber nein, immer wenn Peter auf Nachtschicht war, und ich endlich ab-gleiten konnte, mich nur noch fallen lassen brauchte, dorthin wo mich niemand finden und stören konnte, wo es nur Ruhe gab und Frieden, genau dann stand dieses Kind auf der Matte. Hatte sie eine eingebaute Uhr? Ein Timing, um in den denkbar schlechtesten Momenten fra-gend und zumeist auch fordernd vor mir zu stehen. Oder sollte sie etwa…? Nein, das war nicht möglich. Oder doch? So vieles auf der Welt, von dem wir annahmen, dass es das nicht geben würde, war auch möglich. Eigentlich war doch alles möglich. Warum sollte also ein fast neunjähriges Kind mich nicht tatsächlich kontrollieren? Die heutigen neunjährigen waren viel weiter und reifer in ihrem Denken, als wir es früher waren. Und gingen einem gerade deshalb zeitweise furchtbar auf die Nerven. Vielleicht hatte Peter sie sogar dazu angestiftet. Vielleicht hatte er ihr gesagt, sie solle auf die Mama aufpassen, damit es der nicht immer so schlecht ging. So wie vor ein paar Wochen. Da hatte er zu Vicky gesagt, dass sie in allen Schränken nach Flaschen suchen müsste. Und alle die sie finden würde, sollte sie ihm brin-gen. Er machte ein Spiel mit den Kindern daraus. Wer am meisten Flaschen fand, mehr als die anderen, hatte gewonnen. Auf Vickys Frage nach dem „Warum“, hatte er dann allerdings kei-ne Antwort. Eine Erklärung blieb er ihr auch weiterhin schuldig. Das erklärte ich ihr dafür, als wir allein waren. Aus meiner Sicht natürlich. Ich sagte ihr, dass ich im Moment immer viel Kopfschmerzen und Bauchweh` hätte, und dann vergessen würde, wo ich verschiedene Dinge hinlegen oder wegpacken würde. Mit den Flaschen verhielt es sich wahrscheinlich eben so. Dass es sich hierbei ausschließlich um Flaschen alkoholischen Inhalts handelte, hatte sie Gott sei Dank noch nicht so ganz registriert. Sie hatte bei meiner Erklärung genickt und gesagt, dass das gar nicht so schlimm sei. Sie wüsste oft auch nicht, wo sie ihre Sachen hin getan hät-te und fände die Dinge nicht einmal beim Suchen. Irgendwann seien sie dann einfach wieder da. „Ein Haus verliert nix“, erklärte sie mir altklug. „Das sagt die Oma auch immer.“

Nach meiner Erklärung hatte sie sich mit bösem Blick vor ihrem Vater aufgebaut und ihn ebenso böse gefragt, ob er denn nie etwas vergessen würde. „Du suchst auch immer deinen Hammer oder Nägel. Oder auch andere Sachen. Du weißt nie, wo du deine Sachen gelassen hast. Und wenn Mama dir dann nicht jedes Mal sagen würde, wo du sie beim letzten Mal ver-gessen hast, oder sie für dich wegpacken würde, würdest du gar nichts wieder finden.“ Damit drehte sie sich um und stapfte mit finsterem Gesichtsausdruck davon. Peter sah ihr sprachlos hinterher, bis sein Blick mich traf. “Toll gemacht“ fuhr er mich an. „Du säufst und in den Au-gen Deiner Tochter bin ich Schuld. ‚Geht’s noch?“ Er trat ein paar Schritte näher an mich heran. Zu nah; viel zu nah für meine Begriffe. „Alles deine Schuld“, herrschte er mich an. „Aber glaube ja nicht, dass ich mir das gefallen lasse. Vicky soll schon erfahren was ihre ach so heiß geliebte Mutter in Wahrheit ist. Mutter? Nein, eine Rabenmutter!!! Immer voll wie ein Amtmann. Und wenn die Kinder was wollen, kannst du nicht einmal reagieren und lallst ih-nen irgendetwas vor. Du bist ein Nichts, eine Null. Dein Vater hat in allem Recht gehabt. Du taugst nichts. Du kannst nichts. Du bist nichts. Bist viel zu blöd. Ja, saufen, dass kannst du; am liebsten rund um die Uhr, die Birne ordentlich zu dröhnen!!! Du…. Du……“ er suchte nach anderen, wahrscheinlich noch härteren Begrifflichkeiten, fand sie aber nicht sofort. „Du bist einfach nur Dreck!!!“
Wortlos hatte ich mich umgedreht und ging in den Keller. Die Wäsche musste aufgehängt werden. „Nur Dreck, sonst nichts, hörst du“ rief er hinter mir her, „ein saufender Dreckhau-fen.“ Ich hoffte, die Kinder würden es nicht hören.

Vickys Hand streichelte immer noch meine Wange. Immer gleichbleibend. Mit der kleinen Hand die Wange hoch und wieder herunter. Unbeholfen, rührend und gleichbleibend schnell in der Ausführung. Die Wange hoch und wieder herunter. Ein eigener Rhythmus. Es bereitete mir außerordentliche Mühe, mich der Monotonie des Streichelns nicht hinzugeben. Es war verlockend. Hoch und wieder herunter. Hoch und wieder herunter. Wie schön würde man zu diesem Rhythmus einfach nur vor sich hin starren können. Die Nebelwände im Kopf zulas-sen. Nicht versuchen sie zu durchdringen. Einfach nur sitzen und starren. Sonst nichts.
Ich rief mich innerlich zur noch, wenn auch nur geringfügig vorhanden Ordnung und nahm Vickys streichelnde Hand in meine. Das Streicheln war schließlich meine Rolle. Ich sollte ihre Wange streicheln. Nicht sie meine. Das war mein Job und sie war viel zu klein dafür. Zu klein um Flaschen zu sammeln. Zu klein zum Aufzupassen. Zu klein um Mama zu kontrollie-ren, und zu klein um Mama trösten zu wollen. Viel zu klein.

Wir hatten schon öfter die Rollen getauscht. Vicky und ich. Dann spielte Vicky Mama und brachte mich ins Bett. Oder sie spielte Frisörin mit mir. Sie las mir vor und übte mit mir Le-sen und Schreiben. Das war meistens nachts, wenn Peter Nachtschicht hatte. Sie wachte ei-gentlich jede Nacht auf, in der Peter zur Nachtschicht war. War er zu Hause, schlief sie wie ein Murmeltier, tief und fest. Sie schien sich wohler oder sicherer zu fühlen, wenn ihr Papa nachts zu Hause war. Ich konnte ihr diese Sicherheit scheinbar nicht bieten. Das tat mir furchtbar leid, denn ich wusste selbst, wie man sich als Kind fühlt, wenn man sich nicht in Sicherheit wähnen kann. Vielleicht konnte ich ihr Sicherheit nicht geben, weil ich selbst nicht sicher war. Nicht sicher in jeder Minute, die verstrich, jeder Stunde, jedem Tag, und jeder Nacht. Vor allem nicht sicher vor mir selbst.
Vickys erklärtes Lieblingsspiel hieß Mutter und Kind. Meistens war ich das Kind. Eigentlich immer. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein „Soll“ an Alkohol für den Moment schon kon-sumiert und noch konnte ich Vickys Geplapper und ihre unbeholfene, mütterliche Fürsorge ertragen. Später, nach weiteren Gläsern, würde das nicht mehr funktionieren. Dann ertrug ich keine Berührungen mehr. Ich ertrug nicht einmal die Gegenwart eines weiteren Menschen, geschweige denn meine eigene.

Mit ihren hochsensiblen „Antennen“ merkte Vicky in diesen Momenten immer recht schnell, dass ich sehr nachgiebig und auch anlehnungsbedürftig war. So übernahm sie dann nur zu gern meine Rolle. Weniger aus Freude am Spiel als wahrscheinlich eigenem Verantwortungs-bewusstsein. Zumeist spielte sie unseren Tagesablauf. Aufstehen, Frühstücken, anziehen, Schule, Mittag, Schularbeiten, spielen, Abendbrot und schließlich das zu Bett gehen. Wider-spruchslos lies ich alles über mich ergehen und gab in diesem Moment ein Stück Verantwor-tung in Vickys kleine Hände. Sie spürte das genau. Und manchmal, ganz selten zwar, aber doch manchmal, bekam ich in diesen Momenten eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen würde, wenn man sich in Sicherheit wiegen könnte. Vickys Spieltag endete damit, dass sie mich zu Bett brachte und sich neben mich legte. Manchmal schlief ich dann tatsächlich ein, mit einem kleinen Arm über meinem Bauch.
Meistens wachte ich aber nach kurzer Zeit wieder auf. Dann schlief Vicky neben mir tief und fest. Manchmal schlief ich auch wirklich nach einem Blick auf mein schlafendes Kind wieder ein. Manchmal. In der Regel aber stand ich auf und trank weiter. So lange, bis nichts mehr in meinem Kopf war, was mir Angst machen konnte, oder was mich zum Nachdenken zwang. So lange, bis der Kopf leer war. Nur gefüllt mit wattigem Alkoholdunst. Nichts mehr fühlen, nichts mehr denken, nicht mehr handeln müssen, keine Angst mehr, keine Zweifel, keinen Selbsthass. Nichts mehr. Gar nicht mehr sein müssen. Schon gar nicht sicher.

Nicht immer schaffte ich es rechtzeitig bis zum frühen Morgen in mein Bett. Und nach mehr-jährigen Erfahrungen war der Glauben meines Mannes an die mich angeblich plötzlich über-mannende Müdigkeit, natürlich nicht mehr vorhanden. Aber er nahm jede Erklärung, die ich ihm im Laufe des weiteren Tages bot, entgegen. Wenn er überhaupt eine wollte. Meistens tat er so, als wäre nichts gewesen. Und meine vermeintlichen Erklärungen oder Rechtfertigungen nahm er kommentarlos entgegen. Niemals eine Nachfrage. Niemals auch nur der geringste angedeutete Zweifel und erst recht keine Fragen. Ist einfacher als selbst denken oder sich mit Tatsachen auseinander setzten zu müssen. Jede faustdicke Lüge ist besser als die Wahrheit. Jeder von mir gelieferte fiktive Grund war besser, als selbst nachdenken oder seine kleine Welt in Frage stellen zu müssen. Das wäre mit Unannehmlichkeiten verbunden gewesen und bestimmt sehr beschwerlich. Beides Dinge, die Peter schon immer zu wider waren. Unan-nehmlichkeiten gibt es nicht. Kriegen wir heute auch nicht rein. Auffälligkeiten? Dinge, über die man nachdenken musste? Alles nicht vorhanden. Jede erklärende Lüge meinerseits sog Peter förmlich in sich ein, damit seine Welt heil blieb und nichts anders lief als gewöhnlich. Keine Kurve auf seiner geraden Straße. Kein Stein über den man stolpern konnte. Immer nur geradlinig weiter. Zur Not mit Scheuklappen vor den Augen. Jede Ausrede war ein Märchen. Peter mochte Märchen. Er war anspruchslos. Peter mochte alles, was ihm seinen Frieden und die Unversehrtheit seiner kleinen Welt garantierte. Wahrheit, Wahrhaftigkeit. Worte, für die es in seiner Welt keine Verwendung gab. Für ihn gab es wichtigere Dinge, existentiell we-sentlich wichtigere Dinge wie z. b. geregelte Mahlzeiten, natürlich täglich zur gleichen Zeit. Die ihm zustehende Ruhe nach der Arbeit, möglichst ohne Kindergeschrei oder dem absolut „unverschämten“ Wunsch der Kinder, mit ihm während des geheiligten Feierabends spielen zu wollen. Puschenkino, ab und zu ein verdientes Feierabendbier, ein für ihn geruhsames Wo-chenende, welches sich so gestaltete, dass ich mich mit den Kindern beschäftigte und er sich ausruhte und mental auf die kommende Arbeitswoche vorbereiten konnte. Sein unbestritten vorrangigstes Grundbedürfnis war jedoch ein für ihn geregeltes Sexualleben. Wohl gemerkt, für ihn geregelt. Ob ich dieses Bedürfnis in seinem Umfang teilte, oder hier gar von einem erfüllten Sexualleben berichten könnte, stand nie zur Debatte. War auch nicht wichtig. Sollte ich, für ihn völlig überraschend und unverständlicher Weise tatsächlich einmal nicht sein Ver-langen nach sexueller Betätigung oder, wie er es immer nannte, notwendiger täglicher Ent-spannung teilen, bekam er umgehend ein merkwürdiges Ziehen in der Leistengegend, dass relativ schnell in unangenehme Schmerzen über ging, was selbstverständlich mit meiner Un-lust zusammenhing. Dies war nicht, wie ich anfangs vermutete ein geeignetes Druckmittel
seinerseits, sondern seine tatsächliche Überzeugung. Diesen Mist glaubte er wirklich, oder produzierte ihn vielleicht sogar im Unterbewusstsein!!!

Aus diesem Grund nahm er auch jede noch so halbseidene Erklärung meinerseits bzgl. diver-ser alkoholbedingter Ausfälle so gelassen hin. Solange er zu seiner regelmäßigen „Entspan-nung“ kam, lief doch alles prima. Sein persönliches Drama begann erst an dem Tag, als sein Orgasmus, pardon, seine Entspannung, nicht mehr gesichert war.

Noch immer hielt ich Vickys kleine Hand in meiner. Ich musste mich sehr zusammen reißen, um nicht sofort wieder in meine Dunstwolke zu entschwinden. „Ist schon gut“, gab ich so klar ich konnte von mir. „Ja, Mama hat wieder Bauchweh`, aber ich glaube nicht, dass der Arzt daran etwas ändern kann.“ Nur mühsam hielt ich meine Gedanken zusammen um relativ geordnet und sinnvoll fort zu fahren. „Der Papa fehlt mir auch nicht, denn ich hab` keine Angst allein.“ Dabei strich ich ihr mit meiner freien Hand über die langen Locken. „Ich hab` doch euch. Warum sollte ich Angst haben? Wir halten doch zusammen, oder?“ „Ja, wir halten zusammen“, bestätigte Vicky. „Lass mich noch einen kleinen Schluck von meiner Medizin nehmen“, “ sagte ich“, dann wird es sicherlich wieder besser.“ „Wo steht die denn jetzt“, fragte Vicky mich im Aufstehen. „Ich komm` schon. Die findest du nicht, weil ich sie gut weggepackt habe, damit Leni nicht daran kommt“, antwortete ich und stemmte mich, mit der Hand auf dem Tisch abgestützt, schwerfällig von der Couch hoch. „Gerade laufen“, ermahnte ich mich. „Es sind nur ein paar Schritte bis in die Küche. Die wirst du wohl einigermaßen sicher bewältigen.“ Ich glaubte wirklich, Vicky würde nichts merken. „Geh` schon mal ins Bett“, forderte ich Vicky auf. Aber sie ließ mich nicht aus den Augen. Nicht eine Sekunde. Sie traute mir nicht. Sie misstraute mir. Mein Kind misstraute mir! Beschämt aber auch verär-gert, ging ich langsam, Stück für Stück mit der Hand tastend an der Wand entlang, den Weg weiter bis zu Küche.
Leni fing an zu jammern. „Nimm` du deine Medizin. Ich gebe Leni den Nuckel wieder“, hör-te ich Vicky sagen. Das war meine Rettung. Mit einem Mal ging ich, nun gar nicht mehr so unsicher auf den Beinen, zielstrebig auf den Herd in der Küche zu, zog die unterste Lade her-aus und tastete mit der Hand nach dem vertrauten Rund der Flasche. Hastig goss ich das Glas voll und trank es gierig aus. Schnell. Bevor Vicky wieder kam. Ich spürte die ansteigende Übelkeit. Den üblen Geschmack im Moment, das ansammeln von Spucke vor dem Erbrechen. Um nicht augenblicklich kotzen zu müssen, griff ich nach dem nächstbesten Glas auf der Spü-le, goss mit zittrigen Fingern Vollmilch ein, und trank es in kleinen Schlucken leer. Mit jedem Schluck bremste ich das weitere Ansteigen der Übelkeit. Jeder Schluck half meinem Magen sich zu entspannen.
Schweiß trat mir auf die Stirn. Nein, ich wollte nicht kotzen müssen. Wofür dann die voran-gegangenen, mühselig geschluckten Gläser Wein? Ich hätte mich umsonst gequält. Meinen Magen umsonst gestresst. Das wäre doch zum ……. . Nein, kotzen wollte ich nicht. Macht außerdem zu schnell wieder nüchtern.
Nachdem das nun geklärt war, legte ich die Flasche wieder zurück in die Schublade und schob diese gerade zu, als ich Vickys Schritte im Flur hörte. Ich öffnete den Schrank neben dem Herd und entnahm eine Flasche. „Herzwohl“ war darauf zu lesen. Ich lehnte mich mit dem Rücken an den Herd, so dass Vicky mich sehen musste, und führte die Falsche zum Mund. Misstrauisch beobachtete sie mich. Es war schwer genug gewesen, ihr glaubhaft zu vermitteln, dass diese Flasche einen vermeintlichen „Gesundheitstrank“ enthielt. Und es war ebenso schwer dafür Sorge zu tragen, dass diese Flasche zu jeder Tages—und Nachtzeit gut gefüllt an ihrem Platz stand. Ein allgemeines Stärkungsmittel, oder ein Magenbitter. Alles konnte drin sein, solange es hochprozentig war. Eine Art „Notreserve“. Der Nottropfen aus der Notflasche für die Flasche. Das hatte doch was!

„Leni hatte ihren Schnulli verloren“, sagte Vicky. „Jetzt schläft sie wieder.“ „Du bist ein gu-tes Mädchen. Fast schon eine perfekte Mama“, lallte ich. „Und jetzt gehst du wieder schön in dein Bett und schläfst ganz brav weiter.“ Mit diesen Worten stieß ich mich vom Herd ab und ging auf sie zu, wobei ich garantiert „Schlagseite“ hatte, also kaum noch koordiniert laufen konnte. „Wir wollten aber noch spielen“, maulte Vicky. „Schön, schön“, erwiderte ich. Nur keine Diskussionen jetzt. Ich konnte mich kaum noch vernünftig artikulieren. „Aber nur kurz, dann wird geschlafen.“ Ich war schon fast aus der Küche raus, als ich mich noch einmal um-drehte und den Schrank neben dem Herd nochmals öffnete. einen langen, tiefen Schluck nahm von meinem „Gesundheitstrank“. Auf Vickys fragenden Blick versicherte ich, in der Hoff-nung, dass sie mich noch verstand, dass es mir jetzt noch schneller wieder besser gehen wür-de.
Sie nahm mich an ihre kleine Hand. Widerstandslos schwankte ich hinter ihr her. Ich glaubte tatsächlich, Vicky würde nichts merken. Ich musste mir das nur lang genug einreden; dann kam der Glaube automatisch dazu.


Nur langsam quälte ich mich aus meinem traumlosen Schlaf. Es würde mir immer ein Rätsel bleiben, wie ich, trotz meiner nächtlichen Exzesse morgens pünktlich die Kinder wecken und für die Schule bzw. den Kindergarten fertig machen konnte. Natürlich konnte man meinen Zustand nicht gerade „fit“ nennen. Dennoch, ich kam meinen Verpflichtungen meistens zu-verlässig nach. Dank dafür an meinen inneren „Schweinehund“. Aber auch „verflucht“, denn durch die augenscheinliche Funktionalität, die ich trotz meines nächtlichen Trinkens immer noch an den Tag legte, konnte mein Problem von allen weiterhin bagatellisiert oder gar verlo-gen werden. Auch von mir. Und wie ich funktionierte. Disziplin und Verantwortungsbewusst-sein war uns als Kindern immer wieder eingebläut worden, waren die wichtigsten und bestän-digsten Tugenden, an Hand derer der Mensch sich orientieren und möglicherweise auch hoch arbeiten konnte. Disziplin. Zucht und Ordnung. Das war meinem Vater wichtig uns zu vermit-teln. So wichtig, dass er dabei nicht einmal bemerkte, wie er dadurch seine Kinder frühzeitig aus dem Haus „disziplinierte“.

Günter, mein ältester Bruder, verließ mit knapp 16 Jahren das Elternhaus, um in einem Lehr-lingswohnheim seine Ausbildung zu beenden. Das dies nicht funktioniert hat, stand auf einem anderen Blatt.
Thomas, der jüngste von uns, hatte mit 17 Jahren das elterliche „Nest“ verlassen, und ich überlegte immer schon krampfhaft, wie es mir gelingen würde, so schnell wie möglich mei-nem Elternhaus entfliehen konnte. Vor 30 Jahren war es noch nicht selbstverständlich, dass junge Mädchen sich eine eigene Wohnung nahmen. Wohngemeinschaften unter Studenten, die gab es. Aber allein wohnende Mädchen? Nein, gab es nicht. Vielleicht in den Universi-tätsstädten oder Großstädten. Nicht in unserer Kleinstadt. Und der Mut, jetzt schon gegen den Strom zu schwimmen, fehlte mir zu diesem Zeitpunkt noch. So sann ich dann mit den mir damals zur Verfügung stehenden Mitteln auf eine geeignete Möglichkeit. Sie kam recht bald, und doch für mich schon zu spät, auch wenn mir das zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst war. Und sie hatte einen Namen: Peter. Die Möglichkeit „Peter“ ließ mich, mit gerade mal 18 Jahren, ebenfalls die „Flucht“ aus dem Elternhaus ergreifen. Weg von übersteigerter Dis-ziplin; von Zucht und Ordnung. Weg von offenen Badezimmertüren, weg von nächtlichen Gardinenpredigten; vor allem weg von meinem Vater. Raus aus der Fremdbestimmung und willkommen in der ersten eigenen Entscheidung, in einem selbst bestimmten Leben; das glaubte ich zumindest.

Während ich Markus anzog, hoffte ich inständig, das Peter das Auto hatte stehen lassen, und mit einem Kollegen gefahren war. Er wusste, dass ich jeden 2. Tag mit Markus zur Physiothe-rapie in die Stadt musste. Mit vier kleinen Kindern, zwei im Kinderwagen und zwei an der Hand, und als Transportmittel einen sog. Überlandbus, der in der Mitte keine Ausbuchtung für einen Kinderwagen frei gab, in den man sich nur mit Mühe und Not hineinzwängen konn-te, war das eine kaum zu bewältigende Aufgabe. An Markus Therapietagen war ich für eine halbe Stunde Krankengymnastik insgesamt mehr als sechs Stunden unterwegs. Die Überland-busse fuhren nicht so regelmäßig wie die städtischen Linienbusse. Lange Wartezeiten mussten eingeplant und für die Kinder möglichst interessant gestaltet werden, damit sie unterwegs vor Langweile nicht ungnädig sein wurden. Wahrlich kein leichtes Stück Arbeit. Bis lang hatte ich die Termine trotz des enormen Zeit- und Kraftaufwandes pünktlich wahrnehmen können. Immer mit dem Bus. Jeden zweiten Tag; mehr als sechs Stunden. Hin und zurück. Unverdros-sen hegte ich nach wie vor die Hoffnung, dass Peter endlich Mitleid bekäme und mir das Auto für diese Tage zur Verfügung stellen würde. Mit dem Auto war der Aufwand halb so groß. Drei Stunden; mehr brauchte ich dafür nicht. Aber Peter hatte kein Mitleid. Kein Mitleid, kein Verständnis, keine Gewissensbisse, kein Gefühl. Er besaß nichts davon. Er musste bereits ohne jegliches Gefühl auf die Welt gekommen sein. Ich bin überzeugt davon, dass er weder schlechte noch gute Gefühle hatte. Dafür müsste er den Unterschied zwischen ihnen kennen. Er war auf der Gefühlsebene immer gleichbleibend; retardiert nennt man das glaube ich auch. Das machte ihn ziemlich berechenbar. Überraschungen, gute oder schlechte, gab es für ihn nicht und auch nicht für seine Familie. Keine Höhenflüge vor Freude; aber auch keine nieder-schmetternden Tiefflüge. Peter blieb immer gleich. Er würde immer so bleiben. Stagnieren. Gestern, heute, morgen, in einem Jahr, und auch in vielen Jahren. So hatte ich ihn kennen gelernt; es war mir nur nicht aufgefallen, oder es wollte mir nicht auffallen. Er war die Mög-lichkeit meine Flucht aus dem Elternhaus zu realisieren.

Natürlich stand unser Auto nicht in der Garage. Ich musste wieder einmal den umständlichen Weg nehmen, damit der Herr seinen Alltag unverändert weiter gestalten konnte und auf kei-nerlei Bequemlichkeit verzichten musste. Eigentlich hatte ich schon gar keine Lust mehr. Ar-mes Kind hin, armes Kind her. Ausgerechnet heute war Peter nicht zur Nachtschicht. Er hatte Tagschicht. Schade, so konnte ich mich heute Abend nicht einmal mit einer Flasche Wein für diesen mühsamen Tag belohnen. Es hätte auch Martini sein können; das ging schneller.

„Sie müssen mehr und konsequenter mit Markus üben", beschwerte sich die Physiotherapeu-tin. „Ich zeige ihnen die einzelnen Griffe nicht zum Spaß. Wir üben sie doch häufig genug. Eigentlich müssten sie die alle selbständig ausführen können.“ Sie hatte absolut recht. Aber die Griffe, die in die gelähmte rechte Seite von Markus wieder etwas Bewegung bringen soll-ten, waren für das Kind nicht auf freiwilliger Basis. Markus musste in diese Stellungen ge-zwungen werden, was ihm natürlich nicht behagte und er auch lautstark mitteilte. Natürlich beherrschte ich die Übungen, aber ich brachte es nicht übers Herz, Markus Gewalt anzutun. Davon hatte er genug erleben müssen. Keine Wiederholungen durch mich. Bei mir sollte er sich sicher und geborgen fühlen. (Sicher und geborgen! Bei mir!?) Die physiotherapeutischen Übungen standen dem aber im krassen Gegensatz entgegen.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und versuchte der Therapeutin meinen Standpunkt klar zu machen. Keine Gewalteinwirkung auf das Kind durch mich. Auch nicht zu seinem besten. Er sollte mir vertrauen können. Würde ich diese Übungen tagtäglich mit Markus durch exer-zieren, würde er ziemlich schnell schon, allein wenn er meiner angesichtig wurde, weinen. So war es auch jedes Mal bei der Therapeutin. Wir waren kaum im Wartezimmer und Markus hatte noch nicht einmal alles wahrnehmen können. Aber er schrie. Er schrie vom Eintreten in die Praxis bis zum Fahrstuhl, der uns wieder auf die Straße brachte. Ununterbrochen schrie er.
„Ich kann sie sehr gut verstehen“, versicherte mir die Therapeutin. „Wenn es eine andere Lösung gäbe würde ich sie sofort nutzen. Aber z. Zt. ist das die Behandlung mit der grösst möglichen Effizienz. Ich persönlich finde diese Lösung auch nicht glücklich, und würde mich an ihrer Stelle wahrscheinlich genauso wehren wie sie. Ich verstehe sie wirklich. Ein so klei-ner Wurm, der schon so viel in seinem kurzen Leben hat mitmachen müssen. Aber ich kann ihnen und auch Markus leider diese Tortur nicht ersparen, wenn sie wollen, dass er jemals richtig greifen, krabbeln, stehen und auch laufen kann.“
Diese halbe Stunde in der Physiopraxis bedeutete die Hölle. Für alle Beteiligten, denn wie wollte ich den anderen Kindern klar machen, dass das, was wir mit Markus anstellten, was ihm furchtbar weh tat, das Beste für ihn sein sollte. Zu Hause liefen alle immer sofort, wenn Markus nur einen Pieps von sich gab. Selbst Leni stellte ihre Bedürfnisse für Markus hinten an. Und hier schrie er ununterbrochen und sie konnten ihm nicht helfen. Auch die Kinder wa-ren nach einem solchen Tag also völlig fertig.

„Vielleicht sprechen sie mal mit ihrem Mann oder mit einer anderen Vertrauensperson, die ihnen diesen Part der Betreuung abnehmen könnte. Ich würde den oder die Betreffende selbstverständlich in den notwendigen Griffen unterweisen“, schlug die Therapeutin bei der Verabschiedung vor. Mein Mann sollte was? Mir behilflich sein? Das Ansinnen an sich war ja schon absolut absurd und wurde noch absurder, da es sich um Mithilfe für Markus drehte.
Peter hat noch nie wirklich Hilfestellung im Haushalt und bei den Kindern gegeben. Brauchte er im Großen und Ganzen auch nicht. Wir hatten klare Arbeitsteilung. Seine Aufgabe bestand darin, dass für unser Überleben notwendige „Kleingeld“ zu beschaffen, meine darin, ihm da-für den Rücken absolut frei zu halten und für alles andere zu sorgen. So lange ich nicht mit arbeiten ging, war das auch alles völlig in Ordnung. Aber seit nunmehr fünf Jahren arbeitete ich mit und steuerte ebenfalls einen Teil zum Lebensunterhalt bei. Vor eben fünf Jahren hatte ich, eigentlich eher zufällig über eine Nachbarin, Kontakt zum Jugendamt bekommen. Jan und Leni waren noch nicht geboren, und wir wussten nicht, ob wir auf Grund der Probleme während und nach Piets Geburt noch eigene Kinder wollten. Meine damalige Nachbarin war Pflegemutter beim Jugendamt. Nicht nur tagsüber, sondern rund um die Uhr; Dauerpflege so zu sagen. Damals wurde für ein kleines neun Monate altes Mädchen, dass von seiner Mutter drei Tage allein gelassen worden, und zu dem voller Bisswunden war, umgehend eine Pflege-stelle gesucht. Ich hatte mir bereits viel über diesen Job von meiner Nachbarin erzählen las-sen, und fand ihn vor allem sinnvoll. Eine Arbeit die Sinn machte; mit der man dazu beitragen konnte, dass es einem oder mehreren Kindern besser gehen würde. Ich würde arbeiten und doch zu Hause sein. Ich verdiente ein wenig dazu, war aber trotzdem immer für die Kinder da. Und Vicky und Piet kam es letztendlich sicherlich auch zu Gute, wenn sie früh lernten, mit mehreren Kindern teilen zu müssen. Natürlich haben wir zu Hause darüber gesprochen. „Geld ist immer gut“, kommentierte Peter meinen Vorschlag. „Und solange alles so bleibt, und ich nicht Kinder hüten muss, ist es mir relativ egal war du machst, und ob ein Kind mehr hier rumtobt oder nicht“. Mehr hatte Peter zu dem Thema nicht zu sagen. Kein eindeutiges ja, aber auch kein nein. Er würde sich auch mit einem weiteren Kind im Haus um nichts küm-mern müssen. Wie immer. Für ihn würde sich nichts ändern.

Eigentlich wollte ich lieber ein etwas älteres Kind, damit auch Vicky und Piet schon etwas damit anfangen konnten. Als aber eines Nachts um halb drei meine Nachbarin samt Jugend-amt und Polizei an unserer Tür klingelte, und mir ein kleines Bündel Mensch in den Arm drückte, war alles andere zweitrangig. Natürlich konnte ich das Würmchen nicht abweisen. Damit fing meine „Berufstätigkeit „ denn als solche muss man das Ganze betrachten an. Pe-ter sah das nie als Berufstätigkeit an, sondern mehr als mein Hobby.
Ich konnte, wenn das Jugendamt rief, und mir eine mitleiderregende Geschichte über ein wei-teres verwahrlostes oder schwer geschlagenes Kind, wie z. B. Markus erzählte, nicht „nein“ sagen. Natürlich steht das Jugendamt sehr unter Druck und muss reelle Zahlen auf den Tisch legen. Natürlich gehen sie zumeist alle möglichen Pflegestellen durch, um die jeweils best-mögliche für das betroffene Kind zu finden. Sie waren aber auch froh, wenn sie, nach mehre-ren Tagen der verzweifelten und obendrein ergebnislosen Suche nach einer Pflegestelle das Kind wenigstens nicht in einem Heim unterbringen mussten. Dann war es auch erst einmal egal, ob ein schwer körperlich oder geistig behindertes Kind in eine heilpädagogische Pflege-familie kam oder nicht. Die Hauptsache war, dass es fürs Erste gut und vor allem sicher vor den Angehörigen untergebracht war. Pflegestellen, gerade für Notfall- oder Dauerpflege gab es nicht wie Sand am Meer. Schon gar keine heilpädagogischen.

Außer Markus und der kleinen Tatjana, die mir so knall auf Fall nachts in den Arm gelegt worden war, befanden sich noch zwei weitere Kinder bei uns in Dauerpflege. Angelika, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das mit seiner Mutter überhaupt nicht mehr zu recht kam. Durch die Unterbringung bei uns, sollte die Situation in Angelikas Elternhaus erst einmal entschärft werden, damit dann im Anschluss einer mehrwöchigen Zeitspanne, die Parteien sich wieder vorsichtig einander nähern und einen stressfreieren Umgang miteinander lernen könnten. Bar-bara war eine 13 jährige, die angeblich aus einem „sehr guten Stall“ kommen sollte, was auch immer das heißen mochte. (Guter Stall. Ja, aus dem kam ich auch. Oftmals erwiesen sich aber gerade diese im nach hinein als weniger brauchbar. Ich wusste wovon ich sprach!).
Barbaras Vater hatte die Familie vor zwei Jahren verlassen und sei im Ausland untergetaucht. Daher konnte man ihn auch nur schwierig zu Unterhaltszahlungen verpflichten. Barbaras Mutter war, da sie bislang noch niemals im Leben mit Dingen wie Arbeitslosigkeit, Eigenini-tiative oder Selbsthilfe konfrontiert worden war, absolut hilflos und mit der Situation über-fordert. Ihr Mann hatte wohl alles für sie geregelt. Wenn man sie von ihrer Ehezeit berichten hörte, war schnell klar, dass es ihre einzige Aufgabe war, hübsch und nett aus zu sehen und in ihrem „goldenen Käfig“ zufrieden vor sich hin zu zwitschern.

Dementsprechend sah sie sich der neuen Situation gegenüber wohl absolut überfordert. Sie kam nicht allein zurecht, war zu stolz um Hilfe zu bitten und geriet in die alkoholische Ab-hängigkeit. So schnell und einfach kann das heut zu Tage gehen. Da sie nicht wollte, dass irgendjemand von ihrem Fiasko etwas mit bekam, hielt sie ihre beiden Kinder wochenlang von der Schule fern. Somit schaltete sich automatisch nach kurzer Zeit das Jugendamt ein.

Eigentlich war ich selbst noch viel zu jung, um die Betreuung zweier so relativ großer Mä-dels, die in mir bestimmt keine Ersatzmutter sehen konnten, zu übernehmen. Ich war selbst erst 25 Jahre alt. Aber das Jugendamt war der Meinung, dass es für die Mädels eventuell bes-ser bzw. einfacher sein könnte, mit einer jüngeren „Mutter“ ein Vertrauensverhältnis aufzu-bauen, da nicht wirklich eine Beziehung Mutter – Kind oder Mutter – Tochter entstehen wür-de, sondern eher ein freundschaftliches Verhältnis über das es leichter fallen würde, an die Mädchen heran zu kommen.

Drei mal in der Woche hatte ich dann noch den kleinen Stefan Pionanga tagsüber in Pflege. Seine Eltern stammten aus China und waren hier in Deutschland dabei Medizin zu studieren. Der kleine Mann war relativ umgänglich. Er saß die gesamte Zeit seines Aufenthaltes ohne je ein Wort von sich zu geben auf der Erde und spielte mit den Legosteinen. Sein Gesicht zeigte, das er absolut selig war in dieser Situation.

Ein weiteres Mitglied in unserer Familie war Betty, die Tochter einer Freundin. Betty ver-brachte die Woche bei uns und ging am Wochenende zu ihrer Mutter. Ihre Mutter ging arbei-ten, was ich aber eher als Ausrede für die Fremdversorgung des Mädchens ansah. Sie hatte weder Schichtarbeit, noch andere besonders hinderliche Faktoren während der Arbeitzeit zu bedenken oder zu bewältigen. Im Gegenteil. Sie arbeitete im öffentlichen Dienst und hatte somit Arbeitszeiten, die man hervorragend in den Alltag mit einem Kind integrieren konnte.
Meiner Meinung nach war Bettys Mutter Carla, lediglich auf dem Selbstfindungstrip und des Kindes, zumindest für den Moment, überdrüssig. Nach einer gescheiterten Ehe genoss sie die wieder gewonnene Freiheit in vollen Zügen und war dementsprechend ausserhäusig. Obwohl ich als eine Freundin ihr immer wieder versuchte ihr ins Gewissen zu reden, blieb Carla dabei, dass es z. Zt. besser wäre, wenn die Kleine weiterhin bei uns in Wochenpflege bleiben würde. Natürlich, vor allem für sie selbst.

Mit meinen beiden eigenen Zwergen Victoria und Piet dazu gezählt, war ich mit gerade 25 Jahren der Motor einer Großfamilie. Mein Tag bestand ausschließlich aus Kinder, Kacke, Kindergarten, wie man so schön sagt. Er begann morgens um 05.30 Uhr und endete gegen 23.30 Uhr. Nachts gab es eine Unterbrechung durch Markus, der regelmäßig nachts für eine Stunde bespielt werden wollte.
Ich glaubte lange Zeit, dies wäre meine Bestimmung. Mutter zu sein für eigene, und für frem-de Kinder, die aus schwierigen Verhältnissen stammten.
Eigentlich hieß es anfangs, ich könne keine eigenen Kinder bekommen. Umso größer die Freude, als es dann doch klappte. Ich liebte Kinder, und hätte mir damals ein Leben ohne sie nicht vorstellen können. Vielleicht war ich auch der Meinung, dass dies als Frau einfach mein Job sein sollte. Kinder zu gebären und aufzuziehen. Bestimmung. Seit Jahrhunderten waren Frauen dazu bestimmt, Kinder zu gebären. Und trotz Berufstätigkeit vieler Mütter, blieben die Erziehung und auch der Haushalt, in den meisten Fällen weiterhin die Kampfarena der Frau-en. Einige Dinge würden sich niemals ändern, trotz aller Emanzipationsbestrebungen.

Ich dachte damals, ich würde mit meiner Tätigkeit als Pflegemutter etwas Gutes tun. Soziales Engagement war in meiner Familie kein Fremdwort. Mein Vater war als Helfer für die Belan-ge der Jugend und die älterer Menschen politisch recht umtriebig. Von klein auf an hatten wir gelernt, immer auch zu schauen, ob man anderen Menschen helfen konnte. Viele Dinge in meiner Heimatstadt gibt es ausschließlich auf Grund des Einsatzes meines Erzeugers. Ein Jugendzentrum, eine Seniorenbegegnungsstätte, etliche Spiel- und Sportplätze und dgl. mehr. Mein Vater war nach außen mehr als ein heiliger Samariter und half vom Schicksaal benach-teiligten, wo er nur konnte, solange es nicht die eigene Familie war.
Eine der vielen Ambivalenzen in seiner Person. Heute bin ich überzeugt davon, dass es ihm niemals um die Sache als solches ging, sondern sein soziales Engagement lediglich sein eige-nes Bedürfnis nach Anerkennung befriedigen sollte. Denn so sehr er sich auch für andere Kinder und Jugendliche engagierte, so wenig wusste er mit seinen eigenen Kindern anzufan-gen.

Das auch mein scheinbar starkes soziales Engagement nicht ganz so selbstlos war, wie ich es gern gehabt hätte, dass wurde mir erst Jahre später klar. Ich war im Alter von 25 Jahren von meiner Rolle als Mutter und Pflegemutter von sage und schreibe acht Kindern absolut über-zeugt. Und jeder, der auch nur den geringsten Zweifel diesbezüglich anmeldete, wurde von mir verbal überzeugt. Auch meine Eltern, die diese Entwicklung natürlich mit einigem Be-fremden sahen. Sicherlich war soziales Engagement wichtig, aber musste es gerade im häusli-chen Bereich sein? Hätte ich nicht auch beruflich erst Karriere machen können, so wie mein Vater sich das immer vorgestellt hatte, und mich dann, aus einer gesicherten Position heraus, finanziell unabhängig und „Papas“ ganzer Stolz, sozial betätigen können? Wie gerne hätte er doch die Frage nach dem Beruf seiner Tochter in etwa so beantwortet: “Ja, die Gaby, die hat es richtig gemacht. Die hat jetzt einen verantwortlichen Beruf in der Verwaltung.“ Hätte auch Justiz oder irgendetwas anderes sein können, aber Karriere, die hätte es schon sein müssen. Ja, dass hätte er gern gesagt. Aber Karriere als Mutter und Pflegemutter? Na ja, für andere Frauen mochte dass ja ganz in Ordnung sein, aber doch nicht für seine Tochter. Hörte sich auch nicht wirklich interessant an, wenn man danach gefragt wurde. „Meine Tochter hat sich für Kinder entschieden. Eigene und Fremde. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe und findet meine volle Anerkennung und Respekt.“ An einem solchen Satz wäre er wahr-scheinlich erstickt.
Überflüssig zu erwähnen, dass ich damals noch nicht trank. Denn ein solch umfangreiches Arbeitsprogramm täglich zu koordinieren, erforderte den ganzen Mann, pardon, Frau.


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Tag der Veröffentlichung: 16.01.2011

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